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Zur Rezeption von Vaihingers Philosophie des Als Ob in der Physik, in Matthias Neuber (ed.) Fiktion und Fiktionalismus. Beiträge zu Hans Vaihingers `Philosophie des Als-Ob, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014, S. 161-186.

Authors:
Zur Rezeption von Vaihingers Philosophie des Als Ob in der Physik
Beitrag von Klaus Hentschel*, Stuttgart, für den Vaihinger-Band zur Tagung in Tübingen 2011,
erschienen in in Matthias Neuber (Hrsg.) Fiktion und Fiktionalismus. Beiträge zu Hans Vaihingers
`Philosophie des Als-Ob, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014, S. 161-186.
Gliederung des Beitrags
I. Rezeption im Feld Relativitätstheorie
- Hintergründe der „Als-Ob“ Konferenz in Halle
- c = const., als Kandidat für eine Fiktion
- Längenkontraktion und Zeitdilatation
II. Rezeption im Feld Quantentheorie und -mechanik
- Albert Einstein und das Lichtquantum (1905)
- Erwin Schrödinger und Quantenmechanik (1925ff.)
III. Allgemeinere Thesen zur Vaihingerschen Rezeptionsgeschichte
Abstract:
Dieser Beitrag behandelt die Aufnahme Vaihingerschen Gedankengutes in physikalischen
Kontexten, wobei vorrangig die Diskussionen um die Interpretationen der
Relativitätstheorie sowie der Quantentheorie und Quantenmechanik herausgegriffen
werden. Einige (gewagte) allgemeinere Thesen zur Vaihingerschen Rezeptionsgeschichte
bilden den Abschluß.
*Prof. Dr. Klaus Hentschel
Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften & Technik
Historisches Institut
Universität Stuttgart
Keplerstr. 17
D-70174 Stuttgart
klaus.hentschel@hi.uni-stuttgart.de
www.uni-stuttgart.de/hi/gnt/hentschel
„Das menschliche Vorstellungsgebilde der Welt ist ein ungeheures Gewebe von Fiktionen
voll logischer Widersprüche, d.h. von wissenschaftlichen Erdichtungen zu praktischen
Zwecken bzw. von inadäquaten, subjektiven, bildlichen Vorstellungsweisen, deren
Zusammentreffen mit der Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist.“
(Hans Vaihinger: Philosophie des Als Ob, 1911, S. 14)
Teil I: Rezeption im Feld Relativitätstheorie
Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ erfuhr – dies zeigt nicht zuletzt auch dieser
Tagungsband – über etwas mehr als ein Jahrzehnt eine breite Aufnahme in den
unterschiedlichsten Bereichen des intellektuellen Lebens. Der kleine, aber interessante
Ausschnitt ihrer Rezeption in den heftigen Debatten um die Relativitätstheorie, die gerade
jener der Hochphase der Vaihinger-Rezeption um 1920 im deutschen, französischen und
angelsächsischen Sprachraum tobten, wurde in meiner Dissertation über Interpretationen &
Fehlinterpretationen der speziellen & allgemeinen Relativitätstheorie bereits im einzelnen
untersucht.
1
Der hier vorliegende Beitrag beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der
damaligen Ergebnisse, geht darüber dann aber im zweiten Teil hinaus mit entsprechenden
Überlegungen zur Interpretation der Quantentheorie und Quantenmechanik sowie zur
allgemeineren Rezeptionsgeschichte des Vaihingerschen Fiktionalismus in der Physik
Einsetzen möchte ich beim Auftakt jener Debatten um eine fiktionalistische Interpretation
der Relativitätstheorie anläßlich der „Als-Ob“-Konferenz in Halle 1920, zu der Vaihinger
und einige seiner aktivsten Anhänger eingeladen hatten. Auch Albert Einstein (1879–1955)
hatte von Hans Vaihinger persönlich eine freundliche Einladung zur Teilnahme in Halle
erhalten. Vaihinger argumentierte in seinem Brief an Einstein Anfang April 1920 damit,
daß Einsteins Theorie „immer stärkere und längere Wellen geschlagen“ habe, „bis in die
Tagesblätter hinein“. Da nun „alle Welt [...] trotz der politischen Wirren für die neuen
Wege interessiert“ an diesem Thema ist, sei es jetzt an der Zeit, daß auch die Philosophie
des Als-Ob sich des Themas annehme und untersuche, „in wieweit die methodischen
Gesichtspunkte der Als-Ob Betrachtung der Fiktion in ihrem prinzipiellen Unterschied
von der Hypothese auf Ihre [Einsteins] Ideen anwendbar seien, d.h. was an Ihren Ideen
1
Siehe zum folgenden Hentschel (1990) Abschn. 3.4.2 und dortige Hinweise auf weit verstreute
Primärquellen.
einerseits bewusste methodische Fiktion und was andererseits verifizierbare Hypothese
sei.“
2
Einstein hatte zu dieser Zeit durchaus noch an einer Diskussion um die
philosophischen Interpretationen seiner Theorie Interesse, während er sich in späteren
Jahren daran nicht mehr aktiv beteiligte. Insofern scheint er dieser Einladung zunächst
positiv gegenüber gestanden zu haben. Doch dann erreichte ihn eine massive Warnung des
mit ihm gut befreundeten Gestaltpsychologen Max Wertheimer (1880–1943), die hier
ausführlich zitiert zu werden verdient, da in ihr schon die unvorteilhafte Außenwirkung
der damaligen Vertreter der Philosophie des Als-Ob deutlich wird:
„Lieber, verehrter Herr Einstein – ja, wie sind denn nur die Leute -?! Und in
was haben Sie sich in Ihrer unbegrenzten Gutmütigkeit von diesen Leuten
hineinziehen lassen?!
Im April, in Prag, hörte ich von dem „bevorstehenden bedeutenden
Congress über Einstein, wo Herr Prof. [Oskar] Kraus [sic!] die Hauptrolle
zugeteilt sei, der jetzt (endlich) in aller Öffentlichkeit vom philosophischen
Richterstuhl die elementaren Absurditäten der Einst. Theorien aufdecken
werde, sodass nun klar werde, wie –“. […]
Herrjemine, in was für Reklametendenzen sind Sie da hineingesetzt??
Würden Physiker von entsprechendem Kaliber so etwas wagen?? Zum grössten
Teil schwachseliges, träg wiederkäuendes, keifendes Mittelmass und Leute wie
Kraus: frech; und in solcher Reklamesüchtigkeit – Ja Herrgott, wenn man
wenigstens denken könnte, es hätte doch irgend einen Sinn: in der ,Konferenz‘
würde irgendwas ernsthaft vorwärtsgebracht werden können, oder auch nur
ernsthaft behandelt – aber Sie, Guter, wissen Sie nicht, wie diese Leute sind und
wohin sie wollen?! [...]
Und wie kann sich die ,Konferenz‘ gestalten? Die Leute werden ihr Zeug
in ihrem charakteristischen psychischen Habitus vortragen und
Disputierkunststücke machen – und Sie werden ein paar gütige Worte sagen,
und dann ein bisschen lächeln und schweigen – und die Leute – brrr.“
3
2
Vaihinger an A. Einstein, 4.4.1920, Collected Papers of Albert Einstein (im folgenden stets abgekürzt CPAE)
Bd. 9 (2004) Dok. Nr. 367, S. 492-494. Vaihinger war so ehrlich, in der Anfrage gleich mit zu erwähnen, daß
es ihm aus gesundheitlichen Gründen „selbst leider nicht vergönnt [sei], diese Fragen gründlich zu erörtern.“
3
Max Wertheimer an Albert Einstein, 15. Mai 1920, CPAE 10 (2006) Dok. 16, S. 260-262.
Analoges Abraten erreichte Einstein auch durch den mit ihm eng befreundeten und in
Leiden lehrenden Physiker Paul Ehrenfest (1880–1933):
„Das ist keine schöne Sache und ist kein Guts von ihr abzusehen.
