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Heike Wiese, Universität Potsdam
Das Potential multiethnischer
Sprechergemeinschaften
Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt den Sprachgebrauch in multiethnischen
Sprechergemeinschaften im urbanen Raum. Ich zeige, dass die
Varietät, die sich hier entwickelt, als neuer Dialekt des Deutschen
verstanden werden kann. Dieser Dialekt ist gekennzeichnet durch
Charakteristika auf lexikalischer und grammatischer Ebene, die
auf systematische Muster sprachlicher Variation und sprachlichen
Wandels hinweisen, und erhält durch seine Sprechergemeinschaft
mit vielen (aber nicht nur) mehrsprachigen Sprecher/inne/n eine
besondere sprachliche Dynamik. Ich diskutiere zwei Beispiele,
intensivierend gebrauchtes „voll“ und monomorphematisches,
existenzanzeigendes „gib(t)s“, die die quantitative Expansion
bzw. die Weiterentwicklung und den qualitativen Ausbau von
Phänomenen illustrieren, die auch aus anderen Varietäten des
Deutschen bekannt sind. Der multiethnische urbane Dialekt, der
hier entsteht, spiegelt damit Entwicklungstendenzen des
Deutschen wieder, die in einigen Fällen zusätzlich durch
Sprachkontaktphänomene gestützt werden können.
1. Neue multiethnische Sprechergemeinschaften im
urbanen Raum
Die Gesellschaften im modernen Europa sind, insbesondere im
urbanen Raum, heute durch ethnisch und sprachlich gemischte
Populationen charakterisiert. In Folge von Immigration sind
multiethnische Wohngebiete entstanden, in denen Menschen
unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Erst- und
Zweitsprachen zusammenleben. In Deutschland hatte 2009 knapp
ein Fünftel (19,2%) der Bevölkerung einen sogenannten
aus: Deppermann, Arnulf (Hg.), Das Deutsch der Migranten.
Berlin & New York: de Gruyter [Jahrbuch 2012 des Instituts für
Deutsche Sprache Mannheim]. S.41-58
„Migrationshintergrund“1, 2010 lebten rund 31 % der
minderjährigen, ledigen Kinder in Deutschland in einer Familie
mit Migrationshintergrund, wobei in urbanen Gebieten der Anteil
höher liegt. In Großstädten mit mehr als 500 000 Einwohnern
wächst fast jedes zweite minderjährige Kind (46 %) in einer
Familie mit Migrationshintergrund und damit in einer potentiell
mehrsprachigen Familie auf.2 Es handelt sich hierbei also um kein
Randphänomen, sondern um einen substantiellen Anteil der
Bevölkerung, der die sprachliche Landschaft um vielfältige
Ressourcen bereichert und dazu führt, „dass die
bundesrepublikanische Gesellschaft mehrsprachig ist – einfach
weil ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung mehrsprachig
ist“ (Schroeder 2007, S.7).
Durch das Zusammenleben von Sprecher/inne/n unterschiedlicher
(einschließlich deutscher) Herkunft entstehen im urbanen Raum
neue, multiethnische und multilinguale Sprechergemeinschaften
mit eigener sprachlicher Dynamik. Der Sprachenvielfalt auf
Ebene der Sprachsysteme steht auf Sprecherebene neben
einsprachig deutschen Sprecher/inne/n ein hoher Anteil
mehrsprachiger Sprecher/innen gegenüber, die mit mindestens
einer weiteren Sprache neben dem Deutschen aufgewachsen sind.
Dies führt zur Entstehung neuer multiethnischer urbaner
Varietäten,3 „urban vernaculars“ (Rampton ersch.), insbesondere
in der sprachlich besonders dynamischen Gruppe der jugendlichen
Sprecher/innen, aber, wie ich unten an einem Beispiel zeigen
werde (Abschnitt 3.2), mit weiterem Verbreitungspotential.
1 Quelle: Statistisches Bundesamt; Menschen mit Migrationshintergrund sind dort
definiert als Personen, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen
und alle in Deutschland Geborenen mit zumindest einem zugezogenen oder als
Ausländer/in in Deutschland geborenen Elternteil.
2 Zahlen für 2010; Quelle: Statistisches Bundesamt.
3 Ich nehme hier eine Perspektive ein, die primär auf das sprachliche System abzielt und
soziolinguistische Fragen des Gebrauchs an dieser Stelle vernachlässigt, und gehe von
Varietäten aus. Zur Diskussion von Multiethnolekten als „Stil“ vs. „Varietät“ vgl.
auch Quist (2008), für eine ausführliche Argumentation in Bezug auf Kiezdeutsch vgl.
Freywald et al. (2010).
Für diesen neuen Sprachgebrauch sind unterschiedliche
Bezeichnungen verbreitet. Ich verwende in Anlehnung an eine
Bezeichnung, die jugendliche Informant/inn/en in Berlin geprägt
haben, den Begriff „Kiezdeutsch“. Diese Bezeichnung beinhaltet
keine ethnische Eingrenzung und kann damit erfassen, dass es
sich um eine Varietät handelt, die für ein bestimmtes alltägliches
Wohnumfeld (Berlinisch „Kiez“) charakteristisch ist und dort
unabhängig von unterschiedlichen Herkunftssprachen (Türkisch,
Arabisch, Deutsch, Kurdisch, …) gesprochen wird.
