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Artikel
Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung
Eine empirische Studie in drei Ländern
von Karl-Ludwig Kunz und Henriette Haas
Zusammenfassung
Die Studie stellt einen Beitrag zur empirischen Rechtsvergleichung dar, indem sie Einflüsse auf die straf-
gerichtliche Tatsachenermittlung für Schuld- oder Freispruch in den drei deutschsprachigen Nationen
prüft. Mittels eines hypothetischen Modells werden mögliche Einflüsse auf die richterliche Überzeu-
gungsbildung abgebildet und deren Vorkommen und Zusammensetzung in einer Stichprobe von
75 Strafrichterinnen und -richtern aus den drei Ländern geprüft. Gefragt wurde nach den drei letzten
Fällen aus ihrer Praxis. Auf diese Weise konnte eine repräsentative Zufallsauswahl von 225 Urteilen
betreffend Straftaten einer gewissen Schwere aus dem Bereich des Kernstrafrechts gewonnen werden.
Untersucht wurden die Zusammenhänge zwischen objektiven und subjektiven Beweismitteln und ihre
belastende oder entlastende Beweisrichtung. Erhoben wurde ferner das Ausmaß unmittelbarer Beweis-
erhebung durch Befragung sowie die Art und Intensität der Protokollierung von Aussagen. Von Inte-
resse waren weiter Einflüsse der Aussagebereitschaft des Angeklagten und Änderungen der Verteidi-
gungsstrategie auf den Verfahrensausgang sowie die Einflüsse bürokratischer Zwänge und der Medien-
resonanz auf die Urteilsfindung. Schließlich interessierten die Aussageprotokolle und ihre relative
Aussagekraft sowie die Selbsteinschätzung der Wahrheitswahrscheinlichkeit der getroffenen Urteile
durch die Urteilenden.
Schlüsselwörter: Gerichtliche Urteilsbildung, Beweismittel, Beweisrichtung, Unmittelbarkeit, Proto-
kollierung, Aussagebereitschaft, Verteidigungsstrategie, Selbsteinschätzung der Wahrheitswahrschein-
lichkeit
Influences on the Formation of Judicial Opinion in Criminal Trials
An empirical study on the situation in three German speaking countries
Abstract
This study contributes to empirical research on comparative justice by conducting a survey on judicial
reasoning to help determine relevant factors that contribute to a conviction or an acquittal in criminal
courts. The study assessed the situation in Europe’s three German speaking countries. Potential influ-
ences on the judges’ logical reasoning processes were integrated in a hypothetical model. A questionnaire
concerning the judges’ three last trials with a fixed minimum level of offense severity (misdemeanors and
minor offenses were excluded) was answered by 75 criminal court judges. A random sample of 225 trial
cases was thus obtained. Correlations between objective and subjective means of evidence were exami-
ned in both directions, that is, for convictions and acquittals. Also, the degree to which the principle of
immediacy was applied in court, as well as the transcription style of the interviews was registered. Fur-
thermore, the study examined the indicted subjects’ willingness to give testimony and their defense
strategies. Potential external influences on the judicial reasoning process were also considered, such as
the media and/or bureaucratic constraints. Finally, the study compared the verdict with the judges’ es-
timations of its statistical accuracy.
Keywords: Formation of judgment, evidence, burden of proof, immediacy, documentation of testimo-
nies, willingness to testify, defense strategies, self-assessment of the probability of truth
1. Einleitung
Ein zentrales Problem der Rationalität strafrechtlichen Urteilens ergibt sich aus der Diskre-
panz zwischen Herstellung und Darstellung des Strafurteils. Die nach der Urteilsfindung
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012158
getroffenen Darstellungen der Entscheidung bringen die authentischen Überlegungen bei
der Herstellung der Entscheidung nicht unbedingt zum Ausdruck. Eine zu erwartende Dis-
krepanz zwischen Darstellung und Herstellung ist jedoch nicht aufzudecken, da die Kon-
trollmöglichkeiten sich auf die Darstellungsebene beschränken. Darum besteht bezüglich
des bisher weitgehend als Black Box erscheinenden Herstellungsprozesses des strafrechtli-
chen Urteilens ein Bedarf nach empirischer Forschung. Die vorliegende Studie trägt dazu
bei, indem sie die für Schuld- oder Freispruch relevante gerichtliche Tatsachenfeststellung in
der Hauptverhandlung in einer retrospektiven Befragung von Gerichtspersonen rekonstru-
iert. Zudem werden Einflüsse des Verteidigungsverhaltens, von richterlichen Vorhalten so-
wie der Art der Protokollführung erhoben und die Erwünschtheit einer vertieften psycho-
logischen Aussagenanalyse abgeklärt. Dem vorwiegend gerichtspsychologischen Interesse
des Beitrages entsprechend werden soziologische Analysen richterlichen Entscheidens vor-
liegend vernachlässigt.
2. Aufbau der Studie
Die Studie beruht auf einer schriftlichen Befragung zum Prozess der Beweisführung und
Entscheidungsfindung unter Richterinnen und Richtern der deutschsprachigen Länder
Deutschland, Österreich und Schweiz. Gegenstand der Befragung waren drei Fälle einer
gewissen Schwere aus der nächst zurückliegenden Praxis der Richterinnen und Richter.
2.1 Das Modell des gerichtlichen Entscheidungsfindungsprozesses: Die Markow-Kette
Richterinnen und Richter unterliegen bei der Urteilsfindung diversen Einflüssen, die von
dem durch Polizei und Staatsanwaltschaft aufbereiteten Tatsachenmaterial über die Einga-
ben von Verteidigung und Opfervertretung bis zu bürokratischen Sachzwängen und Erwar-
tungen von Medien und Öffentlichkeit reichen. Davon geprägt setzen die Richtenden Werk-
zeuge ihrer Entscheidungsfindung ein, wobei zwischen objektiven und subjektiven Beweis-
mitteln zu unterscheiden ist. Für eine Untersuchung der Faktoren richterlicher Überzeu-
gungsbildung gilt es, sämtliche denkbaren Einflussmöglichkeiten auf die Urteilsfindung und
Instrumente der Entscheidungsfindung hypothetisch zu erfassen und deren wechselseitige
Abhängigkeit zu bestimmen. Dazu haben wir ein stochastisches Modell konzipiert, welches
die einzelnen Faktoren in ihren Zusammenhängen mittels einer sogenannten Markow-Ket-
te1aufzeigt. Dieses Modell erlaubt es, unterschiedliche Verfahrensausgänge mit den Beweis-
werten der einzelnen Beweismittel sowie den Einflüssen der Parteien und der Öffentlichkeit
in Beziehung zu setzen.
1 Für diejenigen Leserinnen und Leser, die mit der Theorie der Markowkette nicht vertraut sind: Das
Modell bezieht sich auf den stochastischen Prozess der verschiedenen Entscheidungspfade bis zur ab-
sorbierenden Endposition des Urteils. Es sollte nicht mit einer zeitlichen Sequenz verwechselt werden.
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 159
Abbildung 1 Die Markow-Kette der Einflüsse auf die richterliche Urteilsfindung
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Um das Gewicht der verschiedenen Beweismittel zu messen, wird vorliegend zwischen »ob-
jektiven Beweismitteln« einerseits und »subjektiven Beweismitteln« andererseits unterschie-
den. Als »objektive Beweismittel« werden bestehende Akten, Expertengutachten und ge-
richtliche Augenscheine verstanden. Als »subjektive Beweismittel« werden Aussagen von
Angeklagten, Opfern, (unbeteiligten) Zeugen und allfälligen Komplizen erfasst. Beide Ka-
tegorien sind nicht in einem absoluten Sinne zu verstehen: Sie bezeichnen die äußere Form
des Beweismittels unabhängig davon, ob dieses inhaltlich tatsächlich rein objektive oder
subjektive Komponenten enthält. Einige Zeugenaussagen können sich nämlich durchaus
auf messbare, harte Fakten über physikalische Zusammenhänge beziehen (z.B. der Satz:
»die Türe war offen«). Aus Gründen von Wahrnehmungs- und Gedächtnisirrtümern sind
jedoch auch solche banalen Informationen oft nicht zuverlässig. Andere Zeugenaussagen
reflektieren menschliche Interaktionen, Kommunikationen, eigene Affekte und Denkpro-
zesse sowie Wahrnehmungen über körperliche Zustände anderer beteiligter Personen. Diese
Erinnerungen und Wahrnehmungen sind stark durch die subjektive Interpretation des Be-
trachters der Vorgänge beeinflusst. Umgekehrt gibt es unter den »objektiven Beweismitteln«
solche, die Elemente einer subjektiven Bewertung aufweisen, wie etwa die Glaubhaftigkeits-
und die Schuldfähigkeitsgutachten. Man würde sich im Übrigen auch täuschen, wenn man
allen naturwissenschaftlichen Expertenmeinungen a priori einen Stellenwert von objektiven
Fakten im landläufigen Sinn zubilligen wollte. Es ist nämlich so, dass die meisten Kriminal-
fälle ein sogenannt offenes System darstellen, in dem potentiell eine unendliche Anzahl ver-
schiedener Einflüsse wirksam werden kann. In diesem System bewegen sich auch die natur-
wissenschaftlichen Analysen, deren Resultate zum Beispiel wegen Kontamination durch un-
erkannte dritte Einflüsse verfälscht sein können.
Die gerichtliche Beweisführung verwendet mit gutem Grund sowohl objektive wie sub-
jektive Beweismittel. Die Vorstellung eines Urteilens allein auf Grund objektiver, vermeint-
lich rein naturwissenschaftlicher Beweisbefunde ist Illusion. Die Finalität menschlichen und
damit auch strafbaren Handelns sowie die Schwere des Handlungsunwerts einer Straftat
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012160
lassen sich nur anhand subjektiver Beweismittel bestimmen. Zur Qualifikation eines Straf-
tatbestandes ist es unabdingbar, auch rein subjektive Tatsachen wie Motive, affektive Be-
wegungen, Absichten, Wissensinhalte und Gespräche zu berücksichtigen. Sozialwissen-
schaftliche Methodologie kann dabei ebenso hilfreich sein wie die naturwissenschaftliche
Kriminalistik und die Gerichtsmedizin. Es ist nämlich zu bedenken, dass auch jedwedes
»objektive« Beweismittel erst sinnlich in die subjektive Wahrnehmungssphäre der Verfah-
rensbeteiligten, namentlich des Gerichts gelangen muss. So kann und muss der Richter im
Rahmen der Beweisführung nur durch eine antizipative (subjektive) Vorwertung nach dem
Maßstab der Verfahrensrelevanz Beweismaterial ans Licht bringen. Verwobene Rückkoppe-
lungsschleifen zwischen Wahrnehmungen, Kognitionen und Wertungen verlangen vom Ge-
richt eine zusammenführende Überzeugungsbildung, die ob ihrer Komplexität immer auch
ein Abbild von subjektiven Anschauungen darstellt. Objektive Tatsachen können nicht an
sich interessieren, sondern immer nur aufgrund und hinsichtlich der ihnen subjektiv zuge-
standenen und verliehenen Bedeutungen. Nicht anders als Lebenssachverhalte auch sonst
subjektiven Anschauungen unterliegen, tragen bei der rechtlichen Würdigung Bedeutungs-
zuschreibungen, Wertungen, Urteile und Verurteilungen wesensmäßig subjektive Elemente
in sich, mögen diese auch noch so sehr in »objektive« Fakten projiziert werden.
