Content uploaded by Willi Ecker
Author content
All content in this area was uploaded by Willi Ecker on Feb 19, 2018
Content may be subject to copyright.
Nervenarzt 2006 · [jvn]:[afp]–[alp]
DOI 10.1007/s00115-006-2070-6
Online publiziert: 21. März 2006
© Springer Medizin Verlag 2006
W. Ecker · S. Gönner
Psychosomatische Fachklinik, Institut für Fort- und Weiterbildung
in klinischer Verhaltenstherapie e.V. , Bad Dürkheim
Das Unvollständigkeits-
gefühl
Neuentdeckung eines alten psychopatholo-
gischen Symptoms bei Zwangserkrankungen
Aktuelles
Geschichte und klinisches Bild
Unvollständigkeitsgefühle sind seit Ja-
net ([25]; „le sentiment d’incompletude“)
als charakteristische Erlebnisqualität bei
Zwangskranken bekannt. Auf der Basis
reichhaltiger Fallbeschreibungen arbeitet
Janet das Unvollständigkeitsgefühl als ein
Grundsymptom der Zwangserkrankung
heraus (vgl. [19]). Er zählt es zu den sog.
„psychasthenischen Stigmata“. Psychas-
thenie versteht er als eine Abschwächung
der seelischen Spannkraft, die dazu führt,
dass die Handlungskontrolle und das Er-
leben des dazugehörigen positiven Erledi-
gungsgefühls erschwert sind (vgl. [19, 21]).
Nach Janet liegt bei Zwängen eine „Stö-
rung des willentlichen Handelns, der Re-
alitätsfunktion“ vor ([19], S. 214). Er be-
mängelt die Reduktion der Phänomeno-
logie von Zwangserkrankungen auf ko-
gnitive und Angststörungen.
Diese nach Janets Ansicht verengte
Sichtweise wurde im international for-
schungsrelevanten Diagnostischen und
Statistischen Manual Psychischer Stö-
rungen (aktuelle Version: DSM-IV-TR)
[42] durch die Einordnung der Zwänge
in die Kategorie der Angststörungen fest-
geschrieben [49], so dass Unvollständig-
keitsgefühle fast in Vergessenheit gerieten.
Erst in den letzten Jahren sind sie aus einer
klinischen Perspektive von Nicolas Hoff-
mann [21–24] und neuerdings auch in der
angloamerikanischen Forschung [5, 6, 51]
wieder als zentrales Element der Phäno-
menologie von Zwangserkrankungen so-
wie als therapeutischer Ansatzpunkt be-
tont worden.
Nach Hoffmann [21] handelt sich um
eine sprachlich schwer zu beschreibende
innere Verfassung. Die Betroffenen ha-
ben „die Empfindung, dass ihre seelischen
Aktivitäten bis hin zum Verhalten ‚unvoll-
ständig‘ sind“. Sie sind nicht sicher, dass
„der entsprechende Akt als ‚vollendet‘ oder
abgeschlossen gelten kann“ (S. 34). Eigene
„Handlungen erscheinen fremd oder wie
von der Person losgelöst“, es fehlt „die Si-
cherheit, dass die Betroffenen es wirklich
sind, die sie ausführen. Die Handlungen
‚zählen‘ dann nicht und müssen oftmals
wiederholt werden“ (S. 35). Die folgenden
Aussagen Betroffener [21] illustrieren Va-
rianten dieser eigentümlichen Erfahrung
Zwangskranker:
„Ich habe den Knopf auf ‚aus‘ gestellt.
Weiß es auch, habe aber trotzdem nicht
das Gefühl, dass ich es getan habe.
„Ich saß im Dunkeln und weinte bit-
terlich, weil ich nicht das Gefühl bekam,
dass ich die Lampe auch wirklich ausge-
knipst hatte.“
„In Wirklichkeit drehe ich nicht an den
Hähnen, sondern an etwas in mir selber.
Ich sehe ja, dass die Hähne in Ordnung
sind, aber mein Gefühl sagt mir, dass et-
was nicht in Ordnung ist, und so fange ich
eben wieder mit den Hähnen an, denn an
ihnen kann man ja wirklich drehen.“
In der europäischen Tradition (z. B.
[21–24, 25]) wird das Unvollständigkeits-
gefühl vor allem als verändertes Selbster-
leben während bzw. unmittelbar vor/nach
einer Zwangshandlung beschrieben. Hoff-
mann spricht von „Unvollständigkeit be-
zogen auf die eigene Person“, „mangeln-
dem Ichgefühl“ oder „Desintegration
des Selbst“ [21–24]. Die Betroffenen füh-
len sich „nicht richtig da“, von der eige-
nen Person entfremdet, wie in Trance, als
ob sie träumen, „neben sich stehen“, sich
von außen beobachten, mechanisch oder
„wie Roboter“ handeln. Zusätzlich zu die-
sem partiellen Depersonalisationserle-
ben erscheint manchmal die Umwelt un-
wirklich (Derealisation). In schweren Fäl-
len kommt es zu bizarren, aber dennoch
ichdystonen Erlebensweisen wie dem Ge-
fühl, „nicht richtig“ oder „nicht ganz“ aus
dem Spiegel herauszukommen [21].
Zudem beklagen Zwangskranke häu-
fig eine mangelnde persönliche Fär-
bung der unmittelbaren Handlungserin-
nerung, der nach Reed ([39], S. 95) der
„persönliche Stempel“ fehlt: Das Selbst
ist nicht in die Gedächtnisrepräsentation
der Handlung integriert. Die Kenntnis
des Handlungsergebnisses (z. B. Herd auf
„aus“ gestellt, im Raum ist es dunkel) löst
das Problem gerade nicht, da ein Unvoll-
ständigkeitserleben bezogen auf die Per-
son als Agent der Handlung fortbesteht.
Der Versuch, es durch Handlungswie-
derholungen zu eliminieren, scheitert, da
die Erinnerungsspuren der immer wie-
der ohne „persönlichen Stempel“ enko-
dierten Handlungen stets erneut „unvoll-
ständig“ bleiben [8]. Dies erklärt Schwie-
rigkeiten Betroffener, „ein Ende zu fin-
den“ (s. auch [52, 56]).
