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Sanktionen gegen Russland

Authors:
  • Stiftung Wissenschaft und Politik, Freie Universität Berlin

Abstract

Wirtschaftssanktionen gegen Russland (In geänderter Form zur Veröffentlichung in OSTEUROPA, 7/2014) Sanktionen sind ein unverzichtbares Instrument der Außenpolitik, da sie die Lücke zwischen Worten und Krieg füllen. Über ihre Wirksamkeit wird stets diskutiert, sobald sie angedroht oder verhängt werden. Dabei stehen sich Sanktionsbefürworter und -kritiker oftmals schroff gegenüber, wobei sie übersehen, dass die Vereinten Nationen und die EU seit Mitte der 1990er Jahre zielgerichtete Sanktionsinstrumente entwickelt haben, die viele Kritikpunkte entkräften, die auf konventionelle Sanktionen zutreffen. Die gegen Russland 2014 verhängten Sanktionen demonstrieren sowohl die flexiblen Möglichkeiten beim Einsatz solcher "zielgerichteter" Sanktionen als auch das Erfordernis ihrer Einbettung in eine außenpolitische Strategie. Ihre Wirkung dürfte aber (mit Ausnahme des "Demonstrationseffekts") angesichts der geringen politischen Verwundbarkeit Russlands ebenfalls gering sein. Von konventionellen zu zielgerichteten Sanktionen (Wirtschafts-)Sanktionen 1 werden von einzelnen Staaten oder Staatenbündnissen bereits seit langer Zeit genutzt. Einige berühmte Beispiele: Athen verhängte 432 v. Chr. gegen die Nachbarstadt Megara ein Handelsembargo, 1806 errichtete Napoleon die "Kontinentalsperre" gegen England. 2 Die USA erließen ab 1948 Getreide-und Technologieembargos gegen die Sowjetunion und 1960 ein Handelsembargo gegen Kuba, das 2014 noch in Kraft ist. Die OPEC-Staaten verhängten 1973 gegen die USA und die Niederlande das erste "Ölembargo" der Geschichte. Mit dem Ziel der Durchsetzung völkerrechtlicher Normen wurden Wirtschaftssanktionen unter anderem vom Völkerbund gegen Italien (1935) sowie von den Vereinten Nationen gegen Rhodesien (1966), den Iran (1979), die UdSSR (1980 1 Im Folgenden werden unter "Sanktionen", wenn nicht anders bezeichnet, Handels-und Wirtschaftssanktionen verstanden, die den Kernbereich der Sanktionen darstellen. 2 Henning Schneider: Wirtschaftssanktionen. Die VN, EG und Bundesrepublik Deutschland als konkurrierende Normgeber beim Erlaß paralleler Wirtschaftssanktionen.
1
Roland Götz
Wirtschaftssanktionen gegen Russland
(In geänderter Form zur Veröffentlichung in OSTEUROPA, 7/2014)
Sanktionen sind ein unverzichtbares Instrument der Außenpolitik, da sie die Lücke
zwischen Worten und Krieg füllen. Über ihre Wirksamkeit wird stets diskutiert, sobald
sie angedroht oder verhängt werden. Dabei stehen sich Sanktionsbefürworter und
-kritiker oftmals schroff gegenüber, wobei sie übersehen, dass die Vereinten Nationen
und die EU seit Mitte der 1990er Jahre zielgerichtete Sanktionsinstrumente entwickelt
haben, die viele Kritikpunkte entkräften, die auf konventionelle Sanktionen zutreffen.
Die gegen Russland 2014 verhängten Sanktionen demonstrieren sowohl die flexiblen
Möglichkeiten beim Einsatz solcher „zielgerichteter“ Sanktionen als auch das
Erfordernis ihrer Einbettung in eine außenpolitische Strategie. Ihre Wirkung dürfte aber
(mit Ausnahme des Demonstrationseffekts“) angesichts der geringen politischen
Verwundbarkeit Russlands ebenfalls gering sein.