Es wäre falsch anzunehmen, dass subjektive Beweismittel generell einen niedrigeren Be-
weiswert als objektive hätten. Die Beweiskraft subjektiver Befunde wird gesteigert, falls
mehrere Personen übereinstimmend über Geschehnisse berichten. Soweit es sich um emo-
tional bedeutsame Erlebnisse handelt (die man mit Laborstudien nicht simulieren kann),
können auch einzelne Zeugenaussagen im Wesentlichen sehr zuverlässig sein.
Yuille & Cutshall (1986) untersuchten eine reale schwere Straftat, die sich vor den Augen
von 21 Zeugen aus verschiedenen Blickwinkeln abgespielt hatte. Es handelte sich um einen
bewaffneten Raubüberfall auf einem Parkplatz mit einem Schusswechsel zwischen dem Tä-
ter, der zuerstschoss, und dem Opfer, das zurückschoss.Der Täter verstarb in der Folge, das
Opfer war schwer verletzt. Die Forscher konnten 13 der Zeugen für ihre Studie gewinnen,
bekamen alle Vernehmungsprotokolle und erfragten dann bei den freiwilligen Forschungs-
teilnehmern auch viele zusätzliche und objektiv überprüfbare Einzelheiten des Vorfalls, z.B.
Beschreibungen des Aussehens von Täter und Opfer und deren Kleidern. Die 13 untersuch-
ten Zeugen rapportierten einen Monat nach dem Vorfall immer noch einen großen Reichtum
an beobachteten Details (50 bis 80 Informationen im Mittel). Mehr als 80 % der berichteten
Beobachtungen erwiesen sich als korrekt. Frei erfundene Aussagen kamen in diesen Berich-
ten kaum vor, ein Resultat, das die Forscher aufgrund der Ergebnisse von Laborstudien nicht
erwartet hatten. Die Irrtümer betrafen erstens bei allen Zeugen die Anzahl Schüsse, die ge-
fallen waren. Es waren genau acht Schüsse gewesen, eine Zahl, die für das intuitive Erfassen
zu groß ist. Zweitens war ein Großteil der Irrtümer auf das Konto derjenigen Zeugen zu-
rückzuführen, die das Geschehen nur an der Peripherie des Parkplatzes (weit weg vom Tat-
ort) wahrgenommen hatten. Hingegen war es so, dass Stress und Ängste der Zeugen positiv
mit der Genauigkeit ihrer Aussagen korrelierten, d.h. die am meisten traumatisierten Zeugen
lieferten die kohärentesten und ausführlichsten Beschreibungen von allen. Zusätzlich dazu
wurden am Schluss der Forschungsbefragungen auch noch gewisse (unwahre) Suggestivfra-
gen gestellt, die aber keinen messbaren Effekt hinterließen.
Durch diese Studie mussten die Ergebnisse einiger wahrnehmungs- und gedächtnispsy-
chologischer Laborexperimente relativiert werden. Es besteht offensichtlich ein Unter-
schied, ob man unmittelbarer Zeuge eines lebensbedrohlichen Ereignisses wird oder ob
man sich einen Film ansieht, wohlwissend, dass es dabei um nichts besonders Bedeutsames
für sein eigenes Leben geht (vgl. Zusammenfassung in Haas 2003).
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 161
Diese Überlegungen geben vorliegend Anlass, anhand eines Datensatzes konkreter Fälle
nach der Bedeutsamkeit subjektiver Beweismittel im Vergleich zu objektiven für die gericht-
liche Urteilsfindung zu fragen. Dabei interessiert auch das relative Gewicht objektiver Be-
weismittel im Verhältnis zu den subjektiven Beweismitteln.
2.2 Die Daten
Die schriftliche Umfrage unter den Richterinnen und Richtern aus drei deutschsprachigen
Ländern führte zu einem Datensatz von 225 zufällig ausgewählten Strafrechtsfällen einer
gewissen Mindestschwere. Die Fälle betreffen allesamt Delikte aus dem Bereich des Kern-
strafrechts, für die eine Höchststrafe von mindestens drei Jahren Freiheitsentzug angedroht
ist. Die Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden gebeten, die letzten drei abge-
schlossenen Fälle ihrer richterlichen Praxis (vor Erhalt des Fragebogens) für die Beantwor-
tung der Fragen heranzuziehen. Durch dieses Zufallskriterium wurde sichergestellt, dass
sich keine unerwünschte Verzerrung in der Stichprobenauswahl einschleichen konnte.
2.2.1 Charakteristika der antwortenden Richterinnen und Richter
Entsprechend den unterschiedlichen Ländergrößen stammten 64 % der umfrageteilnehmen-
den Richterinnen und Richter aus Deutschland, 24 % aus Österreich und 12 % aus der
Schweiz (3 % missing). Das Durchschnittsalter der Befragten lag zwischen 40 und 50 Jahren
(sd = 10). Die Geschlechterverteilung zeichnete sich durch eine 68 %ige männliche und eine
29 %ige weibliche Beteiligung aus (3 % missing). Von der älteren Generation der richtenden
Magistraten (über 55-Jährige) waren mit nur einer Ausnahme allesamt Männer! Die Mehr-
heit der Antwortenden war zum Zeitpunkt der Befragung an einem erstinstanzlichen Ge-
richt tätig (n = 54; 72 %), eine Minderheit (n = 13; 17 %) versah an einem Appellationsgericht
und nur 1 % (d.h. eine Person) an einem Kassationshof richterliche Funktion (mit n = 7, also
9 % missing). Die durchschnittliche Dauer der richterlichen Tätigkeit der Befragten lag bei
14,2 Jahren (sd = 8,8). Sie waren seit M= 7,6 Jahren im Schnitt (sd = 7,3) in ihrer derzeitigen
Stellung.
2.2.2 Beschreibung der Straftaten
Die 225 erhobenen Fälle betreffen allesamt Delikte aus dem Bereich des Kernstrafrechts, für
die eine Höchststrafe von mindestens drei Jahren Freiheitsentzug angedroht ist. Um mit den
gewonnenen Daten statistische Aussagen über den ganz konkreten Prozess der Überzeu-
gungsbildung im Einzelfall machen zu können, wurden die Richterinnen und Richter gebe-
ten, den Fragebogen mit Blick auf die drei letzten solcher Fälle, die sie vor dem Erhalt dieses
Fragebogens abgeschlossen hatten, auszufüllen. Es spielte dabei keine Rolle, welchen Aus-
gang das Verfahren genommen hatte. Um die Repräsentativität der Studie zu gewährleisten,
wurden die Richterinnen und Richter des Weiteren aufgefordert, die Fälle nicht nach Belie-
ben auszuwählen (auch keine »interessanten« oder »typischen« Fälle), sondern streng nur
diejenigen Fälle für die Beantwortung der Fragen darzulegen, die sie zuletzt vor Erhalt des
Fragebogens abgeschlossen hatten und für die eine entsprechende Höchststrafe von drei
oder mehr Jahren angedroht war. Weiter wurden sie gebeten, ausschließlich Fälle aus der
Vergangenheit abzuhandeln, damit ihre aktuelle richterliche Entscheidungsfindung nicht
durch die Befragung beeinflusst würde. Standen in einem Verfahren mehrere Angeklagte
vor Gericht, so hatten die Richterinnen und Richter gemäß unseren Vorgaben die Fragen
nur in Bezug auf diejenige Person zu beantworten, die in der Anklageschrift als der/die mut-
maßliche Haupttäter/in erschien. Falls dem/der mutmaßlichen Haupttäter/in mehrere nicht
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012162
konkurrierende Tatbestände zum Vorwurf gemacht wurden, wählten die Befragten den
schwersten davon aus und beantworten die Fragen im Hinblick auf diesen.
Trotz individueller Angaben betrafen die Berichte mehrheitlich Fälle, welche von einem
Kollegialgericht beurteilt wurden. Insofern ist der Einfluss individueller Interpretations-
muster der antwortenden Personen begrenzt. Anhand der Angaben zum mutmaßlichen
Hauptangeklagten konnten wir zudem verhindern, dass ein und derselbe Fall eines Gerichts
mehrfach in der Statistik erscheint.
Bei der folgenden Grobeinteilung der in der Studie vorkommenden Delikte in Kategorien
von Straftaten ist zu berücksichtigen, dass Mehrfachzuordnungen unvermeidlich sind (z.B.
bei Raub, der sowohl als Gewalt- als auch als Vermögensdelikt gewertet wurde):
1. Tötungsdelikte
2. sonstige Gewaltdelikte
3. Sexualdelikte
4. Vermögensdelikte.
2.2.3 Die im jeweiligen Verfahren als Haupttäter Angeklagten
Unter den Angeklagten befanden sich 91 % Männer und 9 % Frauen. Ihr durchschnittliches
Alter lag zwischen M = 31 und M = 39 Jahren (sd = 11,5–13,3). Die Altersverteilung dieser
Angeklagten entspricht ziemlich genau derjenigen in der schweizerischen Straf-Urteils-
statistik 2009 (Eidgenössisches Bundesamt für Statistik online). Somit haben wir einen Hin-
weis darauf, dass die gewählten Fälle tatsächlich repräsentativ sind und sich die teilnehmen-
den Richterinnen und Richter bei der Beantwortung des Fragebogens an unsere Vorgaben
gehalten haben.
72 % der Angeklagten sprach fließend Deutsch, 5 % Russisch, je ca. 3 % Arabisch, Tür-
kisch, Polnisch und Serbokroatisch. Die Muttersprache der anderen Angeklagten war in
noch kleineren Prozentzahlen über 18 weitere Sprachen verteilt.
Mehr als die Hälfte der Angeklagten (54 %) war während der Ermittlungen nicht in Un-
tersuchungshaft gesetzt worden. 5 % hatten zwischen 1 und 20 Tagen, 35 % zwischen 3 Wo-
chen und 12 Monaten und 3,5 % sogar mehr als ein Jahr in U-Haft verbracht (2 % missing).
3. Resultate der Erhebung
3.1 Beweisrichtung und -stärke der verschiedenen Beweismittel
Als erstes sollen die Beweisrichtung und -stärke der jeweiligen Beweismittel verglichen wer-
den. Die Beweisstärke wurde gemäß der Terminologie von Pengelly (empfohlen von Robert-
son & Vignaux 1995, 57) jeweils in sieben Grade unterteilt: »gar nicht & kaum«, »sehr
schwach«, »schwach«, »passabel«, »gut«, »stark« und »sehr stark«. Es soll untersucht wer-
den, inwiefern diese Instrumente der Aufklärung einen belastenden respektive einen entlas-
tenden Einfluss auf die Urteilsfindung im Sinne der Anklage ausgeübt hatten. Da wir für
konkrete Fälle nach Kategorien von objektiven bzw. subjektiven Beweismitteln fragen, kann
es vorkommen, dass etwa eine Zeugenaussage belastend und eine andere entlastend wirkt, so
dass unter der Kategorie »Zeugenaussagen« eine Wertung stets in beide Richtungen zu tref-
fen gewesen wäre, also hinsichtlich der Stärke sowohl der be- wie auch der entlastenden
Beweisrichtung. Gleiches gilt für einander widersprechende Sachverständigengutachten.
Trotz eines entsprechenden Hinweises hatten das leider nicht alle Befragten erkannt, wes-
wegen sie bspw. bei Vorliegen belastender Umstände nicht mehr auf das mögliche entlasten-
de Gewicht anderer Umstände eingegangen sind. Daher haben sich vor allem bei der Ge-
wichtung entlastender Momente viele missing data ergeben. Nicht auszuschließen ist, dass
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die Daten aber auch in dem Sinne zu interpretieren sind, dass im Durchschnitt die Aussagen
eher belastend gewirkt haben.