So stehts mit diesen Philosophen – Nun kommt mal einer wie Sie – und was
fangen die Leute damit an – ! Herrjemine ! “
4
Ehrenfest hatte sich „eine Woche lang heiser darüber geredet“, Einstein vom Besuch dieses
„Hexensabbats der Als-Ob-ologie“ abzuhalten. Am Ende war Einstein, wie der Spötter
Ehrenfest es erleichtert formulierte, „vor allen Als-Oboisten sicher bewahrt, im Schoße der
Amsterdamer Akademie“. Einsteins verständliche Reaktion auf diese wiederholten
Warnungen aus seinem persönlichen Umfeld war die einer Distanzierung von jener „Als-
Obologie“, die seinen engen Kollegen schon damals wie eine Sekte vorgekommen zu sein
scheint. Seinem Berliner Kollegen Wertheimer antwortete Einstein am 21. Mai 1920:
„Lieber Wertheimer,
Sie haben vollkommen recht mit Ihrer Warnung und ich finde es sehr lieb von
Ihnen, dass Sie mich nicht auf den Leim gehen lassen wollen“.
5
Im Endeffekt ging Einstein also nicht zur Als-Ob Konferenz nach Halle. Auch einige
andere, die als Ersatz für Einstein ins Auge gefaßt worden waren, wie u.a. der junge Moritz
Schlick (1882–1936), der mit seinen ersten Beiträgen über die philosophische Interpretation
der Relativitätstheorie aus der Perspektive des logischen Empirismus Aufsehen erregt hatte,
lehnten die Teilnahme ab, wofür sich Schlick in einem vertraulichen Schreiben an Einstein
wie folgt entschuldigte:
„Ich fürchtete, ich könnte unter diesen Umständen zu ermattet sein, um Ihre
Sache mit dem nötigen Schwung zu führen und dann schien es mir auch
wahrscheinlich, daß die philosophischen Verkleinerer der Theorie ohnehin
kaum etwas anderes davontragen könnten als eine Blamage. [...] Man kann den
krampfhaften Bemühungen – besonders der Kantianer – um die Relativität ja
mit ziemlicher Ruhe zuschauen, da der baldige Sieg der Wahrheit so völlig
sicher ist, aber natürlich muß man alles tun, um den Kampf möglichst
abzukürzen.“
6
4
Siehe die Rückseite des Briefes von Einstein an Wertheimer vom 21. Mai 1920 mit einer Notiz von Paul
Ehrenfest an Wertheimer, CPAE Archiv-Nr. 23-375-1 (nicht transkribiert in CPAE Bd. 10 (2006), S. 268).
5
Einstein an Wertheimer, 21. Mai 1920 CPAE, Bd. 10 (2006), S. 268.
6
Schlick an Einstein, 5. Juni 1920, CPAE 10 (2006) S. 576 im „calendar“ ohne Transkription; zur
Schlickschen Interpretation der Relativitätstheorie und zu seinem Verhältnis mit Einstein siehe Hentschel
Die bellikosen Metaphern vom „Kampf“ und „baldigen Sieg“ zeigen schon an, mit welch
harten Bandagen damals in jenen Debatten um die philosophische Deutung der
Relativitätstheorie zwischen den Anhängern konkurrierender Philosopheme „gekämpft“
wurde – es ging um mehr als die adäquate philosophische Ausdeutung. Für mehrere dieser
philosophischen Schulrichtungen war die Bewältigung der Herausforderung, die die
Relativitätstheorie Einsteins darstellte, zu einer zentralen Angelegenheit geworden: so z.B.
für die Neukantianer, bei denen ein aufgeschlossener Revisionismus eines Ernst Cassirer
(1874–1945) einer immunisierenden Ablehnung anderer Neukantianer gegenüberstand.
7
Für die logischen Empiristen, Positivisten und Machianer war die Relativitätstheorie
geradezu das Paradigma einer modernen Naturwissenschaft geworden, an der man sich
abzuarbeiten hatte, um die Leistungsfähigkeit ihrer spezifischen Formen des
Philosophierens unter Beweis zu stellen.
8
Für Einstein selbst hingegen waren diese Debatten zwischen Anhängern
konkurrierender Philosopheme ohne Reiz, wie er in seiner postwendenden Antwort auf
Schlicks Brief gestand:
„Mit der Einladung zum Philosophen-Kongress steht es doch wesentlich anders
als der geriebene Vaihinger glauben machen wollte. Er wollte wissen, wen er von
Kennern der Theorie noch einladen könnte; da nannte ich natürlich Ihren
Namen. Aber davon, dass ich Ihre oder sonst jemands Anwesenheit in Halle
gewünscht hätte, kann gar keine Rede sein. Mir war die ganze Sache wenig
reizvoll, und ich war froh, eine triftige Ausrede zu haben, um der ganzen Rederei
dort zu entgehen.“
9
Am Ende war der emphatisch pro-relativistische Machianer Joseph Petzoldt (1862–1929)
der einzige Pro-Relativist auf der Tagung in Halle. Insofern kam ihm hier ungeplant die
Rolle eines Fürsprechers von Einstein zu, worüber er sich sehr freute. Petzoldt kannte
Einstein bereits seit seiner Gründung der Gesellschaft für positivistische Philosophie in Berlin
1912, die Petzoldt bis zu ihrer Auflösung 1921 leitete und der auch Einstein anfangs
(1986) und dort zitierte Primärquellen. Mein Projekt einer vollständigen kommentierten Edition der
Einstein-Schlick, wie ich sie in meiner unveröffentlichten Magisterarbeit 1985 vorgelegt habe, wurde aus
copyright-Gründen von der Hebrew University of Jerusalem als Inhaberin der Urheberrechte der Schriften
von Albert Einstein leider unterbunden.
7
Siehe dazu Hentschel (1987), (1990) S. 199ff., insb. 212-223 sowie daran anschließend u. vertiefend Neuber
(2011).
8
Siehe dazu Hentschel (1990) S. 367ff. sowie dort genannte weiterführende Literatur.
9
Einstein an Schlick, 7. Juni 1920, CPAE 10 (2006) Dok. Nr. 47, S. 299-300.
angehört hatte.
10
Nach Beendigung der Tagung berichtete Petzoldt Einstein (nicht ohne
Stolz über seine neue Fürsprecherrolle) über den Verlauf der Tagung der Kantgesellschaft
in Halle:
„Die dortigen Philosophen waren sich noch gar nicht einmal über die
experimentellen Grundlagen der Theorie klar. [… Holst u.a. wollen] die Rel.th.
auf die Stufe einer Rechenhilfe herabdrücken, und ähnliche Bestrebungen
zeigten sich in Halle. Ich bin dagegen aufgetreten.“
11
Auch hier die gleiche rhetorische Gegenüberstellung ignoranter Philosophen gegen weise,
allwissende Physiker, zu denen Petzoldt sich hier auch zu zählen scheint, der dank seiner
singulären Stellung in Halle als einziger anwesender Pro-Relativist geradezu in eine
Stellvertreter-Rolle hineingewachsen war. Dies war kein Einzelfall, sondern passierte in
ähnlichen Konstellationen in jener Zeit auch anderen Fürsprechern, die alle zusammen
geradezu eine Art „Verteidiger-Gürtel“ um Albert Einstein formierten, von dem Angriffe
auf die Relativitätstheorie und ihren Schöpfer abgewehrt und gelegentlich auch regelrechte
„Gegenangriffe“ geplant und durchgeführt wurden (vgl. Abb. 1 für eine Visualisierung
dieses sozial und kognitiv hochinteressanten Phänomens). Jeder dieser „Verteidiger“
Einsteins war der Meinung, selbst der einzige wahre Interpret von Einsteins
Relativitätstheorie zu sein und jeder dieser „Verteidiger“ fühlte sich von Einstein
autorisiert, als dessen ,Stellvertreter auf Erden‘, sprich im intellektuellen ‚Morast‘ jener
Debatten mit bestenfalls halbinformierten, physikalisch ungebildeten Philosophen
auftreten zu dürfen. Jeder dieser Verteidiger hatte aber zugleich seine eigene kognitive
‚Brille‘ aufsitzen, die dem philosophisch zu interpretierenden Kern, der Relativitätstheorie,
eine jeweils eigene philosophische Tönung gab. Der Machianer und Phänomenalist
Petzoldt zum Beispiel (über)betonte – wie dies auch im eingerückten Zitat oben deutlich
wurde – die empirisch-experimentelle Basis der Theorie und unterschätzte ihre theoretisch-
konstruktiven Setzungen. Untereinander waren die verschiedenen Deutungen der
`Verteidiger’ Einsteins keineswegs alle miteinander kompatibel, so daß auch unter jenen
10
Siehe dazu Klaus Hentschel (Hrsg. 1990) Abschn. 4.8, insb. S.401ff. und dort genannte weiterführende
Quellen zu Petzoldt und seiner Gesellschaft für positivistische Philosophie, einem Vorläufer des späteren
„Berliner Kreises“. Einen Überblick zu Petzoldts Leben und Werk bietet auch der von ihm 1928 selbst
ausgefüllte Fragebogen zu Personaldaten von Lehrern und Lehrerinnen Preußens, seit kurzem online
verfügbar unter
http://bbf.dipf.de/kataloge/archivdatenbank/digiakt.pl?id=p173765&dok=PEB-0090&f=PEB-0090-0381-
01&l=PEB-0090-0381-04&c=PEB-0090-0381-02
11
J. Petzoldt an Albert Einstein, 6. Juli 1920, CPAE 10 (2006) Dok., Nr. 72, S. 332-333. Für einen ganz
andersgearteten Bericht über die Tagung aus der Perspektive der Anhänger Vaihingers vgl. Schmidt (1920).
