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geographische revue 1/2014
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Hans Jürgen Böhmer
Zur Integrität der Geographie
Gerhard Hard 1990: Hard-Ware. Texte von Gerhard Hard. Hg.: Arbeitsgemeinschaft Frei-
raum und Vegetation. (= Notizbuch 18 der Kasseler Schule). 360 Seiten. Kassel.
Vor einiger Zeit saß ich in meinem Büro und überflog routinemäßig den Inhalt der aktuel-
len Ausgabe eines einschlägigen internationalen Journals der Physischen Geographie. Es
handelte sich um ein Special Volume, in dem Aufsätze zu einem altehrwürdigen, seinerzeit
wesentlich von Carl Troll abgesteckten Fachgebiet publiziert wurden. Im einleitenden Edi-
torial wurde mit euphorischem Unterton herausgestellt, dass es sich um Beiträge handle,
die anlässlich des ersten Treffens von Wissenschaftlern zweier Nachbardisziplinen vorge-
tragen wurden und ein völlig neues, zukunftsweisendes, interdisziplinäres Forschungsfeld
aufrollten. Erstaunt drehte ich mich um und blickte in mein Bücherregal, wo etliche, bis in
die 1930er Jahre zurückreichende Arbeiten – überwiegend deutschsprachige Monographi-
en – aus exakt diesem Forschungsfeld standen. Was war passiert?
Ich nehme an, dass sich solche oder ähnliche Erlebnisse in der jüngeren Vergangenheit
bei vielen Kolleginnen und Kollegen häufen. In Zeiten einer sich rasant wandelnden und
diversifizierenden wissenschaftlichen Publikationskultur entstehen wohl schon notwen-
digerweise immer mehr Paralleluniversen des Denkens, die sich gegenseitig gar nicht mehr
wahrnehmen müssen, angesichts ihrer Fülle vielleicht auch gar nicht mehr wahrnehmen
können. Zumal neben nachvollziehbare Sprachbarrieren (was scheren einen nordameri-
kanischen Autor jahrzehntealte deutschsprachige Monographien, was scheren mich
jahrzehntealte japanische Monographien?) längst Formatbarrieren getreten sind – was nicht
kurzerhand zum Download bereitsteht, existiert einfach nicht (mehr). Und – Hand aufs
Herz – wer von uns könnte heute noch die andere Hand dafür ins Feuer legen, alle potenzi-
ell relevanten Neuerscheinungen seiner Teildisziplin wirklich zu überblicken? Wie, um al-
les in der Welt, soll bei solchermaßen exponentiell wachsender, inhaltlicher und formaler
Komplexität überhaupt noch die Einheit des Faches Geographie diskutierbar bleiben?1
Der mit diesem Prozess einhergehende dramatische Wissensverlust – bereits 2005 von
Paul Keddy treffend als Alzheimerisierung („Alzheimerization“) der Wissenschaften be-
zeichnet2 – hat Folgen. Manche Journale füllen sich mit methodisch versierten, inhaltlich
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jedoch redundanten Arbeiten zu längst umfassend abgehandelten Themen. Weitreichende
Schlussfolgerungen, etwa zum Klimawandel und seinen möglichen Auswirkungen, werden
auf – gemessen am eigentlich verfügbaren Kenntnisstand – marginaler, allerdings nume-
risch exakter Grundlage gezogen. Übrigens unterstelle ich den eingangs erwähnten, eupho-
rischen Kollegen weder Absicht noch Nachlässigkeit. Sie leben wohl wirklich in dem Glau-
ben, etwas Neues entdeckt zu haben, da es ihnen eben neu erscheint. Und ich bin mir si-
cher, dass sie mit ihrem Sendungsbewusstsein Millionen an Forschungsgeldern einwerben
werden, denn für Gutachter und Forschungsförderinstitutionen gilt die geschilderte Proble-
matik ja auch. Leider, möchte ich hinzufügen - aber Moment mal: Zwar ist damit ein Er-
kenntnisgewinn nicht gesichert, wohl aber der Fortgang des zeitgemäßen Wissenschafts-
betriebes. Ist das denn nicht längst wichtiger? Und, falls ja: Genügt uns das?
Mit Peter Bieri müssen wir uns vor diesem Hintergrund wohl die große Frage stellen:
„Wie wollen wir leben?“3 Oder, spezifischer: „Welche Geographie, welche geographische
Forschung und Lehre wollen wir?“ Man könnte – und hier komme ich nun auf Gedanken
Gerhard Hards zu sprechen – konstatieren, dass es gar nicht mehr nötig ist, gebildet zu
sein, um ein erfolgreicher Geograph zu werden. Umfassende Bildung ist ja im traditionel-
len Wertesystem der Geographie – soweit ich mich erinnere – eigentlich als fundamentaler
Baustein wissenschaftlicher Integrität verankert. So wurde es zumindest meiner Generation
vor 20 Jahren im Studium noch vermittelt. Wie könnte jemand, der Kenntnisstand und Ide-
engeschichte seines Fachgebietes nicht überblickt, je als guter, innovativer, vertrauenswür-
diger Forscher gelten? Eine Frage, die – so scheint es – immer mehr Verwunderung hervor-
ruft. Wer sie stellt, gerät in den Verdacht, den modernen Wissenschaftsbetrieb nicht zu ver-
stehen, gar ein naiver Idealist oder schlicht von gestern zu sein.
Ein aktuell gebliebener Meilenstein zur Orientierung im Sog der oben skizzierten
Fliehkräfte ist das 1990 von der „Arbeitsgemeinschaft Freiraum und Vegetation“ herausge-
gebene Notizbuch 18 der Kasseler Schule. Es vereint unter dem Titel „Hard-Ware“ 16 in
den 1980er Jahren publizierte Texte von Gerhard Hard, denen der einleitende Essay „Dis-
ziplinbegegnung an einer Spur“ des gleichen Autors vorangestellt ist. Darin gibt Hard auf-
schlussreiche Erläuterungen, die ihm für das Verständnis des Lesers wichtig erscheinen,
u.a. seine „hochschuldidaktischen Motive“ und den immer wieder zentralen Bezug zum
Fach Geographie im Allgemeinen und der Vegetation (gerne jener von Städten) bzw. der
Vegetationsgeographie im Besonderen. Die nachfolgenden, ursprünglich an verschiedenen
Stellen erschienenen Arbeiten sind in die drei Kapitel „Theoretisches“, „Wildes“ und „Ge-
plantes“ eingeordnet.
Der erste Aufsatz des Theoriekapitels trägt den vielsagenden Titel „Die Störche und
die Kinder, die Orchideen und die Sonne“. Wie macht man „... Studenten deutlich, was
Theorie wert sein kann, wie sie wirkt und sich verändert?“ Anders gefragt: Was ist, wenn
aus einem unzureichenden theoretischen Hintergrund redundante Hypothesen abgeleitet
werden, die numerisch überzeugend verifiziert werden können? Hards provokantes Bei-
spiel: Die Populationsdichte von Störchen in 21 zufällig ausgewählten ostelbischen Land-
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kreisen erklärt einen hohen Teil der Varianz der Geburtenrate von Menschenkindern. Nun
leuchtet jedem Leser ein, dass es sich um eine Absurdität handelt, da ja allgemein bekannt
ist, dass unsere Kinder nicht von Störchen gebracht werden. Was aber – diese Frage füge
ich hier an - wenn wir die Zusammenhänge nicht so genau einschätzen können, etwa wenn
es heute um Hypothesen zur Populationsdynamik gefährdeter Arten oder Prognosen zum
Klimawandel geht und uns numerisch abgesicherte Ergebnisse auf unerkannt absurder
Grundlage serviert werden?
Hard spinnt seine Geschichte weiter: „Das interessante Ergebnis macht Forschungs-
gelder locker“, die Untersuchung wird auf ganz Mitteleuropa über 2150 Raumeinheiten
ausgedehnt. Ergebnis: „Bei niedriger Storchendichte ist der Anteil der geburtenstarken
Raumeinheiten deutlich geringer als bei hoher Storchendichte.“ Immerhin legt die Rest-
varianz nahe, dass im Datenrauschen noch andere die Geburtenrate steuernde Faktoren ver-
borgen sein müssen, demnach alternative Ansätze verfolgt werden sollten. Diverse
Forschungsperspektiven tun sich nun auf, es entfaltet sich die übliche Gruppendynamik:
Der Forschungsmainstream folgt letztlich der offensichtlich bestätigten Vorannahme, arbei-
tet sozusagen „verifizierend“, versucht also, die bekannte Theorie durch weitere Untersu-
chungen zu untermauern, was durchaus gelingt. Hard nennt das „die Theorie in die Wirk-
lichkeit hineinarbeiten“ – die Theorie steuert den Umgang des praktizierenden Wissen-
schaftlers mit der Welt. Gefundene Ausnahmen bestätigen die Regel.
Ein Nachwuchswissenschaftler, der eine alternative Hypothese verfolgt, wird „vernich-
tend“ rezensiert und „gibt auf“, seine Karriere in der Geographie ist beendet. Hard folgert:
„Keine noch so sorgfältige Erhebung kann einer Theorie gefährlich werden, selbst wenn
diese Theorie ein Ammenmärchen ist und wenn alle Beteiligten sich rational verhalten.“
Besagter Nachwuchswissenschaftler wechselt in die Biologie, wo er beginnt, die wahren
Zusammenhänge zu ahnen. Er entwickelt eine neue, alternative Theorie, und am Ende der
neuen Analyse des alten Datensatzes ist die Korrelation von Storchendichte und menschli-
cher Geburtenrate verschwunden. Die Ergebnisse lassen sich in deutscher und englischer
Sprache publizieren, woraus sich eine vielversprechende Karriereperspektive ergibt …
Ich habe diesem interessanten Ausschnitt hier etwas mehr Raum gegeben, weil darin
viel Exemplarisches zu Gerhard Hards Denk- und Argumentationsweise liegt, das auch in
den folgenden 15 Aufsätzen von „Hard-Ware“ aufblitzt. Es ist sicher kein Wunder, dass
nicht wenige seiner Kollegen sich damals wie heute durch solch entlarvende Schriften be-
droht, vielleicht auch verletzt fühl(t)en. Das war und ist ihm vermutlich bewusst, letztlich
aber wohl egal. Denn der höchste Wert in seinem System – das ist allen Beiträgen anzu-
merken – ist die absolute Integrität des Wissenschaftlers (bzw. Beobachters eines Phäno-
mens) und der von ihm hervorgebrachten bzw. verfolgten Theorie(n). Diese Unbestechlich-
keit wird mit unwiderstehlichem Scharfsinn verteidigt und fußt auf dem Fundament einer
umfassenden Bildung, die solches Urteilsvermögen erst ermöglicht. Karriereorientierte
Rücksichtnahmen oder Zugeständnisse an den Zeitgeist haben in seinem Denken keinen
Platz und scheinen ihn sogar ausgesprochen wütend zu machen4.
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Der zweite Beitrag zum Theoriekapitel stammt aus dem Jahr 1981 und behandelt die
Problemwahrnehmung in der Stadt und Überlegungen zum Hochschulunterricht im Fach
Geographie. Auch hier nimmt die Metatheorie, von Hard in diesem Kontext schlicht als
„…die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers (oder dessen, der lernend Probleme löst) für
sein eigenes Tun, für die Art, wie er lernt und empirisch arbeitet“ definiert, einen wichtigen
Platz ein. Natürlich steht manches Argument in Bezug zu damals geführten wissenschafts-
theoretischen Debatten, die heute kaum noch bekannt geschweige denn nachvollziehbar
sind. Absolute Integrität fordert Hard hier neben Hochschullehrern auch von Geographie-
lehrern an Schulen; sie müssen ihren „…Dilettantismus offen zugeben…“. So bekommt ein
Lehrer „… Gelegenheit, eine fruchtbare Haltung einzunehmen: nämlich nicht als ,Funktio-
när einer objektiven Wissenschaft‘ aufzutreten (eine Rolle, in die sich vor allem Gymnasi-
allehrer gerne werfen), sondern als ,Repräsentant eines bestimmten Lernschicksals‘, als
Repräsentant einer notwendigerweise zufälligen, subjektiven und unabgeschlossenen Lern-
geschichte, in der er manches Wichtige und Unwichtige zur Sache gelernt, aber auch vieles
Wichtige nicht (zumindest nicht professionell) gelernt hat.“
Wenn im zweiten Teil von „Hard-Ware“ das „Wilde“ aufs Korn genommen wird, geht
es hardgemäß um Vegetation. Allerdings nicht um die mehr oder weniger unberührte Wild-
nis entlegener Landschaften, wie es vielleicht der Begriff an sich oder die Wildnisdebatte
im Naturschutz der späten 1990er Jahre nahelegen würde, sondern um Wildwachsendes „in
der Stadt“, die in Hards Texten normalerweise mit seiner Wirkungsstätte Osnabrück gleich-
zusetzen ist. „Wildes Grün in Osnabrück“ und „Die exotische Alltäglichkeit des wilden
Stadtgrüns“ sind zwei mit Rainer Grothaus verfasste Beiträge, die nutzungs-, pflege- und
brachebedingte Vegetationsdynamik und insbesondere den Gegensatz zwischen gepflanz-
tem und „wildem Grün“, der spontan wachsenden Ruderalvegetation, thematisieren. „Der
beste Natur- und Biotopschutz in der Stadt wäre eine vernünftige Unkrauttoleranz“ heißt es
da, und damit ist eigentlich die Kernbotschaft beider und weiterer Texte auf den Punkt ge-
bracht: Städtische Unkrautfluren sind aus vielerlei Gründen wertzuschätzende Elemente
des Stadtgrüns.
In den kontroversen Naturschutz- und Umweltplanungsdebatten der 1980er Jahre war
dies sicher noch ein Streitpunkt; inzwischen aber gehört die Wertschätzung von
Ruderalvegetation längst zum Allgemeingut naturschutzfachlichen Denkens. Gleichwohl ist
es nach wie vor ebenso spannend wie amüsant, den Autoren in alle von ihnen aufgedeckten
Facetten und Kuriositäten des Problemfeldes „Grünplanung und Spontangrün“ zu folgen.
Die vielseitigen Wechselbeziehungen zwischen menschlicher Aktivität und Vegetations-
dynamik in der Stadt sind auch Gegenstand der weiteren Texte dieses Buches. Gerade den
Blick auf die gerne übersehenen städtischen Winkel mit ihren typischen „Unkräutern“ hat
Gerhard Hard im Laufe seiner persönlichen Ideengeschichte immer mehr verfeinert und
virtuos in immer komplexere Zusammenhänge gestellt. Die sozialökologischen und kultur-
historischen Bezüge dieser Arbeiten sind auch jenseits botanischen und vegetations-
kundlichen Fachinteresses höchst lehrreich und unterhaltsam5.
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Worin liegt nun die Aktualität des Hard´schen Denkens und Argumentierens? Hard be-
tont an verschiedenen Stellen immer wieder die Bedeutung der Empirie. Der heute entfach-
te rechnergestützte Datenhunger war in den 1980er Jahren noch nicht in vollem Umfang
absehbar, ebenso wie eine Reihe von Problemen, die sich daraus ergeben. Eines davon ist
der vielfach bestehende Widerspruch zwischen Datenverfügbarkeit und eigentlichem un-
mittelbaren Datenbedarf, etwa zur Untersuchung bedeutender Prozesse im globalen Wan-
del. Durch die Konzentration der Forschung auf schnell verfügbare bzw. leicht erhebbare
Daten erwächst heute die Gefahr einer Ausblendung ultrakomplexer Wirkungsgefüge, etwa
solcher, die die Verbreitung und das Verhalten von Organismen und Ökosystemen steuern.
Bei Vernachlässigung der schwer (bzw. nicht kurzfristig) zu erhebenden Parameter (und
daher numerisch unattraktiven Teilsysteme) sind verlässliche Prognosen aber nicht zu tref-
fen. Die Entkopplung von numerischem „Wissen“ über die Natur und komplexem
Erfahrungswissen ermöglicht unzureichend hinterfragte, zeitgemäße Inszenierungen
ökosystemaren Wandels, die öffentlichkeitswirksam präsentiert werden können, letztlich
aber eine Trivialisierung der Problematik in Wissenschaft und Gesellschaft heraufbeschwö-
ren. Und damit, wie die jüngste Diskussion über die Glaubwürdigkeit der IPCC-Berichte
zeigt6, über ihre riesigen Angriffsflächen zu einem Vertrauensverlust führen, den wir uns
angesichts der ernsten Problematik nicht leisten können.
Nehmen wir als exemplarisches Beispiel eine Aufsehen erregende pflanzengeo-
graphische Publikation von Thuiller et al. aus dem Jahre 2005 mit dem Titel: Climate
change threats to plant diversity in Europe7. Demnach werden bis zum Jahr 2080 dramati-
sche Veränderungen der Areale von 1350 Pflanzenarten in Europa vorhergesagt (inklusive
hoher Aussterberaten). Dies geschieht – zeitgemäß – auf der Grundlage einer
Modellierung, die insgesamt sieben bioklimatisch wichtige Parameter berücksichtigt. Diese
Untersuchung wurde an renommierter Stelle publiziert und erzielte große Aufmerksamkeit
auch in den deutschen Medien8.
Zur Erinnerung: In pflanzengeographischen Lehrbüchern wird mindestens seit dem
späten 19. Jahrhundert ausgeführt, dass die Verbreitung von Pflanzen mittelfristig nur zu
einem Bruchteil von großklimatischen Parametern bestimmt wird9. Zum Wirkungsgefüge,
das die Ausbreitung schon einer einzigen Pflanzenart steuert, tragen viele Dutzend Fakto-
ren bei10; neben klimatischen sind insbesondere auch edaphische, biologische und anthro-
pogene Steuergrößen zu berücksichtigen. Demnach kann die zeitgemäße Inszenierung
Thulliers und seiner Mitstreiter gar keine Aussage über die tatsächlichen Areale im Jahr
2080 treffen. Es handelt sich um eine empirische Spielerei, deren begrenzte Aussagekraft
bewusst verschwiegen wird. Zumindest nehme ich das an, denn dass die genannten ausge-
wiesenen Fachleute die von ihnen für das Jahr 2080 entwickelten Szenarien für realistisch
halten, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen – ausgehend jedenfalls von der
Annahme, dass sie zumindest eine Grundausbildung in Pflanzengeographie, Botanik oder
einem verwandten Fach durchlaufen haben.
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Gerhard Hard misstraut diesen, wie er es nennt, „schönen Spuren“11, den uns im Zeit-
gemäßen oft so naheliegend erscheinenden Antworten. Stattdessen sucht er den klaren
Blick auf den – im doppelten Sinne – wahren Kern eines wissenschaftlichen Problems, jen-
seits trübender Vorannahmen und Erwartungshaltungen des aktuellen Mainstreams. Diese
Fähigkeit des kritischen Hinterfragens hat er zur Meisterschaft gebracht und dabei viele
seiner Kollegen beunruhigt, denn seine Argumente sind bestechend, manchmal sogar mör-
derisch, und schwer zu widerlegen. Hardware eben. Wer Bedürfnisse jenseits einfacher Hy-
pothesen, Modelle und Antworten hegt, dabei Mut und Willen zu komplexen Forschungs-
ansätzen hat, sollte diese Hardware nutzen – als Trost, vor allem aber als Inspiration und
Ermutigung, den eigenen Anspruch gegen das Zeitgemäße zu behaupten12. Gerade in dieser
Hinsicht bleiben die Schriften Gerhard Hards zeitlos.
Anmerkungen
1 Dirksmeier, Peter 2008: Komplexität und die Einheit der Geographie. Geographische
Revue 10(1), S. 41-58.
2 Keddy, Paul 2005: Milestones in ecological thought – A canon for plant ecology. Jour-
nal of Vegetation Science 16, S. 145-150.
3 Bieri, Peter 2011: Wie wollen wir leben? Drei Vorlesungen. Reihe „Unruhe bewahren“.
Residenz Verlag. St. Pölten – Salzburg.
4 z. B. Gerhard Hard 2004: Von einem neuerdings erhobenen konfessionellen Ton in der
Geographie. Geographische Revue 6(1), S. 39-54.
5 siehe auch: Gerhard Hard 1998: Ruderalvegetation. Ökologie & Ethnoökologie, Äs-
thetik & „Schutz“. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft Freiraum und Vegetation. (= Notizbuch
49 der Kasseler Schule).
6 z. B. Spiegel Online, 26. 03. 2014: Angebliche Panikmache: Führender Forscher ver-
lässt Spitze des Welt-Klimarats.
7 Thuiller, Wilfried, Sandra Lavorel, Miguel B. Araújo, Martin T. Sykes, I. Colin
Prentice 2005: Climate change threats to plant diversity in Europe. Proceedings of the
National Academy of Sciences 102, S. 8245-8250.
8 z. B. Süddeutsche Zeitung (Ausgabe vom 27. 05. 2005, S. 15): Massenwanderung.
Europas Pflanzen wird es zu warm.
9 z. B. Eugen Warming 1896: Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie. Eine Ein-
führung in die Kenntniss der Pflanzenvereine. Freiburg im Breisgau.
10 Heger, Tina, Hans Jürgen Böhmer 2005: The invasion of Central Europe by Senecio
inaequidens DC. – a complex biogeographical problem. Erdkunde 59, S. 34-49.
11 Gerhard Hard 1995: Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des Spuren-
lesens in der Vegetation und anderswo. (= Osnabrücker Geographische Arbeiten, Band
16).
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12 vgl. Hirschmans Gesetz: „Wo die Querköpfe rausfliegen, verrottet die Firma.“ Albert
O. Hirschman 1970: Exit, Voice, and Loyalty. Cambridge, Massachusettes. Zitiert nach
Gerhard Hard 2004: Von einem neuerdings erhobenen konfessionellen Ton in der Geo-
graphie. Geographische Revue 6(1), S. 39-54.