Von konventionellen zu zielgerichteten Sanktionen
(Wirtschafts-)Sanktionen1 werden von einzelnen Staaten oder Staatenbündnissen bereits
seit langer Zeit genutzt. Einige berühmte Beispiele: Athen verhängte 432 v. Chr. gegen
die Nachbarstadt Megara ein Handelsembargo, 1806 errichtete Napoleon die
„Kontinentalsperre“ gegen England.2 Die USA erließen ab 1948 Getreide- und
Technologieembargos gegen die Sowjetunion und 1960 ein Handelsembargo gegen
Kuba, das 2014 noch in Kraft ist. Die OPEC-Staaten verhängten 1973 gegen die USA
und die Niederlande das erste „Ölembargo“ der Geschichte.
Mit dem Ziel der Durchsetzung völkerrechtlicher Normen wurden
Wirtschaftssanktionen unter anderem vom Völkerbund gegen Italien (1935) sowie von
den Vereinten Nationen gegen Rhodesien (1966), den Iran (1979), die UdSSR (1980
1Im Folgenden werden unter „Sanktionen“, wenn nicht anders bezeichnet, Handels- und
Wirtschaftssanktionen verstanden, die den Kernbereich der Sanktionen darstellen.
2Henning Schneider: Wirtschaftssanktionen. Die VN, EG und Bundesrepublik Deutschland als
konkurrierende Normgeber beim Erlaß paralleler Wirtschaftssanktionen. Berlin 1999, S. 52-91.
2
und 1982), Argentinien (1982) und den Irak (1990) verhängt. Nach dem Ende der
Blockkonfrontation erlebten von den UN beschlossene Sanktionen einen Aufschwung,
weil viele Länder die Unterstützung durch ihre früheren Schutzmächte verloren hatten.
Gleichzeitig wuchsen jedoch auch die Zweifel an der Wirksamkeit von umfassenden
Wirtschaftssanktionen, weil sie vielfach nur die breite Bevölkerung belasteten, während
sich die herrschenden Kreise ihnen entziehen konnten.
Eine Theorie der Wirtschaftssanktionen hatte erstmals 1945 Albert Hirschman in einer
Untersuchung der Zusammenhänge des internationalen Handels mit der politische
Macht von Staaten formuliert. Er nannte Außenhandel eine Alternative zum Krieg und
legte dar, dass ein Staat durch Abbruch von Wirtschaftsbeziehungen andere Staaten zu
einer Änderung ihrer Politik zwingen könne, wenn diese keine Möglichkeiten hätten,
die ausfallenden Lieferungen durch anderweitig Importe zu ersetzen oder auf den
Sanktionen verhängenden Staat als Absatzmarkt angewiesen seien. Unter diesen
Umständen stehe die Änderung des politischen Verhaltens in proportionalem Verhältnis
zu dem durch den Abbruch der Handelsbeziehungen ausgeübten Druck.3 Hirschmans
These, die auch einem populären Verständnis von Wirtschaftssanktionen entspricht,
wurde später als die „konventionelle“ oder auch „naive“ Theorie der
Wirtschaftssanktionen bezeichnet und kritisiert.
Viel beachtet wurde die Kritik des konventionellen Ansatzes durch Johan Galtung, der
die von den Vereinten Nationen gegenüber Rhodesien verhängten Sanktionen untersucht
hatte. Galtung sieht „ideale“ Bedingungen, unter denen die Verwundbarkeit des von
Sanktionen betroffenen Staats maximal ist, nur dann verwirklicht, wenn es sich dabei
um einen kleinen Satelliten einer wirtschaftlichen Großmacht handelt. Generell sei die
konventionelle Theorie naiv, weil sie die Gegen- und Ausweichreaktionen des von den
Sanktionen betroffenen Staats nicht berücksichtigt. Zudem werde von ihr übersehen,
dass Sanktionen oft eine Solidarisierung mit der politischen Führung des betroffenen
Landes nach sich ziehe.4
3Albert Hirschman: National Power and the Structure of Foreign Trade, Berkeley, C.A. 11945, 21980,
S. 14 ff.
4Johan Galtung: On the Effects of International Economic Sanctions. With Examples from the Case of
Rhodesia, in: World Politics 3/1967, p. 378-416,
3
Nach den Erkenntnissen der Interdepenztheorie von Robert Keohane und Joseph Nye
können nur dann, wenn Staaten als einheitliche Akteure betrachtet werden, die beim
Sanktionen ausübenden Staat („Sender“) anfallenden Kosten mit den beim
sanktionierten Staat („Empfänger“) entstehenden Schäden gegeneinander aufgerechnet
werden.5 Wenn Interessengruppen mit einbezogen werden, wird die
Entscheidungssituation komplexer: Auf der „Empfängerseite“ können auch
Sanktionsgewinner auftreten wie etwa Unternehmen, die vor Auslandskonkurrenz
abgeschirmt sind, und beim „Sender“ verteilen sich die Sanktionslasten sehr ungleich
auf verschiedene Gruppen der Bevölkerung.
