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Nervenarzt 2014 · 85:273–278
DOI 10.1007/s00115-013-3900-y
Online publiziert:19. Februar 2014
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
S. Hodgins1, 2 · R. Müller-Isberner3
1 Département de Psychiatrie, Université de Montréal
2 Institute of Psychiatry, King’s College London
3 Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Haina
Schizophrenie und Gewalt
Das mit Schizophrenie einhergehen-
de Stigma beruht darauf, dass diese
Menschen als unberechenbar und ge-
fährlich wahrgenommen werden [2].
Ein realistischer Umgang mit den tat-
sächlichen, von Schizophrenen aus-
gehenden Risiken eröffnet wirksame
Präventionswege und könnte somit
ganz entscheidend zur Entstigma-
tisierung beitragen. Die empirische
Evidenz zu leugnen, hilft den Betrof-
fenen nicht: Schizophrenie ist ein em-
pirisch gut belegter Risikofaktor für
Gewalttaten.
Gewaltkriminalität bei
Schizophrenen
Männer und Frauen, die an einer Schizo-
phrenie leiden, haben im Vergleich zur
Restbevölkerung ein erhöhtes Verurtei-
lungsrisiko. Dieses Risiko steigt von ge-
waltfreier Delinquenz, über Gewaltdelin-
quenz hin zu Tötungsdelinquenz an [].
In einer dänischen Geburtskohorte von
. Personen, die bis in die Mitte ihres
. Lebensjahrzehnts nachverfolgt wurden,
wurden Menschen, die wegen einer Schi-
zophrenie mindestens einmal stationär
behandelt worden waren, mit solchen ver-
glichen, die nie stationär in der Psychiat-
rie aufgenommen worden waren: Schizo-
phrene Männer hatten ein um den Faktor
, (%-Konfidenzintervall [-CI]: ,–
,) und Frauen ein um den Faktor ,
(%-CI: ,–,) erhöhtes Gewalttä-
terrisiko. Ähnliche Ergebnisse wurden
in anderen Geburts- und Bevölkerungs-
kohorten gefunden ([, ], Übersicht bei
[]). Obgleich insgesamt weniger Frauen
als Männer wegen Gewalttaten verurteilt
werden, steigert Schizophrenie das Risiko
bei ihnen deutlich mehr.
D Die Assoziation zwischen Schizophre-
nie und Gewaltdelinquenz ist robust.
Sie wurde von unterschiedlichen For-
schergruppen, in verschiedenen Län-
dern mit unterschiedlichen Kulturen so-
wie unterschiedlichen Gesundheits- und
Justizsystemen gefunden. Hierbei wur-
den unterschiedliche experimentelle
Designs (Longitudinalstudien an Ge-
burts- und Populationskohorten, Verglei-
che von Schizophrenen und ihren Mit-
bürgern in der Gemeinde, Diagnosestu-
dien an kompletten Häftlingskohorten)
verwandt. Wichtig ist, dass die, diesen
Studien zugrunde liegenden Verurteilun-
gen auf Gewalttaten in der Gemeinde be-
ruhen, nicht aber auf Gewalthandlungen
in psychiatrischen Krankenhausstationen,
wo Strafverfolgung sehr selten ist (Über-
sicht bei []). Nichts spricht dafür, dass
die gefundenen erhöhten Raten von Ge-
waltkriminalität Ausdruck einer Diskri-
minierung durch Strafverfolgungsbehör-
den sind (Diskussion bei []). Schizophre-
ne Rechtsbrecher sind die Hauptursache
für die europaweit zu beobachtende Zu-
nahme forensischer Behandlungsplätze
[, ].
Die epidemiologischen Studien zeigen
konsistent, dass der Anteil Schizophrener,
der Straftaten begeht, von Studie zu Studie
schwankt, sich bei Schizophrenen im Ver-
gleich zur Restbevölkerung aber durch-
gängig ein erhöhtes Risiko zeigt. In Län-
dern mit hohen Raten an Gewaltkrimina-
lität haben Schizophrene ein höheres Ge-
walttäterrisiko als in Ländern mit niedri-
gen Raten, was darauf hindeutet, dass zu-
mindest einige der Faktoren, die die Ge-
waltkriminalität in der Allgemeinbevöl-
kerung verursachen, auch bei schizophre-
nen Gewalttätern relevant sind.