2. Kiezdeutsch als multiethnischer Dialekt des
Deutschen
Wie ich an anderer Stelle ausführlich argumentiert habe (Wiese
2012), kann Kiezdeutsch als neuer, multiethnischer Dialekt des
Deutschen angesehen werden. Mit dieser Einordnung beziehe ich
mich auf einen weiten Dialektbegriff, wie er seit den 1980ern
insbesondere in Soziolinguistik und Variationslinguistik
entwickelt wurde. Diese weite Auffassung von „Dialekt“
subsumiert sprachliche Varietäten, die eine bestimmte
Sprechergruppe innerhalb einer größeren Sprachgemeinschaft
charakterisieren; vgl. etwa eine häufig zitierte Definition von
„dialect“ in Trudgill (1992, S. 23; vgl. auch Chambers / Trudgill
1998):
„a variety of language which differs grammatically,
phonologically and lexically from other varieties, and which is
associated with a particular geographical area and/or with a
particular social class or status group.“
Ein solcher Dialektbegriff bezieht damit neben horizontalen auch
vertikale Bestimmungen ein, d.h. er umfasst auch Varietäten, die
durch soziale Faktoren bestimmt sind. Im Fall von Kiezdeutsch
kommen beide Aspekte zusammen: Kiezdeutsch ist der
Sprachgebrauch bestimmter urbaner Wohngebiete und damit
räumlich bestimmt, diese Wohngebiete sind jedoch, anders als
herkömmliche Dialekte, nicht einer bestimmten geographischen
Region zugeordnet, sondern durch einen hohen Migrantenanteil
definiert, und dies ist in Deutschland, ähnlich wie in anderen
westeuropäischen Ländern, mit sozialen Faktoren wie niedrigem
Haushaltseinkommen und hoher Erwerbslosenquote verknüpft.4
Im Unterschied zu typischen Soziolekten ist der Gebrauch von
Kiezdeutsch innerhalb dieser Wohngebiete nicht auf
Sprecher/innen einer bestimmten sozialen Schicht beschränkt,
sondern wird übergreifend gesprochen.
Eine zentrale Altersgruppe für Kiezdeutsch sind Jugendliche, und
auf diese Sprechergruppe werde ich mich im Folgenden in erster
Linie beziehen. Wie am Beispiel von „gibs“ als Existenzmarker
noch deutlich wird (Abschnitt 3.2), sind jedoch insbesondere die
grammatischen Neuerungen in Kiezdeutsch (anders als die stärker
jugendsprachlichen lexikalischen Erweiterungen) möglicherweise
nicht nur an diese Altersgruppe gebunden.5
Der oben zitierte Dialektbegriff setzt ein charakteristisches
sprachliches System voraus, mit Besonderheiten auf
grammatischer, phonologischer und lexikalischer Ebene. Für
Kiezdeutsch sind eine Reihe von Charakteristika beschrieben
worden, die diese Bedingung erfüllen.6 Beispiele sind etwa
auf grammatischer Ebene:
- der Gebrauch bloßer Nominalphrasen als Orts- und
Zeitangaben (1a) oder mit semantisch gebleichten Verben
(1b):7
4 Vgl. OECD International Migration Outlook 2006; Mikrozensus 2005 des Statistischen
Bundesamtes zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland sowie
exemplarisch den Bericht 2010 der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung,
Bereich „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“.
5 Vgl. auch Rampton (ersch.) für ähnliche Beobachtungen in Großbritannien. Vgl.
Cheshire et al. (2011) zur Entstehung urbaner Multiethnolekte als eine neue Form der
Dialektbildung, mit sprachlichen Merkmalen, die oft bei jugendlichen Sprecher/inne/n
besonders ausgeprägt, aber auch in anderen Altersgruppen zu finden sind.
6 Vgl. Keim /
Androutsopoulos (2000); Androutsopoulos (2001a,b); Kallmeyer / Keim (2003); Auer
(2003); Dirim / Auer (2004); Kern & Selting (2006a,b); Tertilt (1996); Wiese (2006,
2009, 2012).
7 Für eine Analyse der Konstruktionen aus bloßen Nominalen und semantisch
gebleichten Verben als produktive neue Funktionsverbgefüge in Kiezdeutsch vgl.
Wiese (2006).
(1) a. gehst du heute AUCH viktoriapark?
(Wiese 2009, S. 792)
b. hast du problem?
(Auer 2003, S. 258)
- neue Möglichkeiten zur Besetzung des Vorfelds (in
selbstständigen Aussagesätzen zusätzlich zur Verb-zweit-
Stellung auch Verb-erst-Stellung (2a) oder mehrfache
Vorfeldbesetzung (2b)):
(2) a. wollt ich keine hektik machen
(Dirim / Auer 2004, S. 207)
b. jetz ich bin 18
(Auer 2003, S. 259)
auf phonologischer Ebene:
- die Koronalisierung des palatalen Frikativs [ç] zu [ɕ] bzw. [ʃ];
- einige phonetische Reduktionen, etwa der Gebrauch von [s]
statt [ts] in wortinitialer Position.
auf lexikalischer Ebene:
- die Integration neuer Fremdwörter aus den Herkunftssprachen
unterschiedlicher Sprecher/innen, etwa „lan“ im Sinne von
jugendsprachlichem „Alter“ aus dem Türkischen (dort
ursprünglich in der Bedeutung „Kerl“):
(3) isch will mit dir spielen lan
(Kallmeyer & Keim 2003, S. 33)
- die Bildung neuer Funktionswörter, etwa „lassma“ und
„musstu“ (aus „lass uns ma(l)“ und „musst du“) zur
Markierung sprecher-inklusiver vs. -exklusiver Direktiva:
(4) a. lassma Moritzplatz aussteigen
(Wiese 2009, S. 799)
b. musstu lampe reinmachen
(Wiese 2009, S. 802)
Wie wir an anderer Stelle gezeigt haben (Wiese 2006, 2009,
Freywald et al. 2011), enstehen neue grammatische Muster und
Funktionswörter in Kiezdeutsch durch ein systematisches
Zusammenspiel unterschiedlicher grammatischer Teilsysteme und
ihre Interaktion mit außergrammatischen Domänen wie Diskurs
und Informationsstruktur. Diese Systematik in der Herausbildung
sprachlicher Charakteristika etabliert Kiezdeutsch als eigene
Varietät des Deutschen, die dabei, ebenso wie andere Dialekte, in
das sprachliche System des Deutschen eingebettet ist und sich so
ins dialektale Spektrum einfügt.
