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Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 63: 486 – 509 (2014), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2014
Merkmale von Kindern und Jugendlichen mit
Geschlechtsdysphorie in der Hamburger Spezialsprechstunde
Inga Becker, Voltisa Gjergji-Lama, Georg Romer und Birgit Möller
Summary
Characteristics of Children and Adolescents with Gender Dysphoria Referred to the Hamburg
Gender Identity Clinic
Given the increasing demand for counselling in gender dysphoria in childhood in Germany,
there is a denite need for empirical data on characteristics and developmental trajectories of
this clinical group. is study aimed to provide a rst overview by assessing demographic char-
acteristics and developmental trajectories of a group of gender variant boys and girls referred to
the specialised Gender Identity Clinic in Hamburg. Data were extracted from medical charts,
transcribed and analysed using qualitative content analysis methods. Categories were set up by
inductive-deductive reasoning based on the patients’, parents’ and clinicians’ information in the
les. Between 2006 and 2010, 45 gender variant children and adolescents were seen by clini-
cians; 88.9 % (n = 40) of these were diagnosed with gender identity disorder (ICD-10). Within
this group, the referral rates for girls were higher than for boys (1:1.5). Gender dysphoric girls
were on average older than the boys and a higher percentage of girls was referred to the clinic
at the beginning of adolescence (> 12 years of age). At the same time, more girls reported an
early onset age. More girls made statements about their (same-sex) sexual orientation during
adolescence and wishes for gender conrming medical interventions. More girls than boys re-
vealed self-mutilation in the past or present as well as suicidal thoughts and/or attempts. Results
indicate that the presentation of clinically referred gender dysphoric girls diers from the char-
acteristics boys present in Germany; especially with respect to the most salient age dierences.
erefore, these two groups require dierent awareness and individual treatment approaches.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 63/2014, 486-509
Keywords
gender identity disorder of childhood – gender variance – gender dysphoria in childhood –
sociodemographic characteristics – age of onset
Zusammenfassung
Angesichts der steigenden Nachfrage nach diagnostischer Abklärung und Behandlung bei Ge-
schlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter fehlen im deutschsprachigen Raum weitestge-
hend empirische Daten zu Merkmalen und Entwicklungsverläufen dieser klinischen Population.
Aus diesem Grund wurden die demograschen Merkmale der Inanspruchnahmepopulation einer
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 487Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 487 487
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Spezialsprechstunde in Hamburg anhand von Patientenakten untersucht. Im Zeitraum zwischen
2006 und 2010 wurden insgesamt 45 Patient/innen mit Verdacht auf Geschlechtsdysphorie in
der Sprechstunde vorgestellt, davon erhielten 88.9 % eine F64-Diagnose nach ICD-10. Innerhalb
dieser Gruppe ergab sich ein Geschlechterverhältnis von 1:1.5 (M:F). Mädchen mit diagnosti-
zierter Geschlechtsidentitätsstörung waren zum Zeitpunkt der Erstvorstellung im Schnitt älter als
Jungen und prozentual häuger bereits im Jugendalter (> 12. Lebensjahr). Gleichzeitig berichte-
ten sie häuger von Erstaureten geschlechtsdysphorischen Erlebens und Verhaltens im frühen
Kindesalter. Weibliche Jugendliche konnten zudem häuger bereits Aussagen zu ihrer sexuellen
Orientierung treen (Mehrzahl im Jugendalter sexuell zum eigenen Geschlecht hingezogen) und
zu Wünschen nach geschlechtsverändernden körpermedizinischen Maßnahmen. Mehr Mädchen
als Jungen gaben an, in der Vergangenheit und/oder aktuell selbstverletzendes Verhalten gezeigt,
Suizidgedanken gehabt und/oder Suizidversuche unternommen zu haben. Die Ergebnisse deuten
darauf hin, dass geschlechtsdysphorische Mädchen und Jungen sich in ihrem klinischen Erschei-
nungsbild bei Erstvorstellung unterscheiden und es, vor allem in Hinblick auf Altersunterschiede,
unterschiedlicher Beachtung und individueller Behandlungsansätze bedarf.
Schlagwörter
Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter – Varianten der Geschlechtsidentitätsentwicklung
– Geschlechtsdysphorie im Kindesalter – soziodemograsche Charakteristika – Alter bei
Erstaureten
1 Hintergrund
1.1 Störungen der Geschlechtsidentität im Kindesalter, Varianten der
Geschlechtsidentitätsentwicklung und Geschlechtsdysphorie
Während Geschlechtsidentitätsstörungen (GIS) im Vergleich zu anderen psychischen Stö-
rungen im Kindes- und Jugendalter immer noch zu den seltenen Erkrankungen zählen,
liegt der Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen mit geschlechtsuntypischen Ver-
haltensweisen deutlich höher (für einen Überblick hierzu s. Möller, Schreier, Romer,
Meyenburg, 2009). Dementsprechend unterscheiden sich nach Steensma et al. (2013)
auch geschlechtsvariante Kinder von jenen mit einer ausgeprägten Geschlechtsdysphorie
(GD, Gender Dysphoria in Childhood im DSM-V; APA, 2013). Diagnostiziert wird eine
„typische GIS“ im ICD-10 (WHO, 2010) als Störung der Geschlechtsidentität im Kindesal-
ter (F64.2) anhand der Kriterien: die anhaltende und starke Ablehnung des angeborenen
Körpergeschlechts sowie die feste Überzeugung, dem anderen Geschlecht anzugehören.
Bei Kindern, die geschlechtsdysphorisches Erleben und Verhalten weniger ausgeprägt
zeigen, wird häug die Diagnose „sonstige Störungen der Geschlechtsidentität“ (F64.8)
vergeben. Jugendliche, die diese diagnostischen Kriterien anhaltend auch noch im Ju-
gendalter erfüllen, zählen zur klinischen Gruppe der so genannten „Persisters“ (im Ge-
gensatz zu den „Desisters“, bei denen die gegengeschlechtliche Identizierung oder GD
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im Jugendalter aufgeben wird; Steensma, McGuire, Kreukels, Beekman, Cohen-Kettenis,
2013; Wallien u. Cohen-Kettenis, 2008; s. dazu auch Möller et al., 2014).
1.2 Ziel der Studie
Weltweit nimmt die Anzahl junger Menschen, die spezialisierte Zentren oder Be-
handler/innen aufgrund von geschlechtsvariantem Erleben oder Verhalten aufsu-
chen, zu (Freedman, Di Ceglie, Tasker, 2002; Di Ceglie, 2014; Zucker et al., 2008;
Spack et al., 2012). Gleichzeitig gibt es bisher kaum wissenschaliche Daten zu den
Inanspruchnahmezahlen und dem allgemeinen Benden dieser Kinder und Ju-
gendlichen in Deutschland. Die Mehrzahl der systematischen klinischen Studien
stammen aus den USA (z. B. Spack et al., 2012) und Kanada (z. B. Zucker, Bradley,
Sanikhani, 1997; Zucker et al., 2012) und im Europäischen Raum aus Amsterdam
(ehemals Utrecht; z. B. Cohen-Kettenis u. van Goozen, 1997; Cohen-Kettenis, Owen,
Kaijser, Bradley, Zucker, 2003; Cohen-Kettenis, Delemarre-van de Waal, Gooren,
2008; Smith, van Goozen, Cohen-Kettenis, 2001; Smith, van Goozen, Kuiper, Co-
hen-Kettenis, 2005; Steensma, Biemond, de Boer, Cohen-Kettenis, 2011; Steensma
et al., 2013; Wallien u. Cohen-Kettenis, 2008). In Deutschland existieren nur wenige
Zentren, in denen Kinder und Jugendliche von so genannten „Gender Spezialisten“
umfassend beraten und behandelt werden (für einen Überblick s. Möller et al., 2014).
Gleichzeitig berichten Behandler/innen von ansteigenden Inanspruchnahmezahlen
und zunehmendem Versorgungsbedarf für Patient/innen mit geschlechtsvariantem
Erleben und Verhalten (Di Ceglie, 2014). Für eine fachgerechte Diagnostik und ent-
sprechende Behandlungsimplikationen ist das Vorliegen von evidenzbasierten Zah-
len im Rahmen fundierter Studien zu dieser Gruppe in Deutschland dringend not-
wendig. Dieser erste Überblick über die Patient/innen, die das Behandlungsangebot
der Spezialsprechstunde in Hamburg in Anspruch nahmen, soll deshalb Informa-
tionen über eine noch wenig beachtete Gruppe in Deutschland liefern und dabei
helfen, die diagnostische Einschätzung und klinische Versorgung zu verbessern.
1.3 Fragestellungen
Neben soziodemograschen Informationen über die Patienten und ihre Familien
sind speziell Geschlechterunterschiede in Bezug auf das Alter bei Erstvorstellung
und erstmaligem Einsetzen von geschlechtsdysphorischem oder geschlechtsvari-
antem Erleben und Verhalten für die Indikationsstellung von Interesse. Zudem
werden Ergebnisse zu sexueller Orientierung bei Jugendlichen, der Familiensi-
tuation der Patient/innen und ihrer bisherigen psychotherapeutischen und en-
dokrinologischen Behandlung und den Wünschen nach körpermedizinischen
Maßnahmen dargestellt. Die spezischen Merkmale der Inanspruchnahmepopu-
lation werden unter Berücksichtigung der folgenden soziodemograschen Frage-
stellungen erfasst:
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 489Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 489 489
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Wie lässt sich die Gesamt-Inanspruchnahmepopulation in Hinblick auf 1. Geschlecht
und Alter bei Erstvorstellung, Diagnose, Alter bei Erstaureten und sexuelle Orientie-
rung (von Jugendlichen) beschreiben?