1Der Nervenarzt X · 2006
|
In der angloamerikanischen Litera-
tur zum Unvollständigkeitsgefühl wird
das Konstrukt des Selbst nicht berück-
sichtigt. Stattdessen wird ausschließlich
das veränderte Erleben konkreter Hand-
lungen und Wahrnehmungen fokussiert
[5, 6, 51]. Diese werden von den Betrof-
fenen nicht als „geschlossene Gestalt“ er-
lebt. Die Autoren sprechen von der Unfä-
higkeit, ein Gefühl der Abgeschlossenheit
zu erreichen [20], abnormer Abwesenheit
einer Abschlussemotion [52] bzw. quä-
lender innerer Unzufriedenheit, verbun-
den mit der Wahrnehmung, dass Hand-
lungen oder Absichten nur unvollständig
zustande gebracht worden sind [51]. Der
verwandte Begriff „not just right expe-
riences“ (NJREs) [5, 6] meint ein subjek-
tives „Nicht-genau-richtig-Erleben“, be-
gleitet vom Gefühl der „Noch-nicht-Ab-
schließbarkeit“. NJREs führen zu einem
kompensatorischen „Just-right-Drang“, d.
h. die Betroffenen fühlen sich gezwungen,
durch Handlungswiederholungen absolu-
te, aber oft schwer artikulierbare subjek-
tive Kriterien oder Standards für „Rich-
tigkeit“ oder Perfektion zu erfüllen [50].
Manche Zwangskranke wiederholen ei-
ne Handlung so lange, bis sie sich „genau
richtig“ anfühlt, wobei die Anzahl erfor-
derlicher Wiederholungen stark variieren
kann. Andere Betroffene haben die „Jagd“
nach dem „Just-right-Gefühl“ irgendwann
aufgegeben, weil es sich zu unzuverlässig
einstellt. Sie führen stattdessen eine will-
kürlich festgelegte Anzahl von Wiederho-
lungen durch, um überhaupt ein Beendi-
gungskriterium zu haben [9].
Das quälende Gefühl, dass die eigenen
Handlungen und Erfahrungen „nicht ge-
nau richtig“ sind, kann sich in verschie-
denen Modalitäten manifestieren [51],
z. B.:
F visuell (etwas sieht nicht „genau rich-
tig“ aus, z. B. das Haar sieht noch
nicht „genau richtig“ in der Mitte ge-
scheitelt aus),
F auditiv (etwas, z. B. ein ritualisiertes
Gebet, hört sich nicht „genau richtig“
an),
F taktil (z. B. eine bestimmte Oberflä-
chenstruktur fühlt sich nicht „genau
richtig“ an),
F propriozeptiv (die Handlung fühlt
sich nicht „genau richtig“ an, z. B.
beide Schnürsenkel sind noch nicht
mit der „genau identischen“ Span-
nung gebunden),
F kognitiv-sprachlich (etwas erscheint
sprachlich nicht „genau richtig“ aus-
gedrückt).
Unvollständigkeitsgefühle, NJREs und
Just-right-Drang sind innere Verfas-
sungen, die schwer in Worte zu fassen
sind. Daher sind die Betroffenen auf psy-
choedukative „Versprachlichungshilfen“
angewiesen und oft erleichtert, wenn sie
erfahren, dass diese Phänomene für das
Erleben Zwangskranker typisch sind [9,
27,49].
Erhebungsinstrumente
In der englischsprachigen Forschung wer-
den drei Fragebögen verwandt, die NJREs
und den kompensatorischen Just-right-
Drang erfassen: Der „Not Just Right Expe-
riences-Questionnaire-Revised“ (NJRE-
QR; [5, 6]), die Unterskala „Incomple-
teness“ des „Obsessive-Compulsive Trait
Core Dimensions Questionnaire“ (OC-
TCDQ; 2. Skala: „Harm Avoidance“; [48])
und die „Just-right-Subskala“ des „Van-
couver Obsessional Compulsive Inven-
tory“ (VOCI; [54]). Wir setzen in einem
aktuellen Forschungsprojekt autorisierte
Übersetzungen dieser Verfahren ein. Zu-
sätzlich verwenden wir den von uns neu
konstruierten, noch in der Entwicklungs-
phase befindlichen Fragebogen zum Un-
vollständigkeitserleben (FU), der verän-
dertes Selbsterleben im zeitlichen Umfeld
von Zwängen erfasst [10].
Empirische Befunde und
weiterführende Forschungsfragen
Auftretenshäufigkeit
Leckman et al. [27] fanden bei 73% ih-
rer ZwangspatientInnen das Bedürfnis,
Zwangshandlungen bis zum Erzielen
eines Just-right-Gefühls durchzuführen.
Diese PatientInnen litten unter signifikant
schwereren Zwängen als PatientInnen oh-
ne Just-right-Drang. 50% der Betroffenen
mit Just-right-Drang gaben an, dieser sei
eher mental als körperlich, weitere 45%, sie
erlebten ihn als „irgendwo zwischen men-
tal und körperlich“. 75% beschrieben einen
Just-right-Drang unmittelbar vor oder mit
Beginn der Zwangshandlungen, der Rest
erst während der Zwangshandlungen. 81%
der Gesamtstichprobe gaben zudem (ge-
sondert, d. h. unabhängig vom Just-right-
Drang erfragte) Unvollständigkeitsge-
fühle an, deren zeitliche Dauer signifikant
mit der Symptomschwere (r=0,48) korre-
lierte. Davon beschrieben 57% ihre Un-
vollständigkeitsgefühle als rein mental,
42% als eine Mischung aus „mental awa-
reness“ und „bodily feeling“. In einer Stu-
die von Miguel et al. [34] berichteten 63%
der ZwangspatientInnen über einen Just-
right-Drang.
Studien zur Dimensionalität und zu
Subtypen bei Zwangsstörungen
Mathews et al. [32] fanden faktorenana-
lytisch einen Just-right-Faktor in einer
subklinischen Stichprobe. Dieser Befund
stützt die Position von Summerfeldt et al.
[47], die in Unvollständigkeitsgefühlen die
„Extremmanifestation“ eines Merkmals
sehen, das in abgeschwächter Form auch
im Zusammenhang mit zwanghaften Per-
sönlichkeitscharakteristika und selbst in
nichtklinischen Gruppen auffindbar ist.
In einer phänomenologischen Stu-
die zu Zwangserkrankungen identifi-
zierten Calamari et al. [2, 3] clusteranaly-
tisch eine „Certainty-Untergruppe“ (Stre-
ben nach Gewissheit), die u. a. durch ei-
nen Just-right-Drang gekennzeichnet war.
Zu dieser Gruppe gehörten Betroffene mit
unterschiedlichen Zwangsverhaltenswei-
sen, die im Trend unter umfassenderen
und schwereren Symptomen litten. Auch
klinisch findet man bei ganz unterschied-
lichen „Leitsymptomen“ (z. B. Kontroll-,
Wasch-, Ordnungs-/Symmetriezwängen,
zwanghafter Langsamkeit) Handlungs-
wiederholungen, um zu einem Vollstän-
digkeitserleben im Sinne des Just-right-
Gefühls zu gelangen.
Bislang wurde noch nicht systematisch
untersucht, ob bei bestimmten Subtypen
der Zwangserkrankung Unvollständig-
keitsgefühle/NJREs häufiger/intensiver
sind als bei anderen. Summerfeldt [51]
geht aufgrund klinischer Beobachtungen
davon aus, dass Unvollständigkeitsgefühle
häufiger, aber nicht ausschließlich bei
Symmetrie-, Zähl-, Wiederholungszwän-
gen und zwanghafter Langsamkeit vor-
kommen und seltener mit Zwangsgedan-
2
|
Der Nervenarzt X · 2006
Aktuelles
ken und „schadensvermeidenden“ Kon-
trollzwängen („harm avoidant checking“)
assoziiert sind. Wir überprüfen zurzeit in
einer eigenen Studie, ob sich unser kli-
nischer Eindruck bestätigen lässt, dass
Unvollständigkeitsgefühle in einem en-
geren Zusammenhang zu Kontroll- und
Ordnungszwängen stehen als zu Wasch-
zwängen und Zwangsgedanken. In einer
subklinischen Stichprobe konnte ein ana-
loges Befundmuster bereits nachgewiesen
werden [6].
Motivationsbezogene
„Binnenheterogenität“
symptombasierter Subtypen
Gerade Forscher, die sich bemühen, die
Dimensionalität der Zwangsstörung im
Sinne (zunächst rein deskriptiver) symp-
tombezogener Subtypen mit faktoren-
und clusteranalytischen Methoden aufzu-
klären [2, 3, 7, 31, 45, 50], weisen aufgrund
ihrer Befunde darauf hin, dass das gleiche
beobachtbare Zwangsverhalten bei ver-
schiedenen Betroffenen mit unterschied-
lichen zugrunde liegenden Motivationen
assoziiert sein kann. So „landeten“ bei
Calamari et al. ([3], S. 663) Betroffene mit
Waschzwängen entweder in der „Conta-
mination-Subgruppe“ oder aber, wenn
das Streben nach „just right feelings“ im
Vordergrund stand, in der „Certainty-
Subgruppe“ („washing to ‚feel right‘ rat-
her than to decontaminate“; ähnliche Be-
obachtungen: [12, 53]). Auch Symmetrie-
zwängen können unterschiedliche Moti-
vationen zugrunde liegen: Schadensver-
meidung bei Symmetriezwängen mit ma-
gischem Denken vs. das Bedürfnis, die
Dinge „genau richtig“ zu haben, bei sol-
chen ohne magisches Denken [45].
Nach McKay et al. [33] weisen auch
Kontrollzwänge eine beträchtliche Bin-
nenheterogenität auf. So dienen sie nicht
immer der Reduktion von Katastrophen-
befürchtungen, sondern es gibt auch „end-
lose Kontrollen ohne jede Vorstellung von
Katastrophen oder gar nur von Schäden“,
motiviert durch „ein diffuses Gefühl,
dass alles noch nicht ‚richtig‘ sei“ ([24], S.
130/133). Für Ordnungszwänge gehen Ra-
domsky und Rachman [36] auf der Basis
ihrer klinischen Erfahrung und aufgrund
einer Studie mit subklinischen Probanden
von einem Überwiegen just-right-moti-
Zusammenfassung · Summary
Nervenarzt 2006 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00115-006-2070-6
© Springer Medizin Verlag 2006
W. Ecker · S. Gönner
Das Unvollständigkeitsgefühl. Neuentdeckung eines alten
psychopathologischen Symptoms bei Zwangserkrankungen
Zusammenfassung
Der Beitrag beschreibt klinisch relevante As-
pekte des Unvollständigkeitserlebens bei
Zwangserkrankungen (Gefühle der Unvoll-
ständigkeit bezogen auf die eigene Person,
„Nicht-genau-richtig-Erleben“ und „Noch-
nicht-Abschließbarkeit“ von Handlungen/
Wahrnehmungen, kompensatorischer „Just-
right-Drang“) und gibt einen Überblick
über empirische Befunde und wichtige For-
schungsthemen (Häufigkeit, Vorkommen bei
unterschiedlichen symptombasierten Sub-
typen, motivationsbezogene Binnenhetero-
genität der Subtypen, Schadensvermeidung
und Unvollständigkeit als Kerndimensionen
der Zwangsstörung, empfindungsbasierter
Perfektionismus, Beziehung zum Tic-bezoge-
nen Zwangsphänotyp, zu dissoziativen Pro-
zessen und speziell Depersonalisation/Dere-
alisation). Neurobiologische Erklärungsan-
sätze, Versuche der biographischen Rekons-
truktion und therapeutische Behandlungs-
ansätze werden kurz skizziert. Es wird betont,
dass auf Zwänge als Angststörungen zuge-
schnittene kognitiv-behaviorale Verfahren
für die Behandlung „unvollständigkeitsmo-
tivierter“ Zwänge erheblich modifiziert wer-
den müssen.
Schlüsselwörter
Unvollständigkeitserleben · Zwangserkran-
kung · Subtypen · Ätiologische Hypothesen ·
Behandlungsansätze
The feeling of incompleteness. Rediscovery of an old
psychopathological symptom of obsessive-compulsive disorder
Summary
This paper describes clinically relevant as-
pects of incompleteness experiences in ob-
sessive-compulsive disorder (OCD) (feel-
ings of incompleteness concerning the self,
“not just right” experiences and inability to
achieve “closure” concerning actions/percep-
tions, compensatory urge to achieve “just
right” feelings) and reviews empirical results
and important research areas (frequency, as-
sociation with symptom-based subtypes,
motivational heterogeneity within subtypes,
harm avoidance and incompleteness as basic
OCD elements, sensation-based perfection-
ism, and relation to tic-related OCD and dis-
sociative processes, especially depersonalisa-
tion/derealisation). Neurobiological explana-
tions, biographical reconstruction, and treat-
ment approaches are briefly summarised.
It is emphasised that cognitive-behavioural
methods tailored to OCD as an anxiety dis-
order must be modified considerably for the
treatment of incompleteness-motivated OCD.
Keywords
Incompleteness · Obsessive-compulsive dis-
order · Subtypes · Etiological hypotheses ·
Treatment approaches
3Der Nervenarzt X · 2006
|
vierter Fälle aus, während furchtbezogene
Kognitionen eher selten seien.
Schadensvermeidung
und Unvollständigkeit als
Kerndimensionen
Die klinischen Beobachtungen zur „Bin-
nenheterogenität“ symptombasierter Sub-
typen legen es nahe, jenseits einer Typisie-
rung über „Leitsymptome“ übergreifende
„Kerndimensionen“ der Zwangsstörung
anzunehmen, die unterschiedliches Erle-
ben bei gleichem offenem Zwangsverhal-
ten berücksichtigen [33], z. B. den Herd
kontrollieren, bis es sich „genau richtig“
anfühlt, vs. um die Gefahr eines Haus-
brands abzuwenden. So nehmen Sum-
merfeldt et al. [50] in Anlehnung an ein
älteres Modell [28] eine angstnahe, über-
triebenes Vermeiden potenzieller Risiken
betonende Dimension „Schadensvermei-
dung“ („harm avoidance“) und eine Di-
mension „Unvollständigkeit“ („incomple-
teness“) an. Zwänge dienen demnach ent-
weder mehr der Abwehr von Gefahren
und Angst oder mehr der Reduktion/Be-
seitigung von Unvollständigkeits- und
Nicht-genau-richtig-Erleben. Diese kli-
nisch sinnvoll erscheinenden Dimensi-
onen sind empirisch kaum überprüft. Es
bleibt abzuwarten, ob sie sich tatsächlich
als unabhängig erweisen und ob sie nicht
durch weitere Motive wie Reduktion von
Ekel [23, 24], Schuldgefühlen etc. ergänzt
werden müssen.
Die Arbeitsgruppe um Summerfeldt
versucht, mit einem bidimensionalen
Fragebogen, dem OC-TCDQ [48] so-
wohl Schadensvermeidung als auch Un-
vollständigkeit zu erfassen. Erste empi-
rische Befunde mit diesem Instrument
zeigen, dass bei unvollständigkeitsbe-
tonten Zwängen im Vergleich zu primär
schadensvermeidenden Zwängen ver-
mehrt zwanghafte Persönlichkeitszüge
(z. B. Perfektionismus), kognitive Merk-
male wie Entscheidungsschwierigkeiten
und komorbide Zwangsspektrumsstörun-
gen vorliegen [46, 47].
Bei Zwangskranken geht es also nicht
immer um die Furcht, dass bei Unterlas-
sen einer Zwangshandlung katastrophale
Konsequenzen drohen, und auch das Er-
leben von Angst wird nicht selten gänz-
lich negiert. So berichtet einer unserer
Patienten mit Waschzwängen, er wieder-
hole Waschhandlungen nicht zur Angst-
reduktion, sondern ausschließlich, weil er
sich sogar nach exzessivem Waschen nicht
„vollständig sauber“ fühle. In einer Studie
von Tolin et al. [55] berichten 40% der
Zwangskranken von Unbehagen als ein-
ziger Konsequenz eines Verzichts auf Aus-
führung ihrer Rituale. Vermutlich handelt
es sich in einem beträchtlichen Teil dieser
Fälle um Betroffene, die vorwiegend unter
Unvollständigkeitsgefühlen leiden.
Empfindungsbasierter
Perfektionismus
Coles et al. [5] konzipieren NJREs als
auf Sinneserfahrungen bezogenen oder
„empfindungsbasierten“ Perfektionismus
(„sensation-based perfectionism“). Frost
et al. [14] vermuten, dass ein solcher sen-
sorischer Perfektionismus sozusagen ei-
ne zwangsstörungsspezifische Variante
von Perfektionismus darstellen könnte. In
Übereinstimmung mit dieser Hypothese
sind überwiegend unvollständigkeitsmo-
tivierte Betroffene perfektionistischer als
überwiegend schadensvermeidungsmoti-
vierte [48].
Bezug zum „Tic-bezogenen
Zwangsphänotyp“
Es gibt Hinweise darauf, dass in der Kind-
heit beginnende Zwänge genetisch, neu-
robiologisch und phänomenologisch stär-
ker mit Tic-Störungen und dem Touret-
te-Syndrom verwandt sind als im Erwach-
senenalter beginnende Zwänge [4, 11, 29,
34, 35, 40]. Bei diesem sog. „Tic-bezoge-
nen Zwangsphänotyp“ sind früher Beginn
der Störung und in manchen Studien auch
männliches Geschlecht überrepräsen-
tiert. Zwangshandlungen, die bis zum Er-
reichen eines Just-right-Gefühls wieder-
holt werden (analog zur „Nachbesserung“
des Bewegungsmusters bei Tics, bis dieses
sich „genau richtig“ anfühlt), scheinen ge-
häuft aufzutreten [41]. Die empirischen
Befunde sind jedoch nicht eindeutig: So
fanden Miguel et al. [34] fast dreimal so
häufig NJREs bei PatientInnen mit ko-
morbider Tourette-Störung (in 90% der
Fälle) als bei solchen mit Zwängen allein
(35%), während Leckman et al. [27] bezüg-
lich des Just-right-Drangs keine Unter-
schiede zwischen Zwängen mit Tic-bezo-
gener Komorbidität (Tourette oder chro-
nische motorische Ticstörung) und Zwän-
gen ohne diese Komorbidität feststellten.
Nach Summerfeldt [51] sind intensivere/
häufigere Unvollständigkeitsgefühle mit
früherem Störungsbeginn korreliert.
Unvollständigkeitsgefühle
und dissoziative Prozesse
Ungeklärt ist auch, inwieweit selbstbezo-
gene Unvollständigkeitsgefühle bei Zwän-
gen mit Depersonalisations- und Derea-
lisationserleben zusammenhängen. Es
könnte sinnvoll sein, Unvollständigkeits-
gefühle als zwangsspezifische Ausprä-
gungsform von Depersonalisationserle-
ben zu konzeptualisieren. Interessanter-
weise wird in Publikationen, die sich mit
dissoziativen Prozessen und Depersona-
lisation/Derealisation bei Zwangserkran-
kungen befassen, in keiner Weise auf Un-
vollständigkeitsgefühle oder Just-right-
Phänomene Bezug genommen.
Zur Datenlage: Lochner et al. [31] fin-
den in einer Stichprobe Zwangserkrank-
ter einen Anteil von 15,6% mit hohen Dis-
soziationswerten (bei 6% sind die Krite-
rien für eine komorbide Depersonalisa-
tionsstörung erfüllt), Goff et al. [15] so-
gar einen Anteil von 20%. Die ermit-
telten Auftretenshäufigkeiten komorbi-
der Zwangsstörungen bei Vorliegen ei-
ner Depersonalisationsstörung liegen bei
8,5% [44] bzw. 16% [1]. Baker et al. [1] ver-
muten, dass Kontrollzwänge einen Ver-
such der Bewältigung von Depersonali-
sationserleben darstellen könnten. Dar-
über hinaus scheint die Dissoziationsnei-
gung je nach Zwangssubtyp zu differieren:
So finden Lochner et al. höhere Dissozia-
tionsscores bei Betroffenen mit Symmet-
rie-, Ordnungs- und Zählzwängen als bei
Zwangskranken ohne diese Symptome. In
der Studie von Grabe et al. [16] korreliert
die Dissoziationsneigung mit Kontroll-
, Ordnungs- und Symmetriezwängen,
nicht aber mit Wasch- und Reinigungs-
zwängen, Zähl- und Berührungszwängen
sowie aggressiven Zwangsgedanken.
Insgesamt ist noch völlig offen, ob es
sich beim Unvollständigkeitserleben und
dissoziativen Prozessen, insbesonde-
re Depersonalisation/Derealisation, bei
Zwangskranken um verwandte psycho-
4
|
Der Nervenarzt X · 2006
Aktuelles
pathologische Phänomene handelt, even-
tuell mit analogen subtypbezogenen Häu-
fungen.
Ätiologische Hypothesen
Nach Summerfeldt [51] resultieren Un-
vollständigkeitsgefühle aus einem Defi-
zit in der Fähigkeit, emotionale Erfah-
rung und sensorisches Feedback zur Ver-
haltenssteuerung zu nutzen bzw. aus einer
Fehlfunktion eines internen Signals, wel-
ches normalerweise Verhalten durch Pro-
duktion eines „Wissensgefühls“ („feeling
of knowing“, [37]) beendet. Aufgrund die-
ser „basalen sensorisch-affektiven Dys-
funktion“ werden kontinuierlich Fehler-
signale produziert, die eine Beendigung
von Zwangshandlungen erschweren [51].
Es wird vermutet, dass diese „mismatch si-
gnals“, die subjektiv als NJREs erlebt wer-
den, auf neurobiologischer Ebene über das
anteriore Zingulum [6] bzw. den präfron-
talen Kortex [20] vermittelt werden. Ein
elaborierteres, noch spekulatives neuro-
biologisches Erklärungsmodell skizzieren
Szechtman und Woody [52], die im Kern
ebenfalls ein basales Defizit des emotions-
basierten Wissens annehmen.
Nach Hoffmann entwickeln sich Un-
vollständigkeitsgefühle biographisch als
unmittelbare Folge starker, verwirrender,
„stecken bleibender“, nicht vollstän-
dig ausgedrückter Gefühle. Klinisch fin-
det er häufig eine solche „Konfusion und
Implosion der Gefühle“ zu Beginn einer
Zwangssymptomatik ([24], S. 157/158). Ein
angemessener Ausdruck dieser Gefühle
und ihre lösungsorientierte Verarbeitung
seien aufgrund defizitärer innerer Regu-
lationsmechanismen und/oder fehlender
sozialer Unterstützung nicht möglich,
stattdessen werde eine „Desintegration
des Selbst“ mit Unvollständigkeitsgefüh-
len, Depersonalisations- und Derealisati-
onsempfindungen erlebt. In der kompen-
satorischen Suche nach Halt nähmen die
Betroffenen Zuflucht zu einer „externalen
Regulierung“ ihres inneren Gefühlschaos.
Die Aufmerksamkeit richte sich auf De-
tails der Außenwelt (z. B. Silberfische bei
einem Reinigungszwang), an denen „das
Böse“ symbolisch dingfest gemacht wer-
de. Danach könne dann durch Einhalten
einfacher Zwangsregeln (z. B. Entfernen
von Silberfischen) eine kurzfristige Pseu-
dokontrolle der Innenwelt erreicht wer-
den.
Therapeutische Ansätze
Medikamentöse Behandlung
Studien, die direkt pharmakotherapeu-
tische Effekte auf Unvollständigkeitsge-
fühle bei Zwängen untersuchen, liegen
unseres Wissens nicht vor. Dass der Tic-
bezogene Zwangsphänotyp, bei dem Un-
vollständigkeitsgefühle eventuell häufiger
Teil der Symptomatik sind, besser auf eine
Kombination von SSRIs und Neuroleptika
anspricht als auf SSRIs allein, ist empirisch
noch nicht ausreichend belegt [33].
Kognitiv-verhaltensthera-
peutische Verfahren
Die gängigen kognitiv-behavioralen Ver-
fahren sind auf Zwänge als Angststörung
zugeschnitten. Es verwundert daher nicht,
dass ein hohes Angstniveau im Hinblick
auf die Behandlung von Zwängen als pro-
gnostisch günstig gilt [26] und dass Be-
troffene, die keine befürchteten Konse-
quenzen bei Unterlassen der Zwangs-
handlung angeben, schlechtere Behand-
lungsergebnisse erzielen (45% vs. 69%
Symptomreduktion) als solche, die Katas-
trophenbefürchtungen angeben [13]. Dies
wird damit begründet, dass bei Vorliegen
spezifischer befürchteter Konsequenzen
die Widerlegung entsprechender Erwar-
tungen durch Exposition einen zusätz-
lichen Wirkfaktor neben der Habituati-
on darstellt.
Es gibt erst wenige Überlegungen und
abgesehen von einer Fallstudie [51] keine
empirischen Befunde zu Modifikationen
kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ver-
fahren für vorwiegend unter Unvollstän-
digkeitsgefühlen leidende Zwangskranke.
Aufgrund klinischer Erfahrungen wird die
Frage aufgeworfen, ob es sich bei NJREs
um einen negativen Erfolgsprädiktor für
Verhaltens- und Pharmakotherapie han-
deln könnte [6]. Nach Summerfeldt [51]
eignet sich Exposition und Reaktionsver-
hinderung mit dem Ziel der Habituation
zwar eher zur Reduktion von Unvollstän-
digkeitsgefühlen als konventionelle ko-
gnitive Therapie, führt aber zu insgesamt
bescheidenen langfristigen Behandlungs-
ergebnissen. In Anlehnung an den biobe-
havioralen Ansatz [43] empfiehlt sie als er-
gänzendes Behandlungselement, Betrof-
fene bei der emotionalen Distanzierung
von ihren Zwängen zu unterstützen, in-
dem sie angeleitet werden, Unvollständig-
keitsgefühle konsequent als Zwangsphä-
nomene einzuordnen (Relabeling) und
auf „falsche Botschaften des Gehirns“ zu-
rückzuführen (Reattribution). Ihrer skep-
tischen Bewertung traditioneller kogni-
tiver Methoden im Hinblick auf Unvoll-
ständigkeitsgefühle ist zuzustimmen: Es
macht wenig Sinn, an überhöhten Verant-
wortlichkeitsüberzeugungen oder Wahr-
scheinlichkeitsschätzungen anzusetzen,
wenn bei den Betroffenen entsprechende
Befürchtungen fehlen.
Exposition mit Anleitung zur
Subjektkonstituierung
In Deutschland liegt mit der „Exposition
mit Anleitung zur Subjektkonstituierung“
von Hoffmann und Hofmann [23, 24] ein
innovativer, aber international kaum rezi-
pierter und noch nicht empirisch evalu-
ierter Behandlungsansatz vor, der „sub-
jektkonstituierende“ Hilfen zum Abbau
von Unvollständigkeitsgefühlen anbie-
tet, statt nur auf Habituationsprozesse
zu vertrauen. Die Betroffenen werden in
zwangsrelevanten Situationen angeleitet
und unterstützt, sich aus der mit Unvoll-
ständigkeitsgefühlen verbundenen „De-
personalisationstrance“ zu lösen. Sie sol-
len wieder „stärker zum Subjekt kritischer
Situationen“ werden und befähigt werden,
im Moment des Handelns emotional, vo-
litional, konzentrativ, vom Körpergefühl
her und energetisch wieder „voll da“ zu
sein. Hierzu werden vielfältige Übungen
durchgeführt, die eine vollständige Prä-
senz und Wachheit des eigenen Ichs in der
Situation fördern. So wird volles emotio-
nales Erleben evoziert, z. B. indem Betrof-
fene dazu motiviert werden, sich intensiv
über den Zeitverlust durch die Zwänge zu
ärgern oder sich bewusst über eine ange-
nehme Unternehmung, etwa nach Verlas-
sen des Hauses ohne Kontrollen, zu freu-
en. Die volitionale Handlungssteuerung
wird durch klare Selbstinstruktionen ge-
stärkt, die vom Zwang bislang „verschüt-
tete“ Bedürfnisse betonen. Die Betrof-
fenen lernen wieder, sich einen bewussten
5Der Nervenarzt X · 2006
|
Situationsüberblick zu verschaffen (Einü-
ben der sog. „Freeze-Funktion“). Hinzu
kommen körperbezogene Übungen zur
„Erdung“ und zum Erleben von Körper-
integrität (z. B. bewusstes Herstellen von
Bodenkontakt, Sichaufrichten). Nützlich
bei Kontrollzwängen ist auch eine Fokus-
sierung auf motorisch-kinästhethische
Rückmeldungen, d. h. auf das eigene Kör-
pergefühl während der Handlungsausfüh-
rung (zunächst mit geschlossenen Augen
und in Zeitlupe) [9]. Außerdem wird ei-
ne zügige, flüssige, energische Handlungs-
durchführung eingeübt, um zwangsty-
pische Fragmentierungen des Handlungs-
ablaufs zu überwinden. Schließlich lassen
sich auch viele Achtsamkeitsübungen aus
anderen therapeutischen Ansätzen (z. B.
[19, 29]) gut zur Förderung der Subjekt-
konstituierung nutzen.
Ziel der skizzierten Übungen ist eine
Verbesserung des Selbsterlebens als Hand-
lungssubjekt, um hierdurch die Informa-
tionsverarbeitung bereits bei der ersten
Handlungsdurchführung so zu optimie-
ren, dass sich Handlungswiederholungen
erübrigen. Die Handlung wird emotio-
nal, volitional, konzentrativ und bezogen
auf das Körpergefühl „vollständiger“ en-
kodiert, ihr wird wieder der „persönliche
Stempel“ aufgedrückt. Dies führt auch ge-
dächtnisbezogen zu größerer Handlungs-
sicherheit [9].
Häufig gelingt es, Betroffenen den Be-
zug ihrer Unvollständigkeitsgefühle zu
für die Symptomentwicklung entschei-
denden, oft nur während der Exposition
„zustandsabhängig abrufbaren“ biogra-
phischen Episoden erlebnisnah zu ver-
deutlichen, indem man während der Kon-
frontation mit zwangsauslösenden Stimuli
bei vertiefter Exploration des Unvollstän-
digkeitserlebens auftauchende Erinne-
rungen aufgreift [8, 9, 22]. Hier ein Bei-
spiel einer solchen biographischen Ein-
ordnung von Unvollständigkeitsgefühlen
([25], S. 158):
Frau W. berichtet über ihre Reaktion
auf den Bruch mit dem Freund:
„Ich verstand lange Zeit nicht, was mir wi-
derfahren war. Ich war so gedemütigt und
verletzt worden, konnte aber keine innere
Energie mobilisieren, um mich zur Wehr
zu setzen oder um mich wieder selbst
zu finden. Alles war so anders gewor-
den, auch die Dinge des täglichen Lebens.
Mein Zustand war ungefähr so: Ich war
wie eine Hülle, die herumläuft, ein Ro-
boter; mein Selbst war so klein, ich spür-
te mich gar nicht richtig. Mir war so, als
würde ein großes Stück von mir fehlen.“
Vom Unvollständigkeitsgefühl in rele-
vanten biographischen Episoden ist es ex-
plorativ nur noch ein kleiner Schritt hin
zur vorausgegangenen Konfusion und
Implosion der Gefühle, auf deren voll-
ständigen Ausdruck und Integration nun
hingearbeitet werden kann. Nicht selten
kommt es zu einer „kathartischen Entblo-
ckung“ [17] mit hoher emotionaler Beteili-
gung. Danach wird bezogen auf den sonst
zwangsauslösenden Stimulus gewöhnlich
ein steiler, diskontinuierlicher Abfall der
Habituationskurve erlebt [9]. So gesehen
ist das Unvollständigkeitsgefühl ein durch
zwangsbezogene Auslöser regelhaft akti-
vierbares Erinnerungsfragment, welches
es zu vollständigen biographischen Episo-
den zu ergänzen gilt. Sind dann entspre-
chend „affektgeladene Szenen“ wiederer-
lebt und rekonstruiert worden, können
Betroffene zusätzlich angeleitet werden,
in Expositionssituationen die „passenden“
biographischen Szenen zu assoziieren und
so den ausgelösten Affekt „dorthin einzu-
ordnen, wo er seinen Ursprung hat und in
Wirklichkeit hingehört“ ([24], S. 180).
Fazit
Unvollständigkeitsgefühle bezogen auf
die eigene Person, ein Nicht-genau-rich-
tig-Erleben eigener Handlungen und
Wahrnehmungen und ein kompensa-
torischer Just-right-Drang sind häufige
psychopathologische Phänomene bei
Zwangserkrankungen, die seit langem
bekannt, aber noch wenig erforscht sind.
Zu unserem Bedauern finden sie bislang
in den diagnostischen Klassifikations-
systemen keine Berücksichtigung, ob-
wohl quälendes Unvollständigkeitserle-
ben (bei z. T. fehlenden Angstgefühlen
und Katastrophenbefürchtungen) häufig
einen integralen Bestandteil der Symp-
tomatik bildet. Es korreliert positiv mit
der Symptomintensität und findet sich
bei unterschiedlichen symptombasier-
ten Subtypen, wobei noch keine hinrei-
chenden Belege für eine verstärkte Asso-
ziation mit bestimmten Leitsymptomen
vorliegen. Erste Hinweise gibt es für eine
Korrelation mit frühem Störungsbeginn,
für ein gehäuftes, aber keineswegs aus-
schließliches Vorkommen bei Tic-bezoge-
ner Komorbidität und für Just-right-Phä-
nomene auch im subklinischen Bereich.
Wertvolle Beiträge zum Verständnis lie-
fern das Konzept des „empfindungsba-
sierten Perfektionismus“, neurobiolo-
gische Erklärungsansätze und Versuche
der biographischen Rekonstruktion.
Die Reduktion/Beseitigung von Un-
vollständigkeitsgefühlen ist neben der
Angstreduktion und Schadensvermei-
dung ein Hauptmotiv zur Ausführung
von Zwängen. Da gängige kognitiv-be-
haviorale Verfahren stark auf Zwänge
als Angststörungen zugeschnitten sind,
müssen sie für durch Unvollständigkeits-
gefühle motivierte Zwänge erheblich
modifiziert werden. Ein innovativer Vor-
schlag hierzu ist die Exposition mit An-
leitung zur Subjektkonstituierung, deren
Evaluation allerdings noch aussteht.
Korrespondierender Autor
Dr. W. Ecker
Psychosomatische Fachklinik, Institut für Fort-
und Weiterbildung in klinischer Verhaltensthe-
rapie e.V.
Kurbrunnenstraße 21a, 67098 Bad Dürkheim
dw-ecker@gmx.de
Interessenkonflikt. Es besteht kein Interessenkon-
flikt. Der korrespondierende Autor versichert, dass kei-
ne Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in
dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Kon-
kurrenzprodukt vertreibt, bestehen. Die Präsentation
des Themas ist unabhängig und die Darstellung der In-
halte produktneutral.