Als neuer, junger Dialekt, der anders als andere heutige Dialekte
des Deutschen noch nicht über eine so lange
Entwicklungsgeschichte verfügt, ist Kiezdeutsch
sprachwissenschaftlich besonders interessant. Der mehrsprachige
Kontext gibt diesem Dialekt zudem eine besondere Dynamik.
Durch die Sprachenvielfalt und die vielsprachigen Kompetenzen,
die die multiethnische Sprechergemeinschaft auszeichnen, steht
das Deutsche hier in einer Vielzahl von Sprachkontaktsituationen.
Die bisher untersuchten sprachlichen Charakteristika von
Kiezdeutsch weisen darauf hin, dass dies zu einer größeren
Offenheit gegenüber sprachlicher Variation führt, die sprachliche
Entwicklungen besonders stützt, dass diese Entwicklungen aber in
erster Linie binnenstrukturell und motiviert sind und weniger
durch direkte kontaktsprachliche Übertragungen.8
Die Perspektive auf Kiezdeutsch als Dialekt kann dies erfassen
und damit zu einem neuen Verständnis von Kiezdeutsch
beitragen. Sie erlaubt es, die reichhaltigen Erkenntnisse aus der
Dialektologie des Deutschen und aus der soziolinguistischen
Dialektforschung für die Interpretation unserer Befunde zu
nutzen, nicht nur, was die Ebenen von Sprachsystem und Diskurs
angeht, sondern, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (Wiese
2012: Teil 2), auch in Bezug auf perzeptuelle und
sprachideologische Evidenz zu Kiezdeutsch.
Die Einordnung als Dialekt erfasst zudem ein weiteres Merkmal,
das Kiezdeutsch mit herkömmlichen Dialekten des Deutschen
teilt, nämlich die Gradierung seines Gebrauchs: Wie andere
8 Vgl. auch Poplack/Levey (2010) generell zur Differenzierung kontaktsprachlicher
Einflüsse und internen Wandels.
heutige Dialekte auch wird Kiezdeutsch in unterschiedlich starker
Ausprägung gebraucht, wir finden weniger strikt kategoriale
Unterschiede zu anderen Sprechergemeinschaften als vielmehr
graduelle Übergänge zu anderen Varianten, etwa stärker
standardnaher Sprache, und eine gezielte Wahl aus einem
Repertoire von Merkmalen je nach Sprechsituation. Dies ist ein
generelles Phänomen im heutigen Dialektgebrauch; die
Charakterisierung von Kiezdeutsch als Dialekt ist daher besonders
geeignet, die Einordnung dieser Sprechweise als „Stil“, die dies
aufgreift, mit der stärker grammatiktheoretischen Einordnung als
„Varietät“ zu verknüpfen.9
3. Grammatische Entwicklungstendenzen im
mehrsprachigen Kontext: zwei Beispiele
Generell lassen sich zwei Arten grammatischer Entwicklungen in
Kiezdeutsch identifizieren: (1) der quantitative Ausbau von
Nichtstandard-Konstruktionen gegenüber dem Sprachgebrauch in
vergleichbaren stärker monoethnischen / monolingualen
Sprechergemeinschaften, d.h. von Konstruktionen, die in anderen
Varietäten des Deutschen ebenfalls auftreten, dort aber nicht so
stark verbreitet oder weniger systematisch etabliert sind; (2)
grammatische Innovationen, die auf vorhandenen Mustern des
Deutschen aufbauen, diese aber qualitativ verändern und
weiterentwickeln. Im Folgenden werde ich für die beiden
Bereiche je ein Beispiel genauer darstellen: (1) die quantitative
Expansion von intensivierend gebrauchtem „voll“, das ebenso
auch aus anderen Varianten des Deutschen bekannt ist, und (2) der
Gebrauch von „gib(t)s“ als monomorphematische
Existenzpartikel. Der Fall von „gib(t)s“ illustriert zudem, wie
Entwicklungstendenzen im mehrsprachigen Kontext verstärkt
werden können, indem die binnenstrukturelle, im sprachlichen
System des Deutschen angelegte, Motivation kontaktsprachlich
noch weiter gestützt wird, in diesem Fall durch das Vorliegen
einer ähnlichen Existenzpartikel im Türkischen.
9 Vgl. auch oben, Fn.3.
3.1 Quantitative Expansion: intensivierendes „voll“
„voll“ ist in seiner herkömmlichen Verwendung eine Präposition
(„eine Flasche voll Wein / voller Wein“) oder ein Adjektiv („eine
volle Flasche“), das sich semantisch auf das Volumen von
Behältern bezieht und ein Gegensatzpaar mit „leer“ bildet, in dem
„voll“ das positive Element darstellt. Anders als ein positiv
gerichtetes Dimensionsadjektiv wird „voll“ nicht mit Maßangaben
gebraucht („4kg schwer“ vs. *„4 Liter voll“), sondern gibt ein
Maximum an und gehört in dieser Hinsicht in ein semantisches
Feld mit Adjektiven wie „ganz“ oder „total“.10 Ähnlich wie diese
wird „voll“ in informeller Sprache intensivierend gebraucht und
steht damit in ähnlicher Distribution wie „sehr“:
(5) Das ist {voll / ganz / total / sehr} schön.