Wie lassen sich die 2. Familien- und Lebensumstände (Nationalität der Kinder und
Eltern, Beziehungsstatus der Eltern, Wohnsituation und Geburtsreihenfolge unter
Geschwistern) beschreiben?
Welche 3. begleitende psychotherapeutische Versorgung ist bisher erfolgt und welche
komorbiden Störungsbilder gibt es (bisherige psychotherapeutische Behandlung,
weitere Zusatzdiagnosen, Anzeichen von selbstverletzendem Verhalten, Suizidge-
danken oder -versuche)?
Wie viele Patient/innen haben eine Behandlung durch 4. pubertätshemmende oder ge-
gengeschlechtliche Hormone erhalten und in welchem Alter, wie viele wünschen sich
körpermedizinische geschlechtsverändernde Maßnahmen?
1.4 Theoretischer Hintergrund
Im Vergleich zum Geschlechterverhältnis im Erwachsenenalter, bei dem eine Annähe-
rung der Geschlechter zu verzeichnen ist (1.2:1 für Deutschland bei Garrells et al., 2000;
1:1.2 in einer länderübergreifenden europäischen Untersuchung bei Nieder et al., 2011),
wiesen einige Forschungsergebnisse in der Vergangenheit im Kindesalter recht unter-
schiedliche Inanspruchnahmezahlen für weiblich und männlich geborene Kinder auf
(Überwiegen der Anzahl von Patienten mit männlichem Geburtsgeschlecht bei Di Ce-
glie, Freedman, McPherson, Richardson, 2002 mit 3.8:1; knapp 3:1 bei Cohen-Kettenis
et al., 2003; knapp 6:1 bei Zucker et al., 1997). Auch bei Kindern und Jugendlichen ist
jedoch von einer zukünigen Angleichung der Geschlechterverteilung auszugehen, wie
es zuletzt die Ergebnisse von Spack et al. (2012) für eine amerikanische Stichprobe mit
97 GIS-Patient/innen zeigten (0.8:1). Während bei Di Ceglie et al. (2002) bei den Jungen
etwa gleich viele Kinder unter und über 12 Jahren zu nden waren, erhöhte sich der An-
teil an Mädchen von 20 % unter 12 Jahren auf 40 %. Dieser entscheidende Unterschied
im Geschlechterverhältnis zwischen Kindes- und Jugendalter wird auch in den Standards
of Care der World Professional Association of Transgender Health (SOC; Coleman et al.,
2011) beschrieben. Hier wird ein Geschlechterverhältnis für klinische Untersuchungs-
gruppen für Jugendliche von fast 1:1 genannt (Cohen-Kettenis u. Pfäin, 2003).
In der bisher größten Stichprobe mit 358 geschlechtsdysphorischen Kindern unter
13 Jahren von Zucker et al. (1997) waren Jungen nicht nur in der Mehrzahl, sondern
im Schnitt auch etwa ein Jahr jünger als die Mädchen (Gesamtdurchschnittsalter
bei 7 Jahren; Range zwischen 3 und 13 Jahren; Zucker et al., 1997). In einer lände-
rübergreifenden Studie verglichen Cohen-Kettenis et al. (2003) 130 Patient/innen
ihres Zentrums in Utrecht im Alter zwischen 4 und 13 Jahren mit der kanadischen
Stichprobe von Zucker et al. (1997). Auch hier waren die Mädchen im Schnitt älter
als Jungen, insgesamt war die Stichprobe in Utrecht etwas älter die kanadische. Mäd-
chen erfüllten zudem häuger alle Kriterien einer Geschlechtsidentitätsstörung des
490 I. Becker et al.
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Kindesalters (Gender Identity Disorder in Childhood, DSM-IV-TR, APA, 2000).
Das Alter bei Erstvorstellung erwies sich als das deutlichste Unterscheidungsmerk-
mal zwischen den Geschlechtern und Ländern. Für den deutschen Sprachraum lie-
gen Zahlen aus dem Uniklinikum Frankfurt vor (s. auch Meyenburg, 2014). Krege
(2011) berichtete in Bezug auf einen Vortrag von Meyenburg in einem Tagungsbe-
richt von einer deutlich höheren Anzahl adoleszenter Patient/innen mit F64.2 Dia-
gnose (n = 102) in Frankfurt im Vergleich zu jenen im Kindesalter (n = 22). Zudem
gab es einen höheren Anteil an weiblichen Patientinnen im Jugendalter. Diskutiert
wurde in Bezug auf das Alter bei Erstvorstellung in der Vergangenheit die Hypo-
these, dass abweichendes Geschlechtsrollenverhalten bei Jungen kulturell weniger
akzeptiert ist als bei Mädchen (Zucker et al., 1997) und dass Jungen deshalb im Kin-
desalter schlechtere Peer-Beziehungen aufweisen (Cohen-Kettenis et al., 2003).
Der Zeitpunkt der Erstvorstellung spielt sowohl für die Diagnostik, Behandlung
als auch das psychische Funktionsniveau eine Rolle. Studien aus Amsterdam (Co-
hen-Kettenis u. Gooren, 1992; Cohen-Kettenis u. van Goozen, 1997; Cohen-Kettenis
et al., 2008; Smith et al., 2001, 2005) zeigten, dass geschlechtsverändernde körper-
medizinische Maßnahmen im Jugendalter einen positiven Einuss auf psychopa-
thologische Begleitsymptome bei persistierender Geschlechtsdysphorie haben.
Zudem erwiesen sich früher behandelte Jugendliche im Langzeitverlauf als weni-
ger psychisch belastet als Jugendliche mit späterem Beginn medizinischer Behand-
lungsmaßnahmen. Kinder und Jugendliche hingegen, die keinen Zugang zu Bera-
tungsangeboten haben, weisen ein höheres Entwicklungsrisiko für emotionale und
Verhaltensprobleme und komorbide psychiatrische Störungsbilder auf (Freedman
et al., 2002; Cohen-Kettenis et al., 2003). In früheren Studien wurden zunehmend
psychopathologische Symptome (wie Angst, Depression, Suizidalität oder selbst-
verletzendes Verhalten) an Stichproben mit geschlechtsdysphorischen Kindern und
Jugendlichen als Begleitsymptomatik identiziert (de Vries, Doreleijers, Steensma,
Cohen-Kettenis, 2011; Grossmann u. D‘Augelli, 2007; Wallien, Swaab, Cohen-Ket-
tenis, 2007). In der Studie von Spack et al. (2012) zu soziodemograschen Faktoren
präsentierte eine Vielzahl der Patient/innen in der Vorgeschichte selbstverletzendes
Verhalten (21 %) und psychiatrische Erkrankungen (44.3 %), unter letzteren war
Depression mit 58.1 % die häugste Störung.
1.5 Entwicklungsverläufe bei Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie
Die Kategorisierung von Entwicklungsverläufen anhand von im DSM-IV genannten
Subtypen diente bei transsexuellen Erwachsenen in der Vergangenheit dem Versuch,
die Indikationsstellung einer körpermedizinischen Behandlung zu erleichtern (Law-
rence, 2010). Dabei wurde sowohl die sexuelle Orientierung als auch das Einsetzen
der gegengeschlechtlichen Identizierung und Verhaltens (Age of Onset/Onset Age)
als wichtige deskriptive Variable angesehen. Der Begri Age of Onset beschreibt
den Zeitpunkt, zu dem die Geschlechtsdysphorie erstmalig im Erleben und/oder im
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 491Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 491 491
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Verhalten aurat. Im europäischen Raum fand vor allem die Einteilung in Subtypen
anhand des Onset Age Anwendung, jedoch bisher noch nicht bei der Diagnose von
Geschlechtsidentitätsstörungen und der Entwicklungsprognose im Kindes- und Ju-
gendalter. Vorgeschlagen wird im Erwachsenenalter sowohl die Beschreibung von
Entwicklungsverläufen anhand von Age of Onset-Kriterien (Cohen-Kettenis u. Pfä-
lin, 2010; Nieder et al., 2011) als auch anhand der sexuellen Orientierung (Lawrence,
2010). Die sexuelle Orientierung bietet im Jugendalter jedoch eine wenig zwischen
unterschiedlichen Gruppen dierenzierende Informationsquelle über mögliche Ver-
läufe der Geschlechtsdysphorie. Es wurde wiederholt beschrieben, dass das Aureten
von Geschlechtsdysphorie während der Kindheit häuger mit einer sexuellen Ori-
entierung auf das eigene biologische Geschlecht (homosexuellen Orientierung) im
Jugend- und Erwachsenenalter1 einhergeht (Drummond, Bradley, Peterson-Bandali,
Zucker, 2008; Steensma et al., 2011, 2013; Wallien u. Cohen-Kettenis, 2008; Zucker et
al., 2012). Bei Spack et al. (2012) beschrieben sich 60 % der Jugendlichen als sexuell
zum eigenen Geburtsgeschlecht hingezogen, während Steensma et al. (2013) in einer
Nachuntersuchung mit 127 GD-Jugendlichen von fast 96 % sexuell zum eigenen Ge-
burtsgeschlecht hingezogenen Persisters berichten. Es ist jedoch vorstellbar, dass sich
Mädchen und Jungen hinsichtlich des Erstauretens der geschlechtsdysphorischen
Erlebens und Verhaltens ebenso unterscheiden wie hinsichtlich des Alters bei Erstvor-
stellung, wie es auch bei erwachsenen transsexuellen Frauen und Männern der Fall ist
(Nieder et al., 2011).
