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Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern:
Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
Stellungnahme des
Wissenschaftlichen Beirats
für Verbraucher- und Ernährungspolitik
beim BMELV
November 2009
Hauptautoren:
Andreas Oehler, Daniel Kohlert (Gastautor), Helmut Jungermann
mit Anmerkungen von
Lucia Reisch und Hans.-W. Micklitz
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
3
Die vorliegende Stellungnahme setzt sich intensiv mit der Problematik der Finanzberatung im Rahmen des
gesamten Themenkomplexes der Verbraucherfinanzen auseinander. Es werden dabei einige wesentliche,
pragmatisch orientierte Lösungsvorschläge unterbreitet, die aktuell umzusetzen sind. Es wird unter anderem
deutlich, dass eine Erarbeitung zu einzelnen Kriterien (z.B. Rendite, Risiko, Transparenz, Liquidität, soziale
und ökologische Kriterien) und Standards erst am Anfang steht. Die Entwicklung und inhaltliche Diskussion
von Kriterien und Standards im Detail bleibt weiteren Stellungnahmen des Beirats vorbehalten.
Mit der Stellungnahme wird die Politik des Bundes und der Länder, insbesondere die zuständigen Bundes-
ministerien, der Bundestag und der Bundesrat sowie die jeweiligen Institutionen der Länder, aufgefordert,
folgende Maßnahmen zeitnah zu realisieren und ggf. zusätzlich auf EU-Ebene initiativ zu werden.
(1) Hauptziel 1: Transparenz und Wettbewerb im Finanzdienstleistungssystem, Abbau der
bestehenden Asymmetrien zu Lasten der Verbraucher.
Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Beratungsmarktes ist die Transparenz des Systems. Nur
wenn die Leistungen der Anbieter gut beurteilbar sind, kann ein funktionierender Qualitätswettbewerb
entstehen. Ansonsten versagt der Preis als Qualitätsindikator, weil sich ein Zusammenhang zwischen
Preis und Qualität nicht herstellen lässt. Ist das tatsächliche Preis-Leistungs-Verhältnis nicht zu ermit-
teln oder verzerrt und sind somit verschiedene Anbieter und Angebote für den Kunden nicht vergleich-
bar, können gute Anbieter und Angebote nicht honoriert und schlechte Anbieter und Angebote von
Verbrauchern nicht gemieden werden.
(2) Hauptziel 2: Verbraucher müssen wirksam und nicht nur pro forma vor schlechter Bera-
tungsqualität oder Falschberatung geschützt werden.
Nicht nur für den einzelnen Bürger können die Konsequenzen schlechter Beratung gravierend sein,
sondern vor allem auch der gesamtwirtschaftliche Effekt darf nicht vernachlässigt werden.
(3) Hauptziel 3: Aufklärung und Beratung müssen unabhängig sein von Anbieter und Pro-
dukt; dies muss faktisch in der Praxis sichergestellt werden.
Der alleinige getrennte Ausweis von Preisen für Produkte und Beratung, die heute auch als Baustein
der Honorarberatung verstanden wird, führt nicht per se zu einer Stärkung der Position der Verbrau-
cher. Da auch ein Honorarberater über ein pekuniäres Eigeninteresse verfügen kann, das sich z.B. in
opportunistischem Verhalten (z.B. Steigerung der Beratungsdauer bzw. Beratungshäufigkeit) nieder-
schlägt, ist dafür Sorge zu tragen, dass Höhe und Häufigkeit der Honorierung standardisiert und kon-
trolliert werden. Insbesondere die absolute Höhe des Honorars kann zudem für viele Anleger eine
kaum überwindbare Hürde darstellen. Außerdem ist auch hier mit Standards (s.u.) eine kontrollierte
Qualität vorzusehen.
(4) Maßnahme 1: Wirksame und praktisch kontrollierbare Informationspflichten der Anbie-
ter zu ihrer Produkt-Kunde-Zuordnung.
Anbieter legen ihren Empfehlungen i. d. R. nur eine geringe Produktbasis zugrunde. Hier ist eine klare
Informationspflicht einzuführen. Zu unrecht wird häufig der Eindruck erweckt, der Verbraucher er-
hielte im Mengenkundengeschäft individuelle Empfehlungen. Vielmehr werden Verbraucher in be-
stimmten Risikoprofilen mit verschiedenen Bezeichnungen und Bedeutungen (z.B. Sicherheit, Chance,
Wachstum) eingeordnet, denen dann standardisiert eine Kombination verschiedener Produkte zugeord-
net wird. Anbieter sollten beispielsweise verpflichtet werden, die jeweiligen Profile und ihre Bedeu-
tung sowie das entsprechende Anlageprogramm öffentlich zu machen (z.B. über eine Internet-Daten-
bank). Dies würde die Markttransparenz und den Wettbewerb erheblich steigern. Andere Produkte
dürften nur auf ausdrücklichen Kundenwunsch angeboten werden.
(5) Maßnahme 2: Einheitliches Zertifizierungssystem mit realistischer laufender Kontrolle
(keine Zertifizierung pro forma ohne Wirkung für den Verbraucher).
Solcherlei echte Information, die unabhängig von Anbieter und Produkt sowie jenseits von Gewinner-
zielungsabsichten erfolgt, hat eine Zuordnung für typisierte Verbraucherinteressen vorzunehmen, da-
mit die Informationen für Verbraucher tatsächlich einen Wert haben. Für Kunden wird damit der Be-
urteilungsaufwand reduziert. Es „führt“ zu qualitativ hochwertigen Angeboten und warnt gleichzeitig
vor Angeboten schlechter Qualität.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
4
(6) Maßnahme 3: Einheitliche Mindeststandards in der Beratung.
Um die Qualität und Qualifikation im Beratungsprozess selbst zu verbessern, sollen einheitliche Stan-
dards hinsichtlich der Verknüpfung von Kundenprofilen und Produktkategorien entwickelt und festge-
setzt werden. Alle Bereiche des Beratungsprozesses, die Diagnose, die Informationsvermittlung und
die Empfehlung sollten hierauf ausgerichtet werden. Die in der Praxis üblichen Verfahren sind i.d.R.
weder transparent, noch qualitativ ausreichend (es mangelt bereits an der Erfassung der Kundendaten)
und sie können leicht manipuliert und nach dem Vertriebsinteresse ausgerichtet werden.
(7) Maßnahme 4: Mindeststandards der Diagnose und Information.
Verschiedene Anbieter ordnen identische Produkte unterschiedlichen Risikoklassen zu. Auch die
Software, die zur Beratung eingesetzt wird, lässt sich so einstellen, dass die für die Anbieter, nicht un-
bedingt für den Kunden, optimalen Produkte ausgeworfen werden. Klare und insbesondere allgemein
gültige Standards sind daher notwendig, um ein einheitliches Qualitäts- und Qualifikationsniveau zu
sichern. Es sollen fundierte Vorgaben entwickelt und in konkrete rechtliche Pflichten gefasst werden,
die Berater bei der „Diagnose“ der ratsuchenden Verbraucher befolgen müssen. Diese Standards soll-
ten empirisch entwickelt sein, d.h., es sollte sichergestellt werden, dass der Diagnoseprozess die rele-
vanten Aspekte der Kundensituation erfasst und dass er unabhängig von dem Berater, der den Prozess
durchführt, bei gleicher Kundensituation zum gleichen Ergebnis kommt. Insbesondere hinsichtlich der
Risikoprofile von Finanzprodukten und ihrer Kombination mit bestimmten Anlegertypen muss sicher-
gestellt sein, dass der Verbraucher nicht nur das Produktrisiko korrekt wahrnimmt, sondern auch seine
eigene Bereitschaft, Risiken einzugehen, korrekt einschätzt.
(8) Maßnahme 5: Mindeststandards der Empfehlung an Kunden.
Standardisierte Verfahren der Generierung von Empfehlungen sollen auf die empirische Entwicklung
konkreter Standards für Diagnose- und Informationsprozesse folgen. Wesentlich ist es auch hier, einen
einheitlichen Qualitäts- und Qualifikationsstandard zu schaffen, der Nachfrage nach Finanzprodukten
und Angebot an denselben effizient und interessengerecht aus Perspektive der Verbraucher zusammen-
führt. Dabei sind mehrere wesentliche Faktoren zu berücksichtigen: Welche Kategorien von Anlageop-
tionen kommen bei dem gegebenen Kunden aufgrund dessen Charakteristika wie Alter, Einkommen
usw. nicht in Frage, d.h. dürfen vom Berater nicht angeboten werden? Welche Kategorien von Anlage-
optionen kommen in Frage, insbesondere auch angesichts der Risikoeinstellung und Renditeerwartung
des Kunden (ggf. auch bzgl. sozialer und ökologischer Aspekte), und angesichts der Ratings durch eine
unabhängige Institution? Welche Art der Anlageoption wird standardmäßig (als default) empfohlen,
falls der Kunde sich beispielsweise nicht ausführlicher mit dem Anlageproblem beschäftigen kann oder
will? Ein solches Vorgehen nimmt dem Anleger nicht die Entscheidung ab und lässt ihm Wahlfreihei-
ten, bietet aber einen Rahmen, innerhalb dessen er die für ihn beste Entscheidung treffen kann.
(9) Maßnahme 6: Verbraucherbildung und -aufklärung.
Reflektierendes Handeln der Verbraucher ist zu fördern (insbesondere hinsichtlich des Rendite-Risiko-
Verhältnisses, der Transparenz, der Liquidität, oder auch bzgl. sozialer und ökologischer Kriterien).
Verbraucher sind für die Relevanz finanzieller Fragestellungen und deren Existenzbedeutung zu sensi-
bilisieren. Um allerdings wirklich die Zielgruppen zu erreichen, die Finanzbildung besonders benöti-
gen, sollten verschiedene Aspekte Beachtung finden. Zunächst sollten Verbraucherorganisationen ver-
stärkt Kooperationen zu erreichen suchen mit anderen Institutionen wie beispielsweise Unterneh-
men/Arbeitgebern, Universitäten und Gewerkschaften, welche die Verbraucher in ihrem speziellen
Umfeld deutlich effektiver und effizienter erreichen können als die bislang überwiegend verfolgten,
groß angelegten aber gleichzeitig relativ allgemein gehaltenen Ansätze. Zudem sollte mehr Aufmerk-
samkeit darauf verwendet werden, Verbrauchern den unmittelbaren Nutzen der angebotenen Bildungs-
und Beratungsleistungen zu vermitteln. Mit einer frühen wirtschaftlichen und finanziellen Grundbil-
dung in der Schule könnte Kompetenz gefördert werden. Das bestehende System, das allein vom
Verbraucher verlangt, die für seine individuelle Situation relevanten Informationen zu kennen und zu
bekommen, ist weder effektiv noch effizient.
(10) Maßnahme 7: Verbrauchergerechtes Rechtssystem mit Beweislastumkehr.
Konsequenz des Versagens des präventiven Schutzes durch Befragungs-, Aufklärungs- und Beratungs-
pflichten ist es, diese Ex-ante-Regulierung durch ein strengeres Haftungssystem zu ergänzen und teil-
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
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weise zu ersetzen. Da es bislang äußerst schwierig für einen Verbraucher ist, eine fehlerhafte Beratung
nachzuweisen, schließt dies die Forderung einer Beweislastumkehr zugunsten der Verbraucher ein. Ei-
ne Beratung lässt sich nur bedingt rechtlich verregeln. Sie wird allen Versuchen der Standardisierung
zum Trotz einen individuellen Charakter tragen. Will man die negativen Folgen vermeiden, dass sich
die standardisierte Beratung verbunden mit der Dokumentationspflicht de facto und de jure als Haf-
tungsausschlussklauseln auswirken, bleibt nur der harte Weg über die Beweislastumkehr. Erst über die
drohende Haftung wird sich eine ausreichend detaillierte und den individuellen Umständen angepasste
Dokumentation einstellen.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme und Lösungsansätze
2
Inhaltsverzeichnis
A Einführung.....................................................................................3
B Qualitätswettbewerb......................................................................5
C Berater- und Vertriebsinteresse....................................................7
D Beratungsprozess: Ermittlung des Kundenprofils.........................8
E Beratungsprozess: Information für den Kunden..........................10
F Beraterqualifikation......................................................................11
G Produktkennzeichnung ...............................................................13
H Dokumentation............................................................................13
I Checklisten...................................................................................16
J Verbraucher- und Finanzbildung..................................................17
K Lösungsansätze..........................................................................19
L Quellenangaben ..........................................................................28
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
3
A Einführung
(1) Nicht erst seit Beginn der so genannten Finanzkrise ist die Qualität der Finanzberatung von Pri-
vatanlegern ein Thema, aber seit viele Anleger mit ihren Finanzprodukten viel Geld verloren haben
und oft gleichzeitig die Altersvorsorge betroffen ist, wird die Finanzberatung öffentlich und um-
fänglich diskutiert: In den Printmedien und im Fernsehen, von Ministerien, Parteien, und Gewerk-
schaften, von Organisationen des Verbraucherschutzes, in der Wissenschaft und natürlich, wenn-
gleich eher unfreiwillig, von den Anbietern von Finanzprodukten.