„voll“ kann hier semantisch, ähnlich wie „sehr“, Eigenschaften
ebenso wie Handlungen modifizieren und syntaktisch
entsprechend sowohl mit Adjektiv- und Adverbphrasen als auch
mit Verbphrasen stehen. Diese Verwendung von „voll“ ist
besonders in Jugendsprache verbreitet und hier so salient, dass sie
mindestens seit den 1980ern in Lexika der Jugendsprache Eingang
gefunden hat, dies sowohl im ostdeutschen als auch im
westdeutschen Raum.11
(6) gibt einige Beispiele aus dem KiezDeutsch-Korpus
(„KiDKo“), einem Korpus spontansprachlicher Daten aus
Gesprächen Jugendlicher, das auf Eigenaufnahmen in Peer-
Group-Situationen basiert (vgl. Wiese et al., eingereicht). Das
KiDKo umfasst ein Hauptkorpus von rund 48 Aufnahmestunden
(ca. 228.000 Token; 17 Anker-Sprecher/innen) mit Daten ein- und
mehrsprachiger Sprecher/innen aus einem multiethnischen
Wohngebiet, Berlin-Kreuzberg, und ein Ergänzungskorpus von
rund 18 Aufnahmestunden (ca. 105.000 Token; 6 Anker-
10 Kirschbaum (2002: Kap.2.2.2) charakterisiert Intensivierer wie „voll“ entsprechend
als (Skalen-)Endpunktadjektive. Vgl. auch Kirschbaum (2002: Kap.5.8.2) zum
metaphorischen Ausdruck von Intensität als „Vollständigkeit“ durch Intensivierer wie
„voll“, „ganz“ oder „total“.
11 Vgl. exemplarisch Müller-Thurgau (1985), Heinemann (1989).
Sprecher/innen) mit Daten aus einem sozioökonomisch
vergleichbaren, aber weitgehend monoethnischen Wohngebiet,
Berlin-Hellersdorf.
Die Verwendung von intensivierendem „voll“ fand sich sowohl in
der multiethnischen als auch in der monoethnischen Population
(die unten angegebenen Sigel geben mit den ersten beiden
Buchstaben die Zugehörigkeit der Daten zur multiethnischen (Mu)
bzw. monoethnischen (Mo) Population an; die letzten beiden
Buchstaben verweisen auf das Geschlecht der
Ankersprecher/innen (M/W) und ihre Familiensprache, d.h. die
Sprache, die in der Familie hauptsächlich verwendet wird, mit
„D“ für Deutsch, „T“ für Türkisch, „K“ für Kurdisch und „A“ für
Arabisch; Versalien markieren Hauptakzente):
(6) a. oh ich bin heut morgen voll LUStig ,
(KiDKo, MuH11MD)
b. es hat nisch WEHgetan , aber es is
voll FETT gworden . (--) sieht voll
SCHLIMM aus (KiDKo, MuH19WT)
c. dass sie ihn voll SÜSS findet .
(KiDKo, Mo01MD)
d. das habt ihr aber WIRKlich voll oft
ne ? (KiDKo, MuH1WD)
e. isch ZITter immer voll und dann
verRUTSCHT es jedes mal .
(KiDKo, MuH19WT)
f. musst ick erstma voll LAChen .
(KiDKo, Mo18MD)
Neben herkömmlichen Adjektiven wie in (6a-c) treten als Kopf
der modifizierten Phrase auch solche auf, die aus evaluativen
Nomen hervorgegangen sind; vgl. (7):12
12 Vgl. Androutsopoulos (1998) zu diesem Muster desubstantivischer Konversion in
Jugendsprache. Pittner / Berman (2006) gehen davon aus, dass das Auftreten in
prädikativer Position, wie es in (b) und (c) deutlich wird, die Basis für die
Entwicklung darstellt.
(7) a. ah mann dis sieht man voll SCHEIße
so . (KiDKo, MuH11MD)
b. dis is voll KILler man .
(KiDKo, MuH9WT)
c. das is doch voll SCHROTT .
(KiDKo, MuH12MD)
Eine weitere intensivierende Verwendung von „voll“ ist die am
linken Rand definiter DPs,13 wie sie in (8) durch drei
Korpusbeispiele illustriert ist:
(8) a. er is voll das KIND .
(KiDKo, MuH12MD)
b. isch bin voll das BÜscherwurm
(KiDKo, MuH19WT)
c. yeah KUCK ma , voll die GANGster vor
uns . (KiDKo, Mo05WD)
Diese Verwendung ist sowohl syntaktisch als auch semantisch
interessant. Auf syntaktischer Ebene fällt die Kombination mit
adjazent nachfolgendem Definitartikel mit lexikalischer
Nominalphrase/NP auf, ohne Genitivzuweisung von „voll“,
anders als etwa in herkömmlichem, veraltendem Gebrauch von
„voll“ als Präposition mit einer Determinansphrase/DP als
Komplement („voll des Weines“). Trotz des definiten Artikels
verhält sich die Konstruktion nicht semantisch definit.14 Sie ist
dennoch semantisch nicht äquivalent zu indefiniten
Konstruktionen, wie dies Androutsopoulos (1998) etwa nahelegt,15
13 Für eine ausführliche Analyse der Syntax dieser Konstruktion vgl. Meinunger (2009).
14 Etwa *„Dort sind voll die Gangster, die ich vorhin gesehen habe.“; vgl. Gutzmann &
Turgay (2011) (ähnlich auch für intensiverendes total und sau).
15 Vgl. Androutsopoulos (1998:355), der zu Varianten wie „eine sehr schöne Frau“ und
„voll die schöne Frau“ feststellt: „Die Varianten unterscheiden sich in Wortstellung
[…] und Artikelwahl […], sind aber semantisch-funktional äquivalent, da sich weder
die Funktionsbedeutung der Intensivierung noch die deskriptive Bedeutung der
intensivierten Phrase ändert.“.
sondern wird, anders als diese, häufig für einen Prototypen-Bezug
gebraucht.16
Der semantische Beitrag von Definitartikel und NP kann in
diesem Fall als Identifizierung eines prototypischen Exemplars
beschrieben werden, während „voll“ die vollständige, maximale
Subsumtion unter diesen Typus betont: Es geht hier um die
Erfüllung aller Merkmale des Prototyps. So bedeutet
beispielsweise „Sie ist voll die Siegerin.“ nicht einfach „Sie hat
gesiegt.“ Eine passende Paraphrase wäre vielmehr so etwas wie
„Sie hat alle wesentlichen Merkmale einer typischen Siegerin.“
Der Prototyp, um den es bei der Konstruktion mit „voll“ geht,
rekurriert begrifflich auf die gesamte NP und führt daher zu
Interpretationsunterschieden in Minimalpaaren wie (9a) vs. (9b):
(9) a. ein voll schöner Mann
b. voll der schöne Mann
In (a) modifiziert „voll“ als Intensivierungspartikel die
Adjektivphrase/AP „schöner“, es geht um einen Mann, der
besonders schön ist. In (b) bezieht sich „voll“ dagegen nicht auf
schön allein, sondern auf „schöner Mann“; hier geht es um
jemanden, der alle Merkmale eines prototypischen schönen
Mannes besitzt, d.h. jemand, der den Prototyp des „schönen
Mannes“ instantiiert ((9b) könnte daher auch negativ wertend im
Sinne von „ein Schönling“ gebraucht werden).
