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Autoethnographie und Volkskunde?
Zur Relevanz wissenschaftlicher
Selbsterzählungen für die volks-
kundlich-kulturanthropologische
Forschungspraxis1
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer
Dieser Beitrag widmet sich der Relevanz der Autoeth-
nographie für die volkskundlich-kulturanthropologische
Forschung und schärft dabei den Begriff für die weitere
Verwendung im Fach. Er zeigt, wie die Autoethnogra-
phie an einige Grundüberzeugungen, die in der volks-
kundlich-kulturanthropologischen Forschung vertreten
werden, anknüpfen kann. Auf Basis einer Auseinander-
setzung mit Kritikpunkten an der Methode, insbeson-
dere aus Sicht der Volkskunde/Kulturanthropologie,
plädiert er für einen kritisch-reflektierten aber auch
mutigen Einsatz der Autoethnographie in Forschung
und Lehre.
1 Wenn wir in weiterer Folge von »Volkskunde/Kulturanthropologie« beziehungs-
weise »volkskundlich-kulturanthropologisch« sprechen, adressieren wir damit
das Vielnamenfach, das im deutschsprachigen Raum auch Europäische Ethnolo-
gie oder Empirische Kulturwissenschaft genannt wird. Selbsterzählungen gibt es
in diesem Fach in verschiedenen Zusammenhängen, unter denen die Autoethno-
graphie in mancher Hinsicht eine extreme Zuspitzung darstellt. Wie in weiterer
Folge deutlich werden wird, können wir aber gerade deshalb an ihrem Beispiel
viel über Relevanz wissenschaftlicher Selbsterzählungen im Allgemeinen lernen.
Wir möchten an dieser Stelle den anonymen GutachterInnen herzlich für ihre
konstruktiven Anregungen und Hinweise danken.
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4374
Einleitung
In jüngster Zeit macht sich in der volkskundlich-kulturanthropolo-
gischen Wissensproduktion verstärktes Interesse an autoethnographi-
schen Zugängen bemerkbar: Einschlägige Beiträge erscheinen in der
Deutschen Zeitschrift für Volkskunde und der Ethnologia Europaea2,
in Sammelbänden3, auf Tagungen oder werden als Thema von Lehr-
veranstaltungen und Institutskolloquien4 gewählt. Die Idee der wissen-
schaftlichen Selbsterzählung wird dabei oft kritisch betrachtet, selten
mit vorbehaltloser Begeisterung. Diese oensichtliche Konjunktur bei
gleichzeitiger Kritik ist ein interessanter Befund, der einige Fragen auf-
wirft: Müssen sich VertreterInnen der Disziplin hier an etwas abarbei-
ten? Sind sie dabei, einen neuen Forschungszugang in ihr Repertoire
zu integrieren, den sie sich aber zuvor erst zurechtschneidern müssen?
Warum die Auseinandersetzung mit der Autoethnographie und woher
die vehemente Kritik?
Wie so oft ist auch hier der Hauptgrund für die Attraktivität der
Methode zugleich der Hauptanlass für Kritik: Autoethnographie setzt
an den Erfahrungen und dem subjektiven Erleben der ForscherInnen
an und wird gern zur Bearbeitung von Themen herangezogen, zu denen
die ForscherInnen ein biographisches Naheverhältnis haben. Aktuelle
Beispiele sind Brigitte Bönisch-Brednichs Forschung über »academic
migrants«5 oder Karin Bürkerts Bericht über die Verschriftlichung ihrer
Dissertation6. Ein weiteres Anwendungsfeld sind Forschungsgegen-
2 Vgl. Tom O’Dell, Robert Willim (Hg.): Irregular ethnographies. In: Ethnologia
Europaea: Journal of European Ethnology. Special Issue 41, 1, 2011, S. 53–63.
3 Vgl. Karin Bürkert u.a. (Hg.): Nachwuchsforschung – Forschungsnachwuchs –
Ein Lesebuch zur Promotion als Prozess (=Göttinger kulturwissenschaftliche
Studien, 9). Göttingen 2012.
4 Am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg
war das Kolloquiums-Thema im Wintersemester 2012/13 »Ethnographisches
Arbeiten – Konzepte & Methoden«. Am 14.11.2012 wurde die Autoethnographie
anhand von Texten von Brigitte Bönisch-Brednich und Billy Ehn besprochen.
5 Vgl. Brigitte Bönisch-Brednich: Autoethnografie. Neue Ansätze zur Subjektivität
in kulturanthropologischer Forschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 108, 2012,
S. 47–63.
6 Vgl. Karin Bürkert: Über den ersten Satz und darüber hinaus. Einige Überlegun-
gen zur Verschriftlichung (m)einer Dissertation anhand einer Autoethnografie.
In: Karin Bürkert u.a. (Hg.): Nachwuchsforschung – Forschungsnachwuchs –
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Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
stände, bei denen die Auseinandersetzung mit (eigenen und fremden)
Gefühlen unvermeidlicher und unverzichtbarer Bestandteil des For-
schungsprozesses ist. Die forschende Auseinandersetzung mit Gefüh-
len stand etwa im Zentrum der 27. Österreichischen Volkskundetagung
2013 in Dornbirn, bei der zwei Beiträge zur Autoethnographie vertre-
ten waren. Darüber hinaus kann die Autoethnographie als Aufhänger
für die Diskussion von Fragen der Repräsentation ethnographischen
Wissens dienen, wie bei Bönisch-Brednich7 und in der Ankündigung
von Sarah Scholl-Schneiders Lehrveranstaltung »Forschungsethik«
2012/13 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz deutlich wird8.
Dass das Ansetzen am subjektiven Erleben der AutorInnen im Fach
nicht ausschließlich als Chance, sondern auch als Problem wahrgenom-
men wird, wird auf den folgenden Seiten deutlich werden.
Ziel dieses Beitrags ist eine Auseinandersetzung mit Potenzial und
Grenzen der Autoethnographie für die volkskundlich-kulturanthropo-
logische Forschung. Wir werden zeigen, dass die Autoethnographie
an einige Grundüberzeugungen, die in volkskundlich-kulturanthropo-
logischen Forschungen vertreten werden, anknüpfen kann. Zugleich
werden wir uns mit einigen wichtigen Kritikpunkten an der Methode
auseinandersetzen und am Ende für einen kritisch-reektierten aber
auch mutigen Einsatz der Methode in Forschung und Lehre plädieren.
Wir gehen dabei über die oben genannten »Verwendungszusammen-
hänge« hinaus und zeigen Bereiche auf, in denen die Autoethnogra-
phie weitere Inspirationen für die Forschungspraxis bereithält. Sie
ermöglicht nicht nur das Erschließen neuer Forschungsfelder sondern
zeigt auch Wege auf, den Anspruch poststrukturalistischer Wissen-
schaftskritik einzulösen. Sie kann zur Darstellung von Reexionen der
Forschungserfahrung und zur Sensibilisierung für forschungsethische
Fragen dienen. Diskussionen über Selbstverständnis und Grenzen des
Fachs anregen, sowie solche über Kritik, Engagement und Interven-
tion in der volkskundlich-kulturantropologischen Forschung.
Ein Lesebuch zur Promotion als Prozess (=Göttinger kulturwissenschaftliche
Studien, 9). Göttingen 2012, S. 89–108.
7 Vgl. Bönisch-Brednich (wie Anm. 5), zum Beispiel S. 53.
8 Vgl. Sarah Scholl-Schneider: Ethnographische Repräsentation und For-
schungsethik – Den eigenen Alltag ethnografieren. Lehrveranstaltung am Institut
für Film-, Theater- und Empirische Kulturwissenschaft, Wintersemester 2012/13,
vgl. http://www.kulturtheaterfilm.uni-mainz.de/185.php (Zugriff: 15.4.2013).
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Auf die Einleitung folgt eine Charakterisierung und wissen-
schaftshistorische Verortung der Autoethnographie, sowie eine Aus-
einandersetzung mit den wichtigsten Kritikpunkten an diesem (auch
außerhalb der Volkskunde/Kulturanthropologie) höchst umstrittenen
Zugang. Wir diskutieren die Beziehungen der Autoethnographie zur
Methodengeschichte und Epistemologie der Volkskunde/Kulturanth-
ropologie an und ziehen am Ende ein Resümee über die Potenziale des
Zugangs für die volkskundlich-kulturanthropologische Forschung und
Lehre.
Autoethnographie als blurred genre
und performative Epistemologie
Autoethnographie ist eine Forschungsmethode und zugleich eine
Form wissenschaftlichen Schreibens. Die Forschenden beschreiben
und analysieren darin ihre eigene gelebte Erfahrung, um auf diesem
Weg soziale und kulturelle Phänomene zu verstehen. Dahinter steht
die Überzeugung, dass Lebensgeschichten niemals nur von der Person
handeln, die sie schreibt, sondern dass jede Geschichte Anschlussmög-
lichkeiten für die Geschichten anderer bereithält9. Über den autoeth-
nographischen Text versuchen die AutorInnen, in einen Dialog mit
den RezipientInnen zu treten, in dem Bedeutung konstituiert und
Erkenntnis gewonnen werden kann.
Carolyn Ellis und Arthur Bochner beschreiben den Entstehungs-
prozess autoethnographischer Texte wie folgt: »I start with my perso-
nal life. I pay attention to my physical feelings, thoughts, and emotions.
I use […] systematic sociological introspection and emotional recall to
try to understand an experience I’ve lived through. Then I write my
experience as a story. By exploring a particular life, I hope to under-
stand a way of life […]. [T]he goal is […] to enter and document the
moment-to-moment, concrete details of life.«10 Datenbasis sind Erin-
9 Für viele Geschichten anschlussfähig zu sein, ist deshalb auch eines der Qualitäts-
merkmale einer guten Autoethnographie.
10 Carolyn Ellis, Arthur P. Bochner: Autoethnography, Personal Narrative, Refle-
xivity: Researcher as Subject. In: Norman K. Denzin, Yvonna Lincoln (Hg.):
Handbook of Qualitative Research. London 22000, S. 733–768, hier S. 737.
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nerungen, Ergebnisse systematischer Introspektion11, Tagebuchein-
träge und persönliche Dokumente, Briefe, Fotos, Zeichnungen und alle
anderen Materialien, die uns den Zugang zu unserem inneren Erleben
bzw. einer Erinnerung daran ermöglichen. Unter Rückgri auf dieses
Material werden Texte hergestellt, die im Zuge der Forschung mehr-
fach überarbeitet und umgeschrieben werden. Das Wiederlesen und
Umschreiben des Textes mit der Frage, welche Themen und Motive in
ihm verborgen sind, was uns der Text über das Erlebte sagen und wo
das Publikum mit seinen eigenen Geschichten anschließen kann, die
Suche nach emotional produktiven, und damit epistemisch gehaltvol-
len Elementen in der Geschichte sowie die systematische sprachliche
Stärkung wichtiger Themen und Passagen hat in der Autoethnographie
einen ähnlichen Stellenwert wie die Interpretation in der interpretati-
ven Forschung. Das Schreiben wird selbst zur »Method of Inquiry«12.
Autoethnographische Narrative sind messy stories, die von akut
oder retrospektiv in emotionale Prozesse involvierten Subjekten aufge-
zeichnet und weiterbearbeitet werden. Sie präsentieren keine fertigen
Analysen und Forschungs-»Ergebnisse«, sondern bleiben gezielt für
verschiedene Lesarten und Interpretationen oen. Ihr Ziel ist es nicht,
in der Forschung gewonnene Erkenntnisse zu transportieren, sondern
Erkenntnisprozesse bei den RezipientInnen auszulösen: Der Prozess
des Verstehens endet demnach nicht mit der Produktion des Textes
sondern erst mit dem sinnlichen, emotionalen Erleben der jeweiligen
LeserInnen. Als Methode im Kanon der Performative Social Sciences13
11 Vgl. Carolyn Ellis: Systematic Sociological Introspection. In: Lisa Given (Hg.):
The Sage Encyclopedia of Qualitative Research Methods. London 2008, S. 853–
854.
12 Laurel Richardson, Elizabeth Adams St. Pierre: Writing: A method of inquiry.
In: Norman K. Denzin, Yvonna S. Lincoln (Hg.): Handbook of Qualitative
Research, S. 959–978. Thousand Oaks, CA 2005.
13 Zur Geschichte des Performativen und der dazugehörigen Forschungslogik vgl.
etwa Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kul-
turwissenschaften. Frankfurt a.M. 2002; Brian Roberts: Performative Social
Science: A Consideration of Skills, Purpose and Context. Forum Qualitative
Sozialforschung 9, 2, 2008 oder Andrea Ploder: The Power of Performance.
Methodologische Neuorientierungen in den Sozialwissenschaften. Jahrbuch des
Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2, 2011,
S. 139–168. Ein oft übersehener früher Denker der performativen Ethnographie
war der Soziolinguist Dell Hathaway Hymes (1927–2009).
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
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arbeitet die Autoethnographie mit einem performativen Erkenntnisbe-
gri, der sich in einigen Punkten von hermeneutisch-interpretativen
Zugängen unterscheidet: Anders als interpretative Arbeiten verkör-
pern Autoethnographien nicht das Produkt eines Verstehensprozesses,
sondern den Verstehensprozess selbst – auf der Seite der Schreiben-
den, aber auch im Dialog mit den RezipientInnen: »[A] personal text
can move writers and readers, subjects and objects, tellers and liste-
ners into [a] space of dialogue, debate, and change.«14 Der Prozess des
Schreibens wie der des Lesens wird jeweils als bedeutungskonstitutiv
gedacht.
Auch wenn es in der Volkskunde/Kulturanthropologie viele
Arbeiten gibt, die Elemente interpretativer und performativer For-
schungslogik verknüpfen, können die beiden dennoch idealtypisch
auseinandergehalten werden: Während interpretativ-hermeneutische,
»verstehende« Forschung auf die Rekonstruktion von Bedeutungen
abzielt, die beforschte Wirklichkeit repräsentieren will und die Leser-
Innen als KonsumentInnen von Forschungsergebnissen versteht, geht
performative Forschung davon aus, dass Bedeutung im Forschungspro-
zess konstituiert, die beforschte Wirklichkeit durch Forschung transfor-
miert wird und LeserInnen Forschungsergebnisse produzieren. Einige
Elemente des letzteren Zugangs haben bereits vor einiger Zeit (spätes-
tens im Zuge der Writing-Culture-Debatte) Eingang in die Arbeiten
von KulturanthropologInnen, VolkskundlerInnen und SoziologInnen
gefunden. Was das für die dahinterliegende Epistemologie, für die
Erkenntnisziele, Erkenntniswege und Darstellungsformen bedeutet,
muss allerdings im Einzelfall geprüft werden. Eine kritische Auseinan-
dersetzung mit der hier als performativ bezeichneten Forschungslogik
am Beispiel der Autoethnographie kann dazu beitragen, den Blick für
produktive Verknüpfungen und methodologische Unvereinbarkeiten
zu schärfen.
Autoethnographische Texte nehmen im Gefüge der kultur- und
sozialwissenschaftlichen Textsorten jedenfalls eine Hybridstellung
ein: Sie sind zugleich Forschungsbericht, Medium der Interpretation
und Forschungsdatum. Sie überschreiten die Grenze des etablierten
14 Stacy Holman Jones: Autoethnography. Making the Personal Political. In: Nor-
mann K. Denzin, Yvonna S. Lincoln (Hg.). The Sage Handbook of Qualitative
Research. Third Edition. London 2005, S. 763–791, hier S. 764.
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wissenschaftlichen Textformats und stehen damit in der Tradition der
blurred genres,15 nehmen bewusst gestalterische Anleihen bei der Auto-
biographie und versuchen, die performative Kraft des literarischen
Mediums zur Herstellung einer identikatorischen und bedeutungs-
generierenden Beziehung mit den LeserInnen zu nutzen. Die Auto-
ethnographie kann damit auch in die Bestrebungen zur Entwicklung
experimenteller Schreib- und Erkenntnisformen eingeordnet werden,
die unter anderem unter dem Label der arts based research vorangetrie-
ben und diskutiert werden.
Wissenschaftliche Selbsterzählungen haben in der Geschichte
der Kulturanthropologien eine lange Tradition, ein frühes Beispiel
sind etwa die Tagebücher von Michel Leiris.16 Wann das erste Mal
von »Autoethnographie« im Kontext ethnographischer Forschung
die Rede war, ist aus heutiger Sicht allerdings schwer zu rekonstru-
ieren. Eine der vielen Erzählungen über den Ursprung des Begries
schreibt die erste Verwendung dem Kulturanthropologen David M.
Hayano zu, der 1979 Forschungen in einer Gruppe, der der/die Eth-
nographIn selbst (temporär) angehört, als Autoethnographien bezeich-
net hat.17 In der Ethnologie wie auch in anderen Disziplinen dient die
Bezeichnung mittlerweile als Sammelbegri für verschiedene Wege
der wissenschaftlichen Selbsterzählung. Überschneidungen gibt es mit
Bezeichnungen wie autobiographical ethnography18, narrative ethnogra-
15 Vgl. etwa Clifford Geertz: Blurred Genres: The Refiguration of Social Thought.
In Ders.: Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology. New
York 1983, S. 19–35 oder Ruth Behar (2007): Ethnography in a Time of Blurred
Genres. Anthropology and Humanism 32, 2, S. 145–155.
16 Vgl. Michel Leiris: L’Afrique Fantôme. Paris 1934 und ders.: L’Age d’Homme.
Paris 1939. Als literarische Selbsterzählung hat die Autoethnographie auch zahl-
reiche Vorläufer in der Literaturgeschichte. Nach antiken und mittelalterlichen
Vorläufern wie den aphoristischen Selbstbetrachtungen von Marc Aurel oder
Augustinus‘ Confessiones wird die Geburtsstunde der Autobiographie zumeist
im 18. Jahrhundert bei Rousseaus Bekenntnissen angesetzt. Auch wissenschaftli-
che Selbsterzählungen haben eine eigene, wechselhafte Geschichte, die an dieser
Stelle nicht ausführlich erläutert werden kann.
17 Vgl. David M. Hayano: Auto-ethnography. Paradigms, problems, and prospects.
In: Human Organizations 38, 1979, S. 113–120.
18 Vgl. Deborah Reed-Danahay (Hg.): Auto/Ethnography. Rewriting the Self and
the Social. Oxford/New York 1997; Amanda Coffey: The ethnographic self.
Fieldwork and the representation of identity. London 1999.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4380
phy19, blurred genre ethnography20 oder ethnographic poetics21. Das sind
nur einige der geläugen Bezeichnungen in der Sozial- und Kulturan-
thropologie, zahlreiche weitere Begrie haben in andere Disziplinen
Eingang gefunden.22
Was die verschiedenen Bezeichnungen ebenfalls deutlich machen,
ist die Vielfalt der Zugänge zur Autoethnographie. Die verschiede-
nen Linien, Stile und »Schulen« unterscheiden sich idealtypisch hin-
sichtlich der Themenwahl (liminale Phasen oder alltägliche Praxis),
dem Textgenre (literarisch oder akademisch) und dem Ziel des Textes
(evokativ, analytisch oder deskriptiv). Auch Bönisch-Brednich identi-
ziert zumindest drei einussreiche Schulen von autonarrativen Tex-
ten: Auto-Ethnographie oder The Ethnographic Self as Resource (eine
Reexion über die Arbeitsweisen der eigenen Disziplin und der Kul-
turwissenschaften insgesamt), Evocative Autoethnography (methodisch
»freie« Arbeit mit stimmungserzeugenden Dialogen) und Analytische
Autoethnographie (die herkömmliche epistemologische Paradigmen der
qualitativen Sozialforschung mit Autoethnographie verbindet).23
Autoethnographie im Spiegel der Kritik
Autoethnographie provoziert. Das eigene Erleben und die eigene
Geschichte zum zentralen Untersuchungsobjekt zu machen, weist
oensichtlich an die Grenzen dessen, was im sozial- und kulturwis-
senschaftlichen Kontext als »wissenschaftlich« deniert wird, weshalb
19 Vgl. Lila Abu-Lughod: Writing Women’s Worlds. The Bedouin Stories. Berke-
ley 1993.
20 Vgl. Ruth Behar: An island called home. Returning to Jewish Cuba. Piscataway/
London 2009.
21 Vgl. George E. Marcus, Michael M. J. Fischer: Toward anthropology as cultural
critique. An experimental moment in the human sciences. Chicago 1986.
22 Für eine umfassende Liste von bedeutungsnahen Begriffen siehe Ellis, Bochner
(wie Anm. 10), S. 739.
23 Vgl. Bönisch-Brednich (wie Anm. 5), S. 58 ff.
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ein Großteil der communities verhalten bis ablehnend darauf reagiert.24
Um eine dierenziertere und strukturiertere Auseinandersetzung mit
autoethnographischen Zugängen zu ermöglichen, wollen wir an dieser
Stelle die wichtigsten Stoßrichtungen der Kritik, aus der Kultur- und
Sozialwissenschaft im Allgemeinen und der Volkskunde/Kulturanth-
ropologie im Besonderen, überblicksartig zusammenfassen und mit
möglichen Gegeneinwänden konfrontieren:
Solipsismus: Ein zentraler Kritikpunkt an der Autoethnographie
betrit den Fokus auf das individuelle Erleben der ForscherInnen.
Hier, so der Vorwurf, wird die Tugend der Reexivität zum Laster
der narzisstischen Nabelschau. Aus einer ausschließlichen Betrachtung
des eigenen Erlebens sei keine relevante Erkenntnis über die Welt »da
draußen« zu gewinnen. Die Autoethnographie ist demzufolge in einem
solipsistischen Selbstmissverständnis gefangen und kann außerhalb
des forschenden Selbst nichts einfangen. Ein prominenter Vertreter
dieser Kritik ist Pierre Bourdieu, dessen Forderung, Reexivität nie
als Selbstzweck, sondern immer zur »Verfeinerung und Verstärkung
der Erkenntnismittel«25 einzusetzen, auch gegen die Autoethnographie
gewendet werden kann. Einen ähnlichen Einwand bringt Bourdieu
ganz pauschal gegen das Arbeiten mit biographischen Erzählungen vor:
Biographien, so Bourdieu, sind immer und in erster Linie Selbstinsze-
nierungen, die an sich keinerlei Erkenntnisgewinn versprechen. Erst
wenn sie in dem Feld, in dem sie entstanden sind, verortet werden,
werden die einzelnen Ereignisse, ihre Anordnung, und die Art, wie
sie erzählt werden, zum interessanten Datum: »Man kann« so Bour-
dieu, »eine Laufbahn […] nur verstehen, wenn man vorher die aufei-
nander folgenden Zustände des Feldes, in dem sie sich abgespielt hat,
24 Dieser Befund speist sich teilweise aus Referenztexten, zum Großteil jedoch
aus Gesprächen mit KollegInnen und Studierenden, auf Tagungen, in Lehrver-
anstaltungen aber auch im Zuge von »Ganggesprächen« und anderen inoffiziel-
len Zusammenkünften. Nur wenige KollegInnen haben ihre Bedenken bisher in
Publikationen festgehalten.
25 Vgl. Pierre Bourdieu: Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexi-
vität. In: Eberhard Berg, Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die
Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a.M. 1993, S. 365–374,
hier S. 366. Bourdieu setzt sich in diesem Text nicht explizit mit der Autoethno-
graphie auseinander, seine Kritik an einer Übersteigerung des reflexiven Prinzips
kann aber jedenfalls auch als Kritik an der (radikal reflexiven) Autoethnographie
gelesen werden.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4382
konstruiert hat, also das Ensemble der objektiven Beziehungen, die
den betreenden Akteur […] vereinigt haben mit der Gesamtheit der
anderen Akteure, die im selben Feld engagiert sind und die demselben
Möglichkeitsraum gegenüber stehen.«26
Eine weitere Variante des Solipsismusvorwurfs kritisiert, dass
Autoethnographie zu einer Einschränkung der Forschung auf ein spe-
zisches soziales Milieu führt. Abgesehen von der damit einhergehen-
den Einschränkung des Blicks sei das Erleben von AkademikerInnen
grundsätzlich nicht interessant genug, um den Raum in einer wissen-
schaftlichen Publikation und die damit einhergehende Aufmerksam-
keit zu verdienen, meint die Soziologin Sara Delamont polemisch.27
Der Blick richte sich auf die falsche Gruppe: »Autoethnography focu-
ses on the powerful and not the powerless to whom we should be
directing our sociological gaze.« 28
Der Solipsismusvorwurf ist (in all seinen Varianten) nicht vollstän-
dig zurückzuweisen, man kann ihm aber doch einiges entgegenhalten:
Zunächst beginnt und endet jede Forschung bei den Forschenden. Sie
sind die Forschungsinstrumente, sie stellen Fragen, zeichnen Antwor-
ten auf, sie beobachten, interpretieren und schreiben. Wenn es also
nicht möglich wäre, ausgehend vom eigenen Selbst Erkenntnis über die
»Welt da draußen« zu gewinnen, wäre jede sozial- und kulturwissen-
schaftliche Forschung zum Scheitern verurteilt. Darüber hinaus ist es
das deklarierte Bestreben jeder Autoethnographie, im Wege der Aus-
einandersetzung mit dem Erleben einer Person etwas über die soziale
und kulturelle Wirklichkeit herauszunden, in die dieses Erleben ein-
gebettet ist, von dem es sich nährt und auf die es zurückwirkt. Unser
eigenes subjektives Erleben, zu dem wir als ForscherInnen einen pri-
vilegierten Zugang haben, wird dabei als Spiegel dieser Wirklichkeit
26 Vgl. Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: BIOS. Zeitschrift für Bio-
graphieforschung und Oral History 2, 1990, S. 75–81, hier S. 80 f. Aus dieser
Kritik spricht Bourdieus theoretische Grundüberzeugung, dass Habitus und Feld
analytische Gelenkstellen zwischen sozialer Struktur und individuellem Erleben
sind und eine Reduktion auf nur eine der beiden Dimensionen (wie es die Arbeit
mit Biographien nahelegt) zu völlig unzureichenden Forschungsergebnissen
führt.
27 Vgl. Sara Delamont: Arguments against auto-ethnography. In: Qualitative
Researcher 4, 2007, S. 2–4, hier S. 3 f.
28 Vgl. Ebd., S. 2.
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verstanden. Bourdieus Kritik an der Arbeit mit Biographien trit in
erster Linie jene Spielarten der Autoethnographie, die sich nicht um
eine Verortung des eigenen Erlebens und der eigenen Perspektive im
Gefüge der relevanten sozialen und kulturellen Kontexte bemühen.
Die AutorInnen von Autoethnographien sind darüber hinaus oft
gerade solche, deren Weg in den Wissenschaftsbetrieb kein geradli-
niger war (oder ist) und die Marginalisierungserfahrungen mach(t)en,
zum Beispiel als Kind psychisch kranker Eltern29, als Flüchtling30, als
lesbische Umweltaktivistin31 oder als Schwarze Feministin: Die Auto-
ethnographin Robin M. Boylorn etwa beabsichtigt mit dem Schreiben
von Autoethnographien, andere dazu anzuregen, das »Schweigege-
bot«, das ihnen durch ihre Position in der Gesellschaft auferlegt ist,
zu brechen: »I felt it was important for me to insert and interpret my
experiences as a black woman feminist and to invite readers to be vul-
nerable, brave and vocal about their own experiences.«32 Aus Autoeth-
nographien sprechen also nicht (nur) die Stimmen der Mächtigen, wie
Delamont unterstellt. Aber dort, wo dem so ist, könnte man argumen-
tieren, dass dieser Fokus ermöglicht, »hermeneutische Fenster« zum
Funktionieren von Herrschaft zu önen, wie es Samuel Veissiere (ein
weißer Kulturanthropologe, der in Kanada lehrt) tut, wenn er in seiner
Studie über Sexarbeit in Brasilien Einblicke in sein eigenes Begehren
als »gringo« gibt.33
Keine handfesten Ergebnisse: Den zweiten großen Kritikpunkt
teilt die Autoethnographie mit den anderen Methoden im Kanon der
»performativen« Ansätze. Performative Epistemologie fordert das klas-
29 Vgl. Carol Rambo Ronai: My Mother is Mentally Retarded. In: Carolyn Ellis ,
Arthur P. Bochner (Hg.): Composing ethnography. Alternative forms of qualita-
tive writing. Walnut Creek, Calif 1996, S. 109–131.
30 Vgl. Shahram Khosravi: The ›illegal‹ traveller: an auto-ethnography of borders.
In: Social Anthropology 15, 3, 2007, S. 321–334.
31 Vgl. Sasha Roseneil: Greenham Revisited: Researching Myself and My Sisters.
In: Dick Hobbs und Tim May (Hg.): Interpreting the field. Accounts of ethno-
graphy. Oxford, New York, S. 177–208.
32 Robin M. Boylorn: Blackgirl Blogs, Auto/ethnography, and Crunk Feminism.
In: Liminalities: A Journal of Performance Studies 9, 2, 2013, S. 73–82, hier
S. 76.
33 Vgl. Samuel Veissiere: The ghosts of empire. Violence, Suffering and Mobility in
the Transaltlantic Cultural Economy of Desire. Berlin, London 2007 (Contribu-
tions to Transnational Feminism, 3), hier S. 22.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4384
sische Wissenschaftsverständnis heraus, demzufolge es die Aufgabe
von Forschenden ist, etwas über ihren Gegenstand » herauszunden«
und die Ergebnisse ihrer Forschung dem wissenschaftlichen Publikum
zur Kritik und Rezeption zur Verfügung zu stellen. Damit soll das
Wissen vermehrt und der disziplinäre Diskurs vorangetrieben werden.
Wenngleich die meisten kulturwissenschaftlichen und auch einige sozi-
alwissenschaftliche Fächer, jedenfalls aber die Volkskunde/Kulturan-
thropologie der Idee der »Wissensvermehrung« durch Forschung seit
einiger Zeit kritisch gegenüber stehen, wird ein Rest dieses Anspruchs
nach wie vor gegen Angrie von außen (durch KritikerInnen des
Fachs) aber auch von innen (durch besonders experimentierfreudige
FachkollegInnen) verteidigt. Nimmt man allerdings die Debatten rund
um Writing Culture ernst, ist der Gedanke, dass die Bedeutung jedes
Textes erst bei den LeserInnen entsteht und von der Autorin und dem
Autor nur ermöglicht bzw. angestoßen werden kann, weder neu noch
skandalös: Wenn die eigentlich relevante Textbedeutung und Erkennt-
nis erst bei den LeserInnen entsteht, ist es Aufgabe der AutorInnen,
Prozesse der Bedeutungsgenerierung und Erkenntnisproduktion anzu-
stoßen und zu unterstützen. Dieser Gedanke steht vor allem im Hin-
tergrund jener Spielarten der Autoethnographie, die den »evokativen«
Charakter von Texten betonen.
An diese Überlegungen knüpft auch der Vorwurf an, es gäbe keine
angemessenen Kriterien für gelungene Autoethnographien.34 Mit dem
Anspruch auf interpretative Oenheit verweigern sich Autoethnogra-
phien Ergebnissen, die an traditionellen Gütekriterien gemessen wer-
den könnten. Carolyn Ellis misst eine gute Autoethnographie daran,
dass sie glaubwürdig ist (»lifelike, believable and possible«35) und
den LeserInnen einen Anteil an jener Erfahrung ermöglicht, über die
34 Insbesondere die deutsche qualitative Forschung scheint sich an der in der Auto-
ethnographie propagierten Aufgabe von Wahrheits- und Wissensansprüchen,
der Orientierung an gesellschaftspolitischer Intervention und dem Verwischen
der Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft zu stoßen. Dies ist zum Teil aus
ihrem Bemühen heraus zu verstehen, qualitative Zugänge als »ernstzunehmende
Empirie« zu etablieren und innerhalb der jeweiligen Fachcommunities Anerken-
nung dafür zu finden – u.a. durch Erarbeitung von Gütekriterien. Vgl. in diesem
Zusammenhang zum Beispiel die Kritik von Alexander Geimer: Performance
Ethnography und Autoethnography. Trend, Turn oder Schisma in der qualitati-
ven Forschung? In: ZQF 2, 2011, S. 299–320.
35 Ellis, Bochner (wie Anm. 10), S. 751.
385
geschrieben wird. Dabei ist es nicht notwendig, dass sie im Detail mit
dem tatsächlichen (bzw. erinnerten) Erleben der AutorInnen überein-
stimmt. Norman Denzin hält fest, dass »[d]ie Wahrheit dieser neuen
Texte […] sich nur pragmatisch bestimmen [lässt] – durch den kritisch-
moralischen Diskurs, den sie produzieren, durch das ›Einfühlungsver-
mögen, das sie schaen, den Erfahrungsaustausch, den sie ermöglichen,
und die sozialen Bindungen, die sie vermitteln‹«36. Ob damit das Prob-
lem der Gütekriterien tatsächlich gelöst ist, ist allerdings fraglich.
Theorieferne: Wie oben bereits deutlich geworden ist, zielt Auto-
ethnographie nicht auf Theoriebildung im klassischen Sinne ab.37
Viele (wenngleich nicht alle) VolkskundlerInnen, Kulturanthropo-
logInnen und SoziologInnen sehen ihre Aufgabe aber letztlich darin,
Theorien über ihr Feld zu entwickeln. Dadurch ergibt sich ein Span-
nungsfeld. Texte, die weder theoriebildend noch argumentativ ver-
fahren, sind vergleichsweise schwer kritisierbar (die Kritik kann bei
der Plausibilität und Wirkmächtigkeit der Geschichte ansetzen, nicht
aber bei der Überzeugungskraft der darin formulierten Theorie oder
der Schlüssigkeit der Argumentation) und können nicht ohne weite-
res als Referenztexte für bestimmte Positionen oder Begrisbildungen
herangezogen werden. Daraus folgt aber nicht, dass eine an Theo-
riebildung orientierte Forschung nichts mit ihnen anfangen könnte.
Auch autoethnographische Texte können Theorieelemente aus ande-
ren Texten aufnehmen38 und zur Theoriebildung in weiterführenden
36 Norman K. Denzin: Lesen und Schreiben als performativer Akt. In: Rainer
Winter, Elisabeth Niederer (Hg.): Ethnographie, Kino und Interpretation. Die
performative Wende der Sozialwissenschaften: Der Norman K. Denzin-Reader.
Bielefeld 2008, S. 203–238, hier S. 231, Michael Jackson zitierend.
37 Carolyn Ellis sagt dazu explizit: »Intimacy is a way of being, a mode of caring,
and it shouldn’t be used as a vehicle to produce distanced theorizing.« Carolyn
Ellis: Analyzing Analytic Autoethnography. An Autopsy. In: Journal of Contem-
porary Ethnography 35, 4, 2006, S. 429–449, hier S. 433.
38 Vgl. etwa das fiktive Tagebuch von Marc Augé: Tagebuch eines Obdachlosen.
München 2012. In dieser ›Ethnofiktion‹ verweist Augé an vielen Stellen impli-
zit auf seine Theorie der Orte und Nicht-Orte. Auch wenn es sich dabei nicht
um eine Autoethnographie im engeren Sinn handelt, illustriert das Buch sehr
eindrucksvoll, wie Theorie in einen quasi-literarischen wissenschaftlichen Text
einfließen und die Geschichte in produktiver Weise akzentuieren und anschluss-
fähig machen kann.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4386
Forschungszusammenhängen beitragen.39 Gemäß der oben erläuterten
performativen Forschungslogik entsteht die Theorie allerdings bei den
RezipientInnen und wird im autoethnographischen Text selbst nicht
ausbuchstabiert.
Autoethnographie ist bestenfalls Kunst, keinesfalls aber Wis-
senschaft: Ein Vorwurf, der ebenfalls alle »performativen« Zugänge
betrit, ist der einer illegitimen Grenzüberschreitung. Autoethno-
graphische Texte sind demnach (bestenfalls) Kunst, aber (sicher)
keine Wissenschaft. Die Anleihen an künstlerisch-literarischen Text-
gattungen seien so stark, so der Vorwurf, dass der wissenschaftliche
»Überschuss« der Autoethnographie nicht mehr auszumachen sei.
Auch dieses Argument hat etwas für sich, übersieht aber den Kons-
truktionscharakter von Wissenschaft: WissenschaftlerInnen sind es,
die in ihrem Schreiben und ihrem Tun die Grenzen der Wissenschaft
denieren und immer wieder neu verhandeln können. Im Idealfall tun
sie das nicht nach Kriterien der Tradition (»das war noch nie Wissen-
schaft, kann also auch nie Wissenschaft werden«) sondern orientiert
an dem, was für die Bearbeitung ihrer Forschungsgegenstände und das
Erreichen ihrer Forschungsziele hilfreich ist. Das Verständnis davon,
was Wissenschaft ist, ist dynamisch und wird von denen bestimmt, die
Wissenschaft betreiben. Die Behauptung, Autoethnographie sei keine
Wissenschaft, ist demnach keine deskriptive sondern eine normative
Aussage, muss also mit guten Gründen untermauert werden – im Ide-
alfall mit Referenz auf die Forschungsziele, die die FachvertreterInnen
mit ihrer Arbeit zu erreichen trachten. Darüber hinaus ist die eindeu-
tige Einordnung eines Textes als wissenschaftlich oder künstlerisch
nicht in allen Fällen zielführend: Was spricht dagegen, einen Roman
einmal als Kunstwerk und ein anderes Mal als sozial- oder kulturwis-
senschaftliches Werk zu lesen?40
39 Zum Beleg sei den LeserInnen die Lektüre einiger autoethnographischer Texte
ans Herz gelegt. Je stärker der Text zu berühren vermag und je besser die Lese-
rInnen mit ihrer eigenen Geschichte oder ihren Forschungserfahrungen an das
Erzählte anschließen können, desto stärker ist der theoriegenerierende Effekt der
Lektüre.
40 In der Literatursoziologie wird immer wieder argumentiert, dass literarische
Werke auch als wissenschaftliche Werke gelesen werden können: Ein guter
Roman kann demnach zugleich Kunst und Soziologie sein. Prominente Beispiele
sind die Werke von Thomas Mann, Emile Zola oder Leo Tolstoi. Vgl. Helmut
387
Autoethnographie widerspricht dem Alltagsfokus der Volkskunde:
Im Bericht zu einer Tagung über Autobiographien und Öentlichkeit
in Liverpool dokumentiert Nikola Langreiter folgende Beobachtung:
»Verhältnismäßig selten ging es um Alltag und Alltägliches, vielmehr
um besondere Ereignisse oder historische Phasen, um besondere
Personengruppen […]. Thematisch stand traumatisches Erleben im
Zentrum: Evakuierung oder Exil, politische Verfolgung, Holocaust,
Geschichten von Überlebenden, Verlusterfahrungen, Depression.«41
Die Autorin charakterisiert viele der Beiträge als »Selbstbiographi-
sierungen«, kritisiert ihren Mangel an Reexion über Methodik und
Forschungsprozess, sowie an ausreichender Kontextualisierung und
analytischer Tiefe.42 Auch wenn sie selbst es nicht explizit so formu-
liert, weisen Langreiters Bemerkungen auf ein Spannungsverhältnis
von Autoethnographie zur Volkskunde hin, der es – darauf können
sich die meisten FachvertreterInnen einigen – um eine Erforschung
des Alltags zu tun ist. Weil sich die Autoethnographie aber in erster
Linie mit »besonderen Ereignissen« und Krisenerfahrung beschäftigt,
ist (so könnte man diesen Punkt zuspitzen) die Autoethnographie
keine geeignete Methode für die Volkskunde.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich freilich, dass Autoethnographie
und Erforschung des Alltags keinen Widerspruch darstellen müssen:
Billy Ehns Autoethnographie zu seinen Erfahrungen mit dem Heim-
werken43 sowie seine und Orvar Löfgrens Selbstbetrachtungen über
das Nichtstun sind Beispiele für Forschungen über weit verbreitete
Alltagsphänomene44; auch Timo Heimerdingers methodologischer
Bericht über einen Alltag mit dem Roboterhund »Aibo« ist ein Beispiel
Kuzmics, Gerald Mozetic: Literatur und Soziologie. Zum Verhältnis von litera-
rischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Konstanz 2003. Vgl. dazu auch Ellis,
Bochner (wie Anm. 10), S. 752 f.
41 Nikola Langreiter: Texts of Testimony: Autobiography, Life-Story – Narratives
and the Public Sphere. 23.–25.8.2001, Research Centre for Literature and Cul-
tural History, Liverpool. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 105, 1,
2002, S. 56–60, hier S. 57.
42 Diesen Kritikpunkt haben wir weiter oben bei der Charakterisierung von Autoe-
thnographie und unter der Überschrift »Keine handfesten Ergebnisse« behandelt.
43 Vgl. Billy Ehn: Doing-it-yourself: Autoethnography of Manual Work. In:
O’Dell, Willim (wie Anm. 2), S. 53–63.
44 Vgl. Billy Ehn, Orvar Löfgren: The secret world of doing nothing. Berkeley
2010.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4388
für eine »Autoethnographie des Alltäglichen«45. Auch Arbeiten über
den Prozess der Trauer46, über das Leben mit Krankheiten47, über die
Beziehung mit psychisch kranken Elternteilen48 oder über die eigene
Sozialisation innerhalb einer Scientic Community49 sprechen sehr all-
tägliche Phänomäne an; gleiches gilt für auf den ersten Blick »exotisch«
wirkende Themen wie Sexarbeit50 oder Fluchtmigration/Exil51 – die
ja lediglich für nicht von ihnen Betroene etwas »Außeralltägliches«
sind. Die Hinwendung der Volkskunde zum Alltag erfolgte als Abkehr
von einer nur auf Artefakte fokussierten Sammeltätigkeit; zentral war
dabei die Etablierung von biographisch-narrativen Methoden. Der All-
tagsbegri, heute eine zentrale Kategorie des Faches, bezieht sich auf
die Erfahrungswelt, innerhalb derer Subjekte handeln und erleben; auf
(auch historisch gewachsene) Bedeutungs- und Beziehungssysteme,
die die selbstverständliche Grundlage des Handelns darstellen und die
von AkteurInnen auch (re-)produziert werden.52 Daraus lässt sich aber
keine grundsätzliche thematische Einschränkung ableiten, so lange
45 Vgl. Timo Heimerdinger, Christopher Scholtz: Beobachtete Selbstbeobachtung.
Ein methodisches Instrument der hermeneutischen Kulturanalyse. In: Volks-
kunde in Rheinland-Pfalz 21, 2007, S. 89–102.
46 Vgl. Carolyn Ellis: Grave Tending: With Mom at the Cemetery. In: Forum Qua-
litative Sozialforschung 4, 2, 2003, S. Artikel 28, 8 Absätze.
47 Vgl. Lisa M. Tillman-Healy: A Secret Life in a Culture of Thinness. Reflections
on Body, Food, and Bulimia. In: Carolyn Ellis, Arthur P. Bochner (Hg.): Compo-
sing ethnography. Alternative forms of qualitative writing. Walnut Creek, Calif
1996, S. 76–131.
48 Vgl. Rambo Ronai (wie Anm. 29).
49 Vgl. Angelika Birck: Laura promoviert. Eine Satire in sieben Aufzügen. In:
Forum Qualitative Sozialforschung 4, 2, 2003, S. Artikel 17, 289 Absätze; Jo Ann
Franklin Klinker, Reese H. Todd: Two Autoethnographies: A Search for Under-
standing of Gender and Age. In: The Qualitative Report 12, 2, 2007, S. 166–183.
50 Vgl. Veissiere (wie Anm. 33); Carol Rambo Ronai, Carolyn Ellis: Turn-Ons for
Money – Interactional Strategies of the Table Dancer. In: Journal of Contem-
porary Ethnography 18, 3, 1989, o.S.
51 Vgl. Behar (wie Anm. 20); Khosravi (wie Anm. 30).
52 Dies ist eine sehr kurze und freie Darstellung eines epistemologisch zentralen
Sachverhaltes. Vgl. daher vertiefend zum Alltagsbegriff Carola Lipp: Alltags-
kulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte.
Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären Forschungskonzepts. In: Zeit-
schrift für Volkskunde 89, 1, 1993, S. 1–33; Ina-Maria Greverus: Kultur und All-
tagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie. Frankfurt a.M.
1987 (Notizen zur Alltagskultur, 26).
389
handelnde Subjekte und Praktiken im Zentrum des Forschungsinter-
esses stehen.
Autoethnographien setzen die Biographien von Forschenden als
Waren am akademischen Arbeitsmarkt ein und bedienen damit die
Logik neoliberaler Wirtschaftspolitik: Autoethnographische Texte
lesen sich häug wie Geständnisse, erzählen Geschichten von Alko-
holismus, Trauer, Krankheit oder Sexualität und propagieren die
Umwandlung von privater Erfahrung in öentliche Rede. Die Bio-
graphie wird dabei zum Kapital, das akademisch verwertet wird. Das
korrespondiert in auallender Weise mit einer Forderung, die in den
letzten Jahren in den verschiedensten Alltagskontexten formuliert
wird: nämlich mit und an der eigenen Biographie zu arbeiten. Klara
Löer zufolge wird Biographiearbeit zur Bewältigung fragmentier-
ter Alltage eingesetzt und zunehmend in den Dienst der neoliberalen
Optimierung des Arbeitslebens gestellt.53 Auch die Soziologin Eva
Illouz, die sich mit der kapitalistischen Verwertbarkeit autobiogra-
phischer Narrative befasst, sieht Inszenierungen des privaten Selbst
als geradezu ideale Ware an. Sie können von ganzen Berufskohorten
und zahlreichen Medien produziert, verarbeitet und verbreitet wer-
den.54 Durch ein Ineinandergreifen kultureller Diskurse der Therapie,
der ökonomischen Produktivität und des Feminismus wurde Illouz
zufolge die Idee und Praxis der Umwandlung privater Erfahrungen
in öentliche Rede populär, Individuen sind zu einer Auseinanderset-
zung mit ihren Gefühlen im Sinne eines »confessing«55 aufgefordert.56
Auch mit Sophie Tamas ist der Verwertungsgedanke, der hinter dem
53 Vgl. Klara Löffler: Anwendungen des Biographischen. Sondierungen in neuen
Arbeitswelten. In: Thomas Hengartner, Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Leben-
Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung: Festschrift für Albrecht
Lehmann. Berlin 2005, S. 183–198.
54 Zygmunt Baumann stellt Ähnliches am Beispiel der Selbstdarstellungen im Inter-
net fest, vgl. Zygmunt Bauman: Leben als Konsum. Hamburg 2009.
55 Vgl. dazu auch Günter Burkart, Marlene Heidel (Hg.): Die Ausweitung der
Bekenntniskultur – neue Formen der Selbstthematisierung? Wiesbaden 2006.
56 Vgl. Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorle-
sungen 2004. Frankfurt a.M. 2007, hier S. 45; auch Nikola Langreiter fragt im
schon erwähnten Tagungsbericht in Anlehnung an eine Vortragende der Konfe-
renz zu Selbstzeugnissen kritisch: »Wie können wir wieder herauskommen aus
diesem ›Autobiographisieren ist gut für dich‹?«, vgl. Langreiter (wie Anm. 41),
S. 60.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4390
Bearbeiten persönlicher Erfahrung in akademischen Karrierekontex-
ten stehen kann, kritisch zu sehen: Mit Verweis auf die Kluft zwischen
emotionalem Erleben, Empathie und akademischer Wissensproduk-
tion gibt sie zu bedenken, dass der Produktion kohärenter, vielleicht
sogar gesäuberter Erzählungen, die »pseudo-recovery« und »pseudo-
insights« suggerieren, entweder ein Moment der Selbstausbeutung
oder der Selbstverleugnung innewohnt.57
Von einer kritischen Kulturwissenschaft sollte man verlangen,
dass sie die Muster neoliberaler (Arbeitsmarkt)-Politiken nicht repro-
duziert, sondern diese reektiert und kritisch thematisiert. Die Kon-
junktur von Forschungszugängen muss in ihrem historischen Kontext
kritisch betrachtet werden.58 Aber sollte man die Arbeit mit und an
der eigenen Biographie deshalb vollständig aus der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung ausschließen? Die angesprochenen Überlegungen
sind wichtig und müssen jedes autoethnographische Projekt begleiten.
Ihnen gegenüber stehen jedoch die politischen und forschungsethi-
schen Potenziale des Zugangs, die wir oben bereits diskutiert haben.
Die Gefahr einer Verdinglichung der eigenen Stimme und der Unter-
stützung neoliberaler Selbstvermarktungs-Tendenzen ist an sich noch
kein Grund, die Beschäftigung mit Autoethnographie als solche aufzu-
geben. Sie ist aber ein guter Grund dafür, das emanzipatorische, hier-
archiekritische Potenzial des Zugangs ernst zu nehmen und sich um
seine Durchsetzung in der autoethnographischen Forschungspraxis zu
bemühen.
57 Vgl. Sophie Tamas: Writing and Righting Trauma: Troubling the Autoethnogra-
phic Voice. In: Forum Qualitative Sozialforschung 10, 1, 2009, 24 Absätze, Online
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1211/2642
(Zugriff: 10.10.2013), hier Absatz 17.
58 Atkinson und Silverman haben sich am Beispiel des narrativen Interviews der
Frage gewidmet, wieso eine bestimmte Forschungsmethode zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt privilegiert wird, als attraktiv erscheint: vgl. Paul Atkinson, David
Silverman: Kundera’s Immortality: The Interview Society and the Invention of
the Self. In: Qualitative Inquiry 3, 3, 1997, S. 304–325.
391
Beziehungen der Autoethnographie zur Methodengeschichte, Epi-
stemologie und Ausrichtung der Volkskunde/Kulturanthropologie
Wir wollen nun drei forschungsleitende Anliegen näher betrach-
ten, die Autoethnographie und Volkskunde/Kulturanthropologie
miteinander verbinden:59 Die Anerkennung der Subjektivität von For-
schenden als theoretisch begründete Erkenntnisquelle, die kritische
Auseinandersetzung mit Fragen von Macht und Repräsentation und
die Überzeugung, dass Forschung einen emanzipatorischen, gesell-
schaftsverändernden Impetus haben darf und soll.
Anerkennung von Subjektivität: Autoethnographie ruft nicht nur
zur reexiven Auseinandersetzung mit der Subjektivität von Forsche-
rInnen auf, sondern stellt sie buchstäblich ins Zentrum des Forschungs-
prozesses. Die Idee, dass die Subjektivität der Forschenden nicht nur
ein Störfaktor sondern eine unverzichtbare und theoretisch begründete
Erkenntnisquelle sein kann, wird spätestens seit den 1980er Jahren in
den »Ethnowissenschaften« breit diskutiert: in der Kultur- und Sozial-
anthropologie verstärkt im Zuge der Writing-Culture-Debatte60, par-
allel dazu und teilweise vorgelagert in der feministischen Forschung61
aber auch in anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontexten.
59 Eine abschließende Betrachtung von Berührungs- und Spannungsfeldern zwi-
schen Autoethnographie und anderen Zugängen im Fach ist an dieser Stelle
freilich nicht möglich. Sie würde einen einheitlichen Begriff von »Autoethno-
graphie« und »volkskundlich-kulturanthropologischer Methodologie/Epistemo-
logie« voraussetzen, der mit Blick auf die Vielfalt an Schulen und Ausprägungen
in beiden Bereichen nicht zu haben ist. Aus diesem Grund ist an dieser Stelle
nur eine Annäherung möglich, die auf weitgehend unstrittige Charakteristika
zurückgreift.
60 Vgl. James Clifford, George E. Marcus (Hg.): Writing culture. The Poetics and
Politics of Ethnography. Berkeley 1986.
61 Maria Mies argumentierte schon 1978 für ein Einbeziehen der Subjektivität; sie
skizzierte eine Frauenforschung, die auf den Prinzipien Betroffenheit, Empathie
und Parteilichkeit fußte, mit dem Ziel einer Entgrenzung von Wissenschaft und
politischer Praxis. Vgl. Maria Mies: Methodische Postulate zur Frauenforschung
– dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen. In: Beiträge zur feministi-
schen Theorie und Praxis 1, 1, 1978, S. 41–63, hier S. 46. Für den Bereich der
Kultur- und Sozialanthropologie siehe Lila Abu-Lughod: Writing against Cul-
ture. In: Richard Gabriel Fox (Hg.): Recapturing anthropology. Working in
the present. Santa Fe, N.M. 1991, S. 137–162; Ruth Behar: Dare We Say »I«?
Bringing the Personal into Scholarship. In: Chronicle of Higher Education 40,
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4392
»Selbstreexion« als wissenschaftliche Praxis wurde unter anderem
deshalb gefordert, um abseits eines objektiven Standpunktes »gute
Forschung« leisten zu können. In der Kulturanthropologie sahen sich
allerdings bereits die ersten Stimmen, die ein Einbeziehen von Ree-
xivität in Theorie und Praxis forderten, scharfer Kritik ausgesetzt:
Die Rede war von einer problematischen Schwerpunktverschiebung
weg vom »eigentlichen Untersuchungsgegenstand« hin zum Autor/
zur Autorin. Die Arbeiten derjenigen, die bisherige Ethnographien
als author evacuated62 kritisierten, wurden ihrerseits als author satura-
ted63 angegrien.64 Mittlerweile ist eine (überlegte) Beschäftigung der
Forschenden mit dem »Ich« freilich weit verbreitet und es ist eher ein
Zuwenig an Reexion, das die Kritik der Community hervorruft.65
43 vom 29.6.1994, Section 2, S. B1-B2 (verfügbar unter: http://www.ruthbehar.
com/RuthBehar-DareWeSayI.pdf, Zugriff: 20.11.2013); Ruth Behar, Deborah A.
Gordon (Hg.): Women Writing Culture. Berkeley 1995.
62 Vgl. Klaus-Peter Koepping: Bodies in the Field: Sexual Taboos, Self-Revelation
and the Limits of Reflexivity in Anthropological Fieldwork. In: Cornelia Rohe,
Christian Giordano, Ina-Maria Greverus (Hg.): Reflecting Cultural Practice.
The Challenge of Fieldwork. Frankfurt a.M. 1998 (Anthropological journal on
European cultures, 6), S. 28–40, hier S. 11.
63 Vgl. Clifford Geertz: Works and lives. The anthropologist as author. Cambridge
1988, S. 11.
64 1982 wurde in einem programmatischen Sammelband zur Reflexivität in der
Kulturanthropologie den schon damals zahlreichen besorgten Stimmen entgeg-
net, dass es noch keine erwähnenswerte Tradition einer reflexiven Beschäftigung
mit den Forschenden selbst gäbe und man daher noch weit davon entfernt sei,
diese – wie von KritikerInnen befürchtet – »exzessiv« zu betreiben, vgl. Barbara
Myerhoff, Jay Ruby: Introduction. In: Jay Ruby (Hg.): A Crack in the Mirror.
Reflexive Perspectives in Anthropology. Philadelphia 1982, S. 3–35, hier S. 24.
65 Vgl. Bönisch-Brednich (wie Anm. 5), S. 53.
393
Die Krisen der Feldforschung66, der Repräsentation67 und des eth-
nologischen Selbstvertrauens68, die Anlass für eine Selbstbefragung
vieler ethnologischer Disziplinen gaben, wurden und werden auch in
der Volkskunde/Kulturanthropologie rezipiert. Brigitta Schmidt-Lau-
ber identiziert die Beschäftigung mit dem forschenden Ich und sei-
ner Beziehung zu den Erforschten als wichtigen Strang der durch diese
Krisen ausgelösten Diskussionen. Als Folgen für das Fach sieht sie
unter anderem die Auseinandersetzung mit der Ethnopsychoanalyse,
das Bemühen um Forschungssupervision an einigen Instituten sowie
veränderte methodische Prämissen und veränderte Vorgaben für die
Darstellung von Forschung.69
Als Konsequenz dieser Entwicklungen kommt der Subjektivität
der Forschenden mittlerweile erhöhte Aufmerksamkeit zu.70 In der
deutschsprachigen Volkskunde/Kulturanthropologie wird insbeson-
dere den ForscherInnen um Utz Jeggle das Bemühen um verstärkte
Auseinandersetzung mit Subjektivität und methodische Reexion
eigener Erfahrungen im Feld zugeschrieben.71 Jeggle beschreibt in
vielen seiner Texte anschaulich einen Zugang, der subjektive, sinnli-
66 Vgl. Brigitta Schmidt-Lauber: Orte von Dauer. Der Feldforschungsbegriff in der
Europäischen Ethnologie in der Kritik. In: Sonja Windmüller (Hg.): Kultur-For-
schung. Zum Profil einer volkskundlichen Kulturwissenschaft. Berlin, Münster
2009, S. 237–259, hier S. 239. Vgl. auch Rolf Lindner: Von der Feldforschung zur
Feld-Forschung. In: Klara Löffler (Hg.): Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien
in der Volkskunde. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde
in Wien 1998. Wien 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Eth-
nologie der Universität Wien, 20), S. 13–16.
67 Vgl. Eberhard Berg, Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise
der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a.M. 1993.
68 Adams, Ellis und Bochner arbeiten mit dem Begriff »crisis of confidence«,
vgl. Carolyn Ellis, Tony E. Adams, Arthur P. Bochner: Autoethnography: An
Overview. In: Forum Qualitative Sozialforschung 12, 1, 2011, S. Artikel 10, 40
Absätze, hier Absatz 2.
69 Vgl. Schmidt-Lauber (wie Anm. 66), S. 239.
70 Vgl. Katharina Eisch: Erkundungen und Zugänge 1: Feldforschung. Wie man zu
Material kommt. In: Löffler (wie Anm. 66), hier S. 35; vgl. Brigitta Schmidt-Lau-
ber: Rezension zu: Katharina Eisch, Marion Hamm, Marion (Hg.): Die Poesie
des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse. Tübingen: Tübin-
ger Vereinigung für Volkskunde 2001. In: H-Soz-u-Kult, 27.11.2002 (http://
hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2220, Zugriff: 13.2.2012).
71 Vgl. Ebd.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4394
che und emotionale Irritationen im Feld nicht verleugnet, sondern als
Material nutzbar macht.72 Vor allem Übertragungsvorgänge im Sinne
des Ethnologen, Psychoanalytikers und Begründers der Ethnopsycho-
analyse Georges Devereux spielten dabei eine wichtige Rolle.73 Die
Ethnopsychoanalyse bildet für manche FachvertreterInnen eine wich-
tige Grundlage ihres Arbeitens, wird aber allgemein eher als Rander-
scheinung wahrgenommen.74 Elisabeth Katschnig-Fasch verstand sie
als unverzichtbaren Bestandteil von Feldforschungen, »[…] weil sich
Gehemmtheit und Angst, Widerstand und Abwehr in jeder Begeg-
nung, vor allem in einem wie auch immer hierarchisierten Prozess
zwischen Forschenden und Beforschten einnistet und unbedacht zu
blinden Flecken und falschen Schlüssen führt.«75
In der gegenwärtigen volkskundlich-kulturanthropologischen Dis-
kussion ist trotz der beschriebenen Aufgeschlossenheit gegenüber dem
forschenden Subjekt das Bemühen evident, dem Vorwurf der »Nabel-
schau« vorzubeugen76 – dem Verdacht, man wolle »die Begegnung mit
der rauhen Wirklichkeit des ›Feldes‹ durch den Reiz der Selbstbeob-
achtung ersetzen, was letztlich einfacher und dankbarer ist«77. Was
genau als »narzisstische Haltung« in der Forschung gelten muss, ist
72 Zum Beispiel: Utz Jeggle: Geheimnisse der Feldforschung. In: Heide Nixdorff,
Thomas Hauschild (Hg.): Europäische Ethnologie. Theorie- und Methodendis-
kussion aus ethnologischer und volkskundlicher Sicht. Berlin 1982, S. 187–204,
hier S. 187.
73 Vgl. George Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften.
Frankfurt a.M. 1984.
74 Vgl. Elisabeth Timm: Zur Einleitung: Kulturanalyse, Psychoanalyse, Sozial-
forschung – Einblicke in die volkskundliche Kulturwissenschaft. In: Elisabeth
Timm, Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.): Kulturanalyse, Psychoanalyse, Sozial-
forschung. Positionen, Verbindungen und Perspektiven: Beiträge der Tagung
des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, des Instituts für
Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz und des Vereins für
Volkskunde/Österreichisches Museum für Volkskunde in Wien vom 23. bis 25.
November 2006. Wien 2007, S. 113–124, hier S. 120.
75 Elisabeth Katschnig-Fasch: Begrüßung. In: Timm, Katschnig-Fasch (wie Anm.
74), S. 107–112, hier S. 110.
76 Vgl. unter anderem Eisch (wie Anm. 69), S. 36; oder Beate Binder, Sabine Hess:
Intersektionalität in der Europäischen Ethnologie. In: Sabine Hess, Nikola
Langreiter (Hg.): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und
methodische Erkundungen. Bielefeld 2011, S. 15–54, hier S. 40, FN 82.
77 Bourdieu (wie Anm. 25), S. 366.
395
dabei aber umstritten.78 Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sub-
jektivität wird zumeist als Modus der Qualitätssicherung legitimiert,
nicht aber als eigenständige Erkenntnisquelle.79
Reexion von Macht und Hierarchien: Viele Autoethnographien
korrespondieren mit volkskundlich-kulturanthropologischen Ethno-
graphien hinsichtlich der Forderung nach einem kritisch-reexiven
Umgang mit Machtverhältnissen im Forschungs- und Beschreibungs-
prozess. Insbesondere wenn Ungleichheitsbeziehungen Gegenstand
der Forschung sind (beispielsweise im Zusammenhang mit Geschlech-
terverhältnissen oder Migration), ist es eine große Herausforderung,
den wissenschaftlichen Bericht über das untersuchte Phänomen so zu
gestalten, dass er nicht als paternalistisch, viktimisierend, romantisie-
rend oder voyeuristisch gelesen werden kann. Autoethnographie regt
hier zum Experimentieren mit Stilmitteln und Darstellungsformen
an, die emanzipatorische Forschung jenseits der genannten Fallstricke
ermöglichen. Auch mit Blick auf Gütekriterien ist die kritische Hal-
tung zu Machtverhältnissen der performativen Forschung – zumindest
der Idee nach – eingeschrieben.80
Seit den 1980ern, insbesondere aber in den 1990er Jahren81 setzen
sich VertreterInnen der Volkskunde/Kulturanthropologie verstärkt
mit Fragen der Repräsentation der Subjekte volkskundlich-kulturan-
thropologischer Forschungspraxis, mit Machtungleichgewichten, der
Beziehungsgestaltung im Forschungsprozess und mit der Frage aus-
einander, welche »Stimmen« in Ethnographien eigentlich erzeugt wer-
den. Diese Auseinandersetzung steht in einem engen Zusammenhang
mit einer grundlegenden Repräsentationskritik, die durch einen viel-
rezipierten Band von James Cliords und George Marcus zur »Wri-
ting Culture« vorangetrieben wurde.82 Elisabeth Katschnig-Fasch war
78 Vgl. Brigitte Becker u.a.: Die reflexive Couch. Feldforschungssupervision in der
Ethnografie. In: Zeitschrift für Volkskunde 109, 2, 2013, S. 181–203, hier S. 200.
79 Vgl. dazu weiterführend Victoria Hegner: Vom Feld verführt. Methodische
Gratwanderungen in der Ethnografie. In: Forum Qualitative Sozialforschung
14, 3, 2013, Artikel 19, 40 Absätze. Online unter http://nbn-resolving.de/
urn:nbn:de:0114-fqs1303197 (Zugriff: 30.9.2013), insbes. Abs. 24, 25.
80 Vgl. dazu unsere obigen Ausführungen zum Thema Gütekriterien.
81 Vgl. Cornelia Rohe, Christian Giordano, Ina-Maria Greverus (Hg.): Reflecting
Cultural Practice. The Challenge of Fieldwork (=Anthropological journal on
European cultures, 6). Frankfurt a.M. 1998.
82 Vgl. Clifford, Marcus (wie Anm. 60).
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4396
es unter anderem, die immer wieder den Fokus auf Fragen der Herr-
schaftsbeziehungen im Feldforschungprozess einmahnte, dabei aber
auch alternative, »postmoderne« Wege der Beschreibung kritisch unter
die Lupe nahm: »Auch wenn so manche meinen, daß Vielstimmigkeit
die beste Lösung zu sein verspricht, überhaupt noch etwas sagen zu
können, es geht um eine Haltung, eine bestimmte Ethik des handeln-
den Forschens und des Schreibens; nicht darum, ein neues Stilmittel zu
nden, um sich (in alter Machtmanier), in die ›Nähe zu schreiben‹, wie
dies die Textualisten empfehlen, sondern sich einer Auseinanderset-
zung mit unserem Gegenüber zu stellen, in einen Dialog zu treten.«83
Die autoritäre Rolle des »Souveräns der Datenerhebung«84, der über
die ForschungsteilnehmerInnen hinweg schreibt, mittels einer interak-
tiven und dialogischen Forschungshaltung (ethnographisches Wissen
wird kollaborativ mit Beforschten generiert) zu überwinden, wurde
und wird in den einschlägigen Methodentexten häug gefordert.85
Emanzipatorischer Anspruch: Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist
die in Teilen der autoethnographischen Community verbreitete Über-
zeugung, dass Forschung einen gesellschaftsverändernden, emanzipa-
83 Elisabeth Katschnig-Fasch: Kommentar zur Tagung. In: Löffler (wie Anm. 66),
S. 101–106, hier S. 103.
84 Eine Formulierung, die Elisabeth Timm in der Diskussion zu ihrem Vortrag (im
Rahmen der Tagung »Äußerungen. Die Oberfläche als Gegenstand und Perspek-
tive der Europäischen Ethnologie«, Innsbruck 2012) gebraucht hat, vgl. Elisabeth
Timm: Bodenloses Spurenlesen. Überlegungen zur Metapher der Tiefe in der
qualitativen Methodik der Kulturanthropologie; vgl. die Publikation dazu Eli-
sabeth Timm: Bodenloses Spurenlesen. Probleme der kulturanthropologischen
Empirie unter den Bedingungen der Emergenztheorie. In: Timo Heimerdinger,
Silke Meyer (Hg.): Äußerungen. Die Oberfläche als Gegenstand und Perspek-
tive der Europäischen Ethnologie. Beiträge der dgv-Hochschultagung vom 28. bis
30. September 2012 am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische
Ethnologie an der Universität Innsbruck (=Buchreihe der Österreichischen Zeit-
schrift für Volkskunde, 26). Wien 2013, S. 49–75.
85 Vgl. Rolf Lindner: Die Angst des Forschers vor dem Feld. Überlegungen zur teil-
nehmenden Beobachtung als Interaktionsprozess. In: Österreichische Zeitschrift
für Volkskunde 77, 1981, S. 51–66; Utz Jeggle (Hg.): Feldforschung (=Unter-
suchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen im Auftrag
der Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 62). Tübingen 21984; Ina-Maria
Greverus: Performing Culture. To be is to be spoken with. Abstract. In: Cor-
nelia Rohe, Christian Giordano, Ina-Maria Greverus (Hg.): Reflecting Cultural
Practice. The Challenge of Fieldwork (=Anthropological journal on European
cultures, 6). Frankfurt a.M. 1998, S. 11–16.
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torischen Anspruch haben darf und soll. Ellis, Bochner und Adams
formulieren beispielsweise als Ziel autoethnographischer Bemühun-
gen, »[…] auch ein breiteres und heterogeneres Publikum zu errei-
chen, das traditionelle Forschung üblicherweise außer Acht lässt, um
zu persönlicher Veränderung und sozialem Wandel für möglichst
viele Menschen beizutragen […].«86 Ihre Kollegin Stacy Holman Jones
thematisiert in einem programmatischen Aufsatz unter dem Titel
»Making the Personal Political« das Potenzial des »persönlichen Tex-
tes« als kritische Intervention in das soziale, politische und kulturelle
Leben.87
Der Wunsch, durch kritische Reexion einen Beitrag zum gesell-
schaftlichen Wandel zu leisten, oder gar die Veränderung des Status
Quo zum eigentlichen Ziel der Forschung zu machen, ndet sich auch
in einigen volkskundlich-kulturanthropologischen Arbeiten. In der
politischen und fachgeschichtlichen Umbruchszeit der späten 1960er
und frühen 1970er Jahre88 wurde dieses Anliegen spezisch aus der
Abgrenzung gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit des
Faches argumentiert. In der Falkensteiner Verständigungsformel vom
September 1970 wird als Ziel formuliert, an der Lösung sozio-kultu-
reller Probleme mitzuwirken.89 Kritische Stimmen betonten diesbe-
züglich, dass unmittelbar verwertbare und gesellschaftlich produktive
Ergebnisse keine taugliche Legitimationsgrundlage für wissenschaft-
liche Forschung darstellen90 und unabhängige Grundlagenforschung
86 Carolyn Ellis, Tony E. Adams, Arthur P. Bochner: Autoethnographie. In: Katja
Mruck, Günther Mey (Hg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psycholo-
gie 2010, S. 345–357, hier S. 348.
87 Vgl. Holman Jones (wie Anm. 14), S. 763–791.
88 Vgl. zum Beispiel Dieter Kramer, der es als Aufgabe des Faches bezeichnete,
Informationen bereitzustellen, die zur Emanzipation einer unterdrückten Bevöl-
kerung beitragen können. Ders.: Wem nützt Volkskunde? In: Zeitschrift für
Volkskunde 66, 1970, S. 1–16.
89 Vgl. Wolfgang Brückner (Hg.): Falkensteiner Protokolle. Diskussionspapiere
und Protokolle der in Falkenstein, Taunus (Heimvolkshochschule der Adolf-
Reichwein-Stiftung) vom 21. bis 26. September 1970 abgehaltenen wissenschaftli-
chen Arbeitstagung des Ständigen Ausschusses für Hochschul- und Studienfragen
der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. Frankfurt a.M. 1971, hier S. 196.
90 Vgl. Helge Gerndt: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volks-
kundliche Markierungen. Münster, New York 2002, hier S. 168.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4398
im Widerspruch zu politischer Stellungnahme steht91. Sie befürchteten
eine Vereinnahmung der Wissenschaft, eine Beeinussung der Ergeb-
nisse durch Ideologien, sehen einen grundlegenden Konikt zwischen
den Erkenntniszielen der Wissenschaft und deren »politischer Verstri-
ckung«.
Die Idee der forschenden Intervention ist im Fach also ein vertrau-
tes, aber schwieriges Terrain. Wolfgang Kaschuba identiziert dies-
bezüglich ein spezisches disziplinäres Ethos, das »volkskundliches
Denken und Wissen immer auch als ein anwendungsbezogenes, inso-
fern praxeologisches und ›intervenierendes‹ Projekt verstehen will.«92
Die Pege ein solchen Ethos, von Kaschuba plausibel als Kontinuitäts-
linie dargelegt, ist für einige VertreterInnen der Volkskunde/Kultur-
anthropologie geradezu identitätsstiftend. Sabine Eggmann konstatiert
in ihrer Analyse der diskursiven Praxis der Volkskunde, dass sich die
Disziplin selbst nicht zuletzt als Institution der Gesellschaftsverbes-
serung erzeugt: Sie erstellt »Folien für die Modizierung der Gesell-
schaft, womit sich die Volkskunde als moralisch-normative Instanz
proliert und positioniert, die das Geschäft der – für alle verbindlichen
– Gesellschaftsverbesserung als ihre grundsätzliche Legitimierung und
ihren sozialen Auftrag versteht.«93
Gegenwärtig gibt es – nicht zuletzt unter den Studierenden – viele
AkteurInnen im Fach, die mit ihrer Forschung eine Motivation zum
91 Hier tut sich eine Fülle an weiteren Diskussionsmöglichkeiten auf. Zum Beispiel
wäre näher zu definieren, wie der Begriff »Politik« in Debatten um Forschung als
»politisches Engagement« genau gefüllt wird. Außerdem gilt es zu differenzieren,
wie und ob ein »privates« politisches Engagement oder eine politische Verortung
für WissenschaftlerInnen zulässig oder gar gewünscht ist, ob es ihre Forschung
beeinflusst, ob solche Einflüsse vermeidbar sind und Ähnliches.
92 Wolfgang Kaschuba: Reflexion und Intervention. Zum Ethos volkskundlich-
ethnologischer Forschung. In: Karl Braun, Claus-Marco Dieterich, Christian
Schönholz (Hg.): Umbruchszeiten. Epistemologie und Methodologie in Selbst-
reflexion. Dokumentation der dgv-Hochschultagung 2010 in Marburg. Marburg
2012, S. 101–120, hier S. 103.
93 Sabine Eggmann: »Kultur«-Konstruktionen. Die gegenwärtige Gesellschaft im
Spiegel volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Wissens. Bielefeld 2009, hier
S. 280.
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»Eingreifen, Kritisieren, Verändern«94 verbinden.95 Arenen der Betäti-
gung von WissenschaftlerInnen, die auch mit politischen AkteurInnen
zusammenarbeiten oder selbst »interventionistisch« tätig sind, sind
unter anderem die kritische Migrationsforschung96, die Geschlech-
terforschung oder die Arbeitsforschung97. Ina-Maria Greverus, die
schon in den 1970ern eine Volkskunde als eingreifende Wissenschaft
forderte, weist darauf hin, dass es angesichts des »ganz alltäglichen
Elends«98 heute durchaus als unterlassene Hilfeleistung interpretiert
werden könnte, sich nicht mit gesellschaftlichen Problemlagen ausein-
anderzusetzen und an ihrer Verbesserung mitzuwirken.99
94 Vgl. Beate Binder u.a. (Hg.): Eingreifen, Kritisieren, Verändern!? Interventionen
ethnographisch und gendertheoretisch. Münster 2013.
95 Einige von ihnen unterziehen auch diese Motivation einer kontinuierlichen kri-
tischen Reflexion. Zur fundierten Auseinandersetzung mit »engaged anthro-
pology« siehe die Ausgaben von »Current Anthropology« von 2010, darin zum
Beispiel Kamari M. Clarke: Toward a Critically Engaged Ethnographic Practice.
In: Current Anthropology 51, 2010, S 2, S. S. 301–S312.
96 Zu nennen ist hier beispielsweise das Labor Migration am Institut für Europäi-
sche Ethnologie in Berlin. Es vernetzt ForscherInnen im Institut und Expertise
von außerhalb. Auch das Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimefor-
schung, das von Sabine Hess koordiniert wird, dient explizit der Vernetzung von
ForscherInnen mit AktivistInnen, KünstlerInnen und NGO-VertreterInnen und
fordert »[…] die Überschreitung disziplinärer Grenzen zwischen Wissenschaft,
Kulturproduktion und Politik/Aktivismus als auch zwischen den verschiedenen
wissenschaftlichen Disziplinen. Dabei geht es darum, einen alternativen, dialo-
gisch-solidarischen, reflexiven Wissens-Raum zu eröffnen […]«, vgl. »Das Netz-
werk«, http://kritnet.org/ (Zugriff: 15.11.2013).
97 Hier hat sich insbesondere Elisabeth Katschnig-Fasch für Positionen stark
gemacht, die Verantwortung im Wissenschaftsfeld auch als eine politische auf-
fassen, vgl. Katschnig-Fasch (wie Anm. 82), S. 101–106: Sie verwies in einem
Tagungskommentar unter anderem auf Bourdieus Text Gegenfeuer, Wortmel-
dungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz
21998.
98 Vgl. Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.): Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen
im Schatten des Neoliberalismus. Wien 2003.
99 Auch Greverus argumentiert mit Rückgriff auf Pierre Bourdieu und Elisabeth
Katschnig-Fasch, vgl. Ina-Maria Greverus: Über die Poesie und die Prosa der
Räume. Gedanken zu einer Anthropologie des Raums. Berlin, Münster 2009,
S. 164.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4400
Zum Potenzial der Autoethnographie für die Volkskunde
Trotz und zum Teil gerade wegen der Schwierigkeiten, mit denen
sie das gängige Wissenschaftsverständnis konfrontiert, sehen wir in
der Autoethnographie große Potenziale für die Kultur- und Sozialwis-
senschaften, die wir abschließend mit einem besonderen Fokus auf die
Volkskunde/Kulturanthropologie skizzieren wollen:
Erschließen neuer Forschungsfelder: Die Autoethnographie
ermöglicht eine forschende Annäherung an Phänomene, die mit den
gängigen Methoden der Volkskunde/Kulturanthropologie (Inter-
views, Beobachtungen, Diskurs- und Dokumentanalysen etc.) schwer
zu fassen sind. Das betrit insbesondere stark emotional aufgeladene
Phänomene, die mit Liebe, Freude, Angst oder Trauer zu tun haben,100
aber auch körpernahe Forschungsfelder wie Sport, Sexualität, Kampf
oder Krankheit. In Selbsterzählungen und deren Deutung können die
Forschenden ihr wissenschaftliches Interesse direkt an das (eigene)
Erleben herantragen und so um einiges detaillierter erheben und
analysieren, als das bei Interviews mit nicht-wissenschaftlichen For-
schungsteilnehmerInnen möglich wäre. Die Autoethnographie eignet
sich außerdem besonders gut (wenngleich nicht ausschließlich) zur
Erforschung von liminalen Phasen und Lebenskrisen, die mithilfe von
Beobachtungen und Interviews ebenfalls nur schwer, jedenfalls kaum
in ihrem krisenhaften Charakter erforscht werden können.
Epistemologische Alternative: Als Methode im Kanon der perfor-
mativen Sozialforschung bietet die Autoethnographie eine Alternative
zum interpretativ-verstehenden Zugang an, der in der Volkskunde/
Kulturanthropologie nach wie vor dominant ist. Seit der Krise der
Repräsentation (und in den letzten Jahrzehnten noch einmal verstärkt
durch die Rezeption poststrukturalistischer Theorien) gerät die inter-
pretative Forschungslogik zunehmend in Bedrängnis. Die Idee, man
könne mit der richtigen Herangehensweise ein abschließendes und
methodisch abgesichertes Verständnis eines Phänomens sicherstellen,
verträgt sich nicht mit der Kritik an diskursiver Festschreibung und
100 Vgl. dazu ausführlicher: Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer: »I start with my per-
sonal life« – Autoethnographie und Volkskunde im interdisziplinären Dialog, In:
Karl Berger et al. (Hg.): Emotional turn?! Kulturwissenschaftlich–volkskund-
liche Zugänge zu Gefühlen/Gefühlswelten. Beiträge der 27. Österreichischen
Volkskundetagung in Dornbirn von 29.5.–1.6.2013 (im Erscheinen).
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gewaltvoller Repräsentation, die von poststrukturalistischen Theo-
rien (insbesondere von postkolonialen, Queer- und Gender-Theorien)
ausgeht. Autoethnographien und andere performative Verfahren zie-
len nicht auf abschließende Ergebnisse, sondern auf die Produktion
erkenntnisgenerierender Texte oder Performances ab. Wenngleich
auch hier wissenschaftliche Autorität in Form von Entscheidungen für
und gegen bestimmte Forschungsthemen, Perspektiven und Details
präsent ist, bleiben Autotoethnographien dennoch oen für verschie-
dene Wege der Aneignung, Kritik und Weiterbearbeitung durch die
RezipientInnen und kommen damit dem Anspruch poststrukturalisti-
scher Wissenschaftskritik entgegen.
Sensibilisierung für forschungsethische Fragen: In konventionel-
len kulturanthropologischen und soziologischen Settings wird For-
schungsethik vor allem als Verantwortung »den Anderen« gegenüber
thematisiert. Da in der Autoethnographie aber die eigenen Erfahrungen
das Material bilden, wird die Relevanz und zugleich auch die Schwie-
rigkeit von Anonymisierung, informed consent, Nicht-Schädigung, etc.
besonders deutlich – sie wird sozusagen »am eigenen Leib« erfahren.
Darüber nachzudenken, ob und wie wir unsere eigene Geschichte
erzählen und dabei unsere Integrität sowie (noch brisanter) die der
anderen ProtagonistInnen unserer Geschichte(n) schützen können,
führt uns die Relevanz aber auch die Grenzen der Anonymisierung
und informierten Zustimmung von Beforschten besonders deutlich
vor Augen. Die Autoethnographie bietet außerdem viele Anregun-
gen für alternative Formen der Erzeugung und Darstellung von For-
schungsergebnissen, die forschungsethische Bedenken in besonderer
Weise berücksichtigen.
Diskussion über Selbstverständnis und Grenzen des Fachs: Die
Autoethnographie berührt die Grenze zwischen Wissenschaft und
Kunst und operiert damit auch an den Grenzen des Fachs. Das macht
sie riskant, irritierend und provoziert Kritik. Zugleich (wie es bei
Grenzlagen häug der Fall ist), macht es sie aber auch interessant: Die
Auseinandersetzung mit und ein Denken an diesen Grenzen, so unsere
Überzeugung, kann die volkskundlich-kulturanthropologische Arbeit
bereichern, zu neuen Wegen der Erhebung, Interpretation und Dar-
stellung inspirieren und das (Selbst-)Verständnis des Fachs schärfen
und akzentuieren. Die Fachgrenzen können dabei nämlich nicht nur
überschritten, sondern auch verschoben werden. Das Ergebnis einer
solchen Verschiebung könnte sein, dass der Bereich dessen, was (kul-
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4402
tur)wissenschaftlich legitim ist, ausgeweitet wird. Das kann manche
Arten von Autoethnographie aus-, andere aber mit guten Gründen ein-
schließen. Zudem bietet die Autoethnographie eine Anregung dazu,
Relevanz und Grenzen von »Reexivität«, Begri und Rolle der Eth-
nographie101, die Bedingungen ethnographischen Arbeitens in der eige-
nen Kultur102 sowie die Grenzen der Volkskunde/Kulturanthropologie
als Wissenschaft zu diskutieren.
Darstellung von Reexionen der Forschungserfahrung: Autoeth-
nographische Berichte bieten sich auch dann zur textlichen Umsetzung
von Reexionen der Forschungserfahrung an, wenn der Hauptteil der
Forschung nicht autoethnographisch ist. Das kann entweder als iso-
lierte Reexion in einem eigenen autoethnographischen Reexions-
kapitel geschehen, oder als autoethnographische Begleitreexion die
gesamte Forschungsarbeit durchziehen. Eine Begleitreexion kann
wiederum unterschiedlich ausgestaltet werde: Sie kann nebenherlaufen,
als »zweite Ebene«, die Irritationen ermöglicht aber nicht notwendig
macht, wie ein Forschungstagebuch oder Quellenmaterial, das dem
Forschungstext zur Seite gestellt wird, oder direkt in die Darstellung
der Forschungsergebnisse Eingang nden und dialogisch mit ihnen
verwoben werden. Die Forschungsergebnisse können sich so aus den
autoethnographisch generierten Materialien und Einsichten speisen,
sie aufnehmen und von ihnen lernen. Aus Sicht der autoethnographi-
schen Forschungslogik ist der Modus der Begleitreexion eindeutig zu
bevorzugen. Die Erfahrung mit einer reinen Autoethnographie macht
deutlich, dass das forschende Ich innerhalb der Forschung nicht isolier-
bar sondern überall präsent ist. Isolierte Reexionen haben häug den
Charakter von Legitimierungsstrategien, sie vermitteln den Eindruck,
es wäre möglich, die Beziehung der Forscherin zu ihrem Feld und die
daraus resultierenden »Verzerrungen« der Forschung als gesondertes
Problem zu betrachten.
Diskussion über Kritik, Engagement und Intervention im Fach:
Einige Spielarten der Autoethnographie verfolgen gezielt eine sozi-
alpolitisch-interventionistische Agenda. Norman Denzin beispiels-
weise nennt die transformative Kraft, das Potenzial dazu, die Welt
zum Besseren zu verändern, als zentrales Gütekriterium performa-
101 Vgl. O’Dell, Willim (wie Anm. 2), S. 6.
102 Vgl. Bönisch-Brednich (wie Anm. 5), S. 59.
403
tiver Forschung.103 Wenngleich nicht jede Autoethnographie dieses
Ziel verfolgen muss, gibt die Diskussion darüber der Volkskunde/
Kulturanthropologie dennoch eine gute Gelegenheit, sich mit dem
eigenen interventionistischen Anspruch auseinanderzusetzen. Will
das Fach Kritik an, Engagement für und Intervention in die von ihr
untersuchten Verhältnisse üben? In welchen Fällen, zugunsten welcher
AkteurInnen, mit welchem Ziel und mit welchen Mitteln? Die Auto-
ethnographie hat das Potenzial, eine systematische Diskussion dieser
Fragen anzustoßen bzw. wiederzubeleben.
Didaktisches Potenzial104: Die Auseinandersetzung mit der Auto-
ethnographie in der Lehre kann das volkskundlich-kulturanthropo-
logische Curriculum in mehrfacher Hinsicht bereichern: Sie bietet
Anknüpfungspunkte zur Diskussion aller oben angesprochenen The-
men und einen guten Rahmen zur Einübung in das evokative und
leser Innenorientierte Schreiben. Außerdem bietet sie den Studierenden
Gelegenheit, sich mit dem eigenen Erleben als Dokument von Kultur/
Gesellschaft auseinanderzusetzen und so den Einsatz des eigenen Ichs
als Forschungsinstrument zu schulen.
Fazit
Die obenstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Autoeth-
nographie keine neue Erscheinung innerhalb der Volkskunde/Kultur-
anthropologie, sondern seit Jahrzehnten umstrittene Begleiterin der
Kultur- und Sozialwissenschaften ist. Der Umstand, dass sie im Lauf
der Zeit so viele verschiedene Namen bekommen hat, verweist auch
auf die repetitive Geschichte der Methode: Sie taucht als Idee immer
wieder auf, ohne es aber jemals in den Kanon der etablierten Metho-
den zu schaen. Herauszunden, warum dem so ist, wäre eine eigene
wissenschaftshistorische und -soziologische Untersuchung wert. Ein
plausibler Grund ist der, dass sie Fluchtpunkt mehrerer Denkwege ist,
auf die die Kultur- und Sozialwissenschaften zwangsläug immer wie-
103 Vgl. Denzin (wie Anm. 36), S. 223.
104 Die beiden Autorinnen dieses Textes haben im Wintersemester 2012/13 am Ins-
titut für Volkskunde und Kulturanthropologie in Graz eine Lehrveranstaltung
zur Theorie und Praxis der Autoethnographie abgehalten, aus der viele der hier
präsentierten Überlegungen hervorgegangen sind.
Andrea Ploder, Johanna Stadlbauer, Autoethnographie und Volkskunde?
Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVII /116, 2013, Heft 3+4404
der geraten: Wo immer wir in Feldern arbeiten, die uns nahe sind, liegt
die Idee nahe, auch die eigene Geschichte als Material zu verwenden.
Ein ähnlicher Eekt stellt sich ein, wenn die Einsicht in die perspekti-
vische Gebundenheit von Forschung ernst genommen wird: Wenn wir
die Forschung unweigerlich durch unseren spezischen Blick, unsere
fachliche Sozialisation und unsere persönliche Geschichte beeinus-
sen, ist eine Reflexion dieses Umstands und der Versuch, die Spezifik
des eigenen Blicks zu charakterisieren, naheliegend. Wo immer
aber Reflexion ernsthaft geübt wird, wird deutlich, dass sie nicht bloß
ver-zerrende subjektive Einflüsse auf die Forschung einhegen sondern
selbst wesentliche Einsichten zum untersuchten Phänomen beitragen
kann. So liegt der gedankliche Weg zur Autoethnographie näher, als
man angesichts der scharfen Kritik, mit der sie zuweilen konfrontiert
wird, vermuten würde. Weil sie aber zugleich als Bedrohung des wis-
senschaftlichen Ansehens der Disziplinen angesehen wird, nden die
einzelnen Versuche, Selbsterzählungen als Methode zu verwenden,
nur schwer Eingang in den Methoden-Kanon. Sie werden in der Lehre
zumeist ausgeblendet, in Qualizierungsarbeiten und von Zeitschrif-
tenredaktionen skeptisch bis ablehnend betrachtet und bleiben so im
Fach randständig und weitgehend unbekannt. Aus diesem Grund, so
unsere These, wird die wissenschaftliche Selbsterzählung immer wie-
der neu »entdeckt« und unter neuem Namen und mit unterschiedli-
chen Akzenten ins akademische Rennen geschickt. Ob sie es diesmal in
den Kanon des Fachs schaen wird, werden die nächsten Jahre zeigen.
Autoethnography and Volkskunde? On the relevance
of academic self narratives for cultural antropological
research practice
This paper deals with the relevance of autoethnogra-
phy for Volkskunde/cultural anthropology. It points
out some connections between autoethnography and
research principles of Volkskunde/cultural anthropology
and tries to specify the term for future use in the field.
Based on a discussion of major points of criticism, the
authors call for a critically-reflexive but also courageous
use of autoethnography in research and teaching.