Tabelle 1 Belastende Einflüsse der jeweiligen Beweismittel auf die Beurteilung der
Schuld der Angeklagten durch die Richtenden
Aussagen unbeteiligter Zeugen
Aussagen allf. Komplizen
Aussagen Angeklagte/r
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Objekve Beweismiel
Aussagen der Geschädigten
Gar nicht, kaum In sehr schwachem Ausmaß In schwachem Ausmaß
In passablem Ausmaß In gutem Ausmaß In starkem Ausmaß
In sehr starkem Ausmaß kein Beweismiel Missing
N = 255 Fälle
Betrachtet man zunächst die belastenden Einflüsse der jeweiligen Beweismittel (vgl. Tabel-
le 1), so fällt auf, dass nur in ca. der Hälfte der Fälle Geschehnisse zur Anklage kamen, die mit
objektiven Beweismitteln (d.h. Sachverständige, Augenschein) mindestens »gut« bis »sehr
stark« erhärtet werden konnten. In der anderen Hälfte hingegen existierten bloß passable,
schwache oder kaum »objektive Evidenzen«, sodass die Urteilsfindung vorwiegend auf den
Aussagen der Prozessbeteiligten beruhte. Hiermit wird die bereits betonte Bedeutung sub-
jektiver Beweismittel für die Urteilsfindung deutlich.
Weiter ist aus Tabelle 1 ersichtlich, dass den Aussagen der Angeklagten eine fast gleich
schwere Belastungswirkung beigemessen wird wie den objektiven Beweismitteln.
An sich wäre zu erwarten, dass die Geschädigtenaussagen besonders stark belastend und
kaum je entlastend wirken. Naheliegend ist auch die Vermutung, dass unbeteiligte Zeugen-
aussagen etwa gleichermaßen belasten wie sie entlasten. Interessanterweise wird aber anhand
der Tabelle 1 deutlich, dass sich das belastende Gewicht der Geschädigtenaussagen im Rah-
men der vorliegenden Untersuchung kaum von demjenigen der Aussagen unbeteiligter Zeu-
gen unterschied.
Wie ist nun dieses Ergebnis zu interpretieren? Gemäß den Beobachtungen der Richtenden
scheint der Geschädigtenstatus – statistisch gesehen – keine Tendenz zu Übertreibungen mit
sich zu bringen im Vergleich zu den nicht von der Straftat direkt betroffenenZeugen. Ob dies
im selben Ausmaß auf die hier nicht analysierten Fälle zutrifft, in denen keine Anklage
erhoben wurde, bleibt allerdings offen. Hingegen wirkten sich entlastende (unbeteiligte)
Zeugenaussagen nur halb so oft »gut« bis »sehr stark« entlastend aus wie entlastende Ge-
schädigtenaussagen (11 % vs. 22 %). Diese Nuancierung könnte daher stammen, dass die
Richtenden einer entlastenden Geschädigtenaussage eine sehr hohe Glaubhaftigkeit attestie-
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012164
ren. Dies aus zwei Gründen: einerseits weil diese Opfer-Zeugenaussagen in vielen Fällen aus
einer größeren physischen Nähe zum Geschehen erfolgen als Aussagen von nicht-geschä-
digten Zeugen – was gemäß den Ergebnissen der oben zitierten Studie von Yuille & Cutshall
(1986) sehr relevant ist. Andererseits ist es so, dass Opferzeugen, die entlastende Aussagen
machen, entgegen ihren eigenen Interessen handeln, was ihnen einen gewissen Objektivitäts-
bonus verleiht. Komplizenaussagen gab es nur in 35 % aller 225 Fälle. Von diesen wurden
60 % als belastend gewertet. Darunter wurde bei 40 % sogar eine Belastung im Rahmen der
drei stärksten Grade angenommen.
Wenn man nun die Untersuchungsergebnisse zu den entlastenden Wirkungen der ver-
schiedenen Beweismittel betrachtet, muss man sich vor Augen halten, dass nicht alle Befrag-
ten der oben angesprochenen Tatsache, dass ein und dieselbe Kategorie von Beweismitteln
gleichzeitig sowohl starke entlastende als auch starke belastende Momente enthalten kann,
genügend Beachtung geschenkt haben.
Tabelle 2 Entlastende Einflüsse der jeweiligen Beweismittel auf die Beurteilung der
Schuld der Angeklagten durch die Richtenden
Aussagen unbeteiligter Zeugen
Aussagen allf. Komplizen
Aussagen Angeklagte/r
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Objekve Beweismiel
Aussagen der Geschädigten
Aussagen unbeteiligter Zeugen
Gar nicht, kaum In sehr schwachem Ausmass In schwachem Ausmass
In passablem Ausmass In gutem Ausmass In starkem Ausmass
Gar nicht, kaum In sehr schwachem Ausmaß In schwachem Ausmaß
In passablem Ausmaß In gutem Ausmaß In starkem Ausmaß
In sehr starkem Ausmaß kein Beweismiel Missing
N = 255 Fälle
In Tabelle 2 sieht man, dass in der Hauptverhandlung nur in relativ seltenen Fällen (ca. 10 %)
noch solche »objektiven Beweismittel« vorhanden sind, die den Angeklagten wirksam ent-
lasten könnten. Die Entlastung des Angeklagten vor Gericht beruht im Wesentlichen auf
Aussagen (d.h. in unserer Terminologie »subjektiven« Beweismitteln), die entweder unmit-
telbar in der Hauptverhandlung erhoben wurden oder aus den Protokollen früherer Verneh-
mungen stammen.
Besonders oft wird von Richtenden den Aussagen des Angeklagten ein entlastendes Ge-
wicht zugemessen.
Geschädigtenaussagen fallen mit Blick auf ihre entlastende Wirkung ähnlich wie Aussagen
unbeteiligter Zeugen aus. Unter den Aussagen von Geschädigten finden sich sogar erstaun-
licherweise tendenziell etwas mehr gute bis sehr starke Entlastungen (12,4 %) als bei solchen
unbeteiligter Zeugen (7,6 %).
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 165
Komplizenaussagen erweisen sich hingegen nur in 35 % der Fälle als entlastend (wobei
eine »gute« bis »sehr starke« Entlastung gar nur bei 20 % der Fälle gesehen wird). Damit ist
die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein Komplize den anderen »in die Pfanne haut« ge-
genüber der Wahrscheinlichkeit beidseitiger entlastender Einlassungen rund doppelt so
hoch. Dies scheint der spieltheoretischen Situation des Gefangenendilemmas (Dresher, Flood
& Tucker 1950, zit. in Roth 1993) zu entsprechen. Das Dilemma besteht darin, dass die kol-
lektiv günstigere Inanspruchnahme des Schweigerechts aller Angeklagten mit der individuell
vorzugswürdigen Empfehlung, ein Geständnis abzulegen, zusammentrifft. In der Praxis
trifft die Annahme, es sei für alle Beteiligten generell vorteilhafter zu schweigen, indessen
nicht unbedingt zu, denn deren zu erwartende Strafe ist jeweils unterschiedlich. Bandenmit-
glieder, die bloß als Mitläufer oder Zuschauer am Tatgeschehen teilgenommen haben oder
gar von Rädelsführern zur Teilnahme genötigt wurden, können mit einer geringen Strafe
davonkommen oder gar nicht sanktioniert werden. Sie wären dann schlecht beraten, wenn
sie durch ihr Schweigen das Risiko einer höheren Strafe in Kauf nähmen.
3.2 Verteidigungsverhalten der Angeklagten und Wirkung von Vorhalten
3.2.1 Angeklagte, die anfänglich die Vorwürfe bestritten hatten
Der größte Anteil der Angeklagten (n = 79, d.h. 35,1 %) hatte die ihm angelasteten Vorwürfe
zumindest ursprünglich bestritten. Jedoch hielt lediglich rund ein Drittel diese Strategie
durch (Tabelle 3).
Tabelle 3 Die Wirkung der Vorhalte in der Vernehmung bei bestreitenden Ange-
schuldigten
Verhalten des Angeklagten Prozent
bestritt weiter und verhedderte sich in Widersprücheoder Lügen / wurde unglaubwürdig 40,5 %
bestritt weiter, ohne sich in Widersprüche zu verstricken 34,2 %
keine Stellungnahme zu den Vorwürfen / schwieg dazu 8,9 %
gestand nur bereits bewiesene Tatsachen zu 2,5 %
lieferte ein Teilgeständnis mit Elementen subjektiver Schuld 6,3 %
lieferte ein umfassendes Geständnis, inkl. subjektiver Schuld 7,6 %
n = 79 anfängliche Bestreiter (35,1 % aller Angeklagten)
Der Anteil der Bestreitenden, die sich bei den Vorhalten in Widersprüche verwickelten und
unglaubwürdig wirkten, war mit 40,5 % recht groß. Zunächst mag erstaunen, dass so viele
Angeklagte sich sofort in ein Lügengespinst verwickeln, ohne lange über eine rationale Ver-
teidigungsstrategie nachzudenken. Dies mag sich dadurch erklären, dass die impulsiv ab-
streitende Aussage wie die Delinquenz selber mit niedriger Selbstkontrolle von Straftätern
zu tun hat. Nach Hirschi & Gottfredson (1990, 21) ist das delinquente Handeln vor allem
dadurch gekennzeichnet, dass die Täterschaft mit wenig Aufwand eine sofortige Befriedi-
gung erreichen will. Im impulsiven Abstreiten der Vorwürfe mit wenig glaubhaften Argu-
menten besteht die sofortige Befriedigung darin, dass das Selbstwertgefühl, wenn auch nur
kurzfristig, gerettet werden kann.
Weitere 8,9 % der anfänglich bestreitenden Angeklagten zogen es vor, sich in Schweigen
zu hüllen. Die Bereitschaft, später noch etwas zuzugeben, war nur bei einer Minderheit vor-
handen, nämlich bei 13,9 %. Doch ist auch dieser Prozentsatz nicht zu vernachlässigen. Be-
achtenswert ist er, weil schuldige Angeklagte, die überführt werden, oft mit dem dadurch
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012166
entstandenen Gesichtsverlust zu kämpfen haben. Nicht nur müssen sie ihre Straftat zugeben,
sie werden zusätzlich als Lügner entlarvt. Geeignete verbale Interventionen können die
durch diesen letzteren Effekt verursachte Scham allerdings mildern und den Übergang
zum Geständnis erleichtern.
3.2.2 Angeklagte, die anfänglich zu den Vorwürfen geschwiegen hatten
Lediglich 10,2 % aller Angeklagten, d.h. die kleinste Gruppe, verfolgten die »vorsichtigste«
Verteidigungsstrategie, indem sie zunächst einmal von ihrem Schweigerecht Gebrauch
machten (n = 23).
Tabelle 4 Die Wirkung der Vorhalte in der Vernehmung bei anfänglich schweigenden
Angeklagten
Verhalten des Angeklagten Prozent
bestritt und verhedderte sich in Widersprüche oder Lügen / wurde unglaubwürdig 4,4 %
bestritt, ohne sich in Widersprüche zu verstricken 0,0 %
weiter keine Stellungnahme zu den Vorwürfen / schwieg weiter dazu 47,8 %
gestand nur bereits bewiesene Tatsachen zu 8,7 %
lieferte ein Teilgeständnis mit Elementen subjektiver Schuld 30,4 %
lieferte ein umfassendes Geständnis, inkl. subjektiver Schuld 8,7 %
n = 23 anfängliche Schweiger (10,2 % aller Angeklagten)
Rund die Hälfte der anfänglich Schweigenden (Tabelle 4) verfolgte diese Strategie trotz Vor-
halten weiter und nahm keine Stellung zu den Vorwürfen. Hingegen hielten knapp 40 % dem
Druck der übrigen Beweise nicht mehr stand und gestanden. Dieser Strategiewechsel kann
rational gesehen sinnvoll sein, denn wenn die Beweislast erdrückend wird, kann eine konti-
nuierliche Weigerung zur Kooperation einen allfälligen Geständnis-Bonus für das Strafmaß
gefährden.
3.2.3 Angeklagte, die sich auf Zugeständnisse zu bereits belegten objektiven Tatsachen
in Bezug auf die Vorwürfe beschränkt hatten
Eine weitere, vorsichtige Verteidigungsstrategie besteht darin, immer nur das zuzugeben,
was ohnehin schon objektiv nachgewiesen werden konnte. Diese Taktik wurde nur von
knapp 15 % aller Angeklagten verfolgt (n = 33).
Tabelle 5 Die Wirkung der Vorhalte in der Vernehmung bei Angeklagten, die sich
anfänglich auf Zugeständnisse zu den bereits bewiesenen Fakten beschränk-
ten
Verhalten des Angeklagten Prozent
bestritt und verhedderte sich in Widersprüche oder Lügen / wurde unglaubhaft 6,1 %
bestritt, ohne sich in Widersprüche zu verstricken 6,1 %
keine Stellungnahme zu den Vorwürfen / schwieg dazu 0,0 %
gestand weiterhin nur bereits bewiesene Tatsachen zu 42,4 %
lieferte ein Teilgeständnis mit Elementen subjektiver Schuld 33,3 %
lieferte ein umfassendes Geständnis, inkl. subjektiver Schuld 12,1 %
n = 33 mit anfänglichen Zugeständnissen (14,7 % aller Angeklagten)
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 167
Auch hier (Tabelle 5) dominiert bei knapp der Hälfte der Betroffenen die starke Tendenz, die
einmal eingeschlagene Verteidigungsstrategie beizubehalten, ähnlich wie bei den Schweigen-
den und den Bestreitenden. Zugeständnisse von bereits nachgewiesenen Tatsachen sind psy-
chologisch gesehen auch eine Vermeidungstaktik. Vielen minimal-kooperativen Angeklag-
ten geht es darum, das Gespräch so kurz wie möglich zu halten. Sei es, um damit zu verhin-
dern, dass das Gericht ein tieferes Verständnis für die Gründe ihres Handelns entwickeln
kann, sei es, weil sie die persönliche Auseinandersetzung damit fürchten. Antworten wie:
»Ich habe es ja bereits zugegeben, kann ich jetzt nachhause?« dienen diesem »Abwimmeln«.
Offensichtlich gelang es dennoch, rund 45 % derjenigen, die ursprünglich möglichst jede
Diskussion vermeiden wollten, mit Vorhalten aus der Reserve zu locken, sodass sie zumin-
dest teilweise (33,3 %) oder umfassend (12,1 %) über ihre subjektiven Beweggründe, ihre
Gesinnungen, ihr Unrechtsbewusstsein und ihre Steuerungsfähigkeit Auskunft gaben.
3.2.4 Angeklagte, die anfänglich sowohl objektive Tatsachen als auch subjektive Tat-
sachen eingestanden hatten
Viele Angeklagte (n = 40, d.h. 17,8 % aller) gaben bereits zu Anfang Teilgeständnisse ab
(Tabelle 6). Teilgeständnisse machen insofern Sinn, als sie bei gewissen Straftätern eine Er-
leichterung von der ständigen Angst, überführt zu werden, bewirken, auch wenn Einsicht
und Reue dabei nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Tabelle 6 Die Wirkung der Vorhalte in der Vernehmung bei Angeklagten mit an-
fänglichen Teilgeständnissen
Verhalten des Angeklagten Prozent
bestritt und verhedderte sich in Widersprüche oder Lügen / wurde unglaubwürdig 2,5 %
bestritt, ohne sich in Widersprüche zu verstricken 0,0 %
keine Stellungnahme zu den Vorwürfen / schwieg dazu 0,0 %
gestand weiterhin nur bereits bewiesene Tatsachen zu 12,5 %
lieferte ein Teilgeständnis mit Elementen subjektiver Schuld 67,5 %
lieferte ein umfassendes Geständnis, inkl. subjektiver Schuld 17,5 %
n = 40 mit anfänglichen Teilgeständnissen (17,8 % aller Angeklagten)
Diese Angeklagten blieben größtenteils bei dieser ambivalenten Haltung in Bezug auf die
Kooperation. Ein weiterer Teil, nämlich 17,5 %, legte in der Konfrontation mit dem Beweis-
material ein umfassendes Geständnis ab, sodass der Fall als aufgeklärt galt. Ein Widerruf des
anfänglichen Teilgeständnisses kam kaum vor.
3.2.5 Angeklagte, die anfänglich ein umfassendes Geständnis abgelegt hatten
Ein nicht unbeträchtlicher Teil aller Angeklagten (n = 50 oder 22,2 %), d.h. die zweitgrößte
Gruppe (Tabelle 7), gestand sehr schnell und umfassend. Von einem rein logischen, zweck-
rationalen Standpunkt aus wäre es eigentlich widersinnig zu gestehen, insbesondere weil
verschiedene kriminologische Untersuchungen bereits gezeigt haben, dass Nicht-Geständi-
ge eine viel höhere Chance haben, freigesprochen zu werden, als Geständige. Das Geständnis
hat also vor allem intrapsychologische Gründe: Es erleichtert und befreit von Ängsten.
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012168
Tabelle 7 Die Wirkung der Vorhalte in der Vernehmung bei Angeklagten, die an-
fänglich umfassend gestanden
Verhalten des Angeklagten Prozent
bestritt und verhedderte sich in Widersprüche oder Lügen / wurde unglaubwürdig 2,0 %
bestritt, ohne sich in Widersprüche zu verstricken 0,0 %
keine Stellungnahme zu den Vorwürfen / schwieg dazu 0,0 %
gestand nur bereits bewiesene Tatsachen zu 0,0 %
lieferte ein Teilgeständnis mit Elementen subjektiver Schuld 2,0 %
lieferte ein umfassendes Geständnis, inkl. subjektiver Schuld 96,0 %
n = 50 mit anfänglichen umfassenden Geständnissen (22,2 % der Angeklagten)
Ein sehr klares Bild zeigte sich bei denjenigen, die sehr schnell gestanden hatten: Sie hielten
an ihren Aussagen in aller Regel fest, Widerrufe kamen kaum vor.
Das umfassende Geständnis zum Zweck der seelischen Läuterung ist in der abendländi-
schen Kultur tief verwurzelt. Psalm 15 – ein Psalm Davids – besagt: »Herr, wer darf Gast sein
in deinem Zelte? Wer darf weilen auf deinem heiligen Berg? Der unsträflich wandelt und
Gerechtigkeit übt und die Wahrheit redet von Herzen« (zit. nach der Zürcher Bibel 2005/
1931, Psalmen, 566). Dieser Tradition folgend ist anzunehmen, dass das Geständnis nicht
bloß in spiritueller Hinsicht reinigt, sondern auch eine psychohygienische und aufklärende
Funktion hat. Es heilt von narzisstischer Selbstüberschätzung, fügt sog. abgespaltene Per-
sönlichkeitsanteile zusammen und verhilft zur Aufklärung über unbewusste Beweggründe.
Das Geständnis legt zudem das Fundament für die Resozialisierung. Ohne Einsicht sind
Verhaltensänderungen nur schwer zu erreichen.
Auf einer anderen und durchaus berechnenden Ebene bewegen sich die sog. taktischen
Geständnisse, welche auf den sekundären, durch das Justizsystem vermittelten Gewinn ab-
zielen.
In der psychotherapeutischen Arbeit mit Strafgefangenen der Co-Autorin kamen neben
dem »echten reumütigen« und dem »taktischen« Geständnis auch noch andere, nämlich ir-
rationale Beweggründe für ein Geständnis zum Vorschein. Durch diese werden diejenigen
Angeklagten geleitet, die aus Rache gestehen, um ihre Komplizen »in die Pfanne zu hauen«
oder um auf indirekte Weise ihre eigenen Angehörigen bloßzustellen. Weiter gibt es diejeni-
gen, die in grober Verkennung der sozialen Realität meinen, sie könnten das Gericht durch
Kaltblütigkeit, Durchtriebenheit beeindrucken oder es von der Angebrachtheit der Rache in
ihrem speziellen Fall überzeugen. Gewisse Täter/innen mit eher beschränkten intellektuel-
len Fähigkeiten sind stolz darauf, sich dank der Gerichtsverhandlung mit hochstehenden
Persönlichkeiten wie Richtern, Rechtsanwälten und Psychiatern umgeben zu können, die
sich alle sehr stark um sie bemühen.
3.2.6 Kooperationsbereitschaft der Angeklagten während des gesamten Verfahrens
Zusammenfassend sieht man in Tabelle 8, dass zum Schluss des Prozesses 61,8 % der Ange-
klagten ein Geständnis oder zumindest ein Teilgeständnis abgelegt hatten, welches auch zu
Fragen der Schuld Stellung nahm und über das Zugestehen von bereits bewiesenen Tatsachen
hinausging.
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 169
Tabelle 8 Kooperationsbereitschaft der Angeklagten während des gesamten
Verfahrens
Hat Vorwürfe bestri en ohne
Widersprüche
Hat vom Schweigerecht Gebrauch
gemacht
Hat nur bereits nachgewiesene
Tatsachen eingestanden
Hat Vorwürfe bestri en und sich in
Widersprüche verheddert
Hat ein (Teil-) Geständnis abgelegt
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7
Widersprüche
N = 225 Fälle
Aus Tabelle 8 geht weiter hervor, dass lediglich 5 % der Angeklagten beharrlich geschwiegen
und damit von ihrem prozessualen Recht Gebrauch gemacht hatten. Ebenfalls nur 2 % hat-
ten reine Zugeständnisse (der ohnehin nachgewiesenen objektiven Tatsachen) ohne jeden
zusätzlichen Erkenntnisgewinn abgegeben. Ein Drittel (31,5 %) hatte die in der Anklage
erhobenen Vorwürfe bestritten, davon hatte sich aber rund jeder Zweite (16,5 % aller Ange-
klagten) in Widersprüche verstrickt. Von den Geständigen und denjenigen, die sich in Wi-
dersprüche verhedderten, hatten je 8 % irgendwann versucht, ihr Geständnis zu widerrufen.
Diejenigen Angeklagten, bei denen es sich vorliegend um eine Wiederverurteilung han-
delte, wiesen tendenziell eine höhere Geständnisbereitschaft als Erstverurteilte auf. Dieses
Ergebnis ist indes nicht statistisch signifikant.
Weiter wurdedie Beweislage in den Verfahren gegen die Angeklagten, welche die Vorwür-
fe durch Aussagen bestritten, ohne dabei in Widersprüche zu geraten, als auch gegen dieje-
nigen, die es vorzogen zu schweigen, untersucht. Man könnte sie als »geschickte Taktierer«
bezeichnen. Die Vergleichsgruppe waren dann die Angeklagten, die entweder mindestens
teilweise geständig waren oder aber sich beim Bestreiten in auffällige Widersprüche ver-
strickten.
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012170
Tabelle 9 Beweislage bei »geschickten Taktierern« im Vergleich zu den anderen
Angeklagten (d.h. geständigen oder sich verstrickenden) im gesamten
Verfahren
lettimsieweB selbassap segiznie nieK
lettimsieweB sekrats segiznie nieK
lettimsieweB setug segiznie nieK
0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5
netkcirtsrev ehcürpsrediW ni hcis eid ,ehclos dnu etgalkegnA egidnätseG
nettirtseb ierfshcurpsrediw eid ,ehclos dnu negeiwhcs eid ,etgalkegnA
N = 225 Fälle; p < 0.001
Die Verweigerung eines Geständnisses und das erfolgreiche Bestreiten der Vorwürfe korre-
lieren hochsignifikant mit der übrigen Beweislage: Die Geständnisbereitschaft sinkt, wenn
die Beweislage ohnehin schwach ist (Tabelle 9). Gegen Angeklagte, die bis zum Schluss des
Verfahrens schwiegen oder den Tatvorwurf widerspruchsfrei bestritten, gab es in über 40 %
der Fälle kein einziges (mindestens) starkes Beweismittel, gegenüber 30 % kein einziges
mindestens gutes Beweismittel und gegenüber 20 % nicht einmal ein einziges wenigstens
passables Beweismittel. Dies deutet darauf hin, dass in den erfragten Fällen das Geständnis
bzw. seine Verweigerung in hohem Maße von prozesstaktischen Überlegungen beeinflusst
wurde. Die Angeklagten verhielten sich insofern rational, als sie ihre Geständnisbereitschaft
von der Beweislage im Übrigen abhängig machten.
Ein Geständnis bildet vor allem dann einen schlagkräftigen Beweis, wenn es durch reines
Täterwissen untermauert wird, also durch Tatsachen, die der Öffentlichkeit zum Tatzeit-
punkt nicht bekannt waren und die einzig die Täterschaft wissen konnte. Es kann sich bei-
spielsweise um noch unbekannte Komplizen und Kontakte handeln oder um Aktivitäten
sowie Wahrnehmungen am Tatort oder im Vorfeld der Tat. In den vorliegend untersuchten
Fällen hatten 39 % der als mutmaßliche Haupttäter/innen angeklagten Personen im Laufe
des gesamten Strafverfahrens (aktenkundig oder in unmittelbaren Aussagen vor dem Ge-
richt) spezifische Details zur inkriminierten Haupttat preisgegeben, die alleine die Täter-
schaft wissen konnten. Bei 12 % der Fälle fehlten gemäß Angaben der Befragten entspre-
chende Hinweise in den Akten.
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 171
3.3 Protokollführung der Vorinstanzen als »Spurenkonservierung«
3.3.1 Naturwissenschaftliche Sorgfalt bei der Prüfung objektiver Beweismittel im
Vergleich zur wissenschaftlich kaum gestützten Erhebung subjektiver Beweis-
mittel
Objektive Beweismittel sind primär der naturwissenschaftlichen Überprüfung zugänglich.
Diese wurde in den vergangenen Jahrzehnten beständig verbessert. Die moderne wissen-
schaftliche Kriminalistik betreibt bei der Spurensicherung und -analyse einen hohen Auf-
wand, um alle nur denkbaren Kontaminationsmöglichkeiten des Beweismaterials möglichst
wirksam zu verhindern. Erhöhte Standards bei der Spurensicherung am Tatort und im Labor
ergaben sich durch den Fortschritt der Analysemethoden für die Auswertung kleinster Men-
gen von biologischem und chemischem Spurenmaterial unabdingbar (wie DNS-Analyse und
Ionen-Scanner). Zudem haben sich die Anforderungen an die Spurensicherung durch Be-
weiserfordernisse bei der Strafverfolgung international erhöht.
Demgegenüber sind subjektive Beweismittel primär der sozialwissenschaftlichen, vor al-
lem aussagepsychologischen, Analyse zugänglich, sofern mit moderner Gesprächsführungs-
technik befragt und danach wortgetreu protokolliert oder elektronisch registriert wird.
Eine geeignete Gesprächsführungstechnik und Protokollierung durch die Vorinstanzen
erlauben dem Richter in der Hauptverhandlung gezielt mit eigenen Befragungen auf noch
bestehende Unklarheiten einzugehen. Diese Hilfsmittel können also die richterliche Unmit-
telbarkeit keinesfalls ersetzen; vielmehr bilden sie die Grundlage dafür.
3.3.2 Schriftliche Aussageprotokolle und ihre relative Aussagekraft
Die Vernehmungen sind für die Feststellung der subjektiven Tatbestandselemente – die, wie
wir gesehen hatten, in über der Hälfte der Fälle entscheidend für das Urteil sind – ein zen-
traler und absolut unverzichtbarer Beweiserhebungsschritt. Dabei geht es um die möglichst
authentische Erfassung psychischer Tatsachen wie Erinnerungen, Motive, Absichten, Affek-
te, Wissen und Gewissen der Prozessbeteiligten. Den aussagepsychologischen Analysen, ih-
ren vorhandenen Möglichkeiten und künftigen Chancen wird dabei freilich bislang wenig
Aufmerksamkeit geschenkt – nicht einmal in schweren Fällen. Im Gegensatz zur regelmäßig
naturwissenschaftlich sorgfältigen Abklärung objektiver Beweistatsachen werden Aussagen
ungleich weniger sorgfältig erhoben und notiert. Von allen Vernehmungen der Prozessbe-
teiligten sind die ersten am aussagekräftigsten. Ihre korrekte Verwertung setzt freilich vor-
aus, dass mit geeigneten Gesprächsführungstechniken ein freier Bericht über die Gescheh-
nisse erhoben wurde. Forschungen aus der kognitiven Psychologie (zusammengefasst z.B. in
Haas 2003) haben nämlich ergeben, dass wiederholte oder ungeschickte Befragungen (d.h.
solche, die allzu präzise Fragen und Antwortvarianten schon zu Anfang vorgeben oder
solche, die Zeugen zu schnell unterbrechen) bei den Zeugen Erinnerungsartefakte bewirken
können. Im sog. Teleskoping-Effekt werden bei unsachgemäßer oder wiederholter Befra-
gung bei den Zeugen vermeintliche Erinnerungen an Details, die während früherer Befra-
gungen vom Interviewer ins Gespräch gebracht wurden, mit den authentischen Erinnerun-
gen an die Tatereignisse zu einem nicht mehr unterscheidbaren Amalgam vermischt. Aber
auch die Aussagen und das Verhalten der Beschuldigten in den ersten Vernehmungen ent-
halten oft aufschlussreiche Indizien über Schuld oder Unschuld, wenn man sie mit geeigne-
ten Methoden analysiert. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sollte also der Sicherung von
Spuren psychischer Tatsachen, die in den Vernehmungen aufscheinen, dieselbe Sorgfalt zu-
teil werden wie der Sicherung der materiellen Beweise durch die Naturwissenschaften.
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012172
Für die Dokumentation von Aussagen im Rahmen der Strafverfolgung ist die schriftliche
Protokollierung eingebürgert. Zur authentischen Erfassung des Inhalts der Aussage und zu
versteckten Indizien und erst recht zur Prüfung ihrer Glaubwürdigkeit ist das Verfahren nur
dann geeignet, wenn die Protokolle möglichst wortgetreu abgefasst wurden und auffällige
nonverbale Verhaltensweisen ebenso notiert wurden.
Möglichst wörtliche Protokolle sind zudem zur revisionsgerichtlichen Überprüfung von
Urteilen zwingend. Gleichwohl sieht keine der Strafprozessordnungen der deutschsprachi-
gen Länder wörtliche Protokolle als zwingend oder Regelfall vor. Erst recht fehlen verbind-
liche Vorgaben für die Videoaufzeichnung von Aussagen.
Die übliche schriftliche Aussagenprotokollierung wurde, den Daten der vorliegenden
Stichprobe nach, in mehreren Formen praktiziert, deren Spannweite von wörtlichen Proto-
kollen bis zu Textbausteinen reichte.
Tabelle 10 Qualität der Protokolle der früheren Vernehmungen, auf welche die Rich-
terinnen und Richter sich stützten, nach Ländern aufgeschlüsselt
Qualität der Protokolle alle 3 Länder
(N = 225) Deutschland
(n = 144)
Österreich
(n = 54)
Schweiz
(n = 27)
Verbatim-Protokolle, fast wörtliche
Protokolle oder Transkripte von
Aufnahmen
57,8 % 53 % 61 % 78 %
sinngemäße Protokolle 31,1 % 32 % 37 % 15 %
Zusammenfassungen 4,4 % 6 % 0 % 4 %
Zusammenfassungen durch Dolmet-
scher 1,3 % 1 % 2 % 4 %
vorgefertigte Textbausteine 1,3 % 2 % 0 % 0 %
keine Angaben 4,0 % 6 % 0 % 0 %
Total 100 % 100 % 100 % 100 %
Wie in Tabelle 10 ersichtlich, erfüllte die Mehrheit der Protokolle (58 %) den hohen Stan-
dard einer wörtlichen oder fast wörtlichen Protokollierung. In einem knappen Drittel der
Fälle handelte es sich bloß um sinngemäße Protokolle, in 7 % lagen nur Zusammenfassungen
oder gar nur Textbausteine vor. Erwartungsgemäß finden Wortprotokolle am häufigsten in
der Schweiz und am seltensten in Deutschland Verwendung: Da in Deutschland in aller Re-
gel das Gericht in der Hauptverhandlung unmittelbar Beweis erhebt, scheint hier offenbar
den Ermittlungsinstanzen eine sorgsame Dokumentation früherer Vernehmungen entbehr-
lich zu sein.
Sofern gut protokolliert wurde, können aussagepsychologische Analysen durchgeführt
werden. Auf Zusammenfassungen und vorgefertigte Textbausteine können aussagepsycho-
logische Methoden nicht angewendet werden. Auch sinngemäße Protokolle müssen mit gro-
ßer Vorsicht interpretiert werden.
Die Untersuchung, ob die Art der Protokolle einen Einfluss auf die richterliche Entschei-
dung ausübt, ob es beispielsweise bei nicht wörtlichen Protokollen vermehrt zu Verfahrens-
einstellungen kommt, wäre zweifellos von Interesse. Die Anzahl der erfassten Fälle reicht
indes für eine solche Analyse nicht aus.
3.3.3 Aussagepsychologisch vertiefte Analyse von Einvernahmen
Derzeit existieren mehrere empirisch geprüfte kriteriengeleitete Verfahren der Aussagenana-
lyse anhand von Videoaufnahmen und wörtlichen Protokollen. Einerseits geht es um die
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 173
Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage, die oft an psychologische Experten delegiert
wird. Die Methodik der Glaubhaftigkeitsgutachten setzt die inhaltliche Qualität der verfah-
rensrelevanten Zeugenaussagen mit der Aussagetüchtigkeit des Zeugen in Vergleich. Dieser
Vergleich ermöglicht die Beurteilung, ob die Zeugen in der Lage wären, die vorliegenden
Aussagen auch ohne eigene Erlebnisgrundlage zu produzieren. Dabei wird nicht bloß die
Möglichkeit einer intentionalen Falschaussage, sondern auch diejenige von suggestionsbe-
dingten oder wahrnehmungsbedingten Irrtümern und von Autosuggestion sowie Übertrei-
bungen in Betracht gezogen. Die psychologische Wahrscheinlichkeitsbeurteilung des Reali-
tätsgehaltes einer konkreten Zeugenaussage wird aufgrund von Befundtatsachen aus der
psychologischen Abklärung im Verbund mit den Akteninformationen, den sogenannten
Anknüpfungstatsachen gemacht (zusammengefasst nach Steller in Volbert & Steller 2008,
301 ff.).
Andererseits gibt es auch Methoden, die sich für die Anwendung durch das Gericht und
die Staatsanwaltschaft selber eignen und die gewisse Aufschlüsse über allenfalls verheimlich-
te Gedächtnisinhalte der Befragten liefern (Haas 2003; 2009; 2010; Sapir 1999). Diese Me-
thoden sind noch wenig bekannt. Sie liefern zwar meistens keine direkten Beweise, dafür
aber Ansatzpunkte für präzise Vorhalte sowie Indizien für psychologische Tatsachen.
Die Gewichtung aussagepsychologischer Methoden in der aktuellen Rechtspraxis und das
Interesse der befragten Richterinnen und Richter daran wurden in der nachfolgenden Tabelle
erfasst.
Tabelle 11 Einsatz von psychologischer Aussagenanalyse und Interesse an solchen Me-
thoden nach Ländern aufgeschlüsselt
Einsatz und Interesse alle 3 Länder
(N = 75) Deutschland
(n = 48)
Österreich
(n = 18)
Schweiz
(n = 9)
Richter/innen, die solche Methoden
einsetzen 40,0 % 46 % 22 % 44 %
Richter/innen, die solche Methoden
nicht einsetzen, aber daran interes-
siert wären
54,7 % 48 % 72 % 56 %
Richter/innen, die solche Methoden
nicht einsetzen und auch nicht inte-
ressiert sind
4,0 % 4 % 6 % 0 %
keine Angaben 1,3 % 2 % 0 % 0 %
Total 100 % 100 % 100 % 100 %
Wie der Tabelle 11 zu entnehmen ist, zeigen 90 bis 100 % aller Richterinnen und Richter, die
den Fragebogen beantwortet haben, Interesse an aussagenanalytischen Methoden oder wen-
den diese bereits an. In Österreich scheinen diese Methoden derzeit noch etwas weniger
verbreitet als in Deutschland und der Schweiz, dafür bekundeten dort mehr Befragte ein
Interesse daran. Es ist anzunehmen, dass es sich bei den Beantwortenden unseres Fragebo-
gens um eine Auswahl von besonders forschungsorientierten und für neue Ansätze aufge-
schlossene Richterinnen und Richter handelt. Gleichwohl ist erkennbar, dass ein ganz großer
Teil der Richtenden ein aktives Interesse an aussagenanalytischen Methoden hat. Dies har-
moniert mit den Anforderungen an Richterinnen und Richter, Aussagen und Texte vertieft
zu analysieren, worin auch ihre Kernkompetenzen liegen sollten.
Aussagenanalysen kamen in den untersuchten Fällen statistisch signifikant häufiger zum
Einsatz, wenn die zur Verfügung stehenden Protokolle wörtlich oder fast wörtlich abgefasst
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012174
worden waren (48 % vs. 29 %; p < 0.05). Dieses Ergebnis bezeugt die hohe Relevanz der
möglichst wörtlichen Protokollierung für die Gerichte.
Das Resultat ist auch im Licht der landesspezifischen Rechtsprechung nachvollziehbar.
Das schweizerische Bundesgericht folgte 2008 dem deutschen Bundesgerichtshof
(30.07.1999 [1 StR 618/98] zit. in Nedopil 2007, 320) mit seinem Entscheid (BGE 6B_572/
2008 zit. in SKG März 2009) und hielt fest:
»Bei der Abklärung des Wahrheitsgehaltes von Zeugenaussagen ist der von Undeutsch entwickelten
Aussageanalyse zu folgen, die darauf gründet, dass wahre und falsche Schilderungen sich qualitativ
voneinander unterscheiden. Überprüft wird dabei in erster Linie die Hypothese, ob die aussagende
Person unter Berücksichtigung der Umstände, der intellektuellen Leistungsfähigkeit und der Motiv-
lage eine solche Aussage auch ohne realen Erlebnishintergrund machen könnte. Methodisch wird die
Prüfung in der Weise vorgenommen, dass das im Rahmen eines hypothesengeleiteten Vorgehens
durch Inhaltsanalyse (aussageimmanente Qualitätsmerkmale, so genannte Realkennzeichen) und Be-
wertung der Entstehungsgeschichte der Aussage sowie des Aussageverhaltens insgesamt gewonnene
Ergebnis auf Fehlerquellen überprüft und die persönliche Kompetenz der aussagenden Person analy-
siert werden. Bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist immer davon auszugehen, dass die Aussage
auch nicht realitätsbegründet sein kann. Ergibt die Prüfung, dass diese Unwahrhypothese (Nullhy-
pothese) mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verwor-
fen. Es gilt dann die Alternativhypothese, dass die Aussage wahr sei. Erforderlich ist dafür besonders
auch die Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussage. Dabei ist die Frage nach
der Glaubwürdigkeit der Person strikte zu trennen von jener nach der Glaubhaftigkeit ihrer Aussage,
welche Gegenstand der psychologischen Aussageanalyse ist.«
3.4 Die Unmittelbarkeit der Befragung im Praxisalltag der Richterinnen und Richter
Die Reduktion des nonverbalen Informationsgehalts der Vernehmungen in schriftlichen
Protokollen spricht dafür, die Beweiserhebung durch das Gericht unmittelbar durchführen
zu lassen. Soweit dies nicht den gesetzlichen Vorgaben oder der Gerichtspraxis entspricht,
muss es darum gehen, die mittelbare Beweiserhebung durch Bezugnahme auf möglichst au-
thentische Aufzeichnungen von Aussagen zu stützen. Gegenüber schriftlichen Aufzeich-
nungen sind Aufzeichnungstechniken durch Audio- oder noch besser Videoaufzeichnung
zur Erfassung von Gefühlsausdrücken eher geeignet. Ihre Qualität als Beweismittel hängt
freilich davon ab, wie sorgfältig ausgewertet und die Auswertung forensisch berücksichtigt
wird. Diese Techniken finden indessen, schon wegen des damit verbundenen Aufwandes,
leider wenig Verwendung.
Die Erhebung subjektiver Beweistatsachen kann unterschiedlich erfolgen, indem entwe-
der die Aussagen von Angeklagten und Zeugen unmittelbar als Beweismittel von dem er-
kennenden Gericht durch Vernehmung entgegengenommen werden oder indem das Gericht
sich als Surrogat dessen auf Aufzeichnungen früherer Aussagen bei den vorermittelnden
Instanzen (Polizei, Untersuchungsrichter, Staatsanwaltschaft) stützt und diese durch Verle-
sung oder sonstige Bezugnahme in die Hauptverhandlung einführt. Die Gesetze der drei
untersuchten Nationen machen insoweit unterschiedliche Vorgaben: Während in Deutsch-
land und Österreich die Beweiserhebung in aller Regel in der Hauptverhandlung durch das
Gericht unmittelbar stattfindet, ist dies in der Schweiz nur ausnahmsweise der Fall. Stattdes-
sen wird in der Schweiz normalerweise vom urteilenden Gericht auf frühere Aussagen Bezug
genommen, ohne dass eine nochmalige Vernehmung in der Hauptverhandlung stattfindet.
Dies ist Ausdruck unterschiedlicher Rechtskulturen: Während in Deutschland und in Öster-
reich die demokratische Kontrolle der Justiz eher schwach ausgeprägt ist und zum Ausgleich
rechtsstaatliche Sicherungen wie das Unmittelbarkeitsprinzip eine große Bedeutung besit-
zen, kann in der Schweiz wegen der demokratischen Kontrolle der Richter durch Volkswahl
auf die Unmittelbarkeit der Beweiserhebung in der Hauptverhandlung weitgehend verzich-
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 175
tet werden. Dies ist fraglos prozessökonomisch von Vorteil. Andererseits bietet eine unmit-
telbare Vernehmung eher Gelegenheit und Möglichkeiten, die Glaubhaftigkeit einer Aussage
zu prüfen als die reine Bezugnahme auf eine Aufzeichnung. Ob beim schweizerischen Mo-
dell des regelmäßigen Verzichts auf eine unmittelbare Vernehmung der Vorteil der Prozess-
ökonomie den Nachteil der geringeren Überprüfbarkeit der Glaubhaftigkeit überwiegt, soll
hier nicht erörtert werden. Hingegen besteht hier Gelegenheit, diesen Nachteil und seine
Einschätzung durch Richtende einer empirischen Prüfung zu unterziehen.
Tabelle 12 Unmittelbare Befragungen wurden im betreffenden Fall durch den Richter/
die Richterin selber durchgeführt (nach Ländern aufgeschlüsselt)
% der Fälle, in welchen die Richter/innen
eigene Befragungen durchgeführt hatten
Deutschland (n = 141, missing 3) 90,1 %
Österreich (n = 54) 60,3 %
Schweiz (n = 27) 66,7 %
alle Länder (n = 222) 79,7 %
N = 225 Fälle (3 missing)
In Tabelle 12 werden Unterschiede in der Rechtskultur zwischen den drei Ländern deutlich.
Die in Deutschland tätigen Richterinnen und Richter führten die Befragungen fast immer in
unmittelbarer Hauptverhandlung selber durch, wobei davon auszugehen ist, dass diejenigen
10 %, die im entsprechenden Fall nicht selber befragten, wohl Beisitzer einer Großen Straf-
kammer waren, innerhalb derer der oder die Vorsitzende die Befragung vornahm. Anders in
der Schweiz, wo das Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung in der Hauptverhand-
lung nur sehr beschränkt gilt und das erkennende Gericht das Urteil zumeist unter Bezug-
nahme auf die Akten trifft. Überraschend ist, dass in Österreich noch weniger unmittelbare
Befragungen als in der Schweiz vorgenommen wurden, obwohl in Österreich wie in
Deutschland das Gesetz in der Regel unmittelbare Vernehmungen verlangt. Dafür vermag
die Studie keine Erklärung zu erbringen.
In einer zusätzlichen Analyse wurde eine mögliche Abhängigkeit des Einsatzes von eige-
nen unmittelbaren Befragungen von der Qualität der vorhandenen Protokolle untersucht.
Der Vergleich der beiden Variablen ergab aber, dass (statistisch gesehen) eine als ungenügend
angesehene Protokollführung der Vorinstanzen keinen Anlass gab, nun durch das erkennen-
de Gericht selbst unmittelbar Beweis zu erheben. Wenn es auch grundsätzlich von der Art
des Mangels bei der Protokollführung abhängt, inwieweit eine gesonderte unmittelbare Be-
weiserhebung durch das Gericht dringlicher wird, so ist immerhin bemerkenswert, dass
nicht einmal die statistische Tendenz einer Korrelation zwischen mangelhafter Protokoll-
führung und unmittelbarer Beweisführung zu verzeichnen war. Dies legt nahe, dass das Aus-
maß an Unmittelbarkeit mehr mit der Rechtstradition als mit dem jeweiligen Fall zusam-
menhängt. Möglicherweise ist der vorliegend gewonnene Datensatz aber noch zu klein, um
solche Effekte wirksam zu erfassen. Die Vermutung, dass das Ausmaß an Unmittelbarkeit
sehr stark von der Rechtstradition abhängt, wird durch das nächste Resultat (Tabelle 13)
ebenfalls gestützt.