Syntaktisch weist die Konstruktion „voll Definitartikel NP“
Parallelen zu „ganz der Vater“ auf. In der Konstruktion mit
„ganz“ bezieht sich die definite DP jedoch regulär auf das
einzige/salienteste/maximale Element, das die NP begrifflich
instantiiert, nicht auf einen Prototyp. (10) illustriert dies an
Paraphrasen für ein (konstruiertes) Minimalpaar mit „{ganz/voll}
Def.art. NP“:
(10) a. Er ist ganz der Vater.
→ „Er hat alle wesentlichen Merkmale seines (= des
spezifischen, kontextuell salienten) Vaters.“
16 Vgl. auch Meinunger (2009).
b. Er ist voll der Vater.
→ „Er hat alle wesentlichen Merkmale eines typischen
Vaters.“
Um die Distribution und den Ausbau der Nichtstandard-
Verwendung von „voll“ in intensivierender Bedeutung in
multiethnischen Sprechergemeinschaften zu untersuchen und
mögliche Unterschiede in der Gebrauchshäufigkeit gegenüber
monoethnischen Sprechergemeinschaften zu identifizieren, wurde
auf der Basis des KiezDeutsch-Korpus eine Korpusstudie zum
Auftreten von „voll“ in spontansprachlichen Gesprächen
Jugendlicher durchgeführt (in Haupt- und Ergänzungskorpus, d.h.
für die multi- und die monoethnische Population).17
Hierzu wurden zunächst sämtliche Vorkommnisse von „voll“ im
Korpus extrahiert und manuell klassifiziert. Insgesamt ergab die
Suche 1.185 Vorkommnisse von „voll“ im Korpus oder 3,57
Verwendungen pro 1.000 Wörter. Hierbei fanden sich in beiden
Teilkorpora (multi- und monoethnische Population)
herkömmliche Verwendungen von „voll“ im Sinne von „gefüllt“
ebenso wie intensivierende Verwendungen in Modifikation von
APs, AdvPs und VPs (vgl. (6) und (7) oben) und in der
Konstruktion mit definiter DP (vgl. (8) oben). Die quantitative
Auswertung der verschiedenen Verwendungsweisen und der
Vergleich von multi- und monoethnischer Population ergab zwei
interessante Befunde:
1. Dominanz der intensivierenden Verwendung: „voll“ tritt,
insgesamt betrachtet, dominant in intensivierender Verwendung
auf, nämlich in über 95 % der Fälle. Die herkömmliche
Verwendung von „voll“ im Sinne von „gefüllt“ macht
demgegenüber mit knapp 5 % (54 Vorkommnisse) nur einen
kleinen Teil der „voll“-Vorkommnisse aus. Innerhalb dieser
Gruppe fanden sich nur zwei Fälle, je einer aus Haupt- und
Ergänzungskorpus, in denen „voll“ als Präposition mit einer
NP/DP kombiniert wurde:
17 Die Studie wurde im Frühjahr 2011 durchgeführt, Grundlage war ein Korpusumfang
von 228.917 Token im multiethnischen Hauptkorpus und 103.160 Token im
monoethnischen Ergänzungskorpus.
(11) a. aber du ÄRgerst sie , du machst sie
voll komPLExe . (.) isch schwöre .
(KiDKo, MuP05WK)
b. alles (.) is voll DRECK .
(KiDKo, Mo05WD)
Der erste Beleg (11a) ist dabei keine eindeutige Instanz für „voll“
als Präposition im Sinne von „gefüllt“: Möglicherweise ist „voll“
hier eher als Intensivierungspartikel in der Verbphrase/VP
gebraucht, das Pronomen „sie“ wäre dann als Akkusativ-Pendant
zu standardsprachlichem Dativ zu verstehen (= Interpretation im
Sinne von „Du machst ihr {voll/total} Komplexe.“).
Wir finden in beiden Belegen keine overte Kasuszuweisung an die
NP/DP, beide NPs sind artikellos und indefinit (Pluralnomen bzw.
transnumerales Singularnomen). Zur Kombination mit NP/DP
wird zudem in zwei Fällen im Hauptkorpus statt einer direkten
Subordinierung eine Einbettung der NP/DP in eine PP mit „mit“
gewählt, wie wir sie auch aus Hörbelegen in informeller Sprache
kennen:
(12) a. nachher war die ganze TAfel da voll
mit STRIchen alter .
(KiDKo, MuH11MD)
b. guck mal da is die scheißkiste voll
mit BIER mann .
(KiDKo, MuH11MD)
Zusammengenommen könnte dies darauf hinweisen, dass die
Verwendung von „voll“ als Präposition im Rückgang begriffen
ist. Dies wäre allerdings noch durch diachrone Vergleichsdaten zu
belegen; möglich wäre auch ein generell marginales Auftreten
dieser Konstruktion.
2. Dominanz in der multiethnischen Population: „voll“ wird in der
multiethnischen Population mehr als doppelt so oft gebraucht wie
in der monoethnischen Population, nämlich 4,25 Mal pro 1.000
Wörtern im Hauptkorpus gegenüber 2,06 Mal pro 1.000 Wörtern
im Ergänzungskorpus. Diese Dominanz geht auf eine häufigere
intensivierende Verwendung von „voll“ zurück, nämlich 4,1 Mal
pro 1.000 Wörtern im Hauptkorpus (mu) gegenüber 1,87 Mal pro
1.000 Wörtern im Ergänzungskorpus (mo), und dies betrifft
sowohl die Verwendung als Intensivierungspartikel in APs und
VPs (mu: 4,10; mo: 1,87) als auch die in „Prototyp“-
Konstruktionen der Form „voll Def.art. NP“ (mu: 0,30; mo: 0,16).
Im Gegensatz dazu kommt „voll“ in herkömmlicher Verwendung
(= in der Bedeutung „gefüllt“) in beiden Teilkorpora fast gleich
oft pro 1.000 Wörtern vor, in der monoethnischen Population
sogar etwas häufiger, nämlich 0,18 Mal, gegenüber 0,15 Mal im
Hauptkorpus (bzw. bei rund 9 % aller „voll“-Vorkommnisse im
Ergänzungskorpus und bei rund 4 % aller „voll“-Vorkommnisse
im Hauptkorpus).
Zusammengenommen lässt sich damit festhalten: „voll“ tritt nach
diesen Korpusbefunden in gesprochener informeller Sprache unter
Jugendlichen dominant in Nichtstandard-Verwendung auf,
nämlich in intensivierender Funktion einschließlich der in
„Prototyp“-Konstruktionen der Form „voll Def.art. NP“, und diese
Nichtstandard-Verwendung ist im Gebrauch der multiethnischen
Population des Hauptkorpus noch einmal bedeutend weiter
verbreitet als in der monoethnischen Population des
Ergänzungskorpus. Die multiethnische Sprechergemeinschaft
erweist sich damit als ein Kontext, in dem sprachliche
Entwicklungen in informeller Sprache besonders deutlich werden.
3.2 Ausbau und Innovation: monomorphematisches gib(t)s
Für existenzanzeigendes „geben“ finden wir im Kontext
mehrsprachiger Sprechergemeinschaften eine interessante
Entwicklung zu einem monomorphematischen Element, das
Merkmale einer Existenzpartikel aufweist.
Im Vergleich zu „geben“ im Sinne von „überreichen“ ist
existenzanzeigendes „geben“ im Deutschen in seinem
Konstituentenrahmen reduziert und stärker spezifiziert. Auf
semantischer Ebene vergibt es nur eine thematische Rolle, das
Thema (= die Entität, für die Existenz prädiziert wird), die auf
syntaktischer Ebene mit dem Akkusativobjekt assoziiert ist,
während als Subjekt ein semantisch leeres Expletivum „es“
auftritt.18 Die Konstruktion ist daher in zweifacher Hinsicht
auffällig: Erstens gibt es ein syntaktisches Argument, das Subjekt,
das kein semantisches Pendant hat, und umgekehrt ist die höchste
thematische Rolle, hier das Thema, nicht mit dem Subjekt
assoziiert, sondern mit dem Objekt. Existenzanzeigendes „geben“
weicht damit von der regulären Organisation verbaler
Argumentstrukturen ab. Zweitens ist das Verb in dieser
Konstruktion durch das feste Subjekt „es“ auf die 3.Person
Singular (in finiten Vorkommnissen) beschränkt.
Existenzanzeigendes „geben“ ist damit in seinem
morphosyntaktischen Paradigma gegenüber regulären Verbformen
eingeschränkt.
Der zweite Punkt stützt eine Entwicklung zu einer
monomorphematischen Form „gib(t)s“ in der gesprochenen
und/oder konzeptionell mündlichen Sprache auch außerhalb von
Kiezdeutsch. Existenzaussagen werden typischerweise nicht
global getroffen, sondern auf einen spezifischen Rahmen
eingeschränkt (vgl. Lambrecht 1995). Da Rahmensetzer generell
an den linken Rand der Satzperipherie streben (vgl. Jacobs 2001;
Krifka 2007), steht das Subjekt von existenzanzeigendem „geben“
meist nicht im Vorfeld, sondern in seiner Basisposition nach dem
finiten Verb. Dies liefert eine Linearisierung, bei der im Indikativ
Präsens typischerweise „gibt“ von „es“ gefolgt wird, das als
schwaches Pronomen in gesprochener Sprache dann klitisiert
wird, d.h. finden wir meist „gibt’s“ bzw. die noch weiter
reduzierte Form „gibs“.19
18 Lenerz (1992) nennt dies ein „Subjekt-es“, im Gegensatz zum „Topik-es“, das kein
obligatorisches Element des Verbs ist, sondern zusätzlich zu einem vollen Subjekt
gebraucht wird, in der linken Peripherie basisgeneriert wird und nicht in der
Basisposition des Subjekts erscheinen kann. Czinglar (1997) betont, dass das
Expletivum bei existenzanzeigendem „geben“ immer die Form „es“ hat, im Gegensatz
etwa zu Wetterverben, die auch „das“ als Subjekt zulassen.
19 Im DWDS-Kernkorpus finden sich beispielsweise 13.000 Vorkommnisse von „es
gibt“ gegenüber 19.000, also etwa 1,5 Mal so vielen, für „gibt es“/„gibt’s“/„gibts“.
Die Häufigkeit dieser Form scheint auch außerhalb von
Kiezdeutsch die Uminterpretation als monomorphematisches
Element zu stützen, bei dem „(e)s“ dann nicht mehr als klitisiertes
Subjekt zugänglich ist. Einen Hinweis hierauf liefern Daten aus
konzeptionell mündlicher Sprache, in denen ein zusätzliches
volles Subjekt „es“ zu existenzanzeigendem „gibts“ hinzukommt.