Bei der Typologisierung anhand von Onset Age Kriterien im Erwachsenenalter
wird zwischen Early Onset und Late Onset unterschieden (Cohen-Kettenis u. Pfäin,
2010; Lawrence, 2010). Der Zeitpunkt des erstmaligen Auretens eines Early Onset
wurde bisher lediglich von einigen Autoren als „vor Beginn der Pubertät“ deniert
(z. B. Doorn, Poortinga, Verschoor, 1994). Bei Nieder et al. (2011) erfolgte die kli-
nische Unterteilung von transsexuellen Entwicklungsverläufen im Erwachsenenalter
der Onset Age Subtypen nach DSM-IV-Kriterien. Dabei beschreibt Early Onset jene
Personen, die zusätzlich zu ihrer Diagnose die Kriterien A („andauerndes Zugehörig-
keitsgefühl zum anderen Geschlecht“) und B („anhaltendes Unbehagen im Geburtsge-
schlecht“) einer Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter erfüllten, während Late
Onset ein Einsetzen dieser Kriterien ab Pubertätsalter meint (ebd.). Bei Nieder et
al. (2011) erfüllten 56.5 % der Erwachsenen die Kriterien eines Early Onset in der
Kindheit. Unterteilt nach Geschlechtern präsentieren wesentlich mehr transsexuelle
Männer (85.7 %; FtM; Female-to-Male Transsexuals) einen frühzeitigen Entwick-
lungsverlauf (mit Beginn in der Kindheit) als transsexuelle Frauen (44.4 % MtF;
Male-to-Female Transsexuals). Im Kindesalter werden unterschiedliche Entwick-
lungsverlaufsmöglichkeiten momentan rückblickend in Persisting und Desisting Ge-
Homosexuell bezieht sich hier auf die sexuelle Orientierung anhand des eigenen Geburtsgeschlechts.
Auf diese Denitionen wird in der vorliegenden Arbeit verzichtet, stattdessen werden die Begrie
„androphil“ und „gynäphil“ verwendet (vgl. Cerwenka, Nieder, Richter-Appelt, 2012).
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nder Dysphoria unterteilt (Steensma et al., 2013; Wallien u. Cohen-Kettenis, 2008).
Diese Unterteilung trägt der speziellen Situation im Kindesalter Rechnung, dass die
Mehrzahl der Jugendlichen im Verlauf zwar weiterhin geschlechtsvariantes Verhalten
zeigt oder Erleben äußert, jedoch keine anhaltende Geschlechtsdysphorie. Gleich-
zeitig sollen Vorhersagemerkmale, die mit den verschiedenen Verläufen einherge-
hen, helfen, Fehlentscheidungen bei der Indikationsstellung zu einer irreversiblen
körpermedizinischen Behandlung zu vermeiden. In einer Follow-Up Untersuchung
zu den Entwicklungsverläufen von Persisters und Desisters (Steensma et al., 2013)
ergab sich ein Zusammenhang zwischen dem Anhalten der Geschlechtsdysphorie
bis ins Jugendalter (dem Entwicklungsverlauf der Persister) und dem Vorhandensein
folgenden Faktoren: (1) dem Alter bei Erstvorstellung in der Klinik, vor allem bei
männlichem Geburtsgeschlecht, (2) allgemein einem weiblichen Geburtsgeschlecht,
(3) dem Zeitpunkt des Rollenwechsels und (4) der Intensität der Geschlechtsdyspho-
rie während der frühen Kindheit.
2 Methoden
2.1 Untersuchungspopulation
Alle Patient/innen, die seit der Gründung der Spezialsprechstunde Anfang 2006 im
Zeitraum bis zur Auswertung der Akten das Beratungsangebot in der Spezialsprech-
stunde für Kinder und Jugendliche mit Varianten der Geschlechtsidentitätsentwick-
lung in Anspruch genommen haben (N = 48) wurden in die Analyse einbezogen.
Drei Fälle wurden auf Grund von methodischen Schwierigkeiten (fehlende Daten,
unleserliche Schri) aus der Analyse ausgeschlossen. Die Untersuchungsgruppe be-
stand somit aus 45 sowohl präpubertären als pubertären Kindern und Jugendlichen
im Alter zwischen 4,5 und 18 Jahren. Es wurde weder nach Tanner Stadien (Einteilung
der körperlichen Entwicklung während der Pubertät) noch nach Behandlungsstatus
unterschieden. Die meisten Kinder kamen mit Anzeichen von geschlechtsvarianten
oder geschlechtsdysphorischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit früher Kindheit
in die Sprechstunde, andere wiederum äußerten dies erst im Verlauf der Kindheit,
mit Einsetzen der Pubertät oder erfüllten sie gar nicht. Dieser Untersuchung lagen le-
diglich die deskriptive Selbstbeschreibung des erstmaligen Auretens der Kinder und
ihrer Eltern vor und keine gesicherten DSM-Kriterien. Zudem gibt es keine Daten
zum endgültigen Persistieren oder Nicht-Persistieren der Verläufe.
Die Beschreibung der Entwicklungsverläufe orientierte sich an den gängigen Sub-
typisierungsverfahren im Erwachsenenalter (Nieder et al., 2011). Anhand dieser Ver-
laufsdiagnostik wurden die Patient/innen in Kategorien nach „Alter bei Erstaureten
geschlechtsdysphorischen Erlebens und Verhaltens“ eingeteilt. Die drei Gruppen, die
in dieser Arbeit verglichen werden, wurden unterteilt in (1) im Vorschulalter (zwischen
2;6 und 5;11 Lebensjahren), (2) im Schulalter (zwischen 6;0 und 11;11 Jahren), im Ju-
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 493Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 493 493
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gendalter (ab 12;0 Jahren). Die Kategorisierung der sexuellen Orientierung erfolgte
anhand der Selbstaussagen der Jugendlichen über ihr sexuelles Verhalten in den Ge-
sprächsaufzeichnungen auf Basis der von Cerwenka, Nieder und Richter-Appelt (2012)
formulierten Denitionen als „gynäphil“ (sexuell auf Frauen/Mädchen orientiert), „an-
drophil“ (auf Männer/Jungen) und „gynandrophil“ (auf beide Geschlechter).
Kinder und Jugendliche, die sich mit einem Verdacht auf Geschlechtsidentitäts-
störung oder Varianten der Geschlechtsidentitätsentwicklung in der Sprechstunde
vorstellten, jedoch nicht die diagnostischen Kriterien nach ICD-10 für eine Ge-
schlechtsidentitätsstörung erfüllten und im Verlauf eine andere Diagnose erhielten,
werden im ersten Teil der Ergebnisse zunächst deskriptiv beschrieben, um einen
Überblick über die Gesamt-Inanspruchnahmepopulation zu ermöglichen, im Ver-
lauf der weiteren Analysen jedoch ausgeschlossen.
2.2 Vorgehen: Datenerhebung und Aktenanalyse
Alle Informationen basieren auf der Auswertung der Patientenakten aller Erstvor-
stellungen in der interdisziplinären Spezialsprechstunde am Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf im Zeitraum von Januar 2006 bis Juli 2010. Im Sinne eines
interdisziplinären Behandlungskonzeptes umfasste die Behandlung dieser Kinder
und Jugendlichen neben einer ausführlichen mehrstündigen Diagnostik und Bera-
tung häug langfristige Begleitung und Behandlung (für eine genaue Beschreibung
des Vorgehens s. Möller et al., 2014). Die Angaben zur Diagnose entstammen somit
einer prozessbegleitenden Verlaufsdiagnostik. Die soziodemograschen Angaben
beruhten auf Selbstauskünen der Kinder und ihrer Eltern. Das Age of Onset wur-
de anhand der dokumentierten anamnestischen Angaben der Eltern zum Alter bei
Erstaureten von geschlechtsvarianten Erlebens- und Verhaltensweisen bestimmt.