(2) Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Berichten von Anlegern über ihre Erfahrungen wie auch,
meist anonym, von Mitarbeitern über die Praxis von Beratung und Vermittlung bei den Finanzan-
bietern sowie zahlreiche empirische Untersuchungen der Anlageberatung aus der Wissenschaft
1
und
aus dem Bereich des Verbraucherschutzes (Stiftung Warentest). Auf diese Befunde beziehen sich
die zahlreichen, ganz unterschiedlichen Vorschläge zu einer Verbesserung der Finanzberatung, von
denen einige in den letzten Monaten durch das BMELV (bzw. Regierung und Bundestag) auch um-
gesetzt worden sind.
(3) Die Europäische Kommission hat das Thema ebenso für sich entdeckt wie das Vereinigte Kö-
nigreich.
2
Die Europäische Kommission hat in die Mitteilung der Kommission zu den ‚Packaged
Retail Investment Products’
3
vom 30.4.2009 zwei Ziele formuliert: die Entwicklung eines horizon-
talen Ansatzes für all diejenigen Finanzprodukte, die bislang Gegenstand produktbezogener Regeln
sind. Der zweite große Komplex, den die EG regeln will, ist die Rolle und Funktion der Vermittler
von Finanzprodukten. Hier will sich die Kommission offensichtlich an der Versicherungsvermitt-
lungs-Richtlinie 2002/92
4
orientieren, die zwar gegenüber den speziellen Regelungen für den
Verbraucherkredit und den Kapitalmarkt (MIFID) weitergehende Anforderungen bereithält, aber aus
Verbrauchersicht viele Fragen offen lässt. Insbesondere lässt sie es an Aussagen über ein klares Be-
rufsbild und die sich daraus ergebende Haftung des Vermittlers vermissen.
(4) In dieser Stellungnahme werden die vorliegenden Vorschläge und Konzepte einer kritischen
Betrachtung unterzogen. Dabei geht es primär um die Beratung bei der Anlage in Wertpapieren,
wenngleich viele der angesprochenen Probleme und Vorschläge bei anderen Formen der Geldanlage
(Versicherungen, Altersvorsorge, Immobilien) und der Finanzierung in ähnlicher Weise zu sehen
1
Vgl. Oehler / Kohlert 2008, 2009b.
2
FSA, Distribution of retail investments Delivering the RDR, June 2009.
3
COM (2009) 204 final, 29.4.2009.
4
ABl. EG L 9, 15.1. 2003,3.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
4
sind.
5
Als Fazit sei vorweg genommen, dass die meisten der kursierenden Vorschläge der Wirklich-
keit der Finanzberatung und ihren Möglichkeiten nicht gerecht werden und kaum eine Verbesserung
im Sinne eines besseren Schutzes der Privatanleger bewirken können. Daher werden am Ende ei-
nige weitergehende bzw. alternative Vorschläge zur Veränderung der jetzigen Struktur von Bera-
tung und Vermittlung aufgezeigt.
(5) Folgende Probleme und dazu in Wissenschaft und Praxis diskutierte Vorschläge werden behan-
delt:
• Qualitätswettbewerb: Die Transparenz der angebotenen Produkte und Beratungsleistungen für
den Kunden soll verbessert werden, um ihnen Vergleiche zu erleichtern und damit den Wett-
bewerb unter den Finanzdienstleistern zu fördern.
Aber: Beratungsleistungen sind für den Kunden kaum vergleichbar, da weder Produkte noch
Prozesse transparent sind und viele Kunden die erforderliche Kompetenz nicht besitzen und
auch nicht erwerben können oder wollen.
• Berater- und Vertriebsinteresse: Berater sollen ihre Provisionen offenlegen, die honorarba-
sierte Beratung soll gestärkt werden bzw. die provisionsbasierte Beratung ersetzen. Noch wei-
tergehend: Beratung und Vermittlung sollen getrennt werden.
Aber: Obwohl die provisionsbasierte Beratung zu Recht kritisiert wird, ist es nicht zu erken-
nen, warum eine honorarbasierte Beratung, die unternehmerisch agieren muss, eine bessere
Qualität bieten sollte.
• Beratungsprozess: Ermittlung des Kundenprofils: Die Klärung des Kundenprofils soll verbes-
sert werden, beispielsweise durch Checklisten.
Aber: Die Art der Erhebung der relevanten Informationen vom Kunden wie auch die Informa-
tion über die Produkte ist nicht empirisch untermauert und nicht standardisiert und sie wird
daher von jedem Berater bzw. Anbieter unterschiedlich gehandhabt.
• Beratungsprozess: Information für den Kunden: Der Kunde soll über die Produkte zutreffend,
vollständig, unmissverständlich sowie gedanklich geordnet aufgeklärt werden (s. Wertpapier-
handelsgesetz). Anleitungen wie z.B. ein „Routenplaner“ sollen ihm helfen, den Weg zu der
für ihn richtigen Anlage zu finden.
Aber: Aufklärung und Beratung mit dem Ziel, dass der Kunde nur kauft, was er wirklich ver-
steht, erscheinen auf Grund der Komplexität des Problems und der beschränkten Kapazität des
Kunden zur Aufnahme und Verarbeitung der relevanten Information nicht realistisch.
5
Vgl. Oehler 2004, 2009b.
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
5
• Beraterqualifikation: Die Qualifikation der Berater soll durch Ausbildung, Sachkundeprüfun-
gen, Standesregeln, Registrierung und andere Maßnahmen verbessert werden.
Aber: Eine Verbesserung der Qualifikation der Berater wird die Qualität der Beratung nicht
verbessern, solange der Leistungswille der Berater primär durch die Anreizstruktur und die
Belastung am Arbeitsplatz bestimmt ist.
• Produktkennzeichnung: Die Eigenschaften von Finanzprodukten sollen möglichst einfach
dargestellt werden, durch Info-Blätter oder (bzgl. der Risiken) durch eine Ampel.
Aber: Die Eigenschaften vieler Produkte, etwa ihre Risiken, lassen sich nicht beliebig einfach
darstellen, ohne dem Kunden eine Einfachheit der Produkte nur vorzugaukeln.
• Dokumentation: Das Beratungsgespräch soll schriftlich dokumentiert und das Dokument soll
von Berater und Kunden unterschrieben und dem Kunden ausgehändigt werden.
Aber: Ein Gesprächsprotokoll dient mehr der Absicherung des Beraters als dem Schutz des
Kunden. Was im Protokoll steht, kann durch den Berater erheblich beeinflusst, beispielsweise
gezielt verkürzt, und im Verkaufsinteresse formuliert werden. Kunden dagegen können oft gar
nicht einschätzen welche Bedeutung manche Aussagen haben (sollen).
• Checklisten: Durch Checklisten soll der Kunde bereits vor einem Beratungsgespräch seine
Situation und seine Interessen prüfen können.
Aber: Checklisten können nur selektiv auf bestimmte Aspekte der Geldanlage eingehen und
den unterschiedlichen Kundenmustern gerecht werden. Ihre Durcharbeitung suggeriert dem
Kunden eine Klarheit des Problems, die selten vorliegen dürfte.
• Verbraucher- und Finanzbildung: Die Kompetenz bei der Geldanlage soll durch entsprechen-
de Bildungsangebote, schon in der Schule, erhöht werden.
Aber: Schulische Bildung in ökonomischen und speziell finanziellen Fragen ist grundsätzlich
zielführend, kann aber nicht auf die spezifischen Probleme bei der Geldanlage in Wertpapie-
ren vorbereiten. Ein allgemeines Entscheidungsmisstrauen in wichtigen Fragen kann geweckt
werden.
B Qualitätswettbewerb
(6) Qualitativ hochwertige Finanzberatung setzt die Beurteilbarkeit der Beratungsqualität voraus.
Nur unter dieser Voraussetzung entsteht ein anbieterseitiger Qualitätswettbewerb. Beurteilbar sein
muss die Beratungsqualität entweder für die Kunden und / oder den Staat. Erstere können die
Marktstellung der Anbieter durch Honorierung guter (Bestrafung schlechter) Beratungsleistungen
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
6
selbst stärken (schwächen), der Staat kann die Einhaltung der einschlägigen rechtlichen Rahmenbe-
dingungen überwachen und Pflichtverletzungen entsprechend sanktionieren, womit letztlich ein
vergleichbarer Effekt erzielt wird. Sind diese Transparenzbedingungen erfüllt (und die bei Pflicht-
verletzung greifenden Sanktionen hart genug und glaubwürdig ausgestaltet), so wird bereits die Er-
wartung eines negativen Kosten-Nutzen-Verhältnisses im Falle der Nicht- oder Schlechtberatung
durch den Anbieter niedrige Beratungsqualität verhindern. Gelingt die Herstellung von Transparenz
jedoch nicht, so besteht für die Anbieter auch kein Anreiz, die Qualität der angebotenen Produkte
und Dienstleistungen zu erhöhen oder auf einem geforderten bzw. einem anlegergerechten Niveau
bereitzustellen.
6
(6) Ein solch mangelnder, durch fehlende Transparenz bedingter anbieterseitiger Qualitätswett-
bewerb ist ein Kernproblem des Verbraucherschutzes im Finanzdienstleistungsbereich in Deutsch-
land. Nur wenige Kunden verfügen über die nötige Kompetenz und nicht viele über ausreichend
Motivation, um die Kernqualität der Beratung zu beurteilen – also wie eingehend Berater bei ihrer
Bestandsaufnahme vorgehen, inwieweit sie alle zweckdienlichen Informationen mitteilen, wie ein-
gehend sie ihre Empfehlung begründen und wie gut diese letztlich tatsächlich zur individuellen Si-
tuation passt. Für die Mehrzahl der Verbraucher sind diese Informationen ausschließlich durch Ver-
trauenseigenschaften gekennzeichnet und weder vor, während, noch nach Vertragsschluss beurteil-
bar.
7
Beispielsweise zeigt eine von der Commerzbank im Jahr 2003 durchgeführte Studie, dass 80
Prozent der Befragten von ihrer Kompetenz in Finanzangelegenheiten überzeugt sind, aber 42 Pro-
zent die Hälfte der gestellten Fragen nicht korrekt beantworten konnten.
8
Leinert und Wagner kom-
men bei ihrer Befragung von 30 bis 50 jährigen Deutschen im Jahr 2002 zu dem Ergebnis, dass we-
niger als 50 Prozent der Befragten vergleichsweise sichere Anlagen wie Bundesanleihen oder Spar-
konten korrekt als vergleichsweise wenig riskant identifizieren konnten, während 27 Prozent anga-
ben, dass ein Wertverlust von Aktien sehr unwahrscheinlich sei.
9
Eine weitere Befragung durch den
Spiegel-Verlag kommt zu dem Ergebnis, dass nur 35 Prozent der Deutschen die Anlageklasse Aktie
überhaupt kennen.
10
Allerdings ist eine geringe finanzielle Allgemeinbildung kein ausschließlich
deutsches Problem, sondern betrifft viele entwickelte Volkswirtschaften gleichermaßen.
11
Es gilt
6
Vgl. Oehler 2006, Oehler / Kohlert 2009b. Grundsätzlich gilt dies für den gesamten Bereich der Vertrauensgüter.