(13) gibt drei Beispiele aus Internet-Diskusssionen:
(13) a. Es gibts nicht zum Anziehen für den
Schulanfang!20
b. Es gibts Jobs … um die beneide ich
keinen.21
c. Es gibts nichts besseres!! Einfach
Wunderschön22
Vergleichbare Konstruktionen finden sich auch im Kontext
mehrsprachiger Sprechergemeinschaften, vgl. (14) (aus einem
Interview-Transkript, türkisch-deutscher Sprecher aus Berlin-
Kreuzberg):
(14) es GIBS nich mehr sowas , es is nich
mehr die zeit von FRÜher , von unsre
ELtern . (Wiese / Duda 2012)
Diese Univerbierung von „gibts“ liefert die Basis für eine
Weiterentwicklung in Kiezdeutsch, die die grammatische
Dynamik aufnimmt, die sich aus der oben angesprochenen
irregulären Argumentstruktur speist, und eine Alignierung
syntaktischer und semantischer Argumente und damit eine
Regularisierung der Konstruktion bewirkt. Die
20 Internetforum zu „Kids und Schule“, http://www.urbia.de/archiv/forum/th-
2175813/Es-gibts-nicht-zum-Anziehen-fuer-den-Schulanfang.html, letzter Zugriff am
29.2.2012.
21 Leserkommentar zu Artikel über neuen Finanzminister in Griechenland in Focus
Online vom 17.6.2011, http://www.focus.de/politik/ausland/es-gibts-jobs-
griechenland-kommentar_3591886.html, letzter Zugriff am 29.2.2012.
22 Bewertung eines Hotels durch Reisende auf TripAdvisor,
http://www.tripadvisor.de/ShowUserReviews-g194907-d277291-r122003302-
Grand_Hotel_la_Pace-Sant_Agnello_Province_of_Naples_Campania.html, letzter
Zugriff am 29.2.2012.
monomorphematische Form „gib(t)s“ wird nach diesem weiteren
Entwicklungsschritt nicht mehr mit einem Expletivum kombiniert,
sondern hat als einziges Argument das Thema. Beispiele hierfür
finden sich sowohl im KiezDeutsch-Korpus (vgl. (15) a,b) als
auch in Hörbelegen von älteren Sprecher/inne/n (vgl. (15) c–e;
sämtlich türkisch-deutsche Sprecher/innen im Alter von 30 bis 40
Jahren in Berlin-Kreuzberg) und von Vorschulkindern ((15) f–h;
aus einer Studie in Kreuzberger Kindergärten; vgl. Wiese / Duda
2012; zu den Sprecher/innen im einzelnen: (15f) – 6 Jahre alt,
englisch-deutsch; (15g) – 5 Jahre alt, türkisch-deutsch; (15h) – 5
Jahre alt, einsprachig deutsch):
(15) a. GUCK ma was hier alles NOCH gibs .
(KiDKo, MuP1MK)
b. WEIßte doch , die die in verschiedene
FARben gibs ? (KiDKo, MuH9WT)
c. ich such mal RAUS wo das gibs .
d. ich war gestern BAUhaus und habe
geguckt welche SORten gibs .
e. ich gucke mal nach ob auch bezüge für
KINdersitze gibs .
f. ich WEIß wo die gibs .
g. hast du vergessen dass auch
SCHLUMPFeis gibs ?
h. aber den BABYcarrier weiß ich nicht wo
den gibs . den hat mir meine Oma
geschenkt .
Die Wortstellung deutet hier darauf hin, dass „gibs“ als Partikel
verwendet wird, die die Position des finiten Verbs einnimmt.
Diese Konstruktion ist an der Oberfläche nur bei dieser
Wortstellung, in subordinierten Sätzen, von der herkömmlichen
Konstruktion mit existenzanzeigendem finitem Verb und
klitisiertem Subjekt unterscheidbar (vgl. etwa „Die gibs in
verschiedene Farben.“ bzw. „Gibs die in verschiedene Farben?“).
Diese Parallelen könnten die Uminterpretation von „gib(t)s“
stützen. Ein zweiter Punkt betrifft den syntaktischen Status des
nunmehr einzigen Arguments, des Themas: Wegen des
weitgehenden Formen-Synkretismus in Nominativ und Akkusativ
ist oft nicht sichtbar, ob es sich jeweils um das Objekt oder das
Subjekt handelt. Diese Ambiguität an der Oberfläche könnte eine
Uminterpretation des ursprünglichen Objekts von
existenzanzeigendem „geben“ als – meist formgleiches – Subjekt
begünstigen. Die Kreuzberger Kinderdaten weisen an einigen
Stellen darauf hin, dass dies ein möglicher weiterer
Entwicklungspfad sein könnte: In Fällen, in denen maskuline
Singularformen auftreten, die auch oberflächlich eine Kasus-
Unterscheidung erlauben, finden sich neben Akkusativformen
auch einige eindeutige Nominative, vgl. etwa die Beispiele in (16)
(Sprecher/innen: (16a) – 5 Jahre alt, türkisch-deutsch; (16b) – 4
Jahre alt, einsprachig deutsch; (16c) – 5 Jahre alt, türkisch-
deutsch):
(16) a. welche ninjas SIND denn hier ? zeig
mir mal WER alles gibs .
b. ich mag BEIde sorten pudding . das is
gut weil wenns nur EIner gibs , mag ich
den auf JEden fall .
c. das is kein geschmack von einer
FRUCHT . das is einfach ein geschmack ,
der woanders gar nicht GIBS .
Dies weist auf eine mögliche Weiterentwicklung von „gib(t)s“ in
mehrsprachigen Sprechergemeinschaften, die in letzter
Konsequenz zu einer Regularisierung gegenüber der
herkömmlichen, devianten Konstruktion in Bezug auf die Syntax-
Semantik-Alignierung führen kann: Es findet sich kein
syntaktisches Argument ohne semantisches Gegenstück mehr
(„es“), und die höchste thematische Rolle (das Thema)
korrespondiert mit dem Subjekt, nicht mit dem Objekt.23 Ein
neues Spannungsfeld entsteht für die Konstruktion demgegenüber
23 Für eine formale Modellierung der Syntax-Semantik-Korrespondenzen vgl. Wiese /
Duda (2012).
auf morphosyntaktischer Ebene: Die Form „gib(t)s“, die nun an
der Position des finiten Verbs steht, ist hier (noch?) eine Partikel,
die keine Flexionsmerkmale aufweist und entsprechend auch nicht
mit dem neuen Subjekt kongruieren kann. Wenn sich die
Entwicklung, die sich hier für „gib(t)s“ in mehrsprachigen
Sprechergemeinschaften andeutet, weiter konsolidiert, wäre eine
Fortführung denkbar, in der dann entsprechende finite Formen
entstehen.