Am häufigsten begehen Schizophrene
Körperverletzungen. Tötungsdelikte sind
selten, verursachen aber die größte me-
diale Aufmerksamkeit. In einigen Län-
dern werden alle Personen, die eines Tö-
tungsdeliktes beschuldigt werden, psy-
chiatrisch untersucht. Anhand solcher
Untersuchungen ließ sich der Anteil Schi-
zophrener an Tötungsdelinquenten be-
stimmen. Er liegt zwischen und %,
variiert also erheblich zwischen Staaten,
und innerhalb von Staaten, über Zeitepo-
chen hinweg (. Tab. 1). Dies liegt daran,
dass die Häufigkeit von Tötungsdelikten
von Land zu Land und über Zeitepochen
hinweg sehr verschieden ist, die Präva-
Leitthema
Tab. 1 Anteil schizophrener Täter bei Tötungsdelikten. (Literaturnachweis bei [3])
Region Erfassungszeitraum Anteil schizophrener Täter
(%)
Finnland 1984–1991 6,1
Victoria, Australien 1993–1995 7,2
Kopenhagen 1959–1983 8,0
BRD 1955–1964 8,2
Kalifornien 1978–1980 9,9
Hessen 1992–1996 10,0
London 1979–1980 11,0
Island 1900–1979 14,9
Nordschweden 1970–1980 28,4
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lenz der Schizophrenie dagegen stabil bei
etwas unter % liegt, was dann zu einem
unterschiedlichen Anteil Schizophrener
an den Tötungsdelinquenten führt (Über-
sicht bei []).
In einer innerstädtischen englischen
Stichprobe von schwer psychisch
kranken, stationären Patienten – meist
handelte es sich um Schizophrene – wa-
ren % bereits früher stationär behandelt
worden. Das Durchschnittsalter lag bei
knapp unter Jahren. ,% der Männer
und ,% der Frauen hatten wenigstens
einen Strafregistereintrag wegen einer Ge-
walttat, im Mittel waren es zwei solcher
Einträge. Insgesamt hatten die Männer
mit Strafregistereintrag Straftaten be-
gangen, die Frauen mit Registereintrag
begingen Taten []. Im Vergleich zur
englischen Gesamtbevölkerung entsprach
das Verurteilungsrisiko dieser englischen
Patientengruppe dem, was in Studien in
Dänemark und Schweden gefunden wur-
de (Übersicht bei []).
Von den wegen einer Straftat verurteil-
ten Schizophrenen haben bis zu % be-
reits vor Krankheitsausbruch mindestens
eine Vorstrafe []. Eine Studie aus Däne-
mark nutzte nationale Gesundheits- und
Kriminalitätsregister, um die Kriminali-
tät aller Personen, die nach geboren
wurden und in die Diagnose einer
Schizophrenie erhalten hatten, zu erfas-
sen. % der männlichen und % der
weiblichen Schizophrenen hatten bereits
vor Erstkontakt mit dem psychiatrischen
Versorgungssystem eine Vorstrafe []. In
Studien, die mit nationalen Gesundheits-
und Strafregisterdaten arbeiten, wozu es
keines Einverständnisses der Betroffenen
bedarf, finden sich grundsätzlich höhere
Raten an Verurteilungen vor Erstkontakt
mit der Psychiatrie als in klinischen Stu-
dien ([, ], Übersicht bei []). In einer
repräsentativen englischen Stichprobe
von Menschen, die wegen einer Erstepi-
sode einer Psychose behandelt wurden,
hatten ein Drittel der Männer und %
der Frauen eine Vorstrafe, % der Män-
ner und % der Frauen hatten zumindest
eine Vorstrafe wegen einer Gewalttat [].
Von der anderen Seite her betrach-
tet fand eine dänische Studie erhöhte Ra-
ten späterer Schizophrenieerkrankungen
unter jugendlichen Straftätern (Übersicht
bei []).