Hierzu wurden sowohl gegengeschlechtliche Verhaltensweisen (Tragen von Klei-
dung des anderen Geschlechts und Präferenz gegengeschlechtlichen Spielzeugs)
sowie Aussagen über das Erleben der eigenen Geschlechtsidentität (Ablehnung von
Körpermerkmalen oder Ekel vor dem eigenen Geschlecht) zur Denition herange-
zogen. Inhalt der Akten bildeten neben den somatischen und psychiatrischen Arzt-
briefen der überweisenden Ärzte und Psychotherapeuten, Tagebucheinträgen oder
Briefen der Eltern und Patient/innen vor allem die Aufzeichnungen der Gespräche,
sowie der Ergebnisse der ausführlichen anamnestischen und diagnostischen Ein-
schätzungen der Behandler/innen in der Sprechstunde. Zusätzlich fanden bei feh-
lenden Angaben in den Patientenakten ergänzende Interviews mit den zuständigen
Behandler/innen statt. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass die Daten nicht
standardisiert erhoben wurden, sondern auf den klinischen Einschätzungen und
Aufzeichnungen der Untersucher basieren. Die deskriptive Akten- und Dokumen-
tenanalyse erfolgte durch eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, zur
Auswertung der Informationen in den Patientenakten wurde anhand der genannten
operationalisierten Fragestellungen ein induktiv-deduktives Vorgehen gewählt.
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2.3 Statistische Auswertung
Die Auswertung der Daten wurde mit SPSS 20 durchgeführt. Es wurden ausschließ-
lich deskriptive Analysen durchgeführt. Fehlende Werte sind teilweise auf nicht er-
folgte Aufzeichnung der Angaben zurückzuführen, teilweise werden daher kleinere
Fallzahlen berichtet.
3 Ergebnisse
3.1 Geschlecht, Alter bei Erstvorstellung, Überweisungskontext, Diagnose,
Alter bei Erstauftreten, sexuelle Orientierung
Im denierten Beobachtungszeitraum zwischen 2006 und 2010 ergab sich eine Ge-
samtstichprobe der Inanspruchnahmepopulation von n = 45. Zum Zeitpunkt der
Erstvorstellung erschienen insgesamt mehr Mädchen (55 %) als Jungen (45 %) in
der Spezialsprechstunde. Tabelle 1 enthält eine ausführliche Beschreibung der Stich-
probe getrennt nach Geschlechtern.
Die Mehrzahl der Patient/innen wurde in den Jahren 2008 und 2009 gesehen (73.3 %).
Informiert über oder überwiesen an die Spezialsprechstunde wurden 25.6 % von an-
deren kinder- und jugendpsychiatrischen oder psychotherapeutischen Kollegen aus
ganz Deutschland; 16.3 % durch Endokrinologen (v. a. aus dem Endokrinologikum
Hamburg), 14 % von einem anderen Gender Spezialisten (v. a. aus dem Institut für
Sexualforschung, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf), 14 % von ihrem pädi-
atrischen oder internistischen Hausarzt und 11.6 % hatten durch eine Beratungsstelle
von der Spezialsprechstunde erfahren. 18.6 % waren auf andere Weise auf die Spezial-
sprechstunde aufmerksam geworden (z. B. durch das Internet oder Flyer).
Bei insgesamt 88.9 % der in die Analyse mit einbezogenen Fälle wurde durch er-
fahrene Gender Spezialisten (Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und/oder -psy-
chiater) nach ausführlicher diagnostischer Abklärung die Diagnose einer Störung der
Geschlechtsidentität nach ICD-10-Kriterien gestellt. 73.3 % erhielten die Diagnose
„Störung der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter“ (F64.2; „typische Ge-
schlechtsidentitätsstörung“; (s. Tab. 1, folgende Seite). Außerdem wurde in 15.6 % der
Fälle die Diagnose „sonstige Störungen der Geschlechtsidentität“ (F64.8; „atypische
GIS-Stichprobe“) vergeben. Mehr Mädchen (60 %) als Jungen (40 %) mit GIS-Dia-
gnose erschienen im Beobachtungszeitraum in der Sprechstunde, es ergab sich ein
Geschlechterverhältnis von 1:1.5 (M:F).
Das Durchschnittsalter bei Erstvorstellung lag bei der Gruppe der Kinder und
Jugendlichen mit GIS-Diagnose bei 13,3 Jahren. Jungen (M = 11 Jahre) erschienen
im Schnitt früher in der Spezialsprechstunde als Mädchen (M = 14.8 Jahre). Unter-
teilt nach Altersgruppen ergab sich ein Verteilungsverhältnis von 1:2,6 (<12:>12).
Insgesamt gab es einen größeren Anteil an Fällen mit Diagnose ab einem Alter von
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 495Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 495 495
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Tabelle 1: Alter zur Erstvorstellung, Diagnose, Alter erste Anzeichen, sexuelle Orientierung
Stichproben GIS-Diagnose Varianten der
Geschlechtsidentitätsentwicklung
Gesamtinan-
spruchnahme
Variablen
Mädchen
(n = 24)
Jungen
(n = 16)
Gesamt
(n = 40)
Mädchen
(n = 1)
Jungen
(n = 4)
Gesamt
(n = 5)
(n = 45)
Alter (in Jahren) MW (SD)
Range
Median
14.84 (2.45)
8.03-18.12
15.23
10.97 (4.33)
4.54-17.60
11.10
13.29 (3.80)
4.54-18.12
14.76
5.63 (---)
5.63-5.63
5.63
14.99 (1.67)
12.55-16.36
15.53
13.12 (4.43)
5.63-16.36
15.45
13.27 (3.82)
4.54-18.12
14.97
Altersverteilung (nach Altersgruppen) n (%) (n = 24) (n = 16) (n = 40) (n = 1) (n = 4) (n = 5) (n = 45)
< 12 2 (8.3 %) 9 (56.2 %) 11 (27.5 %) 1 (100 %) --- 1 (20 %) 12 (26.7 %)
> 12 22 (91.7 %) 7 (43.8 %) 29 (72.5 %) --- 4 (100 %) 4 (80 %) 33 (73.3 %)
Diagnose n (%) (n = 24) (n = 16) (n = 40) (n = 1) (n = 4) (n = 5) (n = 45)
F 64.2 20 (83.3 %) 13 (81.2 %) 33 (82.5 %) --- --- --- 33 (73.3 %)
F 64.8 4 (16.7 %) 3 (18.8 %) 7 (17.5 %) --- --- --- 7 (15.6 %)
Anderes (keine GIS-Diagnose) --- --- --- 1 (100 %) 4 (100 %) 5 (100 %) 5 (11.1 %)
Alter erste Anzeichen* n (%) (n = 24) (n = 16) (n = 40) (n = 1) (n = 2) (n = 3) (n = 43)
im Vorschulalter A 22 (91.6 %) 12 (75 %) 34 (85 %) 1 (100 %) 1 (50 %) 2 (66.6 %) 36 (83.7 %)
im Schulalter B 1 (4.2 %) 3 (18.8 %) 4 (10 %) --- --- --- 4 (9.3 %)
im Jugendalter C 1 (4.2 %) 1 (6.2 %) 2 (5 %) --- 1 (50 %) 1 (33.3 %) 3 (7 %)
fehlende Angabe 2 2 2
Sexuelle Orientierung n (%) (n = 20) (n = 7) (n = 27) (n = 0) (n = 2) (n = 2) (n = 29)
gynäphil 18 (90 %) --- 18 (66.7 %) --- --- --- 18 (62.1 %)
androphil --- 4 (57.1 %) 4 (14.8 %) --- 2 (100 %) 2 (100 %) 6 (20.7 %)
gynandrophil --- --- --- --- --- --- ---
unentschieden 2 (10 %) 3 (42.9 %) 5 (18.5 %) --- --- 5 (17.2 %)
keine Angabe, da prä-Pubertät ** 2 7 9 1 --- 1 10
fehlende Angabe 2 2 4 --- 2 2 6
* Alter bei ersten Anzeichen geschlechtsdysphorischer Erlebens- und Verhaltensweisen: A = zwischen 2;6 und 5;11 Jahren, B = zwischen 6;0 und 11;11
Jahren, C = ab 12;0 Jahren; ** vor dem 12. Lebensjahr
496 I. Becker et al.
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12 Jahren (72.5 %). Unter den jüngeren Kindern (< 12) waren prozentual mehr Jun-
gen (56.2 % der Jungen) als Mädchen (8.3 % der Mädchen); hier ergab sich ein Ge-
schlechterverhältnis von 4.5:1 (M:F). Bei den älteren Kindern verhielt es sich mit
einem Geschlechterverhältnis von 1:3.1 (M:F) umgekehrt.
Bei der Mehrzahl der Kinder mit einer Geschlechtsidentitätsstörung äußerten sich er-
ste Anzeichen geschlechtsdysphorischer Erlebens- und Verhaltensweisen bereits im frü-
hen Kindesalter, insgesamt bei 85 % wurde von deutlichen Anzeichen im Vorschulalter
(im Lebensalter zwischen 2;6 Jahren und 5;11 Jahren) berichtet. 10 % der Kinder wurden
als „Erstaureten im Schulalter“ kategorisiert, mit ersten Anzeichen zwischen 6;0 und
11;11 Jahren. Bei 5 % setzten diese gegengeschlechtlichen Verhaltensweisen nach einem
Lebensalter von 12;0 Jahren („im Jugendalter“) ein. Bei Mädchen setzten geschlechts-
dysphorisches Erleben und Verhalten prozentual häuger bereits ab einem frühen Alter
ein (91.6 % „im Vorschulalter“ unter den Mädchen im Vergleich zu 75 % der Jungen),
während sich unter den Jungen im Verhältnis mehr „spätere“ Entwicklungsverläufe
(18.8 % im Schulalter und 6.2 % im Jugendalter) fanden.