Verteidigern heftiger Streit um die „wahre“ oder „angemessenste“ Auslegung der
Relativitätstheorie tobte, ganz zu schweigen von persönlichen Rivalitäten und Eitelkeiten,
Obertöne jenes hochgradig polyphonen Interpretations-Konzerts.
12
Von außen betrachtet,
insbesondere aus der Perspektive der damals noch weitverbreiteten Gegner der
Relativitätstheorie, mußte jener „Verteidiger-Gürtel“ wie eine geschickte Abschottung des
Haupt-Protagonisten Einstein wirken, an den zunehmend weniger direkt heranzukommen
war, da stets nur irgendwelche Fürsprecher sich an seiner statt zu Wort meldeten. Einsteins
Absage in Halle war ein symptomatischer Schritt hin zu dieser zunehmenden
Herausziehung Einsteins eigener Person aus diesen Debatten, die er früher gerne noch
selbst engagiert geführt hatte.
13
Dafür gab es neben all den bislang angeführten Gründen
übrigens auch noch das Argument persönlicher Sicherheitsbedrohung, da Einstein nach
dem Mord an Walther Rathenau selbst auch Morddrohungen von antisemitischen
Fanatikern erhalten hatte, die durchaus Ernst zu nehmen waren.
14
12
Siehe Hentschel (1990) S.168ff. und (2006). Der Terminus ist eine spielerische Abwandlung des
ursprünglich von dem ungarischen Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos auf kognitive
Immunisierungsvorgänge von langfristig wirksamen wissenschaftlichen Forschungsprogrammen bezogenen
Terminus „protective belt“.
13
Ein interessantes Beispiel dafür ist der populäre Dialog Einsteins (1918), in dem er im Stile eines sokratisch-
platonischen Dialogs auf common-sense-Einwände gegen die Relativitätstheorie reagierte.
14
Zu jenen antisemitischen Obertönen der Debatte siehe u.a. .Einstein (1920), Hentschel (1990) S. 131ff.,
Goenner (1993) sowie die dort jeweils zitierte Primärliteratur. Über Anti-Relativisten und deren soziale
Netzwerke vgl. ferner Wazeck (2009).
Abb. 1 Der Verteidigergürtel um Albert Einsteins Relativitätstheorie (RT)
Aus Hentschel: Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen
Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins, Diss. Univ. Hamburg 1989 bzw.
publ. in Basel: Birkhäuser, 1990, S. 165; © K. Hentschel.
Im weiteren Oeuvre Einsteins ist nur noch ganz vereinzelt von Vaihingers Philosophie des
Als-Ob die Rede. Die aussagekräftigste Passage Einsteins zu diesem Thema, die ich
gefunden habe, stammt aus einem Brief an den „kritischen Realisten“ Aloys Wenzl (1887–
1967) aus dem Jahr 1924, in dem Einstein zu einer Art Gesamtbewertung des Ansatzes von
Vaihinger kommt. Der Külpe-Schüler Wenzl hatte sich mit dem Fikationalismus in seinem
eigenen Werk über Das Verhältnis der Einsteinschen Relativitätslehre zur Philosophie der
Gegenwart: mit besonderer Rücksicht auf die Philosophie des Als-ob kritisch auseinandergesetzt
und Einstein kommentierte diese Passagen wie folgt:
„Der verhältnismässig grosse Raum, der von Ihnen der ‚Als Oberei‘ gewidmet
worden ist, ist wohl nur der besonderen Gelegenheit zu verdanken, der zu ihrer
Publikation Anlass gegeben hat. Ich muss gestehen, das[s] mir die ‚Fiktion‘ im
Vergleich zu[m] altehrwürdigen [sic] ‚Begriff‘ nichts neues gibt und dass sich
widerspruchsvolle Begriffssysteme, wie sie in der Fiktionslehre als wesentlich
hingestellt werden, nicht als berechtigt ansehen kann. Dabei will ich aber nicht
leugnen, dass Vaihinger’s [sic] Werk seine Meriten hat, die nach meiner
Meinung aber nicht im System, sondern in den Einzelheiten liegen.“
15
Nach diesen eher allgemeinen Betrachtungen über das Verhältnis des Fiktionalismus zur
Relativitätstheorie möchte ich noch zwei speziellere Interpretationskomplexe ansprechen,
die in den Debatten eine besonders große Rolle gespielt haben. Der erste davon ist die
verschiedentlich erwogene Deutung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit als eine
(kontrafaktische? oder nur bequeme?) Fiktion, der zweite wird danach dann die Deutung
der sogenannten relativistischen Längenkontraktion als einer Fiktion sein. Andere von
Vaihingers Anhängern benannte Kandidaten für Fiktionen in der speziellen
Relativitätstheorie waren:
die vermeintliche Fiktion ruhender Bezugssysteme,
die Unabhängigkeit (Kovarianz) der Naturgesetze gegenüber der Wahl des
Koordinatensystems,
die Fiktion omnipräsenter Uhren und Maßstäbe,
die fiktionale Erweiterung des Synchronisations-Verfahrens von ruhenden auf
bewegte Uhren bzw. die Fiktion eines veränderten Gangs bewegter Uhren (analog
15
Einstein an A. Wenzl 1924, CPAE, Sign. 23 372; zum kritischen Realismus vgl. Hentschel (1990) S. 240-253.
zur vermeintlichen Fiktion einer Längenkontraktion bewegter Maßstäbe, auf die
unten noch eingegangen wird).
Zunächst zur „Deutung des Einsteinschen (verallgemeinerten) Konstanzprinzips und der
damit verknüpften Relativierung der Gleichzeitigkeit als mathematische, komplementäre,
fiktive Hilfssätze, deren Paradoxien einander gegenseitig fordern“.
16
Glaubt man Oskar
Kraus (1872–1942), der sich 1902 in Philosophie habilitiert hatte und in Prag bis 1916 zum
ordentlichen Professor und Nachfolger seines Lehrers Anton Marty aufgestiegen war, so ist
die Lichtgeschwindigkeitskonstanz der Relativitätstheorie nichts als eine „Deduktion aus
unmöglichen Prämissen, eine mathematische Begriffsdichtung“.
17
Leider verkannte Kraus,
der in den 1920er Jahren der vielleicht notorischste Verfechter Vaihingerschen
Gedankengutes geworden war, hier den Unterschied zwischen einer in sich
widersprüchlichen, gleichsam spielerischen „Begriffsdichtung“ und einem frei gesetzten,
keineswegs in sich selbst widersprüchlichen Axiom. Genau im letzteren Sinne hatte
Einstein die Lichtgeschwindigkeitskonstanz im Vakuum als einer der beiden
grundlegenden Axiome seiner speziellen Relativitätstheorie von 1905 eingeführt. Wenn
man neben diesem einen Axiom als weiteres noch das spezielle Relativitätsprinzip der
Bewegung forderte, so konnte man aus diesen beiden Axiomen zusammen die Lorentz-
Transformationen sowie viele andere spezielle Theoreme und Aussagen der speziellen
Relativitätstheorie ableiten – genau dies hatte Einstein 1905 bewiesen. Die scheinbare
Selbstwidersprüchlichkeit der Lichtgeschwindigkeitskonstanz bzw. ihr scheinbarer
Widerspruch mit dem Relativitätsprinzip beruhten beide auf einer mißverständlichen
populären (Fehl)Interpretation der Relativitätstheorie als gleichbedeutend mit der
Forderung, daß alles relativ sei. Just in dem Gegenteil dieser Aussage, nämlich in dem
Nachweis daß es in der Natur sogenannte Invarianten gibt, die beim Wechsel des
Bezugssystems unverändert bleiben, ruhte eine der Kernaussagen der sogenannten
,Relativitätstheorie‘, von der Einstein später deshalb auch mehr als einmal sagte, daß er sie
vielleicht besser Absolut- oder Invariantentheorie genannt hätte, um dieses weitverbreitete
Mißverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen. Doch dafür war es 1920, als die
Debatten um die Relativitätstheorie blühten, längst zu spät – die populäre
Fehlinterpretation: „alles ist relativ“ hatte sich bereits bis in die Zeitungen und
16
Oskar Kraus 1921, S. 335; zu Kraus und seinen späteren Debatten mit Philipp Frank und Benno Urbach
vgl. ferner Hentschel (1990) S. 541ff.