Aggressives Verhalten
von Schizophrenen ohne
strafrechtliche Ahndung
Auch gravierende Rechtsbrüche füh-
ren nicht automatisch zu strafrechtlicher
Ahndung: Gewalthandlungen gegenüber
nahen Angehörigen werden meist nicht
zur Anzeige gebracht, mit einer Einwei-
sung nach dem Psychisch-Kranken-Ge-
setz (PsychKG) hat ein Polizist in vielen
Ländern, so auch in Deutschland, zumeist
Zusammenfassung · Summary
Nervenarzt 2014 · 85:273–278 DOI 10.1007/s00115-013-3900-y
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
S. Hodgins · R. Müller-Isberner
Schizophrenie und Gewalt
Zusammenfassung
Hintergrund. Es gibt mittlerweile eine ro-
buste Evidenz dafür, dass Schizophrenie das
Risiko für Gewalttaten erhöht. Schizophrene
Rechtsbrecher sind die Hauptursache für die
europaweit zu beobachtende Zunahme fo-
rensischer Behandlungsplätze.
Fragestellung. Die Arbeit untersucht das
empirisch gesicherte Wissen über den Zu-
sammenhang von Schizophrenie und Gewalt.
Material und Methode. Es wurde eine syste-
matische Literaturauswertung durchgeführt.
Ergebnisse. Menschen, die an einer Schi-
zophrenie erkrankt sind, haben im Vergleich
zur restlichen Bevölkerung ein erhöhtes Risi-
ko, wegen Gewalttaten verurteilt zu werden
oder sich anderweitig aggressiv zu verhalten.
Psychotische Symptome erklären nur das in
akuten Phasen häufige aggressive Verhalten,
nicht aber vergleichbares Verhalten vor Aus-
bruch der Erkrankung oder außerhalb akuter
Krankheitsphasen. Drei distinkte Phänotypen
schizophrener Gewalttäter konnten identifi-
ziert werden: Individuen mit einer im Kindes-
alter beginnenden Störung des Sozialverhal-
tens, die sowohl vor als auch nach Ausbruch
der Schizophrenie antisoziales und aggressi-
ves Verhalten zeigen; Individuen ohne Vorge-
schichte von Verhaltensproblemen, die mit
Ausbruch der Erkrankung aggressives Ver-
halten zeigen; und Individuen, die nach viel-
jährigem Krankheitsverlauf schwere Gewalt-
handlungen begehen. Über die Ätiologie die-
ser drei Typen von Rechtsbrechern ist eben-
so wenig bekannt wie über die neuronalen
Mechanismen, die dieses Verhalten initiieren
und aufrechterhalten.
Schlussfolgerung. Psychiatrische Versor-
gungssysteme müssen dem von schizophren
erkrankten Menschen ausgehenden Gewalt-
risiko durch angemessene Risikoeinschät-
zungen und Interventionen, die antisoziales
und aggressives Verhalten fokussieren, Rech-
nung tragen.
Schlüsselwörter
Forensik · Schizophrenie · Gewalt · Störung
des Sozialverhaltens · Literaturreview
Schizophrenia and violence
Summary
Background. There is now robust evidence
that schizophrenia is associated with an in-
creased risk of violence. Across Europe, the
numbers of forensic hospital beds have dra-
matically increased largely due to admissions
of men with schizophrenia.
Objective. This article critically reviews the
extant literature on schizophrenia and vio-
lence.
Material and methods. A systematic review
of the literature was carried out.
Results. People with schizophrenia are at in-
creased risk, as compared to the general pop-
ulation, to be convicted for violent crimes be-
cause they are more likely to engage in ag-
gressive behaviour towards others. While psy-
chotic symptoms explain aggressive behav-
iour during acute episodes, they do not ex-
plain such behaviour at other stages of the ill-
ness or prior to onset of illness. Three distinct
phenotypes of offenders with schizophrenia
have been identified: individuals with a child-
hood onset of conduct disorder who display
antisocial and aggressive behaviour both be-
fore and after schizophrenia onset, individu-
als with no history of conduct problems who
begin engaging in aggressive behaviour at
the onset of illness, and individuals who en-
gage in a severe physical assault after many
years of illness. Little is known about the
aetiology of the three types of offenders and
about the neural mechanisms that initiate
and maintain these forms of behaviour.
Conclusion. Mental health services need to
assess the risk of violence among patients
with schizophrenia and provide treatments
that directly target antisocial and aggressive
behaviour.
Keywords
Forensic · Schizophrenia · Violence · Conduct
disorder · Literature review
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Der Nervenarzt 3 · 2014
seine Pflicht getan und nur schwerste Ge-
walthandlungen mit schweren Verletzun-
gen oder tödlichem Ausgang werden re-
gelhaft strafrechtlich verfolgt. Insofern
spiