Bildungserfolg und gesellschaftliche Positionierung sind vor allem in Deutschland eng mit der sozialen Herkunft verknüpft (Ehmke & Jude, 2010; Faller, 2019; OECD, 2021; Shavit et al., 1998). Als eine Maßnahme zur Reduktion solcher herkunftsbedingten Unterschiede wurden wiederholt ganztägige Betreuungsformen diskutiert, die erhoffte "homogenisierende Wirkung der Schule" (Bourdieu & Passeron, 1971, S. 28) aber nur selten differenziert untersucht (Fischer & Kielblock, 2022; Linberg et al., 2018; Steinmann et al., 2019). Klassischen theoretischen Ansätzen (Bourdieu, 2012; Bourdieu & Passeron, 1971; Coleman, 1966, 1988) und empirischen Befunden (Fend, 1981; Hattie, 2009) folgend, wird die Internalisierung kulturellen Kapitals oftmals durch die in unterschiedlichen Bildungskontexten (z.B. Schule, Hort, Elternhaus) verbrachte Zeit operationalisiert. Ebenso wichtig erscheinen jedoch die Qualität und Intensität dort stattfindender Aktivitäten und Interaktionen (Bourdieu, 2012; Coleman, 1988; Steinmann et al., 2019). Ziel unseres Beitrags ist daher, den in hierzu bislang vorliegenden Forschungsarbeiten reduzierten Fokus auf rein zeitliche und linear angenommene Kompensationseffekte von Beschulungs- bzw. Betreuungsangeboten (Bos et al., 2010; Steinmann et al., 2019) auf die Kompetenzentwicklung von Schüler:innen um Aspekte der Betreuungsqualität und -intensität zu erweitern.
Die soziale Herkunft, d.h. vor allem die damit assoziierten ökonomischen und kulturellen Ressourcen, bildet ein zentrales und zugleich vielschichtiges Konzept in der empirischen Bildungsforschung (Breen et al., 2012; Marks & O’Connell, 2021; Müller & Gangl, 2006; Sirin, 2005). Der elterliche Bildungsstand und sozioökonomische Status gelten, auch durch einschlägige Forschungsempfehlungen (APA, 2007; OECD, 2018; Reiss et al., 2019; U.S. Department of Education, 2012), als die wohl meistverwendeten Kontrollvariablen der Bildungsforschung (Breen & Jonsson, 2005; Sirin, 2005; Thomson, 2018). Die entsprechende Modellauswahl folgt dagegen eher einer "Mimikry bisher veröffentlichter Werke" (Thaning & Hällsten, 2020, S. 536) als einer expliziten methodischen Diskussion (Bukodi & Goldthorpe, 2013; Lee et al., 2019; Ludwig-Mayerhofer et al., 2020; Meraviglia & Buis, 2015). Dabei kann die Operationalisierung von "Hintergrundvariablen" (Schneider, 2016, S. 41) einen erheblichen Einfluss auf die Resultate einer Hauptuntersuchung haben (Burnham et al., 2002; Harwell et al., 2017; Blossfeld, 2019).
Unser Beitrag zeigt anhand longitudinaler Daten aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS, Startkohorte 2; Artelt & Sixt, 2023; Blossfeld & Roßbach, 2019), dass die Entwicklung mathematischer Kompetenzen von Grundschulkindern sowohl mit den bereits zu Beginn der Schulzeit unterschiedlichen Kompetenzniveaus (β=0.55; p<0.01; R²=0.20) als auch mit den ökonomischen Ressourcen (β=0.27; p<0.01; R²=0.07) und dem Bildungshintergrund der Eltern (=0.2<β<0.50; p<0.01; R²=0.08) einerseits zusammenhängt, andererseits aber auch komplex und nicht-linear interagiert. Die Modellanpassungsgüte und Effektstärken unterscheiden sich daher deutlich zwischen den, nach Kompetenzniveau und sozialer Herkunft differenzierten, Untersuchungsgruppen (0.12≤β≤0.38; p<0.05; 0.01≤R²≤0.40).
Die in diesem Beitrag präsentierten Teilergebnisse aus dem DFG-Projekt [Anonymisiert] können so teilweise die gesellschaftlich erhofften, kompensatorischen Effekte von Schule belegen. Daneben finden sich aber auch verstärkende, oft als „Matthäus-Effekt“ (Merton, 1988) zusammengefasste, Einflüsse qualitativ unterschiedlicher Betreuungsformen. Die Wirkung von Ganztagsbeschulung, Hortbetreuung oder auch einfacher Mittagsbetreuung variiert zudem abhängig vom Kompetenzniveau und der sozialen Herkunft der Grundschulkinder. Schon zu Beginn der Schulzeit unterdurchschnittlich kompetente Schüler:innen mit niedriger sozialer Herkunft zeigen bis zum Ende der Grundschulzeit kaum Veränderungen in den Kompetenzen relativ zur Gesamtkohorte, während Schüler:innen hoher sozialer Herkunft deutlich aufholen. Demgegenüber können anfänglich überdurchschnittlich kompetente Kinder hoher sozialer Gruppen ihr Niveau über die Grundschulzeit halten, während sich bei Schüler:innen mit niedriger sozialer Herkunft im gleichen Zeitraum der Kompetenzvorsprung deutlich verringert.
Unser Beitrag zeigt, dass eine parametrisch nicht-lineare Modellierung des kulturellen und ökonomischen Hintergrunds theoretisch und methodisch notwendig ist, um hierbei relevante Wirkmechanismen herausstellen und differenzielle Effekte unterschiedlicher Betreuungsformen auf die herkunftsspezifische Kompetenzentwicklung im Zeitverlauf nachweisen zu können. Dadurch gelingt es nicht nur, die entsprechenden Bildungs- und Selektionsprozesse besser zu verstehen. Vielmehr geben unsere Befunde auch Hinweise darauf, gezielt Partizipationsprozesse anzustoßen und Bildungsangebote so zu gestalten, dass herkunftsbedingten Bildungsungleichheiten entgegengewirkt werden kann.