Siehe hierzu auch Kaas 1995, Micklitz 2008 und Reisch 2005.
7
Vgl. Oehler 2006; Oehler / Kohlert 2009b; Oehler / Reisch 2008.
8
Vgl. OECD 2005, 46.
9
Vgl. Leinert / Wagner 2004.
10
Vgl. Spiegel-Verlag 2004.
11
Siehe hierzu z.B. Lusardi (2006) für die USA, FSA (2006) sowie Miles (2004) für das Vereinigte Königreich,
Christelis et al. 2005 für einen Überblick über mehrere Europäische Ländern und OECD (2005) für Japan und die
Pazifik-Region.
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
7
das Informationsparadoxon des Verbraucherschutzes: der Anleger kann nur wissen, was er wissen
will, und nur beurteilen, was er beurteilen muss, wenn er weiß, was er wissen und beurteilen muss
und wie er beurteilen muss.
12
Hinzu kommt, dass der Erfolg bzw. Misserfolg einer Geldanlage
meist erst nach einem längeren Zeitraum erkennbar ist und dann kaum noch eindeutig auf die sei-
nerzeitige Beratung zurückführbar ist. Unter diesen Bedingungen ist es für die Anbieter von Finanz-
beratung jedoch grundsätzlich nicht möglich, durch qualitativ hochwertige Beratung Reputation
aufzubauen und Wettbewerbsvorteile zu erzielen.
C Berater- und Vertriebsinteresse
(7) Da die Kernqualität der Finanzberatung ausschließlich informationsbezogen ist, greift dieses
Informationsparadoxon für jegliche Form der Finanzberatung, unabhängig von ihrer Bezeichnung
als Anlagevermittlung, Anlageberatung, Vermögensverwaltung, Financial Planning etc. Dies ist vor
allem vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass zunehmend seitens der Politik, der Medien und der
entsprechenden Lobbyisten eine Abkehr vom provisionsorientierten Modell der Beratung hin zur
sog. Honorarberatung gefordert wird. Hier wird die eigentliche Beratungsleistung aus Kundenper-
spektive zunächst kostenlos erbracht und dann von mit der Beratungsleistung verknüpften, provisi-
onsschaffenden Sekundärleistungen (hierunter fallen Transaktionsleistungen wie Produktverkauf,
Auftragsabwicklung oder Nebenleistungen wie Depot-, Kontoführung) quersubventioniert. Ideal ist
in der Regel eine Beratung meist durch Selbständige, die unabhängig von Finanzintermediären wie
Banken, Versicherungen oder Fonds einzelne Finanzdienstleistungen oder ganze Pakete kundenbe-
darfsgerecht vorstellen, ohne von deren Verkauf selbst zu profitieren. Der alleinige getrennte Aus-
weis von Preisen für Produkte und Beratung, die heute auch als Baustein der Honorarberatung ver-
standen wird, führt nicht per se zu einer Stärkung der Position der Verbraucher. Da auch ein Hono-
rarberater über ein pekuniäres Eigeninteresse verfügen kann, das sich z.B. in opportunistischem
Verhalten (z.B. Steigerung der Beratungsdauer bzw. Beratungshäufigkeit) niederschlägt, ist dafür
Sorge zu tragen, dass Höhe und Häufigkeit der Honorierung standardisiert und kontrolliert werden.
Insbesondere die absolute Höhe des Honorars kann zudem für viele Anleger eine kaum überwind-
bare Hürde darstellen. Eine Lösung in Richtung einer ökonomisch nachhaltigen Honorarberatung
könnte darin liegen, die Vergütung (das „Honorar“) über die Laufzeit der empfohlenen Finanz-
dienstleistungen, ggf. erfolgsabhängig, zu verteilen. Am „Markt“ ist solches aber bislang nicht in
Sicht oder für manche Produkte kaum sinnvoll möglich. Außerdem ist auch hier mit Standards (s.u.)
eine kontrollierte Qualität vorzusehen. Eine sich nicht selbst tragende neutrale Beratung würde dann
12
Vgl. Oehler 2006; vgl. auch Oehler 2009b im Kontext der Altersvorsorge und von „Riester“-Produkten.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
8
wohl öffentlicher Finanzierungsanteile bedürfen (Verbraucherorganisationen). Ist die Qualität der
Beratung nämlich nicht beurteilbar, so versagt auch der Preis als Qualitätsindikator, weil sich ein
Zusammenhang zwischen Preis und Qualität nicht herstellen und aus dem Preissignal nicht lernen
lässt.
13
(8) Da auch die rechtlichen Rahmenbedingungen der Finanzberatung in Deutschland kein ausrei-
chendes Drohpotential für den Fall niedriger Beratungsqualität entwickeln können, kann auch von
dieser Seite das Entstehen eines anbieterseitigen Qualitätswettbewerbs im Hinblick auf die in-
formationsbasierte Kernqualität der Beratung nicht sichergestellt werden, unabhängig von der Be-
zeichnung der angebotenen Dienstleistung.
14
D Beratungsprozess: Ermittlung des Kundenprofils
(9) Vor diesem Hintergrund ist der Versuch, geeignete Prozessstandards zu identifizieren, grund-
sätzlich richtig. Ziel des Beratungsprozesses ist es nach herrschender Meinung, aus der Gesamtheit
aller Informationen die individuell entscheidungsrelevanten Informationen auszuwählen, auszuwer-
ten und kundengerecht weiterzugeben.
15
Im Ergebnis soll der Verbraucher befähigt werden, eine
interessengerechte Anlageentscheidung zu treffen. Analytisch lässt sich der Finanzberatungsprozess
in die folgenden drei Phasen einteilen, die sich in der Praxis regelmäßig überlappen:
16
In der Explo-
rationsphase sollen Informationen über Kundenbedürfnisse und -situation ermittelt werden, um die-
sen Umständen entsprechend aufklären und beraten zu können. Die Aufklärungsphase baut auf der
Explorationsphase auf. Charakteristisch für die Aufklärung ist, dass der Kunde zu deren Beginn i. d.
R. nicht konkret sagen kann, was er wissen will, weil ihm unklar ist, welche Informationen ihm feh-
len. Die Aufklärung entwickelt sich daher in der konkreten Situation. Zum Gegenstand hat sie einen
Tatsachenkomplex wie z. B. ein Anlageprodukt, dessen Risiko- und Chancenpotenzial dem Kunden
durch die Mitteilung von Tatsachen verdeutlicht werden soll. In der Empfehlungsphase kommt es
zur eigentlichen Beratung. Neben der Mitteilung von Fakten erhält diese auch deren Bewertung und
Beurteilung nach Maßgabe der individuellen Eignung. Anhaltspunkte hinsichtlich der Ausgestal-
tung des Beratungsprozesses finden sich zahlreich in Literatur, Rechtsprechung und Gesetz.
17
Be-
rücksichtigt man die Vielfalt dieser Sollvorgaben und ihre Ausgestaltung, so wird allerdings schnell
klar, dass Wunsch und Wirklichkeit stark auseinanderdriften (müssen).
13
Vgl. Kaas 1995; Oehler / Kohlert 2009a; Oehler / Kohlert 2009b.
14
Vgl. Kohlert 2009; Micklitz / Träger 2004; Rothenhöfer 2007.
15
Vgl. Oehler / Kohlert 2009a; Kohlert / Oehler 2009.
16
Siehe hierzu z.B. Lang 2003, S. 31ff.; Jungermann 1999.
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
9
(10) Beispielsweise ist der Berater im Rahmen der Exploration u.a. verpflichtet, Informationen ein-
zuholen über Kenntnisse und Erfahrungen, finanzielle Verhältnisse und Ziele des Kunden, wobei
unter Zielen konkrete Verwendungszwecke für das anzulegende Vermögen sowie die Risikobereit-
schaft verstanden werden. Diese Pflichten allerdings sind im Sinne einer mangelnden Konkretisie-
rung teilweise derart weich gezeichnet, dass sie leer laufen müssen. Vorgaben darauf, was unter
Kenntnissen und Risikobereitschaft zu verstehen ist und wie diese abzufragen sind, existieren bei-
spielsweise nicht, was Beratern erheblichen Handlungsspielraum im Rahmen des Beratungsprozes-
ses ermöglicht und die Heterogenität in der Beratungsqualität bei gleichzeitiger niedriger absoluter
Beratungsqualität erklärt. Praktisch werden selten tatsächliche Kenntnisse abgefragt, meistens wer-
den lediglich allgemeine Fragen zum Kenntnisstand des Verbrauchers gestellt, die sich eher auf sub-
jektive Wertungen hinsichtlich verschiedener Arten von Finanzinstrumenten beziehen (z. B. „ken-
nen Sie sich mit Aktien aus?“). Und es werden durchweg Methoden zur Ermittlung der Risiko-
bereitschaft eingesetzt, die Seriosität vorspiegeln, jedoch keinerlei wissenschaftliche Begründung
haben (Daumenregeln wie Aktienanteil = 100 minus Lebensalter).
18
Wie die Kunden die angespro-
chenen Risiken wahrnehmen und verstehen, wird überhaupt nicht geprüft, obgleich hinreichend
gezeigt worden ist, dass dies für eine gute Beratung wichtig ist.
19
(11) Sinnvoll wäre es, wenn solche Prozessstandards nicht allein für Deutschland sondern einheit-
lich für die Europäische Gemeinschaft entwickelt werden. Die Mitteilung der Kommission bietet
hier wenig Hilfestellung. Theoretisch wäre es aber möglich, die Ausarbeitung derartiger Prozess-
standards in die angestrebte horizontale Regelung der Anlageprodukte zu integrieren. Mit dem Lam-
falussy-Verfahren steht der geeignete Mechanismus bereit, vorausgesetzt, dass auch die Anleger
bzw. die Verbraucherorganisationen in die Entwicklung solcher Prozessstandards einbezogen wür-
den. Doch bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein. Aber selbst wenn sich ein solcher Weg als
gangbar abzeichnen sollte, ist ein Wort der Warnung angebracht. Aus rechtlicher Sicht lassen sich
Beratungsgespräche nur bedingt standardisieren, jedenfalls, wenn es im Ergebnis darum geht, aus
der Abweichung vom Standard Rückschlüsse auf die Haftung zu ziehen. Insoweit hilft auch hier nur
die Umkehr der Beweislast.
17
Siehe hierzu z.B. Bliesener 1998, S. 305; Kohlert 2009, S. 150ff.; Lenenbach 2002, S. 305f.; Rothenhöfer 2007, S.
35.
18
Vgl. Oehler / Kohlert 2009b; Kohlert / Oehler 2009; Jungermann / Belting 2004.
19
Vgl. Sachse 2008.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
10
E Beratungsprozess: Information für den Kunden
(11) Verbraucher haben oft keine expliziten Präferenzen und Meinungen, wenn sie die Beratung
aufsuchen. Sie sind sich meist nicht darüber im Klaren, was in ihrem Interesse liegt, und sie haben
sich oft noch keine Gedanken hinsichtlich konkreter Verwendungszwecke für das anzulegende
Vermögen gemacht. Ihre Präferenzen und Meinungen entwickeln sich oft erst während des Bera-
tungs- und Entscheidungsprozesses.
20
Zeitdruck und die im Rahmen des Beratungsprozesses zu
verarbeitende Informationsmenge führen dann zu einer verstärkten Informationsselektion und dem
Ignorieren von Alternativen bzw. der Konzentration auf bestimmte Alternativen.
21
Die Abfrage der
Ziele des Verbrauchers ist damit oft nicht mehr als eine grobe Momentaufnahme, was es erschwert,
langfristig geeignete Empfehlungen abzugeben. Indem der Berater den Verbraucher selektiv auf
gewisse Ziele (z. B. Absicherung bestimmter Risiken) hinweist, andere Ziele aber verschweigen
kann (z.B. Schuldentilgung) ist die Ermittlung der Ziele stark beeinflussbar.
22
(12) Im Rahmen der Aufklärung des Anlegers wird regelmäßig gefordert, dass dieser, je weniger er
weiß, umso eingehender mit Informationen zu versorgen ist, die zudem an seinen individuellen Ver-
ständnishorizont angepasst werden sollen. Auch in diesem Zusammenhang ergeben sich mindestens
zwei Probleme. Erstens muss man sich die Frage stellen, ob der durchschnittliche Verbraucher über-
haupt fähig ist, die zur Vermittlung gedachten Informationen in vorgesehener Weise für sich nutzbar
zu machen, selbst wenn sie vollständig und fehlerfrei erbracht werden. Realistisch ist diese Vorstel-
lung nicht. In der Praxis sind Beratungssituationen vielmehr regelmäßig durch eine Informa-
tionsüberlastung des Kunden gekennzeichnet. Umfang und Komplexität der zu vermittelnden In-
formation übersteigen die Informationsverarbeitungskapazität erheblich, so dass es zu einer wesent-
lichen Verschlechterung der Entscheidungsgüte kommen kann.
23
Die im Rahmen des Beratungspro-
zesses zu vermittelnden Informationen sind durch eine erhebliche Anzahl von Entscheidungsoptio-
nen (z.B. Anlageformen) und Attributen (z.B. Kosten, Risiken, Abwicklungsmodalitäten) gekenn-
zeichnet. Gleichzeitig zeichnen sich die Optionen durch hohe Ähnlichkeit und Vernetztheit aus. Ein
hoher Zeitdruck ist ein weiteres Kennzeichen vieler Beratungssituationen. Eine Aufklärung und
Beratung des wenig informierten Kunden, die Letzterem alle notwendigen Informationen vermittelt,
um ihn tatsächlich in die Lage zu versetzen, eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen,
stellt vor dem Hintergrund der beschränkten menschlichen Informationswahrnehmungs-, Informati-
20
Siehe hierzu z.B. Hibbard / Slovic / Jewett 1997; Slovic 1995; Jungermann / Pfister / Fischer 2005; vgl. auch die
parallele Diskussion im Gesundheitswesen.
21
Siehe hierzu z.B. Ben Zur / Bresnitz 1981, S. 89ff.; Payne / Bettman / Johnson 1988, S. 534ff.
22
Vgl. Kohlert / Oehler 2009.
23
Vgl. Oehler / Reisch 2008; Jungermann / Pfister / Fischer 2005.
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
11
onsverarbeitungs- und -speicherungskapazität eher die Ausnahme als die Regel dar. Es ist realitäts-
fremd, den Kunden in einem Gespräch mit einer Dauer von weniger als 60 Minuten eingehend ken-
nenzulernen, seine Wünsche und Bedürfnisse zu ermitteln, ihn angemessen aufzuklären und, darauf
aufbauend, eine individuelle Empfehlung geben zu können.
24
(13) Neben der Schwierigkeit der Informationsaufnahme, -verarbeitung und -speicherung wird der
Informationsprozess durch die Problematik (un)bewusster Informationsverweigerung durch die
Verbraucher selbst beeinträchtigt. Fühlen sich Entscheider einer Sache nicht gewachsen, so tendie-
ren sie zu einem Meidungsverhalten, da sie Sachverhalte, die sie nicht kennen, nicht verstehen und
absehbar trotz erheblichen Anstrengungen nicht verstehen werden, als unangenehm empfinden. Um
ihr bereits angeschlagenes Kompetenzgefühl zu schützen, verringern sie die Informationsaufnahme
bzw. stellen sie sogar ein, da neue Informationen ihre Selbstsicherheit gefährden können. Dem
Verbraucher, der sich zum ersten Mal mit einer Anlageentscheidung konfrontiert sieht und weder
über das Faktenwissen noch das prozedurale Wissen verfügt, um das Entscheidungsproblem anzu-
gehen und die erhaltenen Informationen zu verstehen, kommt nur die Rolle des Laien zu. Dessen
wird er sich spätestens während des Beratungsprozesses bewusst und erwartet daher nicht, eine
Auswahl an Alternativen zu erhalten und vom Berater befähigt zu werden, eine eigenständige Ent-
scheidung treffen zu können, sondern eine konkrete Empfehlung. Er tut daher so, als ob er Ausfüh-
rungen und Empfehlung des Beraters verstehe, und auch der Berater verhält sich, als ob er alles um-
fassend erklärt habe und glaube, der Kunde habe seine Ausführungen verstanden. Nur wenn die
Form gewahrt wird, kann ein Vertragsschluss zustande kommen, da erst das erklärte Verständnis
des Verbrauchers rechtfertigt, mit dem Gespräch fortzufahren und eine Empfehlung zu geben.
25
F Beraterqualifikation
(14) Eine wesentliche, häufig im Zusammenhang mit einer qualitativ hochwertigen Ausgestaltung
des Beratungsprozesses aufgebrachte Frage ist die nach der notwendigen Qualifikation der Berater
bzw. Vermittler. Deren Sicherstellung tritt zunehmend in den Fokus medialer und politischer Dis-
kussion. Maßnahmen wie u.a. die Einführung von Standesregeln, Sachkundeprüfungen und Qualifi-
kationsnachweisen sollten diese sicherstellen, wobei sich die gewünschten konkreten Anforderun-
24
Vgl. Kohlert 2009, S. 219ff.; Oehler / Kohlert 2009b. Siehe hierzu auch Reisch / Bietz 2008.
25
Vgl. Jungermann 1999; Jungermann/Belting 2004. Die hier aufgezeigten Probleme in der Kunde-Berater-Beziehung,
die aus der beschränkten Rationalität der Beteiligten resultieren, finden sich grundsätzlich bei jeder Form der Bera-
tung. Jungermann 1999 und Micklitz 2008 verdeutlichen dies am Beispiel des Gesundheitsmarktes. Nicht nur für die
Identifikation dieser Probleme, sondern auch für ihre Lösung muss die Verbraucherpolitik einen Wechsel zu einer
realistischeren, die tatsächlichen Determinanten (kognitiv, sozial, emotional etc.) menschlichen Verhaltens berück-
sichtigenden Perspektive vollziehen. Reisch / Oehler 2009 zeigen auf, dass die Forschungsrichtung der Behavioral
Economics hierbei einen wesentlichen Beitrag leisten kann.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
12
gen an diese Maßnahmen je nach Interessengruppe deutlich unterscheiden (z.B. wird auch die
Berücksichtigung sozialer und ökologischer Kriterien gefordert). Zwei Faktoren werden im Rahmen
dieser Diskussion häufig übersehen.
(15) Erstens nämlich bieten die in Rechtsprechung und Gesetz verankerten Grundsätze des „know
your customer“ und „know your client“ auch hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung derartiger
Qualifikationsanforderungen wertvolle Hinweise. In einer ersten Näherung an die Bestimmung ei-
nes Sollrasters für Kriterienkategorien für Ausbildungs- und Beratungsstandards kann dann seitens
der Finanzvermittler weiter konkretisiert werden, wie verschiedene, bereits entwickelte Anforde-
rungskataloge zeigen.
26
Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlich bereits definierten Minimalan-
forderungen, die als Standards für alle Gruppen von Beratern und Vermittlern, unabhängig von ihrer
Bezeichnung, gegeben sein sollten, erscheint der von den jeweiligen anbieterseitigen Interessen-
gruppen getragene Wunsch nach spezieller, oft rein bezeichnungsorientierter Qualifikation und da-
mit der Aufrechterhaltung der gegebenen Komplexität aus Sicht des Kunden, absurd. Sinnvoll ist
hier vielmehr die Komplexitätsreduktion durch Entwicklung weniger konkreter und durch neutrale
Institutionen geprüfter Qualifikationsstandards.
(16) Die zweite, im Rahmen der Diskussion um die Sicherstellung von Beratungsqualität durch
Steigerung und/oder Sicherstellung der Qualifikation der Berater und Vermittler häufig übersehene
Tatsache, ist, dass die alleinige Förderung von Kompetenz leerlaufen muss, solange der Leistungs-
wille der betreffenden Berater und Vermittler bzw. ihrer Arbeitgeber, ihre Kunden interessengerecht
zu beraten, nicht gegeben ist. Da der Leistungswille aber stark von Anreizstruktur und Belastung
von Beratern und Vermittlern abhängt, sind die Anstrengungen zur Kompetenzförderung des
Kundenkontaktpersonals oft sinnlos. Vor dem Hintergrund der gängigen Entlohnungspraxis im Fi-
nanzdienstleistungsbereich besteht ein enormer Anreiz zu reinem Verkauf statt zu Beratung.
27
Dies
gilt umso mehr, als der Verkaufsdruck durch konkrete Zielvorgaben hinsichtlich Art und Menge zu
vertreibender Produkte und oftmals gleichzeitge Erhöhung variabler Gehaltsbestandteile in den
vergangenen Jahren zugenommen hat und eine interessengerechte Beratung bereits aufgrund der für
das Mengengeschäft der Banken und Sparkassen beispielhaften Tatsache von 850 bis 2000 Kunden
pro Berater, denen nach einer Studie einer Unternehmensberatungsgesellschaft nur rund 13% ihrer
Zeit für Beratung und Verkauf zur Verfügung stehen, aber absolute Ausnahmen darstellen.
28
26
Vgl. hierzu z.B. Oehler / Kohlert 2009a.
27
Vgl. Oehler 2009; Oehler / Kohlert 2009a.
28
Vgl. Kohlert 2009, S. 139f. Die Verbraucherpolitik der Europäischen Union, vor allem das Vertragsrecht, und insbe-
sondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes stehen nach einer Analyse von Micklitz (2003 und
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
13
G Produktkennzeichnung
(17) Um den Kunden eine leichtere Beurteilung des im Rahmen der Finanzberatung angebotenen
Produktspektrums zu ermöglichen, wird derzeit verstärkt eine transparentere Produktkennzeichnung
in Gestalt z.B. sog. Ampeldarstellungen propagiert. Durch die Kennzeichnung mit einer der Ampel-
farben, grün, gelb oder rot, soll dem Kunden ein Eindruck vom Risiko des Produktes und damit von
der individuellen Eignung vermittelt werden. Realistisch betrachtet jedoch gestaltet es sich unmög-
lich, die Komplexität des angebotenen Finanzproduktspektrums auf nur drei Kategorien herunterzu-
brechen. Bereits an der Definition der den einzelnen Kategorien zugeordneten Produkte muss dieser
Ansatz scheitern. So gibt es beispielsweise keine „sicheren“ Finanzprodukte. Selbst auf dem Spar-
buch kann die Inflation Vermögen „vernichten“, von einem Scheitern der Bank sowie des zuständi-
gen Einlagensicherungssystems ganz zu schweigen. Sollte man daher auf die Farbe Grün verzich-
ten? Welches Kriterium zieht man für das Risiko heran? Die Volatilität, die Ausfallwahrscheinlich-
keit oder die Höhe des maximal möglichen Verlusts? Je nach Definition von Risiko kann eine Zu-
ordnung zu einer anderen Farbe erfolgen. Sollte man nun ein Produkt mit sehr geringer, aber poten-
tiell vorhandener Ausfallwahrscheinlichkeit und vergleichsweise hohem Renditepotential einem
Produkt ohne Totalausfallmöglichkeit, das aber langfristig zu einem erheblichem Vermögensverlust
führt, vorziehen? Bedeutet Rot, dass das Produkt überhaupt nicht geeignet ist, auch für den risikobe-
reiten Anleger? Ist nicht immer der Trade off aus Risiko und Rendite maßgeblich, unter Berück-
sichtigung von Liquidität und Transparenz? Würde ein solch über die Maßen vereinfachtes System
eingeführt, so bestünde die erhebliche Gefahr, Kunden in falscher Sicherheit zu wiegen und falsche
Kaufanreize zu setzen. Auch stellt sich die Frage, wem die Definition der Kategorien übertragen
werden sollte und welche Anforderungen an dessen relevante Kompetenz zu stellen sind.
29
H Dokumentation
(18) Auch durch eine verpflichtende schriftliche Dokumentation des Beratungsprozesses soll die
Beratungsqualität gestärkt werden. Obwohl dies zunächst sinnvoll erscheint, da die Dokumentati-
2004) fest unter dem Primat des Wirtschafts- und Wettbewerbsrechts mit dem Leitbild des selbstverantwortlichen
Verbrauchers und ignorieren damit dessen nicht zu leugnende begrenzte Rationalität.
29
Vgl. Oehler 2009a; Kohlert / Oehler 2009.
In einem solchen Kontext der Produktkennzeichnung könnte natürlich des Weiteren auch darüber nachgedacht wer-
den, ob nicht andere Kriterien, wie z.B. ökologische und soziale, eine Rolle spielen sollten. Angesichts des ganz
pragmatischen Ziels, zumindest eine Verbesserung hinsichtlich der genannten Kriterien, nämlich den Rendite-Risiko-
trade off unter Berücksichtigung von Transparenz und Liquidität, zu erreichen, könnte es aber zielführend sein, Ü-
berlegungen zu weiteren Aspekten zunächst in der zweiten Priorität zu belassen. Dies folgt der Überlegung, dass für
Verbraucher die existenzielle Frage der „finanziellen Gesundheit“ als notwendige Bedingung zuerst sicherzustellen
ist und dann weitere Aspekte fallweise in Abhängigkeit von der individuellen Präferenzstruktur und möglicher ge-
sellschaftlicher oder staatlicher Vorgaben hinzutreten können.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
14
onspflicht den Finanzberater u.U. zu höherer Sorgfalt veranlassen könnte, und somit insgesamt zu
einer höheren Beratungsqualität führen könnte, sind selbst mit der Beratungsdokumentation erhebli-
che Nachteile verbunden.
30
Am Beispiel der künftigen Verpflichtung von Kreditinstituten, den In-
halt von Beratungsgesprächen zu protokollieren und ihren Kunden eine Ausfertigung des Protokolls
auszuhändigen, lassen sich diese verdeutlichen. Die Dokumentationspflicht hat das Ziel, die nach-
vollziehbare Protokollierung des wesentlichen Hergangs des Beratungsgesprächs zu ermöglichen.
Um dies zu erreichen, wird gefordert, insbesondere die Angaben und Wünsche des Kunden sowie
die vom Berater erteilten Empfehlungen und die für diese Empfehlungen maßgeblichen Gründe zu
dokumentieren. Vermutet der Kunde, dass der Berater seine Pflichten verletzt hat, kann er sich in
einem eventuellen Prozess auf das Beratungsprotokoll berufen. Wird aus diesem ein Beratungsfeh-
ler ersichtlich, kommt ihm Beweischarakter zu. Im Falle eines unvollständigen oder in sich un-
schlüssigen Protokolls ist es Aufgabe der Bank, zu beweisen, dass sie ordnungsgemäß beraten hat.
(19) Andererseits ergibt sich die Gefahr, dass die Dokumentationspflicht aufgrund der oben bereits
angeschnittenen, erheblichen Beeinflussbarkeit des Beratungsprozesses weniger dem Schutz des
Kunden vor schlechter Beratung als vielmehr dem Schutz des Anbieters vor Haftungsansprüchen
des Kunden Rechnung trägt („Freizeichnung“ von der Haftung wie bei Beipackzetteln von Medi-
kamenten
31
). Dokumentationspflichten werden dann rechtlich zu Haftungsausschlussklauseln. Ver-
fügt der die Beratung nachsuchende Kunde noch nicht über ein stabiles Zielsystem, so lassen sich
dessen Wünsche leicht in die vom Berater gewünschte Richtung steuern. Was die Ermittlung von
Kenntnissen und Risikobereitschaft des Kunden betrifft, kann der Berater den aufgrund der wenig
konkreten rechtlichen Rahmenbedingungen gegebenen Verhaltensspielraum nutzen, um dem Kun-
den die selbst präferierten Aussagen abzugewinnen. Gerade das Konzept der Risikobereitschaft ist
den Verbrauchern als Beratungskunden regelmäßig völlig unbekannt, weshalb sie gänzlich von der
Vermittlung desselben durch den Berater abhängig sind.
32
Offensichtliche, empirisch belegte Mani-
pulationsversuche wie beispielsweise die Aussage „Wenn Sie nicht mindestens die mittlere Risiko-
kategorie wählen, kann ich Ihnen kein gutes Produkt empfehlen“ sind hier daher meist gar nicht
nötig. Schließlich bedeutet eine schriftliche Dokumentation keine wortgetreue Festschreibung des
30
Vgl. Oehler 2009a.
31
Vgl. Oehler 2009a.
32
Stellt der Berater den Kunden beispielsweise vor die direkte Wahl zwischen verschiedenen, unterschiedlich riskanten
Entscheidungsalternativen (z.B. Asset-Allokationen), so wird auch hier die Entscheidung ohne entsprechendes Vor-
wissen durch die erhaltenen Informationen bezüglich der Entscheidungsalternativen und der Präsentation derselben
bestimmt. Der Berater kann somit bestimmte Risiken, Chancen oder sonstige Eigenschaften besonders betonen, ver-
nachlässigen, verschleiern oder falsche Informationen liefern. Auch die Reihenfolge der Informationsbereitstellung –
zu Beginn (primacy effect) und zum Ende (recency effect) eines Gesprächs dargebotene Informationen beeinflussen
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
15
Gesprächs, sondern kann allenfalls stichpunktartig erfolgen. Unter der Angabe „risikobereiter Kun-
de“ oder Wunsch der „Absicherung des Lebensstandards im Alter“ oder „des Ver-
mögenszuwachses“ lässt sich jedoch viel verstehen, und viele verschiedene Möglichkeiten bestehen,
diese Ziele zu erreichen. Auch hier erweist es sich als äußerst problematisch, dass keine Vorgaben
gemacht werden hinsichtlich des Detailgrades der Erfassung. In der Konsequenz des Beschriebenen
ist es ein Leichtes für die Anbieterseite, zu einer „überzeugenden“ Übereinstimmung zwischen ab-
gefragten Kundendaten und Empfehlung zu kommen.
33
(20) Besonders problematisch ist eine schriftliche Dokumentation im Hinblick auf Aufklärung und
Beratung im Sinne des Informationstransfers vom Berater zum Kunden. Aufgrund allein der Menge
an konkreten Fakten, die hier zu vermitteln sind, ist es ohne Aufnahme des Gesprächs auf Tonträ-
gern unmöglich, alle diese Fakten schriftlich festzuhalten. Was bleibt ist eine stichpunktartige Auf-
zählung verschiedener Risiken. Mit seiner Unterschrift bestätigt der Kunde folglich pauschal, ord-
nungsgemäß über diese Risiken aufgeklärt worden zu sein und diese verstanden zu haben, ohne dass
eine inhaltliche Dokumentation über die tatsächlichen vom Berater vermittelten Informationen vor-
liegt. Hier greift wieder das zentrale Informationsparadoxon der Beratung. Der Kunde dürfte ei-
gentlich den Bogen gar nicht unterschreiben oder zur Kenntnis nehmen, denn er weiß nicht, welche
Informationen zu einer vollständigen und fehlerfreien Beratung vermittelt werden müssten, und
kann somit gar nicht beurteilen, ob er ordnungsgemäß informiert wurde. Mit seiner Kenntnisnahme
ohne Widerspruch oder eine Unterschrift bestätigt er aber ebendies. Hinsichtlich der Haftung in
diesem Bereich würde allein eine wortgetreue Protokollierung bzw. Aufzeichnung hilfreich sein und
eine Umkehr der Beweislast, bei der im Zweifel der Anbieter den Nachweis der korrekten und anle-
gergerechten Beratung erbringen muss.
34
(21) Beides bietet die gerade erst verabschiedete Novelle zur Stärkung der Rechte der Anleger
nicht. Im Gegenteil, der deutsche Gesetzgeber vertraut auf die Aussagekraft und den Beweiswert der
von der Bank zu erstellenden Dokumentation. Zu einer Umkehr der Beweislast für die Beibringung
der Tatsachen und eines möglichen Verschuldens konnte sich der Gesetzgeber nicht entschließen.
Hier ist der Bundesgerichtshof dem Gesetzgeber um einen entscheidenden Schritt voraus. Gerade
erst hat der BGH in einer Grundsatzentscheidung seine Rechtsauffassung bestätigt, dass die Bank
darlegen und beweisen muss, dass der Berater keine Rückvergütungen verschwiegen hat.
35
Entscheidungen tendenziell stärker als die Informationen dazwischen – und das Darstellungsformat (z. B. Wahl der
zeitlichen Intervalle bei der Darstellung der Kursentwicklung) können die Entscheidung beeinflussen.
33
Vgl. Kohlert 2009, S. 231ff.
34
Vgl. Oehler / 2009; Oehler / Kohlert 2009b; Kohlert 2009, S. 219f.
35
Vgl. BGH, Urteil V. 12.05.2009 Az.: XI ZR 586/07, VuR 2009, 298.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
16
I Checklisten
(22) Aus ähnlichen Gründen wie im Falle der schriftlichen Beratungsdokumentation ist auch die
Einführung von sog. Beratungschecklisten für die Kunden kritisch zu sehen. Sofort ins Auge sticht
das Problem, dass diese Checklisten auch von Institutionen herausgegeben werden, die Verbrau-
chern vertrauenswürdig erscheinen müssen. Damit aber wird Letzteren suggeriert, dass sie eine hohe
Beratungsqualität erhalten bzw. umgangssprachlich, dass „alles in Ordnung“ ist, solange sie nur die
Anweisungen der Checkliste folgen. Keine der verfügbaren Checklisten stellt jedoch mehr als
Stückwerk dar, erfasst die Beratungsqualität ausreichend und kann auf Basis ihrer inhaltlichen und
strukturellen Ausgestaltung für sich in Anspruch nehmen, eine solche Sicherheit zu gewähren. We-
sentliche Gründe hierfür sind ein lediglich sehr selektiv erfolgendes Eingehen auf relevante As-
pekte, insbesondere hinsichtlich Risiken, auf die der Kunde achten soll, sowie die Tatsache, dass
dieser aufgefordert wird, Aspekte der Beratungsqualität zu beurteilen, die er aufgrund seiner man-
gelnden Finanzkompetenz nicht oder allenfalls verzerrt bewerten kann.
36
(23) Hinsichtlich der Exploration wird der Kunde beispielsweise gefragt, ob er wisse, bei welchem
Aspekt seines Anlageproblems der Berater ihn unterstützen möchte und bei welchem nicht. Woher
soll der Kunde aber, der meist nicht einmal über ein festes Zielsystem verfügt und daher auch nicht
in der Lage ist, bestimmte Aspekte zu benennen, hinsichtlich derer er Unterstützung bedarf, wissen,
was das gesamte Anlageproblem ist. Wesentlich wäre hier zunächst eine interessengerechte Unter-
stützung bei der Zielfindung und der Verdeutlichung des Anlageproblems. Ein weiterer, sich mit
dem Zielsystem des Kunden befassender Fragenkomplex, versucht, die konkreten Zwecke der Geld-
anlage zu ermitteln. Dabei werden allerdings nur einige Ziele selektiv vorgegeben (Rücklagenbil-
dung, Altersvorsorge, Immobilienerwerb, größere Investitionen, soziale und ökologische Invest-
ments). Das IST- und das SOLL-Zielsystem des Kunden kann damit nur schwer wiedergegeben
werden. Zwischen den einzelnen Zielen und Motiven können Zielkonflikte bestehen, die nicht ange-
sprochen werden.
37
(24) Auch wird danach gefragt, mit welchen Anlagen der Kunde bereits Erfahrungen gemacht hat,
wobei ohne weitere Konkretisierung einzelne Kategorien (z.B. Aktien, Anleihen) anzukreuzen sind.
Die Frage nach Kenntnissen wird dabei völlig ausgeblendet. Was Erfahrungen sind, wird nicht defi-
niert, insbesondere nicht, welcher Art diese sind. Derartige Fragen sind aufgrund ihrer mangelnden
Differenzierung völlig unbrauchbar. Welche Schlussfolgerung soll aus einem Kreuzchen bei einer
36
Vgl. Oehler 2009a; Kohlert / Oehler 2009.
37
Vgl. Oehler / Kohlert 2009b.
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
17
Anlageform gezogen werden? Die Kategorien sind viel zu breit, zu viel wird über einen Kamm ge-
schoren. In einigen Fällen soll der Kunde angeben, ob er der Meinung ist, dass die Exploration so
durchgeführt wird, dass er nicht überfordert ist. Dabei wird allerdings nicht definiert, was unter Ü-
berforderung zu verstehen ist. Es liegt im Interesse des Beraters, die Datenerhebung so einfach und
wenig komplex wie möglich zu gestalten (Opportunitäts-, „Kompetenz“kosten). Eine „wenig“ for-
dernde Exploration könnte daher ebenso eine schlechte und oberflächliche Exploration indizieren.
Wesentlich ist vielmehr, dass die Datenerhebung manipulierbar ist und der Kunde ihre Qualität
nicht beurteilen kann.
38
(25) Hinsichtlich der Aufklärung soll der Kunde beispielsweise anhand einzelner selektiv und weit-
gehend ohne Zusammenhang ausgewählter Vorkommnisse (z.B. Abraten vom Kauf einzelner Ak-
tien durch den Berater, Wiederholtes Anraten von Portfolioumschichtungen) einen Eindruck über
die Beratungsqualität gewinnen. Derartige schwache „Indizien“ haben jedoch mit der eigentlich
vorgesehenen Aufklärung des Kunden über die für ihn in Frage kommenden Anlageprodukte und
die Qualität dieser Aufklärung nichts zu tun. Ferner soll der Kunde beurteilen, ob das Risiko der
Anlage transparent wurde oder ob er bemerkt, dass der Berater psychologische Fallen im Rahmen
von Fragetechniken ausnutzt, um mehr zu verkaufen. Die Transparenz des Risikos kann er in der
Regel nicht beurteilen, weil er die Eigenschaften des Risikos einer Anlage i.d.R. nicht kennt und
damit von den Informationen des Beraters abhängig ist, also ein Glaubwürdigkeitsproblem besteht.
Ebenso wenig kann er beurteilen, ob der Berater „psychologische Fallen“ ausnutzt, und könnte er es
beurteilen, so wäre die Aufnahme dieser Frage in eine Checkliste wohl überflüssig, denn der Kunde,
der bemerkt, dass der Berater opportunistisch handelt, wird sich durch einen Wechsel des An-
sprechpartners selbst schützen. Interessant erscheint unter anderem auch die Frage, wann der Bera-
ter zuletzt eine Fortbildungsveranstaltung besucht hat und ob es eine Abschlussprüfung gegeben hat.
Hier stellt sich die Frage, wie der Kunde dies in Erfahrung bringen sollte. Selbst aber, wenn er es in
Erfahrung brächte, könnte er mit dem Wissen aufgrund der Heterogenität im Beratungsmarkt kaum
etwas anfangen (Beurteilung der Qualität der Ausbildung, des Trainingsprogramms, der Abschluss-
prüfung etc.).
J Verbraucher- und Finanzbildung
(26) Die offensichtlichen Fehler in der Finanzberatung, wie sie insbesondere die Stiftung Warentest
immer wieder nachgewiesen hat, haben zu der Forderung geführt, die Finanzkompetenz der Kunden
zu erhöhen, damit diese ihre Entscheidungen aufgeklärt und eigenverantwortlich treffen und die
38
Vgl. Kohlert / Oehler 2009.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
18
Beratungsqualität beurteilen können. Es wird für einen Ausbau der Verbraucherbildung plädiert, die
eine Grundlage für das Verständnis der im Rahmen der Beratung vermittelten Informationen liefern,
ein Problembewusstsein schaffen und die kritische Auseinandersetzung mit der Anlagethematik
ermöglichen soll. Hierzu gehöre auch, zu verdeutlichen, welche Bedeutung Verbraucher im Wirt-
schafts- und Finanzsystem haben. Diese Bildung soll bereits im Schulunterricht beginnen.
39
(27) Natürlich ist das Vorhaben einer verbesserten allgemeinen, nicht so sehr fachspezifischen, ö-
konomischen Verbrauchergrundbildung begrüßenswert, aber das finanzielle Schicksal eines Kunden
darf nicht von seiner Finanzkompetenz abhängig sein und es darf ihm nicht die Verantwortung für
ein Desaster mit der Begründung zugeschoben werden, er habe sich nicht hinreichend gebildet.
Denn erstens benötigt ökonomische Grundbildung und ggf. Finanzbildung einen langen Zeitraum,
um Wirkung zu entfalten. Zweitens ist zwar sicher eine Bildung in ökonomischen / finanziellen Fra-
gen erreichbar, die über die im praktischen Leben erworbene Bildung hinausgeht.
40
Aber eine Kom-
petenz zur Beurteilung der zur Geldanlage angebotenen Produkte ist für die große Mehrheit der
Verbraucher so wenig durch Bildung erreichbar wie Kompetenz zur Beurteilung der Qualität ange-
botener Nahrungsmittel, Fernsehgeräte oder Kraftfahrzeuge. Die Verbraucher sind darauf angewie-
sen, dass sie Beurteilungen durch unabhängige und glaubwürdige Institutionen bekommen. Und
drittens ist fraglich, ob man von jedem Verbraucher verlangen kann und sollte, sich echte Finanz-
kompetenz anzueignen. Denn ähnliche Forderungen werden an ihn von vielen Seiten gerichtet – zur
Bildung in Fragen der Ernährung, der Gesundheit oder des Energieverbrauchs. Ein Verbraucher
sollte zwar alle relevanten Informationen erhalten können, aber er muss gegen schädliche Produkte
auch geschützt sein, wenn er diese Informationen nicht einholt – so, wie dies ja auch bei Nahrungs-
mitteln erfolgreich der Fall ist.
(28) Der Appell, „Kaufe kein Produkt, das Du nicht verstehst“, verfehlt daher das Problem. Denn
wer sich daran hält, kann sein Geld allenfalls auf einem Sparbuch anlegen – mit den entsprechend
geringen Zinsen. Die meisten Produkte (mit höherer Rendite) wird der durchschnittliche Verbrau-
cher nie wirklich verstehen können. Auf die muss er dann verzichten – oder seinem Berater ver-
trauen. Bildung in finanziellen Fragen muss Verbrauchern vermitteln, auf welche kritischen Punkte
zu achten ist, wo es unabhängige Beurteilungen gibt, welche Informationsquelle glaubwürdig ist,
wo man in der Sache kompetente und in der Motivation kundenorientierte Beratung findet. Ein ge-
sundes Misstrauen ist zu vermitteln, mit dem Appell: „Trau, schau wem!“
39
Vgl. Oehler 2009a, Oehler / Kohlert 2009a; vgl. auch Piorkowsky 2008.
40
Siehe hierzu z.B. auch Micklitz / Oehler 2007.
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
19
K Lösungsansätze
41
Ziele
Hauptziel 1: Transparenz und Wettbewerb im Finanzdienstleistungssystem, Abbau der beste-
henden Asymmetrien zu Lasten der Verbraucher.
(29) Nur wenn die Leistungen der Anbieter beurteilbar sind, kann ein funktionierender Qualitäts-
wettbewerb entstehen. Ansonsten versagt auch der Preis als Qualitätsindikator, weil sich ein Zu-
sammenhang zwischen Preis und Qualität nicht herstellen lässt. Ist das tatsächliche Preis-Leistungs-
Verhältnis nicht zu ermitteln und sind somit verschiedene Anbieter für Kunden, aber auch für
Verbraucherorganisationen nicht vergleichbar, können gute Anbieter auch nicht entsprechend hono-
riert und schlechte Anbieter nicht angemessen sanktioniert werden.
Hauptziel 2: Verbraucher müssen wirksam und nicht nur pro forma vor schlechter Bera-
tungsqualität oder Falschberatung geschützt werden.
(30) Verbraucher müssen vor schlechter und insbesondere falscher Beratung geschützt werden.
Nicht nur für den einzelnen Bürger können die Konsequenzen schlechter Beratung gravierend sein,
auch der gesamtwirtschaftliche Effekt darf nicht vernachlässigt werden. So wird der den privaten
Haushalten jährlich durch falsche Anlageberatung entstehende Vermögensschaden auf 20 bis 30
Milliarden Euro geschätzt.
42
Hauptziel 3: Aufklärung und Beratung müssen unabhängig sein von Anbieter und Produkt;
dies muss faktisch in der Praxis sichergestellt werden.
(31) Der alleinige getrennte Ausweis von Preisen für Produkte und Beratung, die heute auch als
Baustein der Honorarberatung verstanden wird, führt nicht per se zu einer Stärkung der Position der
Verbraucher. Da auch ein Honorarberater über ein pekuniäres Eigeninteresse verfügen kann, das
sich z.B. in opportunistischem Verhalten (z.B. Steigerung der Beratungsdauer bzw. Beratungshäu-
figkeit) niederschlägt, ist dafür Sorge zu tragen, dass Höhe und Häufigkeit der Honorierung stan-
dardisiert und kontrolliert werden. Insbesondere die absolute Höhe des Honorars kann zudem für
viele Anleger eine kaum überwindbare Hürde darstellen. Außerdem ist auch hier mit Standards
(s.u.) eine kontrollierte Qualität vorzusehen.
Die gängige Entlohnungspraxis der nachgelagerten Vergütung, bei der die eigentliche Beratungs-
leistung aus Kundenperspektive zunächst kostenlos erbracht wird und dann von mit der Beratungs-
41
Vgl. auch Oehler 2009a, 2009b.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
20
leistung verknüpften Sekundärleistungen quersubventioniert wird, setzt falsche Anreize. Sie führt zu
einer enormen Abschluss- und Verkaufsorientierung der Berater, weil nur hierüber Provisionen und
Gebühren anfallen, unabhängig davon, ob der Kunde einen entsprechenden Produktbedarf hat. Zum
anderen werden die Tendenzen unterstützt, diejenigen Produkte, bei denen die höchsten Provi-
sionssätze zu erzielen sind, sowie vorzugsweise Produkte aus dem eigenen Haus oder aus Verbund-
unternehmen anzubieten.
Wege
Maßnahme 1: Wirksame und praktisch kontrollierbare Informationspflichten der Anbieter zu
ihrer Produkt-Kunde-Zuordnung.
(32) Anbieter legen ihren Empfehlungen i. d. R. nur eine geringe Produktbasis zugrunde. Hier ist
eine klare Informationspflicht einzuführen. Zu Unrecht wird häufig der Eindruck erweckt, der
Verbraucher erhielte im Mengenkundengeschäft individuelle Empfehlungen. Vielmehr werden
Verbraucher in bestimmten Risikoprofilen mit verschiedenen Bezeichnungen und Bedeutungen
(z.B. Sicherheit, Chance, Wachstum) eingeordnet, denen dann standardisiert eine Kombination ver-
schiedener Produkte zugeordnet wird. Anbieter sollten beispielsweise verpflichtet werden, die je-
weiligen Profile und ihre Bedeutung sowie das entsprechende Anlageprogramm öffentlich zu ma-
chen (z.B. über eine Internet-Datenbank). Dies würde die Markttransparenz und den Wettbewerb
erheblich steigern. Andere Produkte dürften nur auf ausdrücklichen Kundenwunsch angeboten wer-
den.
Maßnahme 2: Einheitliches Zertifizierungssystem mit realistischer laufender Kontrolle (keine
Zertifizierung pro forma ohne Wirkung für den Verbraucher).
(33) Können die Verbraucher die Qualität der angebotenen Leistungen und Produkte nicht beurtei-
len, so muss die fehlende Qualitätsbeurteilung durch den Kunden institutionell substituiert werden.
Ähnlich zur Finanzierung der Bankenaufsicht sollten daher alle in Deutschland tätigen Anbieter in
einem Umlageverfahren regelmäßig in einen öffentlich-rechtlichen Stiftungsfonds einzahlen, dessen
Mittel zwei vorrangigen Aufgaben dienen, ohne dass durch die Financiers Einfluss auf die Leistung
genommen werden kann.
43
Erstens sollte der konsequente Ausbau der Finanzberatung durch die
Verbraucherzentralen hinsichtlich der Präsenz in der Fläche und der notwendigen Intensität der Be-
42
Habschick et al. 2008; der Betrag wird dort aber leider nicht begründet und nachvollziehbar hergeleitet.