17
Oskar Kraus 1925, S. 31f.
Kaffeehäuser hinein verbreitet.
18
Das Axiom der Lichtgeschwindigkeitskonstanz im
Vakuum war zwar durch bestimmte Experimente wie z.B. dasjenige von Fizeau 1851 zur
Mitführung von Licht in bewegtem Wasser bzw. diejenigen von Michelson 1881 bzw. von
Michelson und Morley 1887 motiviert worden, die verkürzt gesprochen das Ausbleiben
von ‚Ätherwindeffekten’ bei Relativbewegung des Emitters oder Empfängers von Licht
durch den hypostasierten ‚Lichtäther’ gezeigt hatten,
19
doch wäre es falsch, daraus zu
schließen, daß die spezielle Relativitätstheorie aus diesen Experimenten induziert oder
abgeleitet worden wäre – im Gegenteil war es eher so, daß Einstein aus der Not der
experimentellen Nicht-Nachweisbarkeit einer Relativbewegung zum Lichtäther eine
Tugend gemacht hatte, inderm er letzteren einfach für überflüssig erklärte und die
Lichtgeschwindigkeit im Vakuum zu einer Konstanten unabhängig vom
Bewegungszustand des Beobachters. Wie Goethe einst nur halb-scherzhaft schrieb: „Die
größte Kunst im Lehr- und Weltleben besteht darin, ein Problem in ein Postulat zu
verwandeln, damit kommt man durch.“
20
Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit war also weder eine „kontrafaktische“ noch
eine nur „bequeme“ Fiktion, sondern diese Annahme lag vor jeder Überprüfbarkeit von
Fakten, war gewissermaßen Voraussetzung dafür, mit Längenmeßgeräten und Uhren
Längen und Zeiten von Objekten überhaupt erst bestimmen zu können. Vor dieser
Setzung ist gar keine Aussage über Geschwindigkeiten, Zeiten und Orte möglich; eine
Metrologie der Raum-Zeit wird erst nach Definition des Lichtkegels möglich. Die
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum war somit definitiv keine Fiktion, sondern
ein Axiom, ein geschickter, aber frei gesetzter Ausgangspunkt der Theorie: Auch andere
Setzungen wären im Prinzip möglich, nur würden diese nicht zu so einfachen
Transformationsformeln führen. Insofern war diese Setzung tatsächlich bequemer als
andere es sein würden, aber diese Bequemlichkeit war nicht der Grund, sondern nur eine
Folge jener von Einstein gegen alle Unkenrufe als überlegen erspürten axiomatischen
Setzung. Die frühere Newtonianische Mechanik ließ sich im nachhinein aus Einsteins
18
Siehe dazu Hentschel (1990) Kap. 2 und dort genannte weiterführende Primär- und Sekundärliteratur zu
diesem Phänomen, das Züge einer Massensuggestion trug, die Einstein auch wieder zum Vorwurf gemacht
wurde, obgleich er außer der unglücklichen Wortwahl gar nichts zu diesem populären Mißverständnis
konnte.
19
Siehe dazu Miller (1981) sowie Holton (1969) zum populären Mißverständnis der spez. Relativitätstheorie als
einer anangeblich erst durch das Michelson-Morley-Experiment begründeten oder motivierten Theorie.
20
Goethe an Zelter, 9. August 1828, in: Friedrich Wilhelm Riemer (Hrsg.) Briefwechsel zwischen Goethe und
Zelter in den Jahren 1796 bis 1832 .Berlin: Duncker & Humblot, 1834, Band 5, S. 91.
spezieller Relativitätstheorie durch den Grenzübergang c  unendlich [] wiedergewinnen.
Die geringfügigen Abweichungen beider physikalischer Systeme waren so lange
vernachlässigbar, wie die untersuchten Systeme in ihren Relativgeschwindigkeiten sehr
klein gegen die Geschwindigkeit des Lichts waren, was für klassische Bewegungsvorgänge
in ausgezeichneter Näherung zutrifft. Erst bei der genauen Beobachtung sehr schnell
bewegter Elementarteilchen wie z.B. geladener Elektronen oder eben des Lichts selbst
zeigten sich Abweichungen von diesem klassischen Wissenskanon (wie z.B.
geschwindigkeitsabhängige Massen von Elektronen sowie veränderliche Längen und
Zeiten), die letztlich diesen von Einstein vollzogenen Übergang zur speziellen
Relativitätstheorie erzwangen.
In einem späten Brief an Maurice Solovine (1875–1958) hat Einstein in wunderbarer
Klarheit beschrieben, worin das Wesentliche und zugleich das so ungeheuer Schwierige
jenes Axiomatisierungsschrittes besteht.
21
Von der konkreten „Mannigfaltigkeit der
unmittelbaren Sinneserlebnisse“ zum abstrakten „System der Axiome“ führt nur ein
gewaltiger geistiger ‚Sprung‘ der nur den wenigsten gelingt (siehe hier Abb. 2). Denn dieser
Sprung ist keineswegs willkürlich, wie es die Rede von ‚konventionell’ oder gar von
‚fiktional’ bei Vaihinger und seinen Anhängern vermuten lassen könnte, sondern er hat
sowohl eine empirische Basis von nicht nur einem, sondern ganz vielen empirischen
Befunden der Optik, Elektrodynamik und der damaligen Elektronentheorie,
22
die ihm
historisch ebenso wie systematisch vorhergehen als auch einen ganz und gar nicht
‚willkürlichen’ Ziel- oder Endpunkt, denn nur mit sehr geschickt gewählten axiomatischen
Prämissen läßt sich in den Folgeschritten dann genau das und nur das ableiten, was
empirisch auch beobachtet werden kann – die meisten anderen axiomatisch ‚frei’
wählbaren Ausgangspunkte würden zu unbrauchbaren oder gar empifischen falschen
Folgerungen führen – nur die doppelte Einsteinsche Axiomen-Basis von c=const und
Relativititätsprinzip der Bewegung eben nicht, entgegen den Unkenrufen der Machianer,
die c=const für ein falsches (bzw. mit dem Relativitätsprinzip inkonsistentes) Axiom
hielten, aber auch entgegen der unangemessenen Kritik jener Anhänger Vaihingers, die
beide Axiome ‚nur’ für ‚Fiktionen’ im starken Sinne, also für selbstwidersprüchliche
Annahmen hielten. Daß aus dem Einsteinschen „System der Axiome“ das relativistische
Additionstheorem der Geschwindigkeiten für Superpositionen zweier Bewegungsvorgänge
21
Zum folgenden siehe Solovine (Hrsg. 1956) insb. S. 118ff. sowie ergänzend Einstein (1919), Holton (1980/81).
22
Die beste Gesamtübersicht hierzu bietet Miller (1981); vgl. hier auch Abb. 4 für eine Zusammenfassung.
unterhalb der Lichtgeschwindigkeit ebenso ableitbar war die die Begrenzung aller
Bewegungsvorgänge auf maximal Lichtgeschwindigkeit bestärke Einstein und die ersten
Relativittätstheoretiker (etwa Max von Laue oder Arnold Sommerfeld) um 1910 in ihrem
Vertrauen in die Vernünftigkeit jener Axiome; mit jeder weiteren erfolgreichen Ableitung
empirischer Voraussagen neuer Ergebnisse oder Retrodiktionen bereits bekannter, aber
nicht verstandener Befunde erhöhte sich dieses Vertrauen dann immer weiter.
Abb.2: Einstein in Brief an Solovine 7. Mai 1952, faksimiliert und transkribiert in Solovine
(Hrsg.) 1956, S. 120-121.
Abb. 3: Der axiomatische Zusammenhang der SRT (vereinfacht), aus Hentschel (1990) S. 25.
An den sogenannten Lorentztransformationen der speziellen Relativitätstheorie (SRT)
seien zwei weit verbreitete fiktionalistische Mißverständnisse der SRT hier noch
herausgegriffen, die mit dem Schlagwort Lorentz’sche (räumliche) Kontraktion und
Zeitdilatation belegt werden können. Schon kurz vor Einstein (1905) hatten der
niederländische Physiker Hendrik Antoon Lorentz (1853–1928) in 1887 un 1904, der Brite
Joseph Larmor (1857–1942) in 1900, und der französische Mathematiker Henri Poincaré
(1854–1912) in 1904 vorgeschlagen, daß die sogenannte klassische Galilei-Transformation
von Raum und Zeit, nach der die Zeit beim Wechsel von inertialen Bezugssystemen völlig
unverändert bleibt (t’ = t) und sich die räumlichen Koordinaten wie x’ = x – vt verhalten,
abgeändert werden müssen. Auch daß mehrere solche Raum-Zeit-Transformationen
hintereinander ausgeführt die Regeln der Transitivität erfüllen müssen und eine sogenannte
Gruppe bilden müssen, war von Poincaré bereits erkannt worden. Albert Einstein konnte
auf diesen Vorarbeiten aufbauen und etliche der dort abgeleiteten Formeln übernehmen,
aber er hat diese Formeln völlig anders gedeutet als seine Vorgänger.
23
bedeutete bei Lorentz z.B., daß ein Objekt der ,wahren‘ Länge l
0 bei Bewegung relativ zum
ruhenden Äther mit der Geschwindigkeit v physisch um den Faktor:
in Bewegungsrichtung kontrahierte, und zwar (laut Lorentz) weil die elementaren
elektrisch-magnetischen Kräfte, die dieses Objekt zusammenhalten, sich durch die
Bewegung des Objektes ebenfalls änderten:
2
2
0
1'
c
v
ll
Lorentz vertrat somit – ganz typisch für seine Generation der betagten „klassischen“
Physiker, eine durchweg ‚Realistische‘ Deutung dieser Formel als Ausdruck einer echten
Verkürzung: „die Translation bewirkt die Deformation“ (1904, S. 16), etwa so wie die
23
Siehe dazu z.B. Sommerfeld (Hrsg. 1923) mit Ausschnitten von Lorentz, Poincaré, Einstein und
Minkowski, sowie ergänzend Miller (1981).
t
t
v
c
x
v
c
t
x
'

0
2
2
2
0
0
1
x
x
vt
v
c
x
t
'

1
2
2
0
2
2
1
c
v
schnelle Bewegung gegen den Wind einen Widerstand im bewegen Objekt hervorruft.
Diese sogenannten „Längenkontraktion“ war bei Lorentz (1904) und den klassischen
Physikern seiner Generation Ausdruck einer Bewegung relativ zum Äther als einem von
allen damals hypostasierten absoluten Bezugssystem. Je höher diese Geschwindigkeit v
relativ zum Äther war, desto größer wurde der Korrekturfaktor
2
2
1
c
v
, um den man die
Formeln der klassischen Physik zu modifizieren hatte, desto höher war der ‚Gegenwind‘
des Äthers, metaphorisch gesprochen. In Einsteins Deutung jener Formeln hingegen gab es
kein privilegiertes Bezugssystem mehr: weder die Erde (wie bei den Aristotelikern) noch
die Sonne (im Kopernikanischen Weltbild) noch der Fixsternhimmel oder der Äther (drei
Kandidaten für absolute Räume im 19. Jahrhundert).
Es gab für ihn keine ,wahre‘ und ,scheinbare‘ Länge, keine ,wahre‘ Zeit versus fiktiver
,Ortszeit‘ (Lorentz) mehr, sondern nur noch Angaben von Koordinaten und physikalische
Größen relativ zum jeweiligen Bezugssystem des Beobachters. Dessen Bewegungszustand
relativ zum beobachteten System ging somit konstitutiv in die Aussagen ein, die er über
dieses System dann machte. Beobachtung war nun weniger ,absolut‘, sondern stets eine
Relationsaussage zwischen Beobachter und beobachtetem System. Wenn zwei Beobachter
relativ zueinander in geradlinig gleichförmiger Bewegung sind, nimmt jeder von beiden die
Metermaßstäbe des anderen relativ zu den seinen als verkürzt wahr. Das klingt zwar
paradox, ist es aber nicht, denn: Sobald beide ihre Maßstäbe im gleichen Bezugssystem
miteinander vergleichen, haben sie auch wieder die gleiche ,Ruhelänge‘.
Auch Einsteins Deutung der Zeitdilatation war dementsprechend stärker Beobachter-
bezogen als vergleichbare Aussagen der klassischen Physiker. Eine relativ zum Beobachter
bewegte Uhr zeigt nicht mehr die Zeit t, sondern die Zeit t’ an, wobei beide um den Faktor
2
2
1
c
v
im Nenner und einen weiteren relativistischen Korrekturterm im Zähler
differierten:
t
t
v
c
x
v
c
t
x
'

0
2
2
2
0
0
1
Ebenso wie bei der Längenkontraktion waren auch hier die Differenzen so klein, daß sie
erst für merkliche Relativgeschwindigkeiten v nahe der Lichtgeschwindigkeit
meßtechnisch erfassbar waren. Doch jenseits von diesen experimentell nur sehr mühsam
feststellbaren Diskrepanzen waren die intellektuellen Folgen von weit größerer Tragweite:
Einstein behauptete nichts weniger, als daß zwar die sogenannte Eigenzeit t0 im bewegten
System unverändert bliebe, aber relativ zum Laborsystem erscheine die darin beobachtete
Zeit eben verlangsamt: Bewegte Pendel gehen somit langsamer, bewegte Zwillinge altern
langsamer als ruhende,
24
usw.
Da eine meßtechnische Überprüfung jener Aussagen damals noch nicht möglich war,
lag es für Einsteins Zeitgenossen verführerisch nahe, mit Vaihinger anzunehmen, daß alle
diese Implikationen der speziellen Relativitätstheorie eigentlich keine physikalischen
Aussagen, sondern lediglich kontrafaktische (oder nur bequeme?) Fiktionen seien, mit
denen sich Einstein und Genossen ihr Leben (bzw. ihre Physik) ‚einfach‘ machten. Heute
wissen wir, daß dem nicht so ist, denn all die obigen Transformationsformeln sind
experimentell ausgezeichnet (auf viele Nachkommastellen genau) bestätigt: z.B. durch
Zeitmessungen an instabilen Teilchen bekannter Lebensdauer, die bei hohen
Geschwindigkeiten (relativ zur Erdoberfläche) erst später zerfallen als sie es ohne diese
Transformationsformeln tun müssten.
25
Freilich gab es die ersten Indizien für nicht-
klassische Längen- und Zeit-Transformationen bereits vor Einstein, und sie haben neben
ihm z.B. auch Henrik Antoon Lorentz, Henri Poincaré oder Joseph Larmor intensivst
beschäftigt, doch gelang es erst Einstein, aus jenen mannigfachen Indizien ein konsistentes
Gesamtbild zu fügen und alle diese empirischen Befunde aus einem Guß abzuleiten.
Ausgehend von ihren fiktionalistischen en Interpretationen einzelner Formeln haben
einige Anhänger Vaihingers auch verallgemeinerte Deutungen der Relativitätstheorie
unternommen, so etwa der Fiktionalist Ludwig Höpfner:
„Auch die Einsteinsche Relativitätstheorie als Ganzes läßt sich [...] als eine
einzige größer angelegte Fiktion auffassen, denn sie ist ja nichts anderes als die
Verallgemeinerung der Lorentz’schen Fiktion, nur daß bei Einstein die fiktive
24
Zu diesem sog. Zwillingsparadoxon und zu verwandten Effekten, siehe z.B. Marder (1979).
25
Man kann dies als Konsequenz der Aussage interpretieren, daß die Eigenzeit im Ruhesystem des Teilchens
unverändert ist. Über die neueren, hochgenauen exmpirischen Tests der Zeitdilatation siehe. Marder (1979).
Natur unter dem scheinbaren Schutze philosophisch-erkenntnistheoretischer
Erwägungen Deckung sucht.“
26
Leider sind die Behauptungen Höpfners allesamt falsch. Zunächst ist es nicht richtig, daß
die SRT nur eine Art Verallgemeinerung der aus den speziellen Transformationsformeln
folgenden Ergebnisse sei, sondern umgekehrt sind die Transformationsformeln eine
ableitbare Folge der allgemeineren Einsichten, mit denen Einstein seine Überlegungen
begonnen hatte. Ebenso falsch ist es, Einstein zu unterstellen, er habe diese Formeln
lediglich im nachhinein mit philosophisch-erkenntnistheoretischen Erwägungen
überfrachtet oder gar kaschiert, denn er war von diesem Ausgangspunkt zu seinen
physikalischen Ergebnissen gekommen. Und schließlich hatten wir auch schon aufgezeigt,
daß auch die Deutung der SRT als einer einzigen großangelegten Fiktion am Wesen dieser
Theorie und an der Intention ihrers Erfinders ganz grundlegend vorbeigeht. Dennoch habe
ich im folgenden Diagramm (Abb. 4) versucht, den Gesamtzusammenhang der
fiktionalistischen Interpretation der Relativitätstheorie darzustellen, der auf den beiden
obersten Prämissen einer unterstellten Unentbehrlichkeit von Fiktionen zur Weltdeutung
und einer positivistischen Restriktion von Theorien auf eine ordnende Hilfsfunktion ohne
realistische Interpretierbarkeit basiert und von diesen Grundannahmen ausgehend die
Konsequenzen für die fiktionalistische Interpretation der Relativitätstheorie als einem
Gespinst von Fiktionen entwickelt.
26
Ludwig Höpfner (1921) S. 470. Ich konnte bislang nicht klären, ob dieser Ludwig Höpfner identisch oder
verwandt ist mit Dr. Karl Friedrich Ludwig Höpfner, Geheimer Regierungsrat. und Kurator der Universität
Göttingen – Letzterer war Vater der Ehefrau des einflußreichen theoretischen Physikers Arnold Sommerfeld,
Johanna Höpfner (1874–1955) – oder mit dem Professor für Städtebau und städtischen Tiefbau K.A. Ludwig
Friedrich Höpfner (1880–?), der seit 1912 Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe war (Wer
ists? 9, 1928).
Abb. 4: Schema zur fiktionalistischen Interpretation Einsteins speziellen und allgemeinen
Relativitätstheorie (SRT/ART), aus Hentschel (1990) S. 286.
Im schroffen Kontrast zu diesen verunglückten Vereinnahmungsversuchen der
Relativitätstheorie (RT) durch Fiktionalisten steht die diametral konträre Lobpreisung des
Fiktionalismus als einer Art anti-dogmatisches Antidot, wie sie von einigen fiktionalistischen
Anti-Relativisten praktiziert wurde. Noch eher wohlmeinend und um Ausgleich bedacht hier
nochmals Höpfner:
„Aus allem Bisher gesagten geht hervor, daß Einsteins Lehre hauptsächlich an
ihrer mehr oder weniger dogmatischen Form leidet. Als Fiktion im Sinne der
Philosophie des Als-Ob vorgetragen, würde sie so berechtigt sein wie andere
Fiktionen und ihr schließlicher Wert würde nur davon abhängen, ob sie besser
als andere Methoden ist.“
27
Demgegenüber schon weit weniger versöhnlich der Prager Philosoph Oskar Kraus, der
Einstein und seinen Anhängern ein „Unfehlbarkeitsdogma“ vorwarf und hoffte, der SRT
mit seiner fiktionalistischen Deutung den Boden zu entziehen.
28
Gibt es – so fragen wir am Ende des ersten Teils dieses Aufsatzes angekommen –
überhaupt Fiktionen (im Vaihingerschen Sinn) in der SRT? Die Antwort lautet meines
Erachtens: Nein ! Was wir finden sind u.a.:
Axiome
Wechsel von Bezugssystemen
Invarianten (sie bleiben unveränderlich bei solchen Wechseln)
Transformationen von Meßgrößen bei solchen Wechseln
implizite Annahmen (Verfügbarkeit von Uhren und Maßstäben)
Idealisierungen (z.B. materiefreie Räume)
Hypothesen (z.B. über die verschränkte Struktur von Raum und Zeit)
...
Aber ich plädiere nachdrücklich dafür, diese differenzierte und wissenschaftstheoretisch
abgesicherte Terminologie zu verwenden, statt wie die Anhänger Vaihingers alle diese
Ingredienzien unterschiedslos als Fiktionen aufzufassen, womit niemandem geholfen ist.
Teil II: Rezeption im Feld Quantentheorie und Quantenmechanik
27
Ludwig Höpfner 1921, S. 484.
28
Siehe dazu insb. Oskar Kraus 1925.
Im Unterschied zum ersten Teil dieses Beitrags ist die Vaihinger-Rezeption in diesem
Themenfeld noch weitgehend unerschlossen, so daß ich hier lediglich einige erste Pflöcke
einschlage, die sich im wesentlichen um verstreute Funde aus Schriften von Albert Einstein
zum Lichtquantum (1905ff.) sowie aus der wissenschaftlichen Korrespondenz von Erwin
Schrödinger (1887–1961) ranken.
29
Zunächst ist es höchst auffällig, daß Einstein in seinem berühmten Aufsatz von 1905
über einen „heuristischen Gesichtpunkt“ in der Theorie der Strahlung an einer Stelle
formuliert, daß sich “monochromatische Strahlung von geringer Dichte (innerhalb des
Gültigkeitsbereiches der Wienschen Strahlungsformel) so verhält [...], wie wenn sie aus n
voneinander unabhängigen Energiequanten [...] bestünde.“ Auch wenn hier nicht die
Formel „als ob“ benutzt wurde, handelt es sich hier doch um eine sprachlich dazu völlig
äquivalente quasi-fiktionalistische Zurücknahme der dahinterstehenden Aussage in einer
Art Konjunktiv irrealis. Dahinter steckt, daß Einstein zu dieser Zeit um 1905 noch nicht
bereit war, mit diesem Konzept eines Lichtquantums eine realistische Existenzbehauptung
zu verbinden. Seine Rede von einem „heuristischen Gesichtspunkt“ ist hier im Sinne einer
noch vorläufigen und unsicheren Hilfskonstruktion zu verstehen, als Ausdruck einer
gewagten und noch nicht gesicherten Überlegung, von der ihm klar war, daß sie bis dato
durchaus bewährten Grundannahmen der klassischen Physik fundamental widerspricht.
Ich glaube also, daß es legitim ist, diese Überlegung Einsteins als Ausdruck einer Fiktion im
Sinne Vaihingers zu interpretieren, auch wenn dessen Name bei Einstein damals ebenso
wenig fällt wie die Termini ,Fiktion‘ oder die Vaihinger-typische Formulierung „als ob“.
Einstein hatte zu dieser Zeit (noch sechs Jahre vor der Publikation von Vaihingers
Hauptwerk 1911) selbstverständlich noch keinerlei Kenntnisse von Vaihingers später erst
veröffentlichtem Gedankengebäude, so daß es nicht überrascht, wenn er das mit „als-ob“
Synonyme „wie wenn“ benutzt. Er war also unabhängig von Vaihinger auf einen mit dem
Fiktionalismus verwandten Gedanken gestossen, übrigens typisch für ihn als einen
geistigen „Einspänner“. Der Einstein des Jahres 1905 war – wie wir heute wissen – stark
von seiner Lektüre der Schriften von Ernst Mach und Henri Poincaré bestimmt, die er
beide zusammen mit seinen Freunden Maurice Solovine, Conrad Habicht und Michele
Besso in der sogenannten Akademie Olympia intensiv gelesen und diskutiert hatte.
30
29
In Auswahl unlängst herausgegeben von Karl v. Meyenn, Berlin: Springer 2011.
30
Siehe dazu z.B. Solovine (1956) Holton (1968), Pyenson (1985), und Hentschel, Graßhoff & Graff (2005).
Eine zweite, davon ganz unabhängige Spur fiktionalistischer Gedankenwelten fand ich
im wissenschaftlichen Briefwechsel des österreichischen Quantenphysikers und späteren
Nobelpreisträgers Erwin Schrödinger (1887–1961). In diesem Falle handelt es sich, wie wir
gleich sehen werden, um explizite Bezugnahmen auf Vaihingers Oeuvre und Terminologie.
Doch wie kam Schrödinger auf die Idee, Vaihingers Philosophie des Als Ob zu lesen?