Die skeptische Sicht wurde durch die vermeintliche oder tatsächliche Wirkungslosigkeit
von Wirtschaftssanktionen belegt. Die von Napoleon gegen England 1806 verhängte
Kontinentalsperre gilt als weitgehend wirkungslos, weil sie durch Schmuggel
unterlaufen wurde. Als weiteres Beispiel erfolgloser Sanktionen werden die 1935 vom
Völkerbund gegen Mussolinis Italien (das Äthiopien angegriffen hatte) verhängten
Handelsbeschränkungen genannt.6 Als Ergebnis ihrer Untersuchung von 116
Sanktionsfällen kommen Gary Hufbauer, Jeffery Schott und Kimberly Elliot zum
Ergebnis, dass Sanktionen nur dann „Frucht tragen, wenn sie in die richtigen Boden
gepflanzt und gehörig gehegt werden“, was oft nicht der Fall ist.7
Die Zweifel an der Wirksamkeit von Sanktionen rühren auch daher, dass die
Sanktionsziele zu eng aufgefasst werden. Wenn alleine die Verhaltensänderung als
Folge des Sanktionsdrucks als Erfolg gilt, wird das Ergebnis von Sanktionen
unterschätzt. Die Erzwingung von Verhaltensänderungen (coercing) ist jedoch nur eines
von mehreren möglichen Sanktionszielen. Weitere sind Abschreckung (deterrence), die
Einengung von Handlungsspielraums des „Empfängers“ (constraining) und die
Demonstration der Ablehnung seiner Politik (signalling). Werden diese breiteren Ziele
<http://web.stanford.edu/class/ips216/Readings/galtung_67.pdf>, hier S. 388 ff.
5Robert O. Keohane and Joseph S. Nye, Power and Interdependence, 3rd ed. (New York: Longman,
2001), S. 196.
6Gregor Schotten: Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen im Umfeld bewaffneter Konflikte.
Berlin 2007, S. 84 f.
7Gary Hufbauer, Jeffrey Schott, Kimberly Elliot: Economic Sanctions Reconsidered. History and
Current Policy. Washington, D.C. 21990, S. 94.
4
einbezogen, ergibt sich ein günstigeres Bild des Sanktionserfolgs.8
Vor allem vor dem Hintergrund der desaströsen humanitären Folgen der gegen den Irak
1990 als Antwort auf die Kuwait-Invasion verhängten Sanktionen wurde von
Abteilungen der Vereinten Nationen, Vertretern einzelner Regierungen und von NGO's
seit Mitte der 1990er Jahre das Konzept der „intelligenten“ oder „gezielten“ Sanktionen
(smart sanctions, targeted sanctions) entwickelt.9 Deren Grundidee ist, Sanktionen auf
bestimmte Personen sowie einzelne Wirtschaftssektoren zu beschränken und dadurch
die breite Bevölkerung zu schonen.10
Die gezielten Sanktionen umfassen drei Gruppen von Maßnahmen:
diplomatische Sanktionen wie die Ausweisung von Diplomaten, den Ausschluss
von Ländern aus internationalen Organisationen und die Begrenzung von
zwischenstaatlichen Kontakten,
persönliche Sanktionen, die gegen einzelne Personen des sanktionierten Landes
verhängt werden wie Reisebeschränkungen und Sperrung von Bankkonten,
selektive Sanktionen, die einzelne Wirtschaftssektoren des sanktionierten Landes
betreffen. Dazu gehören Waffenembargos, Handelsembargos für bestimmte
Erzeugnisse sowie Finanzsanktionen wie das Verbot von Investitionen oder die
Beschlagnahme von Vermögen.
Der Katalog der gezielten Sanktionen ist nicht beschränkt und kann je nach Land
variiert werden.