43
Vgl. Oehler 2009a.
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
21
ratung anhand definierter Standards erfolgen. Einheitliche Qualitätsstandards sind hier jedoch auf-
grund der grundsätzlichen Unabhängigkeit der einzelnen Länderorganisationen und der damit ver-
bundenen Heterogenität der Landschaft der Verbraucherzentralen in Deutschland wesentlich. Sonst
kann nicht ausgeschlossen werden, dass je nach Standort unterschiedliche Beratungskosten und
auch unterschiedliche Beratungsqualität die Folge sind. Zweitens sollte die Informationsvielfalt und
-dichte der vergleichenden Untersuchungen durch die Stiftung Warentest, insb. im Internet, inkl. der
Einrichtung von Beratungsforen, durch andere neutrale Institutionen wie Nichtregierungsorganisati-
onen oder Forschungseinrichtungen ausgebaut werden. Dies schließt die Entwicklung geeigneter
einheitlicher Zertifizierungssysteme für Anbieter, Berater, Prozesse und Produkte ein. Solcherlei
echte Information und Beratung, die unabhängig von Anbieter und Produkt sowie jenseits von Ge-
winnerzielungsabsichten der Analyse der Verbrauchersituation ausreichend Zeit zumisst und gleich-
zeitig bezahlbar bleibt, stellt für alle Beteiligten eine „win win“-Situation dar. Den Kunden nimmt
sie den Beurteilungsaufwand ab und „führt“ sie zu den Anbietern qualitativ hochwertiger Beratung,
warnt sie gleichzeitig aber auch vor Anbietern schlechter Qualität.
44
(34) Die institutionelle Steigerung der Markttransparenz schafft ebenso die Grundlage für eine er-
folgreiche Ausweitung des Modells einer wirklichen Honorarberatung – eine Verknüpfung zwi-
schen Preis und Qualität wird möglich – und führt automatisch zu einer wettbewerbsgetriebenen
Optimierung nicht nur der Beratungsprozesse, sondern auch der Beratungsergebnisse durch die An-
bieter.
45
Verpflichtende Vorgaben an die Ausgestaltung der Prozesse lassen sich damit u.U. solange
verhindern, bis tatsächlich konsensfähige und gleichzeitig ökonomisch sinnvolle Prozessstandards
identifiziert und zu einem funktionalen Gesamtkonzept verwoben werden können. Sinnvoll wäre es,
diese Aufgabe in die Neugestaltung des europäischen Finanzmarktes einzubeziehen. Auch die Prob-
lematiken der mangelnden Qualifikation vieler Berater sowie der Dokumentationspflichten lassen
sich so über den Wettbewerb abmildern, wenn nicht sogar lösen, aber es muss daher zunächst ein-
mal wirklich Wettbewerb herrschen und die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen gesetzt
werden.
Maßnahme 3: Einheitliche Mindeststandards in der Beratung.
(35) Um die Qualität des Beratungsprozesses selbst zu verbessern, sollten einheitliche Standards
hinsichtlich der Verknüpfung von Kundenprofilen und Produktkategorien entwickelt und festgesetzt
werden (vgl. (32) und (33)). Alle Bereiche des Beratungsprozesses, die Diagnose, die Informations-
44
Vgl. Oehler 2009a, 2009b; Oehler/Kohlert 2009b.
45
Vgl. ebenda.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
22
vermittlung und die Empfehlung sollten hierauf ausgerichtet werden (s.u.). Zwar existieren bereits
Verfahren, wie Berater bzw. Banken, Sparkassen und Finanzvertriebe ihre Produkte ihren Kunden
zuweisen, diese sind i.d.R. jedoch weder transparent, qualitativ ausreichend – wie oben dargestellt
mangelt es bereits an der Erfassung der Kundendaten –, sie können leicht manipuliert und nach dem
Vertriebsinteresse ausgerichtet werden, so dass nicht nur der Verbraucher in die „passende“ Katego-
rie eingeordnet werden kann, auch die Produkte können und werden der „passenden“ Risikoklasse
zugeordnet.
Maßnahme 4: Mindeststandards der Diagnose und Information.
(36) So ordnen verschiedene Anbieter identische Produkte unterschiedlichen Risikoklassen zu.
Auch die Software, die zur Beratung eingesetzt wird, lässt sich so einstellen, dass die für die Bank,
nicht unbedingt für den Kunden, optimalen Produkte ausgeworfen werden. Klare und insbesondere
allgemein gültige Standards sind daher notwendig, um ein einheitliches Qualitätsniveau zu sichern.
Es sollten spezifische, wissenschaftlich fundierte Vorgaben bzw. Standards entwickelt und in kon-
krete rechtliche Pflichten gefasst werden, die Berater bei der „Diagnose“ der ihre Unterstützung
nachsuchenden Verbraucher befolgen müssen. Diese Standards sollten empirisch entwickelt sein,
d.h., es sollte sichergestellt werden, dass der Diagnoseprozess die relevanten Aspekte der Kunden-
situation erfasst und dass er unabhängig von dem Berater, der den Prozess durchführt, bei gleicher
Kundensituation zum gleichen Ergebnis kommt. Auf dieser Basis kann dann eine Standardisierung
der Diagnostik, also der Erhebung der relevanten Information vom Kunden, seiner Ziele und deren
Gewichtung, der Risikotragfähigkeit, der Risikoeinstellung usw. erfolgen. Zwar werden in der Pra-
xis auch bestimmte Kundenprofile (z.B. Sicherheit, Chance, Wachstum) bestimmten Produkttypen
zugeordnet, weder Kunden- noch Produktprofile sind jedoch einheitlich. So verwenden ver-
schiedene Anbieter unterschiedliche Bezeichnungen und gleiche Bezeichnungen bedeuten Unter-
schiedliches. Die empirisch fundierten Standards sollten dann Eingang in Checklisten finden, die
Verbrauchern eine Orientierung und Unterstützung hinsichtlich der Beratung bieten sollen. Hiervon
unabhängig sollte im Hinblick auf die Checklisten erheblicher Wert darauf gelegt werden, den
Verbrauchern zu verdeutlichen, was diese Form der Unterstützung leisten kann, welche Rolle sie
nur spielen kann und wo ihre Grenzen liegen. Checklisten können und sollen den Kunden eine ei-
gene Entscheidung nicht abnehmen und sie dürfen auch nicht suggerieren, mit dem „Abhaken“ der
Liste sei man auf der „sicheren Seite“.
(37) Aufbauend auf der empirischen Entwicklung und Standardisierung des Diagnoseprozesses soll-
te ebenso der Versuch unternommen werden, die Präsentation der relevanten Informationen an den
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
23
Kunden im Sinne von Aufklärung und Beratung empirisch zu entwickeln und zu standardisieren.
Wesentlich ist hierbei, zu beachten, welche der potentiell verfügbaren Informationen für den Ver-
braucher relevant und gleichzeitig wahrzunehmen, zu verarbeiten und zu speichern sind, d.h.,
welche Information und auf welche Weise Information den Verbraucher optimal erreicht. Insbeson-
dere hinsichtlich der Risikoprofile von Finanzprodukten und ihrer Kombination mit bestimmten
Anlegertypen muss sichergestellt sein, dass der Verbraucher nicht nur das Produktrisiko korrekt
wahrnimmt, sondern auch seine eigene Bereitschaft, Risiken einzugehen, korrekt einschätzt.
Maßnahme 5: Mindeststandards der Empfehlung an Kunden.
(38) Standardisierte Verfahren der Generierung von Empfehlungen sollten auf die empirische Ent-
wicklung konkreter Standards für Diagnose- und Informationsprozesse folgen. Wesentlich ist es
auch hier, einen einheitlichen Qualitätsstandard zu schaffen, der Nachfrage nach Finanzprodukten
und Angebot an denselben effizient und interessengerecht aus Perspektive der Verbraucher zusam-
menführt. Dabei sind mehrere wesentliche Faktoren zu berücksichtigen. Erstens, welche Kategorien
von Anlageoptionen kommen bei dem gegebenen Kunden aufgrund dessen Charakteristika wie Al-
ter, Einkommen usw. nicht in Frage, d.h. dürfen vom Berater nicht angeboten werden (wohl vom
Kunden angefordert werden). Zweitens, welche Kategorien von Anlageoptionen kommen in Frage,
insbesondere auch angesichts der Risikoeinstellung und Renditeerwartung des Kunden, und ange-
sichts der Ratings durch eine unabhängige Institution. Drittens, welche Art der Anlageoption wird
standardmäßig (als default, plain vanilla) empfohlen wird, falls der Kunde sich beispielsweise nicht
ausführlicher mit dem Anlageproblem beschäftigen kann oder will. Ein solches Vorgehen nimmt
dem Anleger nicht die Entscheidung ab und lässt ihm alle Wahlfreiheiten, bietet aber einen Rah-
men, innerhalb dessen er die für ihn beste Entscheidung treffen kann).
46
Standardisierungen dieser
Art würden dem Kunden eine Qualität der Beratung garantieren, die weitgehend unabhängig von
Kompetenz und Motivation des individuellen Beraters und auch dem Interesse des einzelnen Fi-
nanzdienstleistungsunternehmens ist.
(39) Verbraucher sollen geeignete Finanzprodukte auch ohne spezielle Finanzkompetenz und
spezifische Motivation zur Beschäftigung mit Finanzaspekten erhalten können. Zu jedem
Kundenprofil gibt es ein vorgegebenes Standardangebot, welches als „default“ vorgegeben und
angeboten wird, sofern nicht unmissverständlich eine andersgerichtete Präferenz geäußert wird.
47
Verbraucher können also eine eigene Entscheidung vermeiden, indem sie die eingestellte Vorgabe
übernehmen. Häufig zitiertes Beispiel sind die großen Unterschiede im Anteil der Organspender in
46
Vgl. Thaler / Sunstein 2008, die hier mit dem Begriff „nudge“ eine Neuformulierung gefunden haben, die schon
länger zu den Erkenntnissen der Behavioral Economics gehört.
47
Siehe zu diesem Abschnitt Reisch / Oehler 2009; Thaler / Sunstein 2008.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
24
fig zitiertes Beispiel sind die großen Unterschiede im Anteil der Organspender in Ländern, bei de-
nen der „default“ unterschiedliche Standards setzt: Während in den Ländern, in denen die Ver-
storbenen grundsätzlich als Organspender betrachtet werden und die Angehörigen der Organent-
nahme aktiv widersprechen müssen („opt out“) der Anteil bei 99% liegt (z.B. Österreich), ist der
Anteil in Ländern mit „opt in“ Bedingung im einstelligen Bereich (z.B. Deutschland).
48
Grundsätz-
lich können „defaults“ sowohl von Anbietern
49
, als auch vom Staat oder von anderen gesellschaftli-
chen Institutionen wie Kirche, Medien, Schulen (so genannte „Massen-Defaults“) und auch vom
Verbraucher selbst gesetzt werden (so genannte „persönliche Defaults“).
50
Die EU Kommission hat
die Macht des „default“ erkannt und bereits in einem Fall in eine Gesetzesvorlage umgesetzt. So
wird Art. 31.3 des Vorschlags für eine neue Verbraucherrechtsdirektive
51
damit begründet, dass
Verbraucher sich in aller Regel bei Vertragsbedingungen nach den üblichen Standardvorgaben rich-
ten und nur selten aktiv eine vorgegebene Standardeinstellung abwählen – gerade beim E-
Commerce und gerade bei Vertragsbedingungen (dem „Kleingedruckten“). Daher wird gefordert,
voreingestellte Optionen, die eine Zustimmung signalisieren (d.h. bereits angekreuzte Wahl-Käst-
chen) zu minimieren und stattdessen grundsätzlich die ausdrückliche Einwilligung der Konsumen-
ten einzuholen. Die Macht des Defaults steht de facto bereits auch hinter den meisten staatlich ge-
steuerten Spar- und Altersvorsorgeprogrammen, die viele Staaten weltweit einsetzen. Hier stellt der
Default des regelmäßigen Einzahlens (z.B. Prozentsatz von Einkommenserhöhungen) wichtiges
Designelement und Erfolgsfaktor dar.