Die Entwicklung von „gib(t)s“ zu einem monomorphematischen
Existenzanzeiger passt, wie hier deutlich wurde, grundsätzlich ins
System des Deutschen; sie ist binnenstrukturell gut motiviert und
tritt, wie etwa (15h) und (16b) illustrieren, auch bei einsprachig
deutschen Kindern in multiethnischen Sprechergemeinschaften
auf. Die neue Verwendung von „gib(t)s“ in solchen
Sprechergemeinschaften könnte jedoch zusätzlich noch
kontaktsprachlich untermauert werden, nämlich durch das
Türkische, das mit dem Existenzanzeiger „var“ (verneint: „yok“)
ein ganz ähnliches Element besitzt. Ein möglicher
kontaktsprachlicher Einfluss ist hier nicht so sehr in Form von
Interferenzen plausibel, die jeweils in der konkreten Äußerung
aktiviert würden und nur Sprecher/innen mit
Türkischkompetenzen betreffen könnten, sondern eher in Form
einer weiteren Stützung. Da ein relativ großer Anteil der
Sprecher/innen das Türkische beherrscht und somit die
Verwendung einer Existenzpartikel im sprachlichen Repertoire
hat, ist vorstellbar, dass diese Sprecher/innen gegenüber der
Entwicklung von „gib(t)s“ zur Existenzpartikel besonders offen
sind; diese Offenheit könnte die Verbreitung in der
Sprechergemeinschaft dann insgesamt noch begünstigen.
4. Fazit und Ausblick
Der vorliegenden Beitrag hat den Sprachgebrauch in
multiethnischen und multilingualen Sprechergemeinschaften in
Deutschland aus der Perspektive grammatischer Entwicklungen
untersucht. Hierbei konnten zwei zentrale Entwicklungspfade
identifiziert werden: die quantitative Expansion von
Konstruktionen, die auch aus anderen Varietäten des Deutschen
bekannt sind, und grammatische Neuerungen, die vorhandene
Entwicklungstendenzen des Deutschen aufnehmen und qualitativ
erweitern. Wie die hier vorgestellten exemplarischen Analysen für
die beiden Domänen illustrierten, sind diese Entwicklungen, auch
im Fall grammatischer Neuerungen, wesentlich systemintern,
binnenstrukturell im Deutschen motiviert. Der hohe Anteil
mehrsprachiger Sprecher/innen in multiethnischen
Sprechergemeinschaften trägt dabei zu einer besonderen Dynamik
der hier entstehenden urbanen Dialekte bei, und dies, wie ich
argumentiert habe, auf zwei Ebenen: Zum einen generell durch
eine größere Offenheit gegenüber sprachlicher Variation, die
Prozesse von Sprachwandel und Sprachentwicklung besonders
begünstigt; zum anderen durch Sprachkontaktinstanzen, die in
konkreten Fällen Entwicklungen, die im System des Deutschen
angelegt sind, noch verstärken können.
Multiethnische Sprechergemeinschaften weisen damit ein
besonderes Potential für Sprachwandel und grammatische
Innovation auf. Sie liefern den Kontext für urbane Dialekte, in
denen Entwicklungstendenzen im Gegenwartsdeutschen
besonders deutlich werden.
Dies steht in auffälliger Diskrepanz zur Wahrnehmung dieser
Sprechergemeinschaften und ihres Sprachgebrauchs in der
öffentlichen Diskussion (vgl. Wiese 2010, 2012). Ein urbaner
Dialekt wie Kiezdeutsch löst hier massive Sprachkritik aus, die
sich in das generelle Topos der „Sorge um den Sprachverfall“
einfügt,24 dabei jedoch noch verstärkt wird durch einen
verbreiteten sprachideologischen Konnex zwischen
„Migrationshintergrund“ und „Sprachförderbedarf“. Die
Wahrnehmung multiethnischer Sprechergemeinschaften ist dabei
primär alloethnisch fokussiert.
Vor diesem Hintergrund werden sprachliche Neuerungen nicht als
Beispiele für Variation im Gegenwartsdeutschen angesehen,
sondern als Hinweis auf mangelnden Fremdspracherwerb,
sprachliche Defizite und/oder massive grammatische
24 Vgl. hierzu etwa die Beiträge in Denkler et al. (Hg.) (2008).
Interferenzen aus verschiedenen Herkunftssprachen.25 Ein
genauerer Blick auf die sprachlichen Phänomene offenbart
dagegen, wie ich in diesem Beitrag illustriert habe, eine
grundlegende Verankerung im System des Deutschen und eine
sprachliche Dynamik multiethnischer, ausgeprägt mehrsprachiger
Sprechergemeinschaften, die auf ein besonderes Potential zur
Ausbildung neuer Varietäten der Majoritätssprache hinweist.
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25 Diese Auffassung scheint in der öffentlichen Debatte z.T. auch von linguistischer
Seite vertreten zu werden, vgl. etwa Hinrichs (2012): „Das mehrsprachige Milieu kann
auf korrekte Deklinationen und genaue Endungen durchaus verzichten, weil diese Art
Grammatik nur Kodierungsenergie frisst, die woanders viel dringender gebraucht
wird, beispielsweise um Defizite im Wortschatz auszugleichen. […] Einwanderer
greifen auch auf Sprachstrukturen zurück, die sie aus ihrer Muttersprache mitbringen.
Diese werden ins Deutsche kopiert und im zweisprachigen Milieu gefestigt. Im
großstädtischen Kiezdeutsch […] gibt es etwa eine Vielzahl von Satzmustern, die aus
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