Schrödinger wurde in Wien geboren und studierte Physik an der dortigen Universität. Er
war während seines Studiums dem starken Einfluß von Ernst Machs Phänomenalismus
ausgesetzt – insoweit besteht auch eine auffällige Parallele zu dem jungen Einstein des
Jahres 1905. Hingegen ist kein näherer Kontakt des jungen Schrödingers zu Vertretern des
frühen Wiener Kreises nachweisbar, wohl aber zu Wilhelm Jerusalem (1854–1923), dessen
Vorlesungen er besuchte und der später ein Befürworter der „Philosophie des Als Ob“
wurde. So war es aller Wahrscheinlichkeit nach letzterer, der den Student Schrödinger auf
das damals frisch erschienene Hauptwerk Vaihingers hingewiesen haben muß. Wie auch
immer, im Jahr 1926 schrieb Schrödinger, der damals gerade mit der Ausformulierung der
sogenannten Wellenmechanik beschäftigt war, die sich dann schnell als eine besonders
erfolgreiche Variante der neuen Quantenmechanik herausstellte, einen Brief an Niels Bohr
(1885–1962) in Kopenhagen. Bohr war von Schrödingers Wellenmechanik noch in keinster
Weise überzeugt und bevorzugte selbst eine wiederum von Schrödinger abgelehnte
subjektivistisch-statistische Deutung, während Schrödinger zu diesem Zeitpunkt glaubte,
eine objektivistische Variante der neuen Physik geliefert zu haben, die eindeutige realistisch
ausdeutbare ‚Bilder‘ liefere:
„Sie sagen: hier reichen eben unsere bisherigen Worte und Begriffe nicht aus.
Ich kann mich bei dieser Konstatierung nicht befriedigen und ich kann daraus
nicht für mich das Recht ableiten, mit widerspruchsvollen Aussagen weiter zu
operieren. Man kann die Aussagen abschwächen, in dem man z.B. sagt, die
Atomgesamtheit verhält sich „in gewisser Beziehung so, als ob … [sie ein
Teilchen wäre]“ und „in gewisser Beziehung, so, als ob … [sie eine Welle wäre],
aber das ist doch sozusagen nur ein juristischer Behelf, der sich nicht in klares
Denken umsetzen läßt.
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, Bilder zu konstruieren, welche obiges
Verhalten wirklich liefern.“
31
31
Schrödinger an Bohr, 23. Okt. 1926, zit. nach Meyenn (Hrsg. 2011), Bd. 1, S. 323-325.
Man darf jenen Briefausschnitt so deuten, daß Schrödinger die Quantentheorie und insb.
die Quantenmechanik in der statistischen Deutung von Bohr, Werner Heisenberg (1901–
1976) und Max Born (1882–1970) wie eine Illustration der Vaihingerschen These vorkam,
daß in der Naturwissenschaft oft Fiktionen als kontrafaktische Denkgebilde(-krücken)
verwendet werden, und zwar ungeachtet ihres Widerspruchs zur Wirklichkeit zur
Überwindung von Denkschwierigkeiten oder zu anderen Zwecken.
32
Aber: Schrödinger lehnte diese (später sog.) „Kopenhagener Interpretation“ der
Quantenmechanik vehement ab. Seine soeben zitierte Lesart der Kopenhagener
Interpretation als ein Beispiel für Vaihingers These ist also keine konstruktive Aufnahme
von Vaihingerschem Gedankengut, sondern eine eher negativ-polemische. Ein weiteres
Indiz dafür ist z.B. ein Brief Schrödingers an seinen Physiker-Kollegen Georg Joos (1894–
1959),
„Die Bornsche Deutung der [Koeffizienten] c [in der Schrödinger-Gleichung als
Wahrscheinlichkeitsamplituden] liegt wirklich sehr nahe. Ich sehe ein, daß
damit alle Schwierigkeiten wie mit einem Schlage behoben scheinen, aber der
philosophische Aspekt der Sache ist halt doch ein ganz grauenhafter. Die ganze
Konstruktion der ausstrahlenden Dipolmomente, die doch zu so guten
Resultaten führt, wird vollkommen vervaihingert, wenn man Born folgt“.
33
Somit wird unmißverständlich deutlich, daß auch für Schrödinger (ähnlich wie oben für
Einstein) eine „Vervaihingerung“ bei der Interpretation von Formeln oder
dahinterstehenden Konzepten als Fiktionen keinen guten Ruf gehabt hat, sondern geradezu
despektierliche Züge trug. Woher kam dieser ausgesprochen schlechte Ruf des
Fiktionalismus in Physiker-Kreisen?
Teil III: Einige (gewagte) allgemeinere Thesen zur Vaihinger-Rezeption in der Physik
Wie wir gesehen haben, wurde Vaihingers Philosophie des Als-Ob auch in Physiker-
Kreisen zumindest vereinzelt durchaus wahrgenommen, allerdings offenbar nur selten als
ernsthafter Interpretationsansatz, häufig nur spielerisch oder ironisch-gebrochen. Ein
wichtiger Grund dafür dürfte das im Fiktionalismus vorherrschende Rezeptionsmuster der
Relativitätstheorie gewesen sein: Die Primärrezeption jener Theorie fand vorwiegend
32
Über den Einfluß von Heinrich Hertz’ Konzept wissenschaftlicher Bilder (oder Modelle) auf den jungen
Heisenberg, siehe Hentschel (1998).
33
17. Nov. 1926: zit. nach Meyenn (Hrsg. 2011), Bd. 1, S. 346-349; man beachte die kreative Wortschöpfung
Schrödingers: „vervaihingert“.
durch Außenseiter statt.
34
An deren häufig unhaltbare Äußerungen und Thesen schloß eine
Sekundärrezeption an, die deren (oft entgleiste) Behauptungen zurechtzurücken sich
bemühte. Aber auch dieses Unterfangen war leider keineswegs immer von Erfolg gekrönt.
Dadurch gab es eine starke negative Vorbelastung des Fiktionalismus, dessen Vertreter sich
in den Fachdebatten schnell und gründlich blamiert hatten. Durch das ausgesprochen
sektiererhafte Auftreten der Fiktionalisten und eine geradezu inflationäre Ausweitung von
„Fiktionen“, mit der Vaihinger selbst bereits begonnen hatte, wurde dieser Rufverlust noch
verstärkt. Mit dem Abdriften des Vaihinger-Schülers und Herausgebers der Annalen der
Philosophie Raymund Schmidt (1890–?) in die rechte Szene war es um den Ruf des
Fiktionalismus in Kreisen außerhalb der NSDAP und ihr nahestehender Organisationen
nach 1933 endgültig geschehen.
35
Für das sektiererhafte Auftreten der Anhänger Vaihingers seien abschließend noch
zwei Beispiele gegeben, eines aus der Zeit kurz vor der „Machtübernahme“ durch die
Nationalsozialisten in der Festschrift zu Vaihingers 80. Geburtstag, die in Berlin im Jahre
1932 erschien. Dort sprachen die Herausgeber von
„Trost und ein schwacher Ersatz [dafür…], daß ihm das Glück versagte, sein
Werk noch bei seinen Lebzeiten in dem Umfange anerkannt zu sehen, wie es
dies nach der Ansicht seiner näheren Freunde verdient hätte. Wir antizipieren
durch diese Festgabe die Huldigung, die ihm unserer Hoffnung nach die
Nachwelt dereinst allgemein darbringen muß und sicherlich darbringen wird.“ …
auf „daß es dem Geist der Menschheit immer mehr eingehämmert werde“.
36
Zu diesem „Einhämmern“ – eine verräterisch gewaltträchtige Metapher – ist es
(glücklicherweise) nicht mehr gekommen.
Das zweite Beispiel ist rezent und zeigt, daß die durch eine Vielzahl verwirrter
Stimmen gekennzeichnete frühe Diskussion um die Interpretationen der Relativitätstheorie
bis heute ihre Nachfolger und Weiterführer gefunden hat, die sich neuer Medien wie dem
34
Als eine kleine Auswahl solcher Außenseiter seien hier genannt: der Justizrat Prof. Dr. Paul Krückmann,
Münster; der Nationalökonom Prof. Dr. Hellmuth Wolff, Halle; der Entdecker der Flüssigkristalle Otto
Lehmann, Karlsruhe, der die Auffassung vertrat, die Philosophie des Als-Ob sei geeignet, die „Störungen“ von
„Atomen und Kräften als ungebetener Gäste“ zu „vereiteln“ (Lehmann 1919, S.,228, 230), der
Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Alf Nyman, Lund sowie Philosoph Oskar Kraus (1872-1942), Prag, später
trotz seiner vehement antirelativistischen Grundeinstellung aufgrund seiner israelitischen Abstammung
erzwungene Emigration nach Schottland., wo er starb.