Keine/r der Jugendlichen, die bereits Aussagen über ihre sexuelle Orientierung tref-
fen konnten (67.5 %; ab einem Alter von 12 Jahren), äußerte eine sexuelle Orientie-
rung auf das andere Geschlecht. Bei 32.5 % der Jugendlichen mit Geschlechtsidenti-
tätsstörung konnte keine Aussage über die sexuelle Orientierung getroen werden, da
sie noch zu jung (prä-pubertär; jünger als 12 Jahre) waren oder Angaben fehlten. Alle
Jugendlichen, die Aussagen über ihre sexuelle Orientierung treen konnten, beschrie-
ben sich selbst entweder als zum eigenen biologischen Geschlecht hingezogen (81.5
%) oder unentschieden (18.5 %) bezüglich ihrer sexuellen Orientierung. Dies galt für
beide Geschlechter, für Mädchen jedoch in stärkerem Ausmaß (90 % gynäphil, 10 %
unentschieden) als für Jungen (42.9 % noch unentschieden, 57.1 % androphil).
3.2 Familien- und Lebensumstände
Die folgenden Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf die Stichprobe von ge-
schlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen, die eine gesicherte Diagnose
einer „typischen“ (F64.2) oder „atypischen Geschlechtsidentitätsstörung“ (F64.8)
erhalten hatten. Für alle Angaben zur Stichprobe getrennt nach Geschlechtern siehe
Tabelle 2 (folgende Seite).
Alle Kinder stammten aus Deutschland. In 82.5 % der Fälle waren zudem beide El-
ternteile deutscher Herkun, während 10 % der Kinder zwei Elternteile und 7.5 % ein
Elternteil mit ausländischem Hintergrund hatten. Insgesamt 46.1 % der Elternpaare
waren geschieden oder getrennt, 51.3 % lebten zusammen. Von den Mädcheneltern
lebten 54.2 % zusammen, während 45.8 % getrennt lebten oder geschieden waren. Die
Elternpaare der Jungen lebten annähernd zur Häle geschieden/getrennt (46.6 %) und
zur Häle zusammen (46.7 %). 50 % der Kinder lebten mit beiden biologischen Eltern-
teilen zusammen. 35 % lebten mit einem allein erziehenden Elternteil, mehrheitlich
mit der leiblichen Mutter (32.5 %). 12.5 % der Kinder wuchsen in einem Heim oder
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 497Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 497 497
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einer ähnlichen sozialen oder pädagogischen Einrichtung auf. 83.3 % aller Kinder und
Jugendlichen hatten leibliche oder Halbgeschwister, 16.7 % wuchsen ohne Geschwister
auf. Unterteilt nach Geburtsreihenfolge ergaben sich ähnliche Häugkeitsangaben für
älteste Kinder (33.3 %), mittlere Kinder (22.2 %) und jüngste Kinder (27.8 %).
3.3 Begleitende Psychotherapie und Psychopathologie
Für alle Angaben zu begleitender Psychotherapie und Psychopathologie der GIS-
Stichprobe getrennt nach Geschlechtern siehe Tabelle 3 (folgende Seite).
Insgesamt wurde bei 57.5 % der Kinder und Jugendlichen eine weitere Zusatz-
diagnose durch erfahrene kinder- und jugendpsychiatrische Behandler/innen im
Verlauf der diagnostischen Abklärung gestellt. Mehr Mädchen (70.8 %) als Jungen
(37.5 %) erhielten mindestens eine andere Diagnose zusätzlich zur diagnostizierten
Geschlechtsidentitätsstörung. Unter den zusätzlich gestellten psychiatrischen Dia-
gnosen traten mit 20 % die aektiven Störungen (F30 bis 39) und mit 17.5 % die neu-
Tabelle 2: Familien- und Lebensumstände
GIS-Diagnose
Variable Mädchen
(n = 24)
Jungen
(n = 16)
Gesamt
(n = 40)
Nationalität n (%) (n = 24) (n = 16) (n = 40)
Deutsch mit deutschen Eltern 18 (75 %) 15 (93.8 %) 33 (82.5 %)
Deutsch mit Eltern anderer Nationalität 4 (16.7 %) --- 4 (10 %)
Deutsch mit einem Elternteil anderer Nationalität 2 (8.3 %) 1 (6.2 %) 3 (7.5 %)
Beziehungsstatus der Eltern n (%) (n = 24) (n = 15) (n = 39)
zusammen lebend 13 (54.2 %) 7 (46.7 %) 20 (51.3 %)
geschieden 8 (33.3 %) 5 (33.3 %) 13 (33.3 %)
getrennt lebend 3 (12.5) 2 (13.3 %) 5 (12.8 %)
durch Tod getrennt --- 1 (6.7 %) 1 (2.6 %)
fehlende Angabe --- 1 1
Wohnsituation n (%) (n = 24) (n = 16) (n = 40)
bei beiden biologischen Eltern 13 (54.2 %) 7 (43.8 %) 20 (50 %)
bei der Mutter 8 (33.3 %) 5 (31.2) 13 (32.5 %)
beim Vater --- 1 (6.2 %) 1 (2.5 %)
pädagogische Einrichtung 2 (8.3 %) 3 (18.8 %) 5 (12.5 %)
anderes (z. B.: bei Großeltern) 1 (4.2 %) --- 1 (2.5 %)
Geburtsreihenfolge n (%) (n = 21) (n = 15) (n = 36)
ältestes Kind 7 (33.3 %) 5 (33.3 %) 12 (33.3 %)
mittleres Kind 3 (14.3 %) 5 (33.3 %) 8 (22.2 %)
jüngstes Kind 5 (23.8 %) 5 (33.3 %) 10 (27.8 %)
Einzelkind 6 (28.6 %) --- 6 (16.7 %)
fehlende Angabe 3 1 4
498 I. Becker et al.
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rotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (F40 bis 48) am häugsten auf,
vor allem bei Mädchen. Weitere Zusatzdiagnosen waren Persönlichkeits- und Ver-
haltensstörungen (F60 bis 69; 7.5 %) sowie Verhaltens- und emotionale Störungen mit
Beginn in der Kindheit und Jugend (F90 bis 98; 12.5 %; am häugsten bei Jungen).
Die Mehrzahl der Patient/innen hatte bereits vor Besuch der Spezialsprechstunde
oder im Verlauf der Behandlung eine begleitende psychotherapeutische Behand-
lung in Anspruch genommen (66.7 %). Für ein Drittel (33.3 %) war der Besuch in
der Spezialsprechstunde der erste Kontakt mit einem psychotherapeutischen Be-
handlungsangebot. Mehr Mädchen (57.1 %) als Jungen (41.7 %) gaben an, in der
Tabelle 3: Begleitende Psychotherapie und Psychopathologie
GIS-Diagnose
Variable Mädchen
(n = 24)
Jungen
(n = 16)
Gesamt
(n = 40)
Zusatzdiagnosen nach ICD-10 n (%) (n = 24) (n = 16) (n = 40)
F30 6 (25 %) 2 (12.5 %) 8 (20 %)
F40 7 (29.2 %) --- 7 (17.5 %)
F60 2 (8.3 %) 1 (6.25 %) 3 (7.5 %)
F90 2 (8.3 %) 3 (18.75 %) 5 (12.5 %)
keine Zusatzdiagnose 7 (29.2 %) 10 (62.5 %) 17 (42.5 %)
Begleitende psychotherapeutische Behandlung n (%) (n = 20) (n = 13) (n = 33)
Ja 14 (70 %) 8 (61.5 %) 22 (66.7 %)
Nein 6 (30 %) 5 (38.5 %) 11 (33.3 %)
fehlende Angabe 4 3 7
Jemals Suizidgedanken, Suizidversuche oder
selbstverletzendes Verhalten in der Vergangenheit
n (%) (n = 21) (n = 12) (n = 33)
Ja 12 (57.1 %) 5 (41.7 %) 17 (51.5 %)
Nein 9 (42.9 %) 7 (58.3 %) 16 (48.5 %)
fehlende Angabe 3 4 7
Aktuell Suizidgedanken* n (%) (n = 22) (n = 12) (n = 34)
Ja 11 (50 %) 3 (25 %) 14 (42.2 %)
Nein 11 (50 %) 9 (75 %) 20 (58.8 %)
fehlende Angabe 2 4 6
Aktuell Suizidversuch(e)* n (%) (n = 22) (n = 12) (n = 34)
Ja 4 (18.2 %) --- 4 (11.8 %)
Nein 18 (81.8 %) 12 (100 %) 30 (88.2 %)
fehlende Angabe 2 4 6
Aktuell selbstverletzendes Verhalten* n (%) (n = 22) (n = 12) (n = 34)
ja 8 (36.4 %) 1 (8.3 %) 9 (26.5 %)
nein 14 (63.6 %) 11 (91.7 %) 25 (73.5 %)
fehlende Angabe 2 4 6
* innerhalb der letzten 6 Monate
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 499Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 499 499
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Vergangenheit selbstverletzendes Verhalten gezeigt, Suizidgedanken gehabt oder
-versuche unternommen zu haben. 50 % der Mädchen berichteten aktuell oder in-
nerhalb der letzten 6 Monate Suizidgedanken, 18.2 % einen oder mehrere Suizid-
versuche unternommen und 36.4 % selbstverletzende Verhaltensweisen gezeigt zu
haben. Bei den männlichen Patienten war auch hier die Anzahl geringer als bei den
Mädchen (25 % Suizidgedanken; keine Suizidversuche und 8.3 % selbstverletzende
Verhaltensweisen innerhalb der letzten 6 Monate).
3.4 Geschlechtsverändernde körpermedizinische Behandlung
Für alle Ergebnisse getrennt nach Geschlechtern siehe Tabelle 4.
Bei allen Jugendlichen im Altersbereich zwischen 10 und 18 Jahren war eine mögliche
Behandlung durch pubertätshemmende oder gegengeschlechtliche Hormone im Ge-
spräch mit der/dem Behandler/in bereits ema. Davon hatten 57.6 % noch nicht mit
Tabelle 4: Körpermedizinische Behandlung und Behandlungswünsche
GIS-Diagnose
Variable Mädchen
(n = 24)
Jungen
(n = 16)
Gesamt
(n = 40)
Hormonbehandlung n (%) (n = 23) (n = 10) (n = 33)
pubertätshemmende Hormone (GnRH-Analoga) 2 (8.7 %) 3 (30 %) 5 (15.2 %)
gegengeschlechtliche Hormone (Testosteron oder Estradiol) 2 (8.7 %) --- 2 (6.1 %)
pubertätshemmende und gegengeschlechtliche Hormone 2 (8.7 %) 1 (10 %) 3 (9.1 %)
indiziert, aber noch nicht begonnen 2 (8.7 %) 2 (20 %) 4 (12.1 %)
nein, (bisher) keine Hormonbehandlung 15 (65.2 %) 4 (40 %) 19 (57.6 %)
keine Angabe, da noch zu jung (< 10. Lj.) 1 6 7
Alter bei Beginn mit pubertätshemmenden Hormonen (n = 4) (n = 4) (n = 8)
Mittelwert (SD)
Range
Median
14.88 (1.38)
13.5–16.5
14.75
14.13 (1.6)
12.5-15.5
14.25
14.5 (1.44)
12.5-16.5
14.75
Alter bei Beginn mit gegengeschlechtlichen Hormonen (n = 4) (n = 1) (n = 5)
Mittelwert (SD)
Range
Median
15.5 (1.3)
14.0-17.0
15.5
16.0 (---)
---
16.0
15.6 (1.14)
14.0-17.0
16.0
Wunsch nach körpermedizinischen Maßnahmen
(pubertätshemmende oder gegengeschlechtliche
Hormone und/oder operative Maßnahmen)
n (%) (n = 17) (n = 5) (n = 22)
ja 14 (82.4 %) 3 (60 %) 17 (77.3 %)
nein 2 (11.8 %) 1 (20 %) 3 (13.6 %)
unsicher 1 (5.9 %) 1 (20 %) 2 (9.1 %)
fehlende Angabe 7 11 18
500 I. Becker et al.
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dieser möglichen Behandlung begonnen. Bei 12.1 % war eine Behandlung indiziert, das
heißt, eine Überweisung an einen pädiatrischen Endokrinologen war bereits erfolgt, die
Behandlung hatte jedoch noch nicht begonnen. 15.2 % der Jugendlichen hatten eine
Behandlung mit pubertätshemmenden Hormonen erhalten. 17.4 % der Mädchen hat-
ten entweder mit der gegengeschlechtlichen Behandlung begonnen oder beide Behand-
lungen erhalten und ein Junge hatte bereits sowohl pubertätshemmende als auch gegen-
geschlechtliche Hormone erhalten. Im Schnitt waren die Jugendlichen bei Beginn der
Behandlung mit pubertätshemmenden Hormonen 14.5 Jahre alt und bei Beginn mit
den gegengeschlechtlichen Hormonen 15.6 Jahre alt. 77.3 % der Kinder und Jugendliche
formulierten den eindeutigen Wunsch, ihre primären oder sekundären Geschlechts-
merkmale durch medizinische Maßnahmen zu verändern. 9.1 % waren sich noch nicht
sicher oder unentschlossen, ob sie diese Art der Behandlung wünschten.
4 Diskussion
Diese Studie hatte zum Ziel, die demograschen und klinischen Daten von Kindern
und Jugendlichen mit geschlechtsdysphorischem Erleben und Verhalten an einer
kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung zu untersuchen. Mit dieser deskrip-
tiven Analyse einer Inanspruchnahmepopulation soll ein Beitrag zum Wissensstand
hinsichtlich dieser im deutschen Raum bislang wenig wissenschalich untersuchten
klinischen Population geleistet werden, nebst Hinweisen zu Implikationen für Dia-
gnostik und Behandlung.
Die meisten der hier untersuchten Kinder und Jugendlichen mit Fragen oder Varianten
der Geschlechtsidentitätsentwicklung wurden von medizinischen oder psychotherapeu-
tischen Kolleg/innen überwiesen (insgesamt 69.9 %). Während die Inanspruchnahme-
zahlen für die ersten Jahre nach Erönung der Sprechstunde 2006 und 2007 noch sehr ge-
ring waren, stellte sich im Verlauf 2008 bis 2009 eine zunehmende Zahl Patient/innen vor.
Dabei überwog der Anteil der Mädchen. Innerhalb der Gruppe von Kindern mit ICD-10
Diagnose F64.2 oder F64.8 ergab sich ein Geschlechterverhältnis von 1:1.5 (M:F). Dieses
erwies sich als insgesamt ausgeglichener als in bisherigen Untersuchungen in Kanada,
England und den Niederlanden (Zucker et al., 1997; Di Ceglie et al., 2002; Cohen-Kettenis
et al., 2003) und entspricht eher dem Geschlechterverhältnis, das von Krege (2011) für
Frankfurt (s. auch Meyenburg, 2014) berichtet wird, aktuelleren Zahlen aus den USA
(0.8:1 bei Spack et al., 2012) oder der berichteten Annäherung der Zahlen für das Jugend-
alter (Cohen-Kettenis u. Pfäin, 2003). Unterschiede zwischen den Nationen könnten
sich, wie bereits bei Cohen-Kettenis et al. (2003) diskutiert, durch soziokulturelle Faktoren
erklären lassen. Innerhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit diagnostizierter
Störung der Geschlechtsidentität ergaben sich ähnliche Prozentwerte für die Geschlechter
in Hinblick auf die Vergabe einer „typischen GIS“-Diagnose (F64.2) und nicht, wie in ver-
schiedenen Studien gezeigt, eine höhere Wahrscheinlichkeit für Mädchen, die diagnos-
tischen Kriterien zu erfüllen (Cohen-Kettenis et al., 2003; Steensma et al., 2013).
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 501Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 501 501
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Für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit einer diagnostizierten Ge-
schlechtsidentitätsstörung ergeben sich deutliche Altersunterschiede. Die in der
Spezialsprechstunde vorgestellten Mädchen mit Geschlechtsidentitätsstörung wa-
ren durchschnittlich fast vier Jahre älter (14.8 Jahre) als Jungen (11 Jahre). Mädchen
waren deutlich häuger bereits im Jugendalter (> 12) im Vergleich zu Jungen. Diese
Ergebnisse entsprechen denen der Frankfurter (s. hierzu Krege, 2011) und Londoner
Untersuchungen (Di Ceglie et al., 2002), in welchen sich das Geschlechterverhältnis
im Jugendalter für Mädchen umkehrte. Allgemein erweist sich dieses Ergebnis so-
mit als ein ebenso deutliches Unterscheidungsmerkmal wie es bereits in der Studie
von Cohen-Kettenis et al. (2003) beschrieben wurde. Auch in Toronto (Zucker et al.,
1997), Utrecht (Cohen-Kettenis et al., 2003) und Amsterdam (Steensma et al., 2013)
waren die Jungen im Schnitt jünger als die Mädchen. Allerdings muss bei diesen
Studien darauf hingewiesen werden, dass, im Gegensatz zur Hamburger Stichprobe,
nur Kinder im Alter zwischen 3 und 13 Jahren berücksichtigt wurden.