52
Das weltweit erste Sparprogramm das sich explizit auf ver-
haltensökonomische Erkenntnisse stützt, ist das neuseeländische „KiwiSaver“-Altersvorsorge-
programm.
53
(40) Verbraucher müssen sich natürlich auch gegen die Empfehlung oder Voreinstellung entschei-
den und ein anderes Produkt erwerben dürfen („opt out“). Dies muss allerdings mit einer entspre-
chenden Aufklärung und einer schriftlichen Zustimmung des Kunden verbunden sein, in der auch
direkt das definitive Abraten von Alternativen gut erkennbar und prominent sichtbar dargestellt ist.
Denn der freie Produktzugang sollte nicht grundsätzlich beschränkt werden, weil diese, richtig ein-
gesetzt, ökonomisch nützlich sein können (z.B. Derivate, Hedge-Fonds).
48
Johnson/Goldstein 2003.
49
Polak et al. 2008.
50
Eine nützliche Klassifizierung von Default-Typen findet sich in Goldstein/Johnson/Herrmann et al. 2008.
51
COM(2008)614final.
52
Für viele: Madrian/Shea 2001.
53
MacPherson 2006: Das Programm „Kiwisaver“ ist ein lohnbasiertes Sparprogramm, das seit 2007 läuft. Es ist „the
first government scheme in the world to be designed using behavioural finance principles to encourage saving“
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
25
(41) Obwohl ein Verbot bestimmter Produkte immer wieder diskutiert wird, sollte diese extreme
Form der Marktbeschränkung nur in Ausnahmefällen Anwendung finden. In Fällen, in denen die
angebotenen Produkte oder Dienstleistungen von vornherein keinen, oder nur mit sehr geringer
Wahrscheinlichkeit überhaupt einen ökonomischen Nutzen für den Verbraucher bieten, wie es bei-
spielsweise bei einigen auch über sog. cold-calls verkauften Aktien- oder Optionsgeschäften, so
genannten Garantieprodukten oder Zertifikaten der Fall ist, ist ein deutlicher Warnhinweis vor je-
dem Angebot jedoch durchaus sinnvoll, ein Verbot nur in seltenen Fällen, z. B. wenn eine Praxis
mit Warnhinweisen versagen sollte. Eine weitere Lösung bestünde in der Übertragung des Grund-
satzes der ausgewogenen, objektiven Marktuntersuchung, zu der Versicherungsmakler verpflichtet
sind, auf den Wertpapierhandel. Der Grundsatz verpflichtet Makler, ihrem Rat als Grundlage eine
hinreichenden Zahl von auf dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen und von Versicherern
zugrunde zu legen, um nach fachlichen Kriterien eine Empfehlung abgeben zu können, welcher
Versicherungsvertrag geeignet ist, die Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Da Kosten ebenso unter
fachlichen Kriterien subsumiert werden, ließe sich dies übertragen auf Finanzprodukte so interpre-
tieren, dass nicht jedes nach der im Wertpapierhandelsgesetz vorgegebenen Merkmalstrias aus Zie-
len (Risikobereitschaft und Anlageziele), finanziellen Verhältnissen und Kenntnissen / Erfahrungen
grundsätzlich angemessene Produkt empfohlen werden dürfte, sondern nur Produkte, die nicht
durch andere dominiert werden (entweder niedrigeres Risiko, höhere erwartete Rendite oder niedri-
gere Kosten bei ansonsten identischen Konditionen). Theoretisch sollte eine optimale Beratung im
Interesse des Kunden eben dies leisten. Praktisch ließe sich diese Forderung jedoch kaum durchset-
zen. Nicht nur würden Anbieter erheblich zusätzlich belastet durch eine Verpflichtung zu einer um-
fangreicheren Marktuntersuchung, sondern insbesondere auch dem Verbot, bestimmte provisions-
starke und vor allem u.U. auch eigene Produkte nicht mehr verkaufen zu können.
(42) Eine klare Produktkennzeichnung erleichtert grundsätzlich die Wahl von Finanzprodukten.
Wenn auch eine Produktkennzeichnung mittels einfacher Ampeldarstellung nicht sinnvoll ist, so ist
der Versuch, dem Verbraucher auf möglichst einfache Weise hilfreiche Signale hinsichtlich der
Eignung von Finanzprodukten für seine individuelle Situation zu geben, durchaus zu begrüßen. Da-
bei ist auch eine Modifizierung des Ampel-Konzeptes in Betracht zu ziehen, beispielsweise in An-
lehnung an den Lebensmittelbereich, in dem mittlerweile auch ein Ansatz Anwendung findet, bei
dem die Ware nicht mehr nur ein Pauschalurteil als grün, gelb oder rot erhält, sondern stattdessen
für den Kunden wesentliche Produkteigenschaften wie Kalorien, Zucker-, Fett- und Salzgehalt je-
(ebenda, S. 32). Alle bisherigen Programme waren vom Privaten Sektor initiiert (Madrian/Shea 2001; Thaler/Benatzi
2004).
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
26
weils anhand einer Ampeldarstellung beurteilt werden. Über eine derartige Darstellung der Produkt-
risiken ist auch im Finanzbereich nachzudenken. So könnte es beispielweise sinnvoll sein, über eine
Unterteilung in verschiedene ökonomische Dimensionen wie beispielsweise Rendite, Risiko, Liqui-
dität, Kosten mit entsprechenden Bewertungskriterien (z.B. Totalverlustrisiko, Kursschwankungsri-
siko, Verfügbarkeit der angelegten Mittel, institutionelle Absicherung der angelegten Mittel etc.)
nachzudenken, von denen jedes eine farblich dargestellte Beurteilung erhält. Sinnvoll könnten eben-
so Angaben darüber sein, welche Anforderungen ein Produkt an den Verbraucher stellt, bei-
spielsweise hinsichtlich seiner Finanzkenntnisse, seiner Erfahrung in Finanzangelegenheiten sowie
seiner Bereitschaft, sich mit der Anlage zu beschäftigen. Im Kern geht es darum, auf einfache Weise
zu verdeutlichen, für welche Kundentypen ein Produkt eher geeignet ist und für welche weniger,
idealerweise basierend auf empirisch abgeleiteten Erkenntnissen hinsichtlich sinnvoller und weniger
sinnvoller Kombinationen von Profilen von Anlageoptionen und Anlegertypen. Dies gilt hinsicht-
lich Produktrisiken einerseits und Risikotragfähigkeit und -bereitschaft andererseits. Deutliche
Warnungen sollten gerichtet sein an bestimmte „Risikogruppen“ von Verbrauchern, bei denen sich
der Erwerb eines Produktes – sei es beispielsweise aufgrund ihres sozioökonomischen (finanzielle
Tragfähigkeit) und / oder -demographischen Status (z.B. Alter) – besonders nachteilig auswirken
kann.
Maßnahme 6: Verbraucherbildung und -aufklärung.
(43) Die Freiheit der Wahl kann von Verbrauchern umso mehr in Anspruch genommen werden, je
besser er selbst in Fragen der Geldanlage und Finanzierung kundig ist. Daher ist für einen Ausbau
der Verbraucherbildung als notwendiger Voraussetzung eines funktionierenden Anbieter- und Qua-
litätswettbewerbs zu plädieren. Reflektierendes Handeln der Verbraucher ist zu fördern und sie sind
für die Relevanz finanzieller Fragestellungen zu sensibilisieren.
Mit einer frühen wirtschaftlichen und
finanziellen Grundbildung in der Schule könnte Kompetenz gefördert werden.
Um allerdings wirklich die
Zielgruppen zu erreichen, die Finanzbildung besonders benötigen, sollten verschiedene Aspekte
Beachtung finden. Erstens sollten Verbraucherorganisationen verstärkt Kooperationen zu erreichen
suchen mit anderen Institutionen wie beispielsweise Unternehmen/Arbeitgebern, Universitäten und
Gewerkschaften, welche die Verbraucher in ihrem speziellen Umfeld deutlich effektiver und effi-
zienter erreichen können als die bislang überwiegend verfolgten, groß angelegten aber gleichzeitig
relativ allgemein gehaltenen Ansätze. Zudem sollte mehr Aufmerksamkeit darauf verwendet wer-
den, Verbrauchern den unmittelbaren Nutzen der angebotenen Bildungs- und Beratungsleistungen
zu vermitteln. Besonders betroffene Verbrauchergruppen, sei es hinsichtlich ihrer soziodemographi-
schen oder -ökonomischen Situation, welche fundierte Beratung dringend benötigen, werden sonst
Andreas Oehler, Daniel Kohlert, Helmut Jungermann
27
durch die Kosten der Verbraucherberatung abgeschreckt, denen kein angemessener Nutzen gegenü-
berzustehen scheint. Diese Gruppen sind es auch, die verstärkt direkt angesprochen werden sollten
(z.B. Schüler vor dem ersten Abschluss, Senioren ohne Finanzerfahrung, Hochverschuldete). Das
bestehende System, das es vom Verbraucher verlangt, selbst aktiv zu werden, um für seine indivi-
duelle Situation relevante Informationen zu bekommen, ist weder effizient noch effektiv.
Maßnahme 7: Verbrauchergerechtes Rechtssystem mit Beweislastumkehr.
(44) Schließlich sollten auch das Rechtssystem und die betroffenen Parteien nicht mit hochkomple-
xen Regelungen zum Beispiel im Hinblick auf die genaue Spezifikation der dem Verbraucher zu
vermittelnden Information belastet werden, wenn diese Regelungen die Realität beschränkt rationa-
len Verbraucherverhaltens nicht ausreichend berücksichtigen (können). Konsequenz des Versagens
des präventiven Schutzes durch Befragungs-, Aufklärungs- und Beratungspflichten ist es, diese Ex-
ante-Regulierung durch ein strengeres Haftungssystem zu ergänzen beziehungsweise zu ersetzen.
Genau daran fehlt es. Da kaum damit zu rechnen ist, dass die von der Europäischen Kommission
avisierte Neuregelung der Finanzberatung in Anlehnung an die Versicherungsvermittlungs-
Richtlinie konkrete Vorgaben zu einer möglichen Haftung des Beraters vorschlagen wird, ist der
nationale Gesetzgeber gefordert. In der Rechtsprechung zeigen sich zwar Verschiebungen zugunsten
der Anleger, doch weigert sich der BGH die Beweislast grundsätzlich, d.h. losgelöst von konkreten
Umständen, anzuerkennen. Insofern bestätigt der BGH in seiner Rechtsprechung zu den verschwie-
genen Rückvergütungen nur seine seit Jahren verfolge Linie – auf den Einzelfall kommt es an. The-
oretisch ist natürlich denkbar, dass der Konkurs der Lehmann Brothers und die daraus sich ergeben-
den Konsequenzen den BGH zu einem kühnen Schritt veranlasst, ähnlich wie er ihn Ende der 60er
Jahre mit der Umkehr der Beweislast im Produkthaftungsrecht vollzogen hat. Rechtspolitisch über-
zeugender wäre es, wenn der Gesetzgeber die Initiative ergriffe. Tatsächlich erkennt der Gesetzge-
ber durchaus an, dass es für den Verbraucher bislang äußerst schwierig ist, eine schuldhaft fehler-
hafte Beratung nachzuweisen; die jetzt eingefügte Informationspflicht bleibt auf halben Wege ste-
hen und bleibt weit hinter seit Jahrzehnten geltenden Regelungen in den Vereinigten Staaten zurück.
Notwendig ist in Deutschland eine intensive Auseinandersetzung mit dem Berufsbild des Anlager-
beraters. Nur wenn der Anlagerberater für eine schuldhaft fehlerhafte Beratung persönlich und ei-
genverantwortlich einstehen muss, entsteht ausreichender Druck für eine hochwertige Beratung. Vor
dem Hintergrund des fehlenden Qualitätswettbewerbs ist dies die wirksamste Maßnahme, Druck auf
die Anbieter auszuüben und die Beratungsqualität wirksam zu steigern.
Zur Qualität der Finanzberatung von Privatanlegern: Probleme des Beratungsprozesses und Lösungsansätze
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