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012176
Tabelle 13 Manifestiertes Interesse der Richtenden an mehr Unmittelbarkeit im Ver-
fahren nach Ländern aufgeschlüsselt
Richter/innen, die in ihrer
derzeitigen beruflichen Stellung
mehr selber befragen können
möchten
Richter/innen, die nicht
dieser Meinung waren
% der Befragten % der Befragten
Deutschland (n = 41) 17,1 % 82,9 %
Österreich (n = 18) 16,7 % 83,3 %
Schweiz (n = 7) 14,3 % 85,7 %
alle Länder (n = 66) 14,7 % 73,3 %
N = 75 (9 missing)
Aus Tabelle 13 ist ersichtlich, dass sich das Interesse der Richtenden an (noch) mehr Unmit-
telbarkeit im Strafverfahren in allen drei Ländern in engen Grenzen hält, unabhängig davon,
wie viel Unmittelbarkeit bereits üblich ist.
Einige, jedoch fast ausschließlich deutsche Probanden machten im Fragebogen gerade bei
dieser Thematik von der Möglichkeit Gebrauch, mittels eines (wenn auch meist kurzen)
Textes zu antworten. Aus diesen Antworten geht einhellig hervor, dass die Probanden mit
ihren Möglichkeiten, im Rahmen des Prozesses überwiegend selbst zu befragen, zufrieden
sind. Sie betonen in ihren freien Antworten den hohen Stellenwert des Unmittelbarkeits-
grundsatzes und verwahren sich davor, diesen nicht (genügend) zu beachten.
Die Bedeutung, die dem Unmittelbarkeitsgrundsatz durch die befragten Richterinnen und
Richter beigemessen wird, spiegelt dessen zentrale rechtsstaatliche und rechtspraktische Be-
deutung, insbesondere für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit von
Aussagen wider. Nicht nur die kognitiv nachvollziehbare Stimmigkeit (»Irrt die Person?«),
sondern auch für die Prüfung der einer Aussage zugrunde liegenden Motivation (»Lügt die
Person?«) ist unmittelbare Beweisaufnahme unverzichtbar. Die Art des Auftretens, Mimik,
Augenkontakte, Umstände wie Zittern und Strategien des »Zeitschindens« lassen vielfach
direkte Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit des Befragten zu. Wer lügt, muss die Über-
sicht über mehrere Szenarien gleichzeitig behalten: nicht nur über das erfundene und das
reale Szenario, sondern auch noch über die Fakten, die er offiziell erfahren hat und somit
wissen darf (sog. cognitive load). Daher stellt das aktive Lügen eine große kognitive Belas-
tung dar, eine nur schwer zu erbringende Leistung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses.
Anstatt nach komplexen Lügenmerkmalen zu suchen, lohnt es sich deshalb darauf zu achten,
ob die befragte Person übertrieben lange nachdenken muss oder ob sie zu Wortrepetitionen
zwecks Zeitgewinns neigt. Solche Wortrepetitionen sind deutlich langsamer als Stottern.
»Zeitschinden« gilt als empirisch gesichertes Kriterium für Täuschungsmanöver (Vrij 2008,
404). Solche Umstände sind aus Protokollen zumeist nicht ersichtlich.
Generell können nonverbale Äußerungen in aller Regel nur durch unmittelbare Beweis-
erhebung geprüft werden. Über deren gerichtliche Verwertbarkeit herrscht allerdings eine
wissenschaftliche Kontroverse, welche die europäischen und amerikanischen Forscher ent-
zweit. Die amerikanische Emotionsforschung von Paul Ekman befasst sich mit nonverbalen
Täuschungszeichen. Ekman hat Gesichtsausdrücke mit den entsprechenden Muskelbewe-
gungen kodiert (im sog. Facial Action Coding System, FACS) und mit empirischen Studien
nachgewiesen, dass gewisse Gesichtsausdrücke sogenannten Basis-Emotionen entsprechen,
die kulturunabhängige, humanpsychologische Konstanten sind. Unterschieden werden da-
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 177
bei willentlich kontrollierte Gesichtsausdrücke (etwa das unechte, gezwungene Lächeln)
und solche Ausdrücke, die echt, also nicht willentlich gesteuert sind (etwa das sog. Du-
chenne-Lächeln). Ekman befasst sich auch mit Täuschungssignalen im Gesicht, die er an-
hand von sogenannten Mikro-Gesichtsausdrücken (Micro-Momentary Expressions,
MMEs) lokalisiert. MMEs treten im Alltag oft auf und sind für geübte Beobachter erkennbar,
wenn sie aufmerksam auf die Mimik ihres Gegenübers achten. Bei Individuen, die versuchen
andere zu täuschen, spiegeln sich in den MMEs für einen ganz kurzen Moment (ca. 1/6 bis
1/2 Sekunde) unwillentlich gewisse Emotionen wie etwa Verachtung, Triumph, Überra-
schung oder Unglauben, die gar nicht zum Inhalt des Gesagten und zum willentlich kon-
trollierten Gesichtsausdruck passen. Die Ekmanschen Lügenzeichen sind allerdings indivi-
duell verschieden, und es fehlen klare Kategorien. Zudem fehlen Studien, in denen die Trenn-
schärfe zwischen wahren und unwahren Aussagen anhand konkreter MMEs bestimmt und
die Übereinstimmung der Wahrnehmung relevanter MMEs zwischen verschiedenen Beob-
achtern gemessen werden könnte.
Hermanutz, Litzcke, Kroll & Adler (2008, 35), die sich auf andere amerikanische Forscher
beziehen, führen eine Diskrepanz im nonverbalen Ausdrucksverhalten zwischen Basisver-
halten und tatrelevantem Verhalten auch als Indiz für Täuschungsversuche an, allerdings nur
dann, wenn die Veränderung nicht durch Angst, persönliche Betroffenheit, Müdigkeit oder
Variationen des Befragungsstils hervorgerufen wird. Die dort (Hermanutz et al. 2008,
104 ff.) genannten Beispiele für nonverbale Diskrepanzen sind Pupillenerweiterung, Abnah-
me der Illustratoren2, Zunahme der Adaptatoren3, vorgetäuschtes Lächeln etc. Freilich ist zu
beachten, dass diese Kennzeichen im Einzelnen wissenschaftlich umstritten sind (vgl. Vrij
2008).
Diese Forschungsrichtung hat – anders als in den USA – bislang in der mitteleuropäischen
Rechtstradition wenig Beachtung erfahren. Dies mag daran liegen, dass die Hauptverhand-
lung vor einer Jury mit Schlagabtausch zwischen Anklage und Verteidigung nach US-ame-
rikanischem Muster stärker auf die Beachtung emotionaler Ausdrücke angelegt ist als die
eher nüchtern und bürokratisch angelegte Hauptverhandlung in deutschsprachigen Län-
dern. Hinzu kommt, dass in den USA Angeschuldigte wahlweise unter Eid aussagen kön-
nen, was die Bedeutung der unmittelbaren, auch Emotionen berücksichtigenden Befragung
erhöht.
3.5 Einflüsse von Rechtsvertretern, Medien und bürokratischem Druck
Der Einfluss der Verteidigung war gemäß der richterlichen Einschätzung in ca. 16 % »gut«
bis »sehr stark« entlastend auf die Beurteilung des Angeklagten. In anderen Fällen, die rund
10 % der Stichprobe ausmachten, wirkte die Verteidigung hingegen nicht entlastend (in »gu-
tem«, »starkem« oder sogar »sehr starkem« Ausmaß).
Die Opfervertretung hatte hingegen kaum Einfluss auf die richterliche Entscheidungsfin-
dung – weder im Sinne einer Belastung noch einer Entlastung der Angeklagten.
Die Frage zu allfälligen Einflüssen durch die Medien und durch aktuelle politische Strö-
mungen auf den Prozess wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Umfrage nur
sehr unvollständig ausgefüllt. Die Gründe hierfür sind unbekannt. Bei den Medieneinflüssen
waren rund 42 % der Fragebögen nicht ausgefüllt. Weitere 40 % der Richterinnen und Rich-
ter schrieben, es habe keine nennenswerte Berichterstattung gegeben, weitere 15 % bemerk-
2 Illustratoren sind Gesten, die das Gesagte verdeutlichen (z.B. Augenrollen, mit dem Finger auf etwas
zeigen, etc.).
3 Adaptatoren sind erlernte Bewegungen, welche Emotionen begleiten (z.B. sich das Gesicht berühren,
Händeringen, mit den Beinen wippen).
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012178
ten überhaupt keinen Effekt dieser Art. In seltenen Fällen (ca. 3 %) gab es offenbar einen
passablen oder schwachen belastenden Einfluss durch die Medienberichterstattung auf das
Gericht. Entlastende Medienberichterstattung wurde nur in 1 % der Fälle festgestellt. Auch
die Kommentare zum Einfluss aktueller politischer Strömungen und der Medienberichter-
stattung auf die Verfahrensführung ließen sich nicht zweckmäßig auswerten. Soweit Kom-
mentare abgegeben worden waren, wurde allenfalls kurz bemerkt, die Fälle hätten keine
mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Einflüsse auf die Beweisführung in ihrem Prozess durch einen allfälligen bürokratischen
Zwang wie Spar- und Arbeitsdruck wurden von den befragten Richterinnen und Richtern in
45 % der Fälle klar verneint. Ein Drittel der Befragten (31 %) schrieb, dass ihr Gericht nicht
unter Spardruck stehe, so dass sich die Frage erübrige. In »sehr schwachem« oder »schwa-
chem« Ausmaß erachteten die Richtenden Spar- und Arbeitsdruck bei rund 10 % der Fälle
als relevant, in weiteren 7 % in »passablem« oder »gutem« Ausmaß, aber nur sehr selten
(1 %) in »starkem« Ausmaß und gar nie in »sehr starkem« Ausmaß.
Kommentare deutscher Richter zum Einfluss des Arbeits- respektive Spardrucks auf die
richterliche Verfahrensführung ähneln sich darin, dass »kein Spar-, aber Arbeitsdruck« die
Entscheidungsfindung präge. Der Spardruck habe »keinen Einfluss, da Strafverfahren unab-
hängig vom Spardruck zu führen ist. Verfahren liegen aber länger bis zur Hauptverhand-
lung«. Ein Kommentar stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Spar- und Ar-
beitsdruck derart her, dass der Spardruck sich durchaus als Erhöhung der Arbeitsbelastung
bemerkbar mache. Nur so könnten unerwünschte Folgen für den Angeklagten abgefedert
bzw. kompensiert werden: »Der Einfluss des Spardrucks auf die Verhandlungsleitung ist
schon erheblich. Bisher bin ich der Meinung, dass dies den Angeklagten weder zu Vorteil
noch zu Nachteil gereicht hat. Folgen des Spardrucks konnten bisher durch verstärkten Ar-
beitseinsatz (Sitzung bis in die Nachtstunden) aufgehalten werden«. Ein anderer Richter
stellt heraus, »der ›Spardruck‹ hat sich noch nicht auf die Verfahrensführung ausgewirkt, er
wirkt eher außerhalb der Verhandlung (Bücheranschaffung, EDV, Telefon u.Ä.)«. Mit der
»richterlichen Unabhängigkeit« begründet ein weiterer Richter: »Ich entscheide nicht nach
fiskalischer Würdigung«. Der Spardruck macht sich nicht nur in Deutschland, sondern auch
in Österreich bemerkbar. Ein österreichischer Richter rückt aber in den Vordergrund die
»Pflicht zur materiellen Wahrheitsforschung, es werden trotz Sparkurses alle erforderlichen
Beweise erhoben«. Offenbar werden länderübergreifend rechtsstaatliche Gebote und Ideale
auch unter schwierigen Umständen als indisponibel angesehen.
Solche Störfaktoren scheinen also, wenn überhaupt, nur ganz vereinzelt in gewissen kom-
plexen oder medienwirksamen Fällen aufzutreten.