8Francesco Giumelli: Coercing, Constraining and Signalling: Explaining UN and EU Sanctions after
the Cold War. Colchester, 2011,
<http://press.ecpr.eu/documents/sampleChapters/9781907301209.pdf>.
9Peter Rudolf: Sanktionen in der internationalen Politik. Zum Stand der Forschung. Berlin 2006 (=
SWP-Studie 30/2006), S. 15 mit Verweis auf David Cortright, George Lopez (Hg.): Smart Sanctions.
Targeting Economic Statecraft. New York 2002. Dazu Joy Gordon: Smart Sanctions Revisited, in:
Ethics and International Affairs 3/2011, S. 315-335. – Umfangreiche Dokumentation bei
Schweizerische Eidgenossenschaft/Staatssekretariat für Wirtschaft SECO: Smart Sanctions – Gezielte
Sanktionen <http://www.seco.admin.ch/themen/00513/00620/00639/index.html?lang=de>.
10 Clara Portela: The EU’s Use of ‘Targeted’ Sanctions. Evaluating effectiveness. Brüssel 2014 (= CEPS
Working Document 391), S. 4
5
Sanktions- und Politikstrategien
Für die zeitliche Dynamik intelligenter Sanktionen bieten sich entweder ein schnelles
oder ein graduelles Vorgehen an. Ein schnelles Vorgehen demonstriert Entschlossenheit,
dabei wird aber der Eskalationsspielraum rasch ausgeschöpft und es verbleibt dann nur
noch der meist unerwünschte Einsatz militärischer Mittel. Der graduelle Ansatz
ermöglicht dagegen flexible Eskalation und kann im multilateralen Rahmen wie im Fall
der EU leichter durchgesetzt werden. Sanktionen sind keine Strategie, sondern können
nur im Rahmen einer Strategie wirksam eingesetzt werden. Sollen bestimmte
Verhaltensänderungen erreicht werden, müssen Sanktionen in einen diplomatischen
Dialog eingebettet sein.11 Ob Sanktionen die gewünschte Wirkung haben, hängt auch
davon ab, wie geschickt sie mit dem Dialogprozess verknüpft sind, aber auch davon,
dass sie einem ausreichend breiten Ansatz folgen.
Die von der EU verhängten Sanktionen sowohl die eigenständig verhängten (wie
gegen Myanmar und Zimbabwe), als auch diejenigen, mit denen sich die EU an UN-
Sanktionen beteiligten litten bis zum Juli 2014 darunter, dass Wirtschaftssanktionen
ausgespart blieben und sie nur Waffenembargos, Visasperren und der Einfrierung von
Konten umfassten.12 Diese „sanfte“ Sanktionspolitik ersparte den EU-Staaten bis dahin
den Konflikt mit der eigenen Industrie und die Frage nach humanitären Nebenfolgen.
Erst nach dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs konnte sich die EU unter
dem Druck der empörten Öffentlichkeit zu einer Ausweitung der Sanktionen aufraffen.
Russlands (geringe) Verwundbarkeit durch Sanktionen
Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind
gerade bei Russlandfachleuten weit verbreitet. Zum Beispiel verweisen Clifford Gaddy
und Barry Ickes darauf, dass zentrale Zweige der Wirtschaft Russlands, die noch aus
Sowjetzeiten überdauert haben, zwar ineffizient, aber gegenüber äußeren Einflüssen
sehr robust seien. Auch wenn Russlands Bevölkerung verarmen würde, würde der
11 Peter Rudolf: Sanktionen in der internationalen Politik. Zum Stand der Forschung. Berlin 2006 (=
SWP-Studie 30/2006), S. 18
12 Clara Portela: The EU’s Use of ‘Targeted’ Sanctions. Evaluating effectiveness. Brüssel 2014 (= CEPS
Working Document 391), S. 36
6
Aktionsspielraum der Führung des Landes nicht beschnitten. Sanktionen würden vor
allem die liberal eingestellte Mittelschicht treffen und Putins Kontrolle über die
Wirtschaft stärken. Daher wären sie kontraproduktiv und behinderten langfristig
Russlands Entwicklung zu einer modernen Wirtschaft und Gesellschaft.13 Faktoren, die
für und gegen die Verwundbarkeit Russlands durch Sanktionen sprechen, sind in Tab. 1
zusammengestellt.