Der spätere Zeitpunkt der Erstvorstellung in der Hamburger Gesamtstichprobe
im Vergleich zu anderen Stichproben und bei Mädchen im Speziellen hat vermut-
lich vielfältige Gründe. In Deutschland wird jungen Patient/innen eine körper-
medizinische Behandlung vor einem Alter von 16 bzw. 18 Jahren vielerorts noch
verwehrt. Für die meisten Jugendlichen sind zudem ein entscheidender Grund zur
Erstvorstellung die durch die Pubertät induzierten körperlichen Veränderungen
(Ausbildung primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale). Der Eintritt in die
Pubertät mit der körperlichen Entwicklung ist ein entscheidender Zeitpunkt, sich
mit der eigenen Geschlechtsidentität und/oder -rolle auseinander zu setzen und/
oder ein Zeitpunkt, zu dem sich bestehende Probleme häug noch verstärken (Di
Ceglie et al., 2002). Nach Zucker (2000) erscheint die Entwicklung der Geschlecht-
sidentität ihres Kindes für einige Eltern zunächst nur als eine „Phase“ (s. auch Co-
hen-Kettenis et al., 2003). Eltern entscheiden nach dieser Einschätzung häug erst
dann, mit ihrem Kind eine Sprechstunde für Fragen der Geschlechtsidentitätsent-
wicklung aufzusuchen, wenn sich diese Phase mit Beginn der Pubertät nicht mehr
„auszuwachsen“ scheint (ebd.). Das spätere Erstvorstellungsalter bei Mädchen im
Speziellen wurde in der Vergangenheit o als eine Tendenz zu verstärkter kultureller
Akzeptanz von geschlechtsuntypischen Verhaltensweisen im Gegensatz zu Jungen
beschrieben (Zucker et al., 1997). Geschlechtsdysphorische Jungen weisen häug
schlechtere Peer-Beziehungen auf als Mädchen (Cohen-Kettenis et al., 2003) und
stoßen auf soziale Intoleranz gegenüber geschlechtsuntypischen Verhaltensweisen
durch Peers (Zucker et al., 1997). Dies trägt auf Seiten der Kinder im Laufe der
präpubertären Entwicklung dazu bei, dass Jungen einen häug stärkeren subjek-
tiven Leidensdruck als Mädchen mit geschlechtsuntypischem Verhalten entwickeln.
Mit Eintritt der Pubertät wird der subjektive Leidensdruck bei Jugendlichen bei-
der Geschlechter, bei denen die gegengeschlechtliche Identizierung im Laufe der
Entwicklung persistiert (Persisters), zunehmend durch das Verhältnis zum eigenen
Körper bedingt (Steensma et al., 2011).
502 I. Becker et al.
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Ein weiterer Unterschied ergab sich in der Betrachtung der Subtypisierung nach Alter
bei Erstaureten: hier berichteten beinahe alle Mädchen und ihre Eltern retrospektiv
von einem ersten Einsetzen der geschlechtsdysphorischen Erlebens- und Verhaltenswei-
sen im Vorschulalter, während verhältnismäßig mehr Jungen als Mädchen bzw. ihre El-
tern von einem frühen Einsetzen im Schulalter (zwischen 6;0 und 11;11 Jahren) oder ab
Pubertätsalter (ab 12;0 Jahren) berichteten. Die Nachfolgeuntersuchung von Steensma
et al. (2013) berichtet von mehr weiblichen Persisters, sowie insgesamt einem späteren
Erstvorstellungsalter unter den Mädchen bei gleichzeitig früherem Rollenwechsel und
einem höherem Prozentsatz an erfüllten Kriterien für eine GIS-Diagnose im Kindesalter.
Diese Faktoren, die für Mädchen und Jungen im Kindesalter unterschiedlich in Zusam-
menhang mit dem Anhalten oder Nicht-Anhalten einer Geschlechtsdysphorie zu stehen
scheinen, sehen Steensma et al. (2013) als grundlegend für den klinischen Umgang mit
den unterschiedlichen Geschlechtern an. Es ist denkbar, dass die Entwicklungsverläufe
mit sehr frühem Einsetzen geschlechtsdysphorischer Erlebens- und Verhaltensweisen,
die in unserer Stichprobe häuger bei Mädchen genannt wurden, ebenfalls mit einem
anderen Verlauf im Jugendalter in Zusammenhang stehen als bei Jungen. Um dies zu
überprüfen, bedarf es jedoch weiterführender Follow-Up-Untersuchungen der Kinder,
die sich bereits in Behandlung benden. Die im Rahmen dieser Studie verwendeten
Entwicklungsverlaufs-Subtypen sind daher nur eingeschränkt interpretierbar und ori-
entieren sich lediglich an klinischen Kategorien im Erwachsenenalter (s. Nieder et al.,
2011) als Versuch, auch im Kindesalter zwischen verschiedenen Entwicklungsverlaufs-
möglichkeiten zu dierenzieren. Die Kategorien mit Unterscheidung zwischen „Vor-
schul- und Schulalter“ wurden gewählt, um im Kindesalter noch eingehender zwischen
den möglichen Verlaufstypen zu dierenzieren. Der hohe Anteil an Kindern, die von
einem sehr frühen Age of Onset berichten, weist auf die Frühzeitigkeit geschlechtsdys-
phorischer Entwicklungen im Kindesalter hin und bietet ein wichtiges diagnostisches
Hilfsmittel bei der Indikationsstellung. Die Tatsache, dass die meisten Kinder eine frühe
Erstmanifestation der Anzeichen einer geschlechtsdysphorischen Entwicklung berich-
ten, jedoch erst im Jugendalter Beratungsangebote aufsuchen, spricht möglicherweise
für eine unzureichende Versorgungssituation in Deutschland bei gleichzeitig noch ge-
ringer Sensibilisierung von Behandler/innen und Öentlichkeit für die ematik. Das
im Vergleich zu anderen Ländern geringe Behandlungsangebot für Kinder und Jugend-
liche in Deutschland könnte hier einen Selektionseekt verursachen. So ließe sich wo-
möglich die insgesamt eher niedrig erscheinende Anzahl bei der Inanspruchnahme zum
Zeitpunkt der Gründung der Spezialsprechstunde 2006 mit gleichzeitig spätem Erstvor-
stellungszeitpunkt der Jugendlichen erklären. Eine wachsende Oenheit gegenüber der
ematik kann und wird vermutlich bewirken, dass Eltern sich mit ihren Kindern zu-
künig früher an spezialisierte Versorgungsangebote wenden.
In Bezug auf ihre sexuelle Orientierung konnten mehr Mädchen (vermutlich altersbe-
dingt) Aussagen dazu treen, zu wem sie sich sexuell hingezogen fühlten oder mit wem
sie bereits erste sexuelle Erfahrungen gemacht hatten, als Jungen. Von diesen Mädchen
berichteten fast alle von einer gynäphilen (gleichgeschlechtlichen) sexuellen Orientie-
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 503Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 503 503
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rung, während bei den Jungen insgesamt häuger noch Unsicherheit bezüglich der ei-
genen sexuellen Orientierung bestand. Auch bei der bestehenden Unsicherheit gilt es
jedoch zu berücksichtigen, dass die Mädchen im Schnitt älter als die Jungen waren und
somit vermutlich bereits konkretere Aussagen über ihre sexuelle Orientierung treen
konnten. Auällig bleibt, dass, im Gegensatz zu den Ergebnissen von Spack et al. (2012)
und Steensma et al. (2013), keine/r der Jugendlichen Anzeichen einer eindeutig sexuel-
len Orientierung auf das andere Geschlecht (in Bezug auf das Geburtsgeschlecht) oder
beide Geschlechter aufwiesen. Somit scheint die sexuelle Orientierung, wie eingangs
vermutet, kein angemessenes Maß zur Dierenzierung diagnostischer Subgruppen im
Kindes- und Jugendalter darzustellen. Für viele Kinder scheint zudem noch Unklarheit
hinsichtlich der eigenen sexuellen Orientierung zu bestehen, während im Erwachsenen-
alter auch andere Entwicklungsverläufe der sexuellen Orientierung (als ausschließlich
gleichgeschlechtliche) möglich sind (Cerwenka et al., 2012). Gleichzeitig entsprechen
die Ergebnisse jenen der Studie von Steensma et al. (2013) über die Unterschiede zwi-
schen Persisters und Desisters. Obwohl unterschiedliche psychosexuelle Entwicklungs-
verläufe möglich sind, ist insgesamt von einem Zusammenhang zwischen dem Aure-
ten geschlechtsdysphorischer Verhaltensweisen in der Kindheit und einer Tendenz in
Richtung sexueller Orientierung auf das eigene Geburtsgeschlecht auszugehen (Steens-
ma et al., 2011; Zucker et al., 2012).
In der Hamburger Stichprobe mit diagnostizierter Geschlechtsidentitätsstörung
fanden sich im Vergleich zu anderen Studien (Zucker et al., 1997; Cohen-Kettenis
et al., 2003) deutlich weniger Elternpaare, die noch zusammen lebten (etwa die
Häle). Während in Toronto etwa 2/3 der Kinder mit einer Geschlechtsidentitäts-
störung mit beiden Elternteilen aufwuchsen, lag dieser Anteil in Amsterdam bei
etwa 3/4 (Cohen-Kettenis, 2003). Dies könnte auf die steigenden Scheidungsraten in
Deutschland zurückzuführen sein und ist vermutlich durch einen Kohorteneekt zu
erklären (Scheidungsquote in Deutschland zum Zeitpunkt der Datenerhebung 2010
bei ca. 49 %, Statistisches Bundesamt, 2013). Auch in der amerikanischen Studie von
Spack et al. (2012) war ein geringerer Prozentsatz als in den Studien von Zucker et
al. (1997) und Cohen-Kettenis et al. (2003) der Elternpaare noch verheiratet (etwa
die Häle) und ein vergleichsweise höherer Anteil geschieden oder getrennt. Hin-
sichtlich der Geburtsreihenfolge ergaben sich einheitliche Häugkeitsverteilungen
für Mädchen und Jungen und nicht, wie in einigen bisherigen Studien (Zucker et al.,
1998, 2007) beschriebene typische Geschwisterreihenfolgen.