35
Über Schmidts spätere Karriere im Nationalsozialismus und in der Zeitschrift Kantstudien, siehe Georg
Leaman: http://www.kant.uni-mainz.de/ks/history/leaman.html (letzter Zugriff am 3. Mai 2012).
36
Aus Seidel (Hrsg. 1932), S. III.
Internet bedienen, um Proselyten für ihre verstaubten, fachwissenschaftsfernen Ansichten
zu finden.
Auch auf die mittlerweile fast 100 Jahre alten fiktionalistischen Artikel eines Ludwig
Höpfner oder eines Oskar Kraus wird dabei noch gerne zurückgegriffen, insofern lebt der
Fiktionalismus bis heute, allerdings nur in einer Schattenwelt ewig Gestriger.
Abb.5: screenshot einer website heute aktiver Antirelativisten mit der geskannten Fassung
des Artikels von Ludwig Höpfner aus dem Jahr 1921. Aus http://wissenschaftliche-
physik.com/2011/11/ (letzter Zugriff am 3.5.2012)
Zitierte Literatur:
Einstein, Albert: Dialog über Einwände gegen die Relativitätstheorie, Die
Naturwissenschaften 6 (1918), S. 697-702.
—: Induktion und Deduktion in der Physik, Berliner Tageblatt 48 (25. Dez. 1919), Suppl. 4,
Nr. 617.
—: Meine Antwort. Über die antirelativitätstheoretische G.m.b.H., Berliner Tageblatt 49
(27. Aug. 1920), S. 1-2.
—: The Collected Papers of Albert Einstein, Princeton: Princeton University Press, insb. Bde.
2 (1989), 9 (2004), 10 (2006) sowie 12 (2009).
Goenner, Hubert: The Reaction to Relativity Theory I: The Anti-Einstein Campaign in
Germany in 1920, Science in Context 6 (1993), S. 107-133.
Hentschel, Ann M., Graßhoff, Gerd, & Graff, Karl Wolfgang: Albert Einstein. „Jene
glücklichen Berner Jahre. Bern: Stämpfli (2005).
Hentschel, Klaus: Die Korrespondenz Einstein-Schlick: Zum Verhältnis der Physik zur
Philosophie, Annals of Science 43 (1986) S. 475-488, basierend auf einer unveröffentlichten
Magisterarbeit 1985 mit der kompletten Schlick-Einstein-Korrespondenz im Anhang; in
aktualisierter Form wiederabgedruckt in Schlick-Studien, Wien (2005).
—: Einstein, Neokantianismus und Theorienholismus, Kant-Studien 77 (1987), S. 459-470.
—: Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen
Relativitätstheorie, Basel: Birkhäuser (1990: Science Networks Historical Studies, Bd. 6).
— (Hrsg.): Die Korrespondenz Petzoldt-Reichenbach: Zur Entwicklung der wissenschaftlichen
Philosophie in Berlin, Berlin: Sigma, (1990: Berliner Beiträge zur Geschichte der
Naturwissenschaften und der Technik, 12).
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Anomalous Zeeman effect. In: David Baird, Alfred Nordmann u.a. (Hrsg.) Heinrich Hertz:
Classical Physicist, Modern Philosopher (Proceedings der Heinrich Hertz-Konferenz in South
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... Einstein: "I find your book very enjoyable and intend to absorb it bit by bit.") (However, some time later Einstein became more skeptical about Vaihinger's "Als-Oberei". For the historical context, see Hentschel (2014). For me, Einstein's irony seems to be an early symptom of his philosophical in-consequence that will lead in the future to his dropping out of mainstream physics.) ...
Article
Full-text available
This paper contains a detailed exposition and analysis of The Philosophy of “As If“ proposed by Hans Vaihinger in his book published in 1911. However, the principal chapters of the book (Part I) reproduce Vaihinger’s Habilitationsschrift, which was written during the autumn and winter of 1876. Part I is extended by Part II based on texts written during 1877–1878, when Vaihinger began preparing the book. The project was interrupted, resuming only in the 1900s. My conclusion is based exclusively on the texts written in 1876-1878: Vaihinger was, decades ahead of the time, a philosopher of modeling in the modern sense – a brilliant achievement for the 1870s! And, in the demystification of such principal aspects of cognition as truth, understanding and causality, is he not still ahead of many of us? According to Vaihinger, what we set beyond sensations is our invention (fiction), the correspondence of which with reality cannot (and need not) be verified in the mystical, absolute sense many people expect.
... [However, some time later Einstein became more skeptical about Vaihinger's "Als-Oberei". About the historical context, see Hentschel (2014).] ...
Working Paper
Full-text available
THIS IS WORKING PAPER! It has been substantially revised in the published version in Baltic J. Modern Computing, Vol. 9 (2021), No. 1, pp. 67–110 [[[[[ https://www.researchgate.net/publication/350207973_Philosophy_of_Modeling_in_the_1870s_A_Tribute_to_Hans_Vaihinger ]]]]]
Chapter
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Theories of medical diagnosis have been debated since at least the early eighteenth century. They were closely linked to different understandings of health and disease. In general, naturalistic and ontological understandings were confronted with nominalistic and constructivist interpretations of signs and symptoms. The foundations of today’s understanding of diagnosis were laid in the nineteenth century, which brought new ideas about the differentiation of individual diseases. The article reconstructs this development of concepts of medical diagnosis and discussions about the production of diagnostic signs. It then presents two approaches from the 1920s that attempted to reconcile nominalism and essentialism. The focus is on the approaches of the physicians Richard Koch and Francis Crookshank. Their concepts are compared and linked to Hans Vaihinger’s As-If philosophy, which was very prominent at the beginning of the twentieth century. The paper argues that Koch, in particular, sought to give an intentional and relational orientation to the idea of diagnosis, seeing nature and culture in diagnosis not as opposites but as interrelated elements, and that Koch’s and Vaihinger’s approaches still offer much insight into contemporary thinking about the theory of diagnosis.
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THIS IS PREPRINT! It has been substantially revised in the published version in Baltic J. Modern Computing, Vol. 9 (2021), No. 1, pp. 67–110 [[[[[ https://www.researchgate.net/publication/350207973_Philosophy_of_Modeling_in_the_1870s_A_Tribute_to_Hans_Vaihinger ]]]]]
Article
The aim of this article is to present the work of Emil Utitz, the Czech-German Jewish philosopher and psychologist, who was also a survivor of Theresienstadt. The power of the imagination and its intensification by the daily reality of the concentration camp was central to Utitz’s conception of life, which reveals the influence of the then popular ideas of Hans Vaihinger, and especially his theory of the importance of the human ability to act as though something was true. More specifically, the article reconstructs and contextualizes Utitz’s thought along two axes: the Kantian philosophical tradition, and Viktor Frankl’s and Hans Günther Adler’s conceptions of the Holocaust experience.
Research
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Taken literally, Vaihinger's enthusiasm about contradictions ubiquitous in science and mathematics might seem discrediting him as a serious thinker. Wasn't he really?
Article
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Article
This book analyzes one of the three great papers Einstein published in 1905, each of which would alter forever the field it dealt with. The second of these papers, "On the Electrodynamics of Moving Bodies," had an impact in a much broader field than electrodynamics: it established what Einstein sometimes referred to (after 1906) as the "so-called Theory of Relativity." Miller uses the paper to provide a window into the intense intellectual struggles of physicists in the first decade of the 20th century: the interplay between physical theory and empirical data, the fiercely held notions that could not be articulated clearly or verified experimentally, the great intellectual investment in existing theories, data, and interpretations -- and associated intellectual inertia -- and the drive to the long-sought- for unification of the sciences. Since its original publication, this book has become a standard reference and sourcebook for the history and philosophy of science; however, it can equally well serve as a text in the history of ideas or of twentieth-century philosophy. From reviews of the previous edition: ÄMillerÜ has written a superb, perhaps definitive, historical study of Einstein's special theory of relativity.... One comes away from the book with a respect for both the creative genius of the man and his nerve: he simply brushed aside much of the work that was going on around him. - The New Yorker