Tabelle 1: Verwundbarkeit Russlands durch Sanktionen
Verringert Verwundbarkeit Erhöht Verwundbarkeit
Ökonomische
Faktoren
Geringe Auslandsverschuldung,
hohe Währungsreserven
hohe Exportabhängigkeit des
Staatshaushalts
symmetrische Interdependenz
bei Erdgas
asymmetrische Interdependenz
bei Erdöl zu Ungunsten
Russlands
Verbreitete Subsistenzwirtschaft Wirtschaft in Rezession
Politische
Faktoren
starke Identifikation mit
Regierung/Präsident
starker Einfluss der
Regierungspropaganda – kann
Westen als Aggressor darstellen
und den Sanktionen Schuld an
Wirtschaftskrise geben
Vorprägung durch Anti-
Amerikanismus (EU wird als
Werkzeug der USA dargestellt)
Opposition wird unterdrückt
Russland ist als weltpolitischer
Partner des Westens wichtig
Die Gegenüberstellung macht deutlich, dass sich auf dem Gebiet der Wirtschaft die
Faktoren, die Russlands Verwundbarkeit verringern und erhöhen, etwa die Waage halten
13 Clifford Gaddy, Barry Ickes: Can Sanctions stop Putin? Washington D.C., 03.06.2014,
<http://www.brookings.edu/research/articles/2014/06/03-can-sanctions-stop-putin-gaddy-ickes>.
7
(auch wenn eine exakte quantitative Abwägung nicht möglich ist). Die politischen
Faktoren sprechen dagegen eindeutig für eine geringe Verwundbarkeit. Sanktionen
dürften somit nur wenig oder überhaupt nicht auf das Verhalten Russlands einwirken.
Sie können daher vor allem nur einen Demonstrationseffekt (signalling) erzielen.
Die Sanktionen der EU gegenüber Russland14
Die EU hat gegen Russland zwischen März und Juli 2014 in mehreren Schritten
Sanktionen (im EU-Sprachgebrauch „restriktive Maßnahmen“) verhängt.15 Zuvor hatte
man sich auf einen Drei-Stufen-Plan geeinigt. Stufe eins beinhaltete die Aussetzung von
Verhandlungen über Visaerleichterungen sowie über die Erneuerung des
Grundlagenabkommens zwischen der EU und Russland. Stufe zwei betraf
Reisebeschränkungen und Kontensperrungen für bestimmte Personen aus der Macht-
und Wirtschaftselite Russlands. Stufe drei war sektoralen Wirtschaftssanktionen
vorbehalten. Am 5. März 2014 ordnete der Rat der Europäischen Union, in dem alle
Mitgliedsstaaten vertreten sind, Sanktionen der Stufe eins an. Diese wurden am 17.
März 2014 (nach dem Krim-Referendum, das die Eingliederung der Krim in die
Russische Föderation vorbereitete) verschärft, wobei die Sanktionsstufe zwei erreicht
wurde. Am 25. Juli (nach dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs)
beschloss der Rat Sanktionen der Stufe drei, die am 31. Juli ergänzt wurden, wobei
jedoch noch nicht das volle Potential dieser Sanktionsstufe ausgeschöpft wurde. Alle
Sanktionen sollen nach drei Monaten auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden.
Die Sanktionen der Stufe drei umfassen folgende Maßnahmen: Ab dem 1. August 2014
dürfen EU-Bürger und Unternehmen aus der EU keine Anleihen mit Laufzeit von mehr
als 90 Tagen kaufen, die von Banken ausgegeben wurden, die mehrheitlich in Besitz
14 Die von den USA 2014 gegen Russland verhängten Sanktionen werden hier nicht dargestellt.
15 Rat der Europäischen Union: Verordnung (EU) Nr. 208/2014 des Rates vom 5. März 2014 über
restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der
Lage in der Ukraine. – Ders.: Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates vom 17. März 2014 über
restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität
und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen. – Ders.: Verordnung (EU) Nr. 811/2014
des Rates vom 25. Juli 2014 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive
Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und
Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen. – Ders.: Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des
Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die
Lage in der Ukraine destabilisieren. Alle Quellen sind erreichbar unter: <http://eur-lex.europa.eu/>.
8
Russlands sind. Damit können sich diese nur noch kurzfristig am europäischen
Kapitalmarkt refinanzieren und sind für längerfristige Kredite auf den inländischen
Finanzmarkt angewiesen, da sie auch von parallelen Finanzsanktionen der USA
betroffen sind. Ein Waffenembargo verbietet den Abschluss neuer Lieferverträge
zwischen Firmen in Russland und der EU. Ebenso wird die Ausfuhr von Erzeugnissen
mit sowohl ziviler und militärischer Verwendung (dual-use-Güter) nach Russland
verboten. Bestehende Verträge über den Waffenexport nach Russland vor allem die
Lieferung eines Hubschrauberträgers aus Frankreich – sind nicht betroffen. Die Ausfuhr
von Technologien, die der Erforschung oder Ausbeutung von Ölfeldern in der Tiefsee
und in der arktischen Region dienen, wird ebenso untersagt wie die Lieferung von
Ausrüstungen für die Exploration und die Nutzung von Schieferölvorkommen. Damit
wird die zukünftige Entwicklung der Ölförderung in Russland behindert.
Den größten Effekt dürften die Finanzsanktionen haben, da sie sich über steigende
Zinsen in Russland auf das Investitionsklima negativ auswirken. Beim Waffenembargo
wird auf den spektakulären Effekt (das signalling) verzichtet, der darin bestünde, das
französisch-russische Hubschrauberprojekt im Wert von mehreren Milliarden Euro
sofort zu stoppen. Angesichts des davon abgesehen wesentlich geringeren Umfangs des
Waffenhandels zwischen Russland und der EU haben die sonstigen Maßnahmen auf
diesem Gebiet eher symbolische Bedeutung. Das könnte auch für den von
Wirtschaftsminister Gabriel verkündeten Stopp der Auslieferung des
Gefechtsübungszentrums der Firma Rheinmetall an Russland gelten, weil
möglicherweise die entscheidenden Komponenten bereits geliefert und bezahlt wurden.
Die sektoralen Sanktionen auf dem Energiegebiet betreffen nur Geschäfte, deren
Nichtzustandekommen erst in Jahren spürbar sein wird und auch nur dann, wenn
Russlands Maschinenbau bis dahin den noch bestehenden technologischen Rückstand
zum Westen nicht aufgeholt hat. In einer Mitteilung des Außenministeriums Russlands
vom 30. Juli 2014 wurde als Reaktion auf diese Gruppe von Sanktionen moniert, dass
Brüssel im Sanktionseifer absichtlich Hindernisse für die weitere
Zusammenarbeit mit Russland auf einem solchen Schlüsselgebiet wie der
9
Energiewirtschaft schafft. Das ist ein unbedachter und unverantwortlicher
Schritt. Er wird unvermeidlich einen Anstieg der Preise auf dem europäischen
Energiemarkt nach sich ziehen.16
Gemeint könnte sein, dass wegen der aus den Sanktionen folgende Einschränkung der
zukünftigen Ölförderung durch russländische Unternehmen das Ölangebot auf dem
Weltmarkt geringer sein wird, als es bei fortgesetzter Kooperation mit europäischen
Lieferanten der entsprechenden Ausrüstungen wäre und dass daher weltweit, also auch
in Europa, höhere Ölpreise zu erwarten sind (wohlwollend interpretiert, könnte dabei
mitgedacht sein, dass auch die Preise in Gazproms Gaslieferverträgen an den Ölpreis
gekoppelt sind). Die so begründete Prognose höherer Energiepreise in Europa ist aber
angesichts des voraussichtlich noch für lange Zeit nur geringen Anteils der von
Unternehmen aus Russland bewirkten Erdölförderung aus der Tiefsee und vom
arktischen Meeresboden an der Weltölförderung sehr weit hergeholt und keineswegs
zwingend. Jedoch veranlasste die schwer interpretierbare Passage aus der Mitteilung des
Außenministeriums Russlands sofort deutsche Medien in Überschriften und ohne Beleg
in den Beiträgen zu suggerieren, dass wieder einmal „Putin mit der Erhöhung des
Gaspreises droht“.17 Der „Erzählung vom Gaskrieg“ wurde so eine neue Episode
hinzugefügt.18
Sanktionsdynamik
Zwar werden die Sanktionen der EU und der USA Russlands Ukrainepolitik nicht
16 Kommentarij MID Rossii v zvjazi s soglasovannymi Evrosojuzom očerednymi antirossijskimi
sankcijami, 30.07.2014,
<http://www.mid.ru/brp_4.nsf/newsline/35C425E881DAF34E44257D25004DA482>.
17 Eine Auswahl: BILD-Online, 30.07.2014 mit der Überschrift „Putin will Gaspreis erhöhen“,
<http://www.bild.de/politik/ausland/wladimir-putin/usa-und-eu-ziehen-die-sanktions-schraube-gegen-
putin-an-37032320.bild.html>. - Spiegel-Online vom 31.07.2014 mit der Überschrift „So groß ist das
Risiko eines Gaspreisschocks“, <http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/gaspreisschock-
risikoanalyse-von-russlands-drohung-a-983801.html>. - Die Südeutsche Zeitung titelte am 31.07.2014
„Russland droht mit höherem Gaspreis“ und Die Welt am selben Tag, S.1, „Russland droht Europa
mit höheren Gaspreisen“. Matthias Brüggmann fand es im Handelsblatt vom 1.08.2014
„besorgniserregend, wenn Moskau nun mit einem deutlichen Anheben der Gaspreise für Europa
droht“. Nur die Neue Online Presse erkannte am 31.07.2014 richtig: „Medien lügen Gaspreis Drohung
Russlands herbei“, <http://www.neopresse.com/medien/medien-luegen-gaspreis-drohung-russlands-
herbei/>.
18 Zur „Erzählung vom Gaskrieg“ Roland Götz: Mythen und Fakten. Europas Gasabhängigkeit von
Russland, in: OE 6-8/2012, S. 435-458, hier S. 436.
10
merklich beeinflussen können, umgekehrt jedoch wird die Entwicklung in der Ukraine,
die hauptsächlich einerseits von Russlands Haltung gegenüber den Separatisten,
andererseits von den militärischen Erfolgen der ukrainischen Armee bestimmt wird,
über den Fortgang der Sanktionspolitik der EU und der USA entscheiden. Mehrere
prinzipielle Szenarien sind denkbar, die auch in sich überschneidenden Teilen
Wirklichkeit werden könnten:
Das von Europas Politikern heiß ersehnte Szenario „Frieden durch Verhandlungen“
meint eine von Moskau initiierte Niederlegung der Waffen der Separatisten oder deren
Abzug nach Russland, wofür Putin mit dem Versprechen eines (vorläufigen) Verzichts
auf den Nato-Beitritt der Ukraine und die politische Herabstufung des Krim-Themas
belohnt werden könnte. Putin würde sich gesichtswahrend als Friedensstifter
inszenieren dürfen. Auf die bereits ergriffenen Sanktionen kann dann verzichtet werden.
Wie Putin aber mit den enttäuschten Nationalisten zu Hause zu Recht kommen soll,
wäre sein Problem. Die Wirtschaft Russlands würde positive Impulse empfangen und
könnte wieder auf einen Wachstumspfad einschwenken.
Das von der ukrainischen Führung vermutlich bevorzugte Szenario bedeutet den
militärischen Sieg der ukrainischen Armee über die Separatisten und deren Kapitulation
oder Abzug nach Russland. Voraussetzung dafür wäre ein Nachlassen oder die
vollständige Einstellung ihrer Unterstützung durch aus Russland stammende Waffen
und Kämpfer. Moskau könnte zwar in den nachfolgenden Verhandlungen (etwa über
Gefangenenaustausch) eine konstruktive Rolle spielen und würde dafür vom Westen
gelobt, hätte innenpolitisch jedoch wie auch im Verhandlungsszenario einen schweren
Stand. Die Sanktionen würden schrittweise reduziert werden, was der Wirtschaft
Russlands zugute käme.