3.6 Selbsteinschätzung der Urteilsfindung jenseits eines vernünftigen Zweifels
Eine strafrechtliche Verurteilung setzt voraus, dass keine vernünftigen Zweifel an der Schuld
des Angeklagten bestehen. Wo solche vorhanden sind, ist nach dem Grundsatz in dubio pro
reo freizusprechen. Das objektive Kriterium der Vernünftigkeit besteht in der Prognose der
voraussichtlichen Wahrheitswahrscheinlichkeit der Überzeugung von der Schuld des Ange-
klagten. Nicht die Wahrheitsüberzeugung als solche, sondern die von einer genügenden ob-
jektiven Wahrheitswahrscheinlichkeit getragene Wahrheitsüberzeugung ist die Basis ver-
nunftgerechter richterlicher Entscheidungen. Obwohl bei der Verurteilung ein Höchstmaß
an Wahrheitsüberzeugung verlangt ist, schließt dies die Möglichkeit eines Irrtums nicht aus.
Wegen dieser Irrtumsmöglichkeit lässt sich die gerichtliche Tatsachenfeststellung nie defini-
tiv als wahr, sondern stets nur als mit einer hohen Wahrscheinlichkeit als wahr erweisen. In
den USA wurde verschiedentlich versucht, das für den Schuldspruch zu fordernde Ausmaß
an Wahrheitswahrscheinlichkeit numerisch auszudrücken (Kunz 2009). Daran anknüpfend
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 179
haben wir die Richtenden danach gefragt, wie hoch sie die Wahrheitswahrscheinlichkeit der
der betreffenden Entscheidung zugrundeliegenden Beurteilung »schuldig« oder »nicht
schuldig« einschätzen.
Tabelle 14 Gefällte Urteile in Abhängigkeit der geschätzten Schuld- und Unschulds-
wahrscheinlichkeit für die Hauptangeklagten an den jeweiligen Tatvorwür-
fen (gemäß der Meinung der befragten Richter/innen)
attribuierte
Wahrscheinlichkeit
richterliche Entscheidung
schuldig in der Haupttat unschuldig in Haupttat
und schuldig in Nebentat
Einstellung
Rückwei-
sung an StA
voller
Freispruch
angeklagter
Tatbestand
anderer
Tatbestand
angeklagter
Neben-
tatbestand
anderer
Neben-
tatbestand
alle Tat-
vorwürfe
alle Tat-
vorwürfe
mehr als 99 % unschuldig
(n = 3) – – 33 %
(n = 1) –33 %
(n = 1)
33 %
(n = 1)
ca. 95 % unschuldig
(n = 1) – – – – 100 %
(n = 1) –
ca. 90 % unschuldig
(n = 3) – – – – 33 %
(n = 1)
66 %
(n = 2)
unklar, irgendwo in der
Mitte zwischen unschuldig
und schuldig (n = 23)
4 %
(n = 1)
9 %
(n = 2)
4 %
(n = 1)
9 %
(n = 2)
17 %
(n = 4)
57 %
(n = 13)
ca. 90 % schuldig
(10 % Irrtumswahrschein-
lichkeit) (n = 9)
78 %
(n = 7) – – – 11 %
(n = 1)
11 %
(n = 1)
ca. 95 % schuldig
(5 % Irrtumswahrschein-
lichkeit) (n = 25)
84 %
(n = 21)
12 %
(n = 3) – – 4 %
(n = 1) –
mehr als 99 % schuldig
(1 % Irrtumswahrschein-
lichkeit) (n = 144)
87 %
(n = 125)
8 %
(n = 11)
3 %
(n = 5) –1 %
(n = 2)
1 %
(n = 1)
N = 225 (missing 17)
In Tabelle 14 wird ersichtlich, wie das Urteil von der Schuld- und Unschuldswahrschein-
lichkeit in der Meinung der Richtenden abhängt. Wenn die Richtenden zur Überzeugung
gelangt waren, dass die Angeklagten zu 99 % oder mehr schuldig sind (d.h. 1 % Irrtums-
wahrscheinlichkeit), wurden sie in 87 % der Fälle auch schuldig gesprochen. Wenn die Rich-
tenden nur eine 95 %ige Wahrscheinlichkeit von Schuld annahmen (5 % Irrtumswahr-
scheinlichkeit), dann wurden 84 % verurteilt in der Haupttat und auch bei einer nur
90 %igen Schuldwahrscheinlichkeit (Irrtumwahrscheinlichkeit also 10 %) wurden noch
78 % der Angeklagten für die Haupttat verurteilt. Eine Person wurde offenbar verurteilt,
obwohl die Zweifel an der Schuld größer als 10 % waren. Wir wissen nicht, was hinter den
Fällen mit relativ großer Irrtumswahrscheinlichkeit steht. Es handelt sich wahrscheinlich um
die Minderheitsmeinungen aus dem jeweils beteiligten Richtergremium und besagt wohl
kaum, dass die antwortenden Richter gegen ihre eigene Überzeugung gesprochen hätten.
Im Hinblick auf Divergenzen zwischen der geschätzten Irrtumswahrscheinlichkeit und
dem Urteil gäbe es viele interessante Analysen zu machen, etwa über die Vernetzung und
Verdichtung der verschiedenen Beweismittel je nach Deliktstyp. Leider ist der Datensatz
dafür noch zu klein.
MschrKrim 95. Jahrgang – Heft 3 – 2012180
4. Diskussion
Die richterliche Tatsachenfeststellung hat sich zentral am Anliegen der Wahrheitsermittlung
auszurichten. Ziel des Beweisverfahrens ist die Ermittlung der objektiven Wahrheit, also die
Übereinstimmung des zur Grundlage des Urteils gemachten Geschehens mit dem tatsächli-
chen Geschehensablauf, über den zu befinden ist. Unter den Realbedingungen eines Ge-
richtsverfahrens mit seinen zeitlichen, örtlichen und wirtschaftlichen Begrenzungen, mit be-
streitenden Parteien, nachlassendem Erinnerungsvermögen von Zeugen, nicht eindeutigen
Befunden, rechtsstaatlich beschränkten Beweismöglichkeiten und der Unvollkommenheit
menschlichen Urteilens kann die genügende Sicherheit über die Erwiesenheit einer Tatsache
nur annäherungsweise erzielt werden. Diese Beschränktheit kommt im Begriff der »prozes-
sualen« Wahrheitsfindung zum Ausdruck, die sich nach Kräften um Aufspürung der objek-
tiven historischen oder materiellen Wahrheit zu bemühen hat, sich dabei aber auf das mit
ihren Kräften zu Leistende bescheiden darf. Wie die Gerichte diese schwierige Aufgabe be-
wältigen und was sie sich dabei an zu Leistendem zumuten, ist nicht allein durch gesetzliche
Vorgaben bestimmt. Vielmehr bildet sich dies regelmäßig in der Praxis der richterlichen Ent-
scheidungsbildung heraus, ohne ausdrücklich in der schriftlichen Urteilsbegründung thema-
tisiert zu werden. Die Studie hat einige Aspekte von Zusammenhängen dieser Entschei-
dungsbildung beleuchtet, wobei noch viele Aspekte der strafgerichtlichen Urteilsbildung
im Dunkeln bleiben.
Aus den Ergebnissen der Studie lassen sich im Wesentlichen folgende für die Gerichtspra-
xis bedeutsame Erkenntnisse ableiten: Subjektive Beweismittel (Aussagen des Angeklagten,
von Zeugen und Geschädigten oder Opferzeugen) sind für die gerichtliche Urteilsfindung
mindestens ebenso bedeutsam wie objektive. Speziell subjektive Beweismittel sind in der
Hauptverhandlung zur Entlastung des Angeklagten geeignet. Aussagen von Geschädigten
belasten den Angeklagten überraschenderweise nicht mehr als Aussagen sonstiger Zeugen.
Ob in der Hauptverhandlung Aussagen durch unmittelbare Befragung erhoben werden oder
auf den Inhalt der Akten Bezug genommen wird, hängt in erster Linie von den gesetzlichen
Vorgaben des jeweiligen Rechtskreises ab. Freilich neigen Gerichte, speziell in Österreich,
dazu, trotz im Regelfall durchzuführender unmittelbarer Beweiserhebung auf eine solche zu
verzichten. Ein Interesse der Richtenden an mehr Unmittelbarkeit im Strafverfahren besteht
in keinem der drei Länder. Wie die Emotionsforschung zeigt, ist die unmittelbare Verneh-
mung durch das erkennende Gericht gleichwohl für die Wahrheitsfindung wichtig, um ge-
fühlsgesteuerte nonverbale Äußerungen erkennen zu können. Angeklagte, die den Tatvor-
wurf ursprünglich bestreiten oder dazu schweigen, legen häufig im weiteren Verfahrensver-
lauf zumindest ein Teilgeständnis ab. Dies erfolgt prozesstaktisch, insofern darauf verzichtet
wird, wenn die übrige Beweislage nicht zur Überführung ausreicht. Die aussagepsychologi-
sche Überprüfung subjektiver Beweismittel ist in den deutschsprachigen Rechtskreisen
deutlich ausbaufähig. Für taugliche Überprüfungen der Glaubwürdigkeit von Aussagen sind
unmittelbare Vernehmungen die beste Voraussetzung. Videoaufzeichnungen und allenfalls
Audioaufzeichnungen sind der Protokollierung überlegen, insofern sie auch die authenti-
sche Dokumentation von Gefühlsausdrücken erlauben. Die bei schriftlicher Protokollie-
rung beweiskräftigsten wörtlichen Protokolle werden naheliegender Weise am häufigsten
in der Schweiz verwendet, weil dort in der Regel auf eine unmittelbare Beweiserhebung
verzichtet wird. Obwohl die Richtenden faktisch auch in Österreich häufig keine eigenen
Befragungen durchführen, werden Urteile dort oft auf Grund von bloßen Sinnprotokollen
getroffen. Nicht selten wenden Richtende aussagepsychologische Methoden zur Prüfung
der Glaubhaftigkeit an; noch mehr Richtende sind daran interessiert. Was die Wahrheits-
wahrscheinlichkeit der ihrer eigenen Entscheidung zugrundeliegenden Beurteilung »schul-
dig« oder »nicht schuldig« betrifft, sind Richtende überraschenderweise relativ skeptisch.
Kunz/Haas, Zusammenhänge der strafgerichtlichen Entscheidungsfindung 181
Mit der vorliegenden Befragung wurde das dieser Untersuchung zugrundeliegende Mo-
dell der Markow-Kette noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Mit einem größeren Datensatz
von beispielsweise 1.000 oder mehr Fällen lassen sich weitergehend etwa deliktsspezifische
Unterschiede für die Urteilsbildung erfassen. Die richterliche Erfahrung legt nahe, dass die
unterschiedlichen Beweismittel je nach Deliktsart eine andere Relevanz erhalten: Man denke
etwa an den frappanten Unterschied in der Gewichtung von Zeugenaussagen bei Straßen-
verkehrsdelikten im Vergleich zu Sexualdelikten. Mit Hilfe des entwickelten Modells kön-
nen später zudem typische Entscheidungspfade eruiert werden, die zu den vier möglichen
Ergebnissen eines gerichtlichen Abschlusses des Strafverfahrens führen: Schuldspruch, Frei-
spruch, Einstellung und Rückweisung an die Staatsanwaltschaft.
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gisches Institut der Universität Zürich, Binzmühlestrasse 14/16, CH-8050 Zürich; henriette.haas@
access.uzh.ch)
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