Literatur
1. Baker D, Hunter E et al. (2003) Depersonalisation
disorder: clinical features of 204 cases. Br J Psychia-
try 182:428–433
2. Calamari JE, Wiegartz PS, Janeck AS (1999) Ob-
sessive compulsive disorder subgroups: a symp-
tom-based clustering approach. Behav Res Ther
37:113–125
3. Calamari JE, Wiegartz PS, Riemann BC et al. (2004)
Obsessive-compulsive disorder subtypes: an att-
empted replication and extension of a symptom-
based taxonomy. Behav Res Ther 42:647–670
4. Chabane N, Delorme R, Millet B et al. (2005) Early-
onset obsessive-compulsive disorder: a subgroup
with a specific clinical and familial pattern? J Child
Psychol Psychiatry 46:881–887
5. Coles ME, Frost RO, Heimberg RG et al. (2003) “Not
just right experiences”: perfectionism, obsessive-
compulsive features and general psychopatholo-
gy. Behav Res Ther 41:681–700
6
|
Der Nervenarzt X · 2006
Aktuelles
6. Coles ME, Heimberg RG, Frost RO et al. (2005) Not
just right experiences and obsessive-compulsive
features: experimental and self-monitoring per-
spectives. Behav Res Ther 43:153–167
7. Denys D, de Geus F, van Megen HJGM et al. (2004)
Use of factor analysis to detect potential pheno-
types in obsessive-compulsive disorder. Psychiatry
Res 128:273–280
8. Ecker W (2005) Therapeutische Fehler und Misser-
folge in der kognitiv-behaviouralen Therapie von
Zwangserkrankungen aus der Perspektive der kli-
nischen Praxis. Verhaltenstherapie & Verhaltens-
medizin 26:239–260
9. Ecker W, Kraft S (2005) Psychoedukation in der
Verhaltenstherapie der Zwangsstörung. In: Beh-
rendt B, Schaub A (Hrsg) Handbuch Pychoeduka-
tion und Selbstmanagement. Verhaltenstherapeu-
tische Ansätze für die klinische Praxis. dgvt-Verlag,
Tübingen
10. Ecker W, Gönner S (2005) Verfahren zur Erfassung
von Unvollständigkeitsgefühlen und „Nicht-ge-
nau-richtig-Erleben“. Unveröffentlichtes Manusk-
ript
11. Eichstedt JA, Arnold SL (2001) Childhood-onset
obsessive-compulsive disorder: a tic-related sub-
type of OCD? Clin Psychol Rev 21:137–157
12. Feinstein SB, Fallon BA, Petkova E et al. (2003)
Item-by-item factor analysis of the Yale-Brown Ob-
sessive-Compulsive Scale Symptom Checklist. J
Neuropsychiatry Clin Neurosci 15:187–193
13. Foa EB, Abramovitz JS, Franklin ME et al. (1999)
Feared consequences, fixity of belief, and treat-
ment outcome in patients with obsessive-compul-
sive disorder. Behav Ther 30:717–724
14. Frost RO, Novara C, Rhéaume J (2002) Perfection-
ism in obsessive-compulsive disorder. In: Frost RO,
Steketee G (eds) Cognitive approaches to obsessi-
ons and compulsions. Pergamon, London
15. Goff DC, Olin JA, Jenike MA et al. (1992) Dissociati-
ve symptoms in patients with obsessive-compul-
sive disorder. J Nerv Ment Dis 180:332–337
16. Grabe HJ, Goldschmidt F, Lehmkuhl L et al. (1999)
Dissociative symptoms in obsessive-compulsive
dimensions. Psychopathology 32:319–324
17. Hand I (1993) Expositions-Reaktions-Management
(ERM) in der strategisch-systemischen Verhaltenst-
herapie. Verhaltenstherapie 3:61–65
18. Heidenreich T, Michalak J (Hrsg) (2004) Achtsam-
keit. dgvt-Verlag, Tübingen
19. Heim G, Bühler KE (2003) Pierre Janet: Ein Fall für
die moderne Verhaltenstherapie? Verhaltensthera-
pie & Verhaltensmedizin 24:205–224
20. Hoehn-Saric R, Greenberg BD (1997) Psychobiolo-
gy of obsessive-compulsive disorder: anatomical
and physiological considerations. Int Rev Psychia-
try 9:15–29
21. Hoffmann N (1998) Zwänge und Depressionen. Pi-
erre Janet und die Verhaltenstherapie. Springer,
Berlin Heidelberg New York
22. Hoffmann N, Foerster R (1987) Kognitive Therapie
bei Zwanghaften. Hypnose und Kognition 4:20–35
23. Hoffmann N, Hofmann B (2002) Expositionen mit
Anleitung zur Subjektkonstituierung. In: Ecker W
(Hrsg) Die Behandlung von Zwängen. Perspekti-
ven für die klinische Praxis. Huber, Bern
24. Hoffmann N, Hofmann B (2004) Expositionen bei
Ängsten und Zwängen. Praxishandbuch. Beltz
PVU, Weinheim
25. Janet P (1903) Les obsessions et la psychasthénie.
Alcan, Paris
26. Lakatos A, Reinecker H (1999) Kognitive Verhal-
tenstherapie bei Zwangsstörungen. Ein Therapie-
manual. Hogrefe, Göttingen
27. Leckman JF, Grice DE, Barr LC et al. (1995) Tic-rela-
ted vs. non-tic-related obsessive-compulsive disor-
der. Anxiety 1:208–215
28. Linehan MM (1996) Fertigkeitstraining für Border-
line-Störungen. CIP, München
29. Lochner C, Stein DJ (2003) Heterogeinity of obses-
sive-compulsive disorder: a literature review. Harv
Rev Psychiatry 11:113–132
30. Lochner C, Seedat S, Hemmings SMJ et al. (2004)
Dissociative experiences in obsessive-compulsive
disorder and trichotillomania: clinical and genetic
findings. Compr Psychiatry 45:384–391
31. Mataix-Cols D, do Rosario-Campos MC, Leckman
JF (2005) A multidimensional model of obsessive-
compulsive disorder. Am J Psychiatry 162:228–238
32. Mathews CA, Lang KL, Hami S et al. (2004) The
structure of obsessionality among young adults.
Depress Anxiety 20:77–85
33. McKay D, Abramovitz JS, Calamari JE et al. (2004) A
critical evaluation of obsessive-compulsive disor-
der subtypes: symptoms vs. mechanisms. Clin Psy-
chol Rev 24:283–313
34. Miguel EC, do Rosarios-Campos MC, Silva Prado
H et al. (2000) Sensory phenomena in obsessive-
compulsive disorder and Tourette’s disorder. J Clin
Psychiatry 61:150–156
35. Millet B, Kochman F, Gallarda T et al. (2004) Phe-
nomenological and comorbid features associated
with obsessive-compulsive disorder: influence of
age at onset. J Affect Disord 79:241–246
36. Radomsky AS, Rachman S (2004) Symmetry, or-
dering and arranging behaviour. Behav Res Ther
42:893–913
37. Rapoport JL (1991) Basal ganglia dysfunction as a
proposed cause of obsessive-compulsive disorder.
In: Carroll BJ, Barrett JE (eds) Psychopathology and
the brain. Raven Press, New York, pp 77–95
38. Rasmussen SA, Eisen JL (1992) The epidemiology
and differential diagnosis of obsessive-compulsive
disorder. J Clin Psychiatry 53:4–10
39. Reed GF (1991) The cognitive characteristics of ob-
sessional disorder. In: Magaro PA (ed) Cognitive
bases of mental disorders. Annual Review of Psy-
chopathology, vol 1. Sage Publications, London
40. Rosario-Campos MC, Leckman JF, Mercadante MT
et al. (2001) Adults with early onset obsessive-
compulsive disorder. Am J Psychiatry 158:1899–
1903
41. Rothenberger A (2002) Zwangsspektrumsstörun-
gen und die Bedeutung von Tics. In: Ecker W (Hrsg)
Die Behandlung von Zwängen. Perspektiven für
die klinische Praxis. Huber, Bern
42. Saß H, Wittchen H-U, Zaudig M et al. (2003) Dia-
gnostisches und Statistisches Manual Psychischer
Störungen–Textrevision–DSM-IV-TR. Hogrefe, Göt-
tingen
43. Schwartz JM (1999) A role for volition and attenti-
on in the generation of new brain circuitry: toward
a neurobiology of mental force. J Conscious Stud
6:115–142
44. Simeon D, Knutelska M, Nelson D et al. (2003) Fee-
ling unreal: a depersonalization disorder update of
117 cases. J Clin Psychiatry 64:990–997
45. Summerfeldt LJ, Richter MA, Antony MM et al.
(1999) Symptom structure in obsessive-compul-
sive disorder: a confirmatory factor-analytic study.
Behav Res Ther 37:297–311
46. Summerfeldt LJ, Richter MA, Antony MM et al.
(2000) Beyond types: examining the evidence for a
dimensional model of OCD. In: Pato MT (Chair) Ob-
sessive-compulsive disorder subtypes. Symposium
conducted at the 153rd Meeting of the American
Psychiatric Association, Chicago
47. Summerfeldt LJ, Antony MM, Swinson RP (2000)
Incompleteness: a link between perfectionistic
traits and OCD. In: Bieling PJ (Chair) Perfectionism
and psychopathology: linking personality and dys-
functional behavior. Symposium conducted at the
34th annual meeting of the Association for the Ad-
vancement of Behaviour Therapy, New Orleans
48. Summerfeldt LJ, Kloosterman PH, Parker JDA et
al. (2001) Assessing and validating the obsessive-
compulsive-related construct of incompleteness.
Poster presented at the 62nd annual convention of
the Canadian Psychological Association, Ste-Foy,
Quebec
49. Summerfeldt LJ (2002) Re: Bilsbury and others.
More on the phenomenology of perfectionism–in-
completeness. Can J Psychiatry 47:977–978
50. Summerfeldt LJ, Kloosterman PH, Antony MM
et al. (2004) The relationship between miscella-
neous symptoms and major symptom factors in
obsessive-compulsive disorder. Behav Res Ther
42:1453–1467
51. Summerfeldt LJ (2004) Understanding and trea-
ting incompleteness in obsessive-compulsive dis-
order. J Clin Psychol 40:1–14
52. Szechtman H, Woody E (2004) Obsessive-compul-
sive disorder as a disturbance of security motivati-
on. Psychol Rev 111:111–127
53. Tallis F (1996) Compulsive washing in the ab-
sence of phobic and illness anxiety. Behav Res Ther
34:361–362
54. Thordarson DS, Radomsky AS, Rachman S et al.
(2004) The Vancouver Obsessional Compulsive In-
ventory (VOCI). Behav Res Ther 42:1289–1314
55. Tolin DF, Abramovitz JS, Kozak MJ et al. (2001) Fi-
xity of belief, perceptual abberation, and magical
ideation in obsessive-compulsive disorder. J Anxi-
ety Disord 15:501–510
56. Watts FN (1995) An information-processing ap-
proach to compulsive checking. Clin Psychol Psy-
chother 2:69–77
7Der Nervenarzt X · 2006
|