Wenn Russlands Führung seine Unterstützung der Separatisten fortsetzt und auf deren
Behauptung in den „Volksrepubliken“ der Ostukraine baut, wird es die territoriale
Spaltung der Ukraine bewirken wollen. Ziel wäre die Schaffung eines Russland hörigen
Territoriums wie Abchasien. Der Westen würde dann seine Sanktionen ausweiten und
etwa Embargos auf einzelne Exportgüter Russlands wie Stahl, Grundchemikalien oder
11
Ölprodukte verhängen. Folge wäre eine Vertiefung der wirtschaftlichen Rezession in
Russland.
Das Szenario einer militärischen Intervention Russlands ist nicht sehr wahrscheinlich,
weil es gegenüber dem Szenario „Spaltung“ für Russland keine Vorteile bringt, kann
aber nicht völlig ausgeschlossen werden. Die Sanktionen werden dann voraussichtlich
maximal ausgeweitet, wozu ein umfassendes Ölembargo (die Sperrung der
europäischen Häfen für Öltanker aus Russland und die Abschaltung der in Deutschland
endenden Druschba-Ölpipeline) gehören kann. Folge wäre in Russland ein tiefer und
und anhaltender Wirtschaftseinbruch, der von Währungsverfall, Abnahme der
Devisenreserven, Inflation, Sinken der Realeinkommen und einem großen Defizit des
Staatshaushalts begleitet ist.
Tabelle 2: Szenarien und Sanktionen
Szenarien:
Einwirken
Russlands auf die
Separatisten
Separatisten Sanktionsdynamik
„Verhandlung“
Beendigung der
militärischen
Unterstützung
Waffennieder-
legung, Abzug Schrittweise Aufhebung
„Sieg“
Militärische
Unterstützung
verringert
Militärische
Niederlage Schrittweise Aufhebung
„Spaltung“
Militärische
Unterstützung
verstärkt
Behauptung in
der Ostukraine Begrenzte Ausweitung
„Intervention“
Unterstützung durch
Besetzung der
(Ost-)Ukraine
Machtgewinn Maximale Ausweitung
(Ölembargo)
Sanktionen spielen in der Ukrainekrise nur eine begleitende Rolle, während die
entscheidenden Einflüsse von Russlands Haltung gegenüber den Separatisten und von
der Kampfkraft der ukrainischen Armee ausgehen. Auf Sanktionen kann die westliche
Diplomatie in der Ukrainefrage allerdings schon deswegen nicht verzichten, weil sie
12
sonst ihre Machtlosigkeit eingestehen müsste. Auch wenn direkte Erfolge nicht messbar
sind, wird nicht bestritten werden können, dass die ergriffenen Sanktionen mit ihrem
Eskalationspotential vielleicht doch Russlands Haltung gemäßigt haben könnten.
Article
Full-text available
I explore six possible scenarios—options and strategies for the development of Ukraine’s (as well as, to a lesser degree, Georgia's and Moldova’s) security situation during the coming five to 15 years. As long as Russia’s current regime continues to exist, Moscow’s aggressive stance towards Kyiv will probably last, and Ukraine has no easy way to achieve international organizational embeddedness, as detailed below. The scenarios are: (1) thecontinuation of the current “gray zone” status of Kyiv, Chisinau, and Tbilisi (the capitals of Ukraine, Moldova, and Georgia, respectively); (2) Ukraine and Georgia’s permanent neutrality as a result of some Western-Russian bargain; (3) Ukraine, Moldova, and Georgia’s accession to the EU; (4) Ukraine and Georgia’s entry into NATO; (5) Ukraine and Georgia’s Major Non-NATO Ally status with the United States; and (6) the creation of an Intermarium (“land between the seas”) coalition of East-Central European NATO member states on the one hand, and post-Soviet non-NATO countries (Ukraine, Georgia, Moldova, and perhaps Azerbaijan) on the other. These six scenarios for Ukraine’s foreign affairs may or may not materialize in the foreseeable future and vary in terms of likelihood that they will occur; they would demand very different approaches and would have highly diverging implications for both Ukrainian and non-Ukrainian actors in Eastern Europe. CORRECTION: The phrase "a firm conduit across the passage between the Kerch and Crimean peninsulas" needs to read "a firm conduit across the passage between the Kerch peninsula of Crimea, and the Russian Federation". This mistake was the result of an editorial change that I failed to notice when checking the pages for proof. The respective formulations in the previously published German, Russian and Ukrainian versions are correct.
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