Die Mehrzahl der vorstelligen Kinder und Jugendlichen (57.5 %) hatte zusätzlich
zu ihrer diagnostizierten Geschlechtsidentitätsstörung eine weitere ICD-10-Diagno-
se erhalten. Diese Anzahl an Zweitdiagnosen liegt deutlich über den von de Vries et
al. (2011) berichteten Zahlen für niederländische Jugendliche. Hier erhielten 32 %
der geschlechtsdysphorischen Jugendlichen eine nach DSM-IV-Kriterien vergebene
zusätzliche psychiatrische Diagnose. De Vries et al. diskutierten, dass diese Anzahl
über jener der Normalbevölkerung liege, aber geringer ausfalle als für andere kli-
nische Gruppen.
504 I. Becker et al.
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Bei den Mädchen der vorliegenden Studie lag dieser Anteil zudem deutlich höher als
bei Jungen. Unter den gestellten Diagnosen waren aektive Störungen (F30 bis 39), neuro-
tische Belastungs- und somatoforme Störungen (F40 bis 48) die häugsten. Bei Mädchen
überwogen die aektiven und neurotischen Störungsbilder deutlich, während Jungen pro-
zentual häuger auch Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit
und Jugend (F90 bis F98) aufwiesen. Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen hatten vor
Besuch der Spezialsprechstunde oder im Verlauf der Behandlung aufgrund ihrer Frage
der Geschlechtsidentität oder anderer Fragestellungen eine begleitende psychotherapeu-
tische Behandlung in Anspruch genommen. Dies ist unter Versorgungsgesichtspunkten
angesichts des hohen Leidensdrucks, den viele Jugendliche bei Erstvorstellung berichten,
zumindest ermutigend. Dieser Leidensdruck dokumentiert sich deutlich durch den mit
50 % sehr hohen Anteil an selbstverletzenden Verhaltensweisen, Suizidgedanken oder
Suizidversuchen, die für die Vergangenheit berichtet wurden. Diese traten vor allem bei
Mädchen gehäu auf, was möglicherweise auch mit dem durchschnittlich höheren Alter
der weiblich geborenen Jugendlichen zusammenhing. In der Vergangenheit wurden sol-
che psychopathologischen Symptome (wie Angst, Depression, Suizidalität oder selbstver-
letzendes Verhalten) in Untersuchungen an anderen Stichproben als häuge Begleitsym-
ptomatik identiziert (Grossmann u. D’Augelli, 2007). In der neueren Studie von Spack et
al. (2012) waren ebenfalls Depressionen die am häugsten vergebenen Diagnosen unter
der Begleitsymptomatik. Die anteiligen Zahlen für selbstverletzendes Verhalten und Sui-
zidalität sind in unserer Studie jedoch deutlich höher als in den bisherigen. Das verweist
womöglich darauf, in welch destruktiven Teufelskreis die massive Ablehnung des eigenen
Körpers bei einer geschlechtsdysphorischen Entwicklung führen kann, wenn diese nicht
rechtzeitig erkannt und fachgerecht behandelt wird und unterstreicht die Notwendigkeit
einer möglichst frühzeitigen fachgerechten Behandlung einschließlich einer psychothera-
peutischen Begleitung im Rahmen eines interdisziplinären Behandlungskonzepts.
Die Mehrzahl der Jugendlichen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung hatte mit einer
Behandlung durch (pubertätshemmende) Hormone noch nicht begonnen. Die Zahlen
fallen somit deutlich geringer aus als in der Studie von Spack et al. (2012; 57.7 % Beginn
einer medizinischen Behandlung in den USA im Vergleich zu 30.4 % Beginn mit einer
Behandlung durch gegengeschlechtliche Hormone oder GnRH-Analoga in Deutsch-
land). Dies lässt sich jedoch dadurch erklären, dass die meisten der untersuchten Jugend-
lichen bei Spack et al. (2012) innerhalb der ersten Woche nach Erstvorstellung bereits mit
körpermedizinischen Maßnahmen begannen, sowie dadurch, dass die Patient/innen der
vorliegenden Studie zum Zeitpunkt der Auswertung 2010 in ihrem Transitionsprozess
unterschiedlich weit fortgeschritten waren. In Deutschland herrscht immer noch kein
eindeutiger Konsens hinsichtlich des Beginns einer körpermedizinischen Behandlung
bei Jugendlichen mit Störungen der Geschlechtsidentität.2 Grundsätzlich befürworten
Für einen Überblick zur Diskussion um die Altersvorgabe bei der Indikationsstellung zur Hor-
monbehandlung in Deutschland s. Möller et al. (2014), Korte et al. (2008) oder Becker, Möller und
Schweizer (2013).
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 505Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 505 505
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die meisten „Gender Spezialisten“ jedoch eine Hormonbehandlung auch vor dem 16.
Lebensjahr anhand von Tanner-Stadien nach ausführlicher diagnostischer Abklärung.
Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass sich die Untersuchung ausschließ-
lich auf eine selektive Auswahl von klinisch vorstellig gewordenen Patient/innen
handelt, die sich nicht auf die Gesamtheit aller Kinder und Jugendlichen mit Fra-
gen oder Varianten der Geschlechtsidentitätsentwicklung generalisieren lässt. Hier
bedarf es zuküniger Untersuchungen an repräsentativen Stichproben. Bei dieser
Studie handelt es sich um eine deskriptive Analyse der Stichprobe ohne den Ein-
satz standardisierter Instrumente, das heißt, es können lediglich Aussagen über die
Zusammensetzung der Stichprobe aus den Patientenakten getroen werden. Eine
dierenziertere Untersuchung der Häugkeitsverteilung relevanter Merkmale sowie
deren Korrelation untereinander bleibt künigen prospektiven Studien vorbehal-
ten, die multizentrisch organisiert sein, und bei denen standardisierte Fragebogen-
instrumente zum Einsatz kommen sollten.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Diese Studie liefert einen Überblick über die Inanspruchnahmepopulation der Spe-
zialsprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Varianten der Geschlechtsidenti-
tätsentwicklung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Zeitraum 2006
bis 2010. Das Ziel war dabei, demograsche Informationen über diese klinische
Gruppe für den deutschsprachigen Raum zu generieren, die für die Weiterent-
wicklung von Diagnostik und Behandlungskonzepten hilfreich sein können. Seit
der Gründung der Spezialsprechstunde 2006 ist ein Anstieg an Patient/innen zu
verzeichnen, die das Behandlungsangebot suchen. Die Mädchen und Jungen, die
in dieser Studie untersucht wurden, fanden den Weg in die Sprechstunde erst zu
einem relativ späten Zeitpunkt (vor allem Mädchen), obwohl erstmaliges Aureten
geschlechtsdysphorischer oder gegengeschlechtlicher Erlebens- und Verhaltenswei-
sen rückblickend bereits im frühen Kindesalter berichtet wurden. Die Ergebnisse
dieser Studie zeigen, dass in Deutschland bezüglich dieser klinischen Gruppe drin-
gend Forschungsbedarf besteht. Mädchen und Jungen unterscheiden sich in ihrem
klinischen Erscheinungsbild bei Erstvorstellung, vor allem in Hinblick auf das Alter
bei Erstvorstellung und Erstaureten der Geschlechtsdysphorie, begleitende psy-
chopathologische Störungsbilder und Behandlungswünsche – und somit auch in
Hinblick auf mögliche Entwicklungsverläufe. Diese Unterschiede, aber auch Ge-
meinsamkeiten, machen die Relevanz eines individuell angepassten Vorgehens bei
der Diagnostik für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien selbst, aber auch
für die Behandler/innen in Hinblick auf unterschiedliche Behandlungsansätze und
-entscheidungen, umso deutlicher. Zudem bedarf es dringend zusätzlicher evidenz-
basierter Studien, die diese Unterschiede in den Charakteristika der Inanspruch-
nahmepopulation eingehend untersuchen.
506 I. Becker et al.
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Fazit für die Praxis
Die Studie veranschaulicht die Notwendigkeit eines interdisziplinären, an die
individuellen Bedürfnisse und Situation des Kindes und seines Umfeldes ange-
passten Vorgehens. Weiblich und männlich geborene Kinder und Jugendliche
unterscheiden sich in ihrem klinischen Erscheinungsbild bei Erstvorstellung:
Begleitende Psychopathologie sowie häug auretende selbstverletzende Ver-
haltensweisen und Suizidalität verdeutlichen ihren Versorgungsbedarf. Mit der
Geschlechtsdysphorie einhergehende Probleme und Symptome frühzeitiger zu
erkennen und zu verhindern, kann durch eine sorgfältige, am Einzelfall orien-
tierte Dierentialdiagnostik und ein individuell abgestimmtes und unterstüt-
zenden Vorgehen bei der Beratung sowie eine Verbesserung der allgemeinen
Versorgungssituation der Betroenen gefördert werden.
Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 507Merkmale von Kindern und Jugendlichen in einer Spezialsprechstunde 507 507
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Korrespondenzanschri: Dipl.-Psych. Inga Becker, Universitätsklinikum Hamburg-
Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik für Kinder- und Jugendpsy-
chiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik, Martinistraße 52, 20246 Hamburg;
E-Mail: i.becker@uke.de
Inga Becker, Voltisa Gjergji-Lama und Birgit Möller, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik; Georg Romer, Universitätsklini-
kum Münster, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie