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Abstract

Durch Forschung der Fachhochschule Nordwestschweiz zusammen mit Zugverkehrsleitenden der SBB (Schweizerischen Bundesbahnen) konnten neue Erkenntnisse darüber was Expertise in diesem Beruf ausmacht gewonnen werden.
SIGNAL + DRAHT (103) 11/2011
6
Zugverkehrsleiter
Was macht einen Zugverkehrsleitenden
zum Experten?
Jonas Brüngger *)
Durch Forschung der Fachhochschu-
le Nordwestschweiz zusammen mit
Zugverkehrsleitenden der Schweize-
rischen Bundesbahnen (SBB) konn-
ten neue Erkenntnisse darüber, was
Expertise in diesem Beruf ausmacht,
gewonnen werden.
1 Arbeitsbedingungen in der
modernen Zugverkehrsleitung
Seit im 19. Jahrhundert die ersten me-
chanischen Stellwerke in Betrieb ge-
nommen wurden, hat sich viel verändert.
Damals mussten Zugverkehrsleitende
Signale und Weichen mit Muskelkraft
bedienen und sich direkt vor Ort davon
überzeugen, ob ein Gleis auch tatsäch-
lich frei war.
Heute arbeiten Zugverkehrsleitende an
hochmodernen Arbeitsplätzen und ha-
ben vor allem eine Überwachungsfunk-
tion. Signale und Weichen werden unter
normalen Bedingungen durch den Com-
puter gesteuert. Trotz dieser Automati-
sierung müssen die Zugverkehrsleiten-
den immer noch genau hinsehen, heute
aber hauptsächlich auf die Bildschirme.
Unvermindert wichtig ist die Konzentrati-
on der Aufmerksamkeit auf die Verkehrs-
situation, die angesichts der stark zuge-
nommenen Verkehrsdichte an Bedeu-
tung gewonnen hat.
Erfahrene Zugverkehrsleitende zeich-
nen sich als Experten auf ihrem Gebiet
aus, wenn sie den Zugverkehr in den von
ihnen überwachten Sektoren sicher und
effizient abwickeln können. Dazu müs-
sen sie die Fähigkeit haben, sich ihren
Sektor und die aktuell fahrenden Züge
vor das „geistige Auge“ zu holen. Wich-
tig ist dabei, dass sie ein möglichst ge-
naues mentales Modell des Sektors und
der Abläufe darin haben. Mit mentalem
Modell ist die gedankliche Vorstellung
der Realität gemeint, ohne diese direkt
vor sich zu sehen.
Die Informationen auf den Bildschir-
men können nicht alle auf einen Blick er-
fasst und miteinander abgeglichen wer-
den. Stattdessen gleichen Zugverkehrs-
leiter die erfassten Informationen mit ih-
rem mentalen Modell ab, um aktuelle
oder zukünftige Probleme vorhersehen
zu können. Bei diesem Prozess wird die-
ses Modell ständig aktualisiert.
Experten zeichnen sich auch dadurch
aus, dass sie eine besonders effekti-
ve und effiziente Blickstrategie haben,
um alle relevanten Informationen aufzu-
nehmen. Durch ihre Erfahrung ist es ih-
nen dabei möglich, neue Informationen
als bedeutungsvolle Sinneinheiten durch
nur einen Blick wahrzunehmen.
Worauf erfahrene Zugverkehrsleitende
während der Arbeit ihre Aufmerksamkeit
richten, ist vor allem deshalb von Inter-
esse, weil sich daraus ableiten lässt, wie
sie ihr mentales Modell aktualisieren und
Probleme vorhersehen können.
2 Untersuchung
Um zu verfolgen, wo der Fokus der Auf-
merksamkeit bei der Arbeit liegt, wurden
die Blickbewegungen von zwölfZugver-
kehrsleitenden mithilfe einer Blickbe-
wegungsregistrierungskamera (Bild 1)
während ihrer Arbeit aufgezeichnet und
ausgewertet. Bei der Auswertung wur-
de das Blickfeld der Fahrdienstleiter in
verschiedene Bereiche eingeteilt (Bild2).
Analysiert wurden Dauer und Häufigkeit
von Blicken in die Bereiche sowie Über-
gangshäufigkeiten von Blickwechseln
zwischen den verschiedenen Bereichen.
Die Zugverkehrsleitenden wurden für die
Auswertung aufgrund von Berufserfah-
rung und Arbeitserfahrung auf dem ver-
wendeten System entweder der Grup-
pe der Experten oder den Novizen, also
eher Berufs- und Systemunerfahrenen,
zugeordnet.
3 Ergebnisse und
Schlussfolgerungen
Die Untersuchung der Blickbewegun-
gen ergab eindeutige Unterschiede zwi-
schen den Blickstrategien von Experten
und Novizen. Aus den Blickbewegun-
gen lässt sich schließen, wo das Zen-
trum der visuellen Aufmerksamkeit von
Zugverkehrsleitenden während der Ar-
beit jeweils liegt und welche Informati-
onen sie betrachten. Es stellte sich he-
raus, dass Experten häufiger den Blick
zwischen den verschiedenen relevanten
Informationen wechseln als Novizen. Wir
gehen davon aus, dass dies ermöglicht
wird, weil Experten durch ihre Erfahrung
und ihre besseren mentalen Modelle In-
formationen effizienter erfassen und ver-
arbeiten können. Deshalb schlussfolgern
wir auch, dass sie durch dieses Vorge-
hen mehr Informationen des aktuellen
Geschehens aufnehmen als Novizen und
so den Zugverkehr effektiver disponieren
können.
Ein Hauptunterschied in den Blick-
strategien zwischen Experten und No-
vizen besteht in der Konzentration der
Aufmerksamkeit auf die verschiedenen
Bereiche ihres Arbeitsplatzes. Novizen
lassen ihre Blicke vor allem über Berei-
che wie den Fahrplan, Sektorübersicht,
Detailansichten sowie Infofenster zir-
kulieren. Experten hingegen betrach-
ten anstelle des Fahrplans viel häufiger
den Zulauf, also die Sektoren, auf de-
nen Züge verkehren, die in ihren Über-
wachungsbereich einfahren werden. Es
kann daraus abgeleitet werden, dass die
Informationen, auf die sich die Experten
Bild 1: Blickbewegungsregistrierungs-
kamera
ite
r
06_07_Bruenngen.indd 606_07_Bruenngen.indd 6 26.10.11 09:1826.10.11 09:18
Zugverkehrsleiter
konzentrieren, eher darauf ausgerichtet
sind, wie die aktuelle Lage in dem von
ihnen überwachten Sektor ist und durch
die Beobachtung des Zulaufs, sich in Zu-
kunft tatsächlich entwickeln wird. Novi-
zen hingegen orientieren sich eher am
Fahrplan, also daran, wie die Situati-
on sein und sich entwickeln sollte. Sie
werden deshalb eher unvorbereitet von
Fahrplanabweichungen überrascht als
die Experten und können diese aus die-
sem Grund auch weniger effektiv bewäl-
tigen.
4 Ausblick
Die Arbeit von Zugverkehrsleitenden wird
in absehbarer Zukunft durch den Anstieg
des Personenverkehrs und die weite-
re Zentralisierung noch komplexer und
anforderungsreicher werden. Die durch-
geführte Untersuchung konnte zeigen,
dass zur Expertise von Zugverkehrslei-
tenden auch die richtige Blickstrategie
gehört. Erkenntnisse darüber, was Ex-
pertise in diesem Beruf ausmacht, geben
wichtige Inputs für die zukünftige Selek-
tion und das Training von Zugverkehrs-
leitenden sowie für eine möglichst unter-
stützende Gestaltung der Mensch-Ma-
schine-Schnittstellen. Forschung in die-
sem Bereich trägt dadurch zu der weite-
ren Steigerung von Effektivität und Effizi-
enz im Schienenverkehr bei. Die Zuver-
lässigkeit des Bahnverkehrs kann infol-
gedessen durch die Anwendung der neu
gewonnenen Erkenntnisse noch weiter
erhöht werden.
*) An der Erstellung des Manuskripts waren
auch Katrin Fischer, Julia Bezzola, Irène Mey-
enberg, Denise Widmer, Esther Steiner, Kath-
rin Gärtner und Frank Ritz beteiligt.
SUMMARY
What makes a signaller an expert?
Research at the University of Applied
Sciences Northwestern Switzerland to-
gether with signallers of SBB (Schweiz-
erische Bundesbahnen, Swiss Federal
Railways) delivers insights on what ex-
pertise constitutes in this job.
Jonas Brüngger, BSc
Wissenschaftlicher Assistent, Fachhoch-
schule Nordwestschweiz, Hochschule
für Angewandte Psychologie, Institut
Mensch in komplexen Systemen
Anschrift: Riggenbachstraße 16,
CH-4600 Olten
E-Mail: jonas.bruengger@fhnw.ch
Der Autor
Bild 2: Arbeitsplatz eines Zugverkehrsleitenden, eingeteilt in verschiedene Bereiche
itere Informationen  nden Sie in Kürze unter www.eurailpress.de!
Editor: Peter Stanley
Technical Data: ISBN 978-3-7771-0416-4, Price: € 68,-, 310 pages
Contact: DVV Media Group GmbH | Eurailpress, Phone: +49(0)40/2 37 14 - 440 · Fax: +49(0)40/2 37 14 - 450, eMail: book@dvvmedia.com
This book provides a technical overview of the ETCS during design, implementation and use.
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N
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N
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N
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N
engineering – the technical, organisational and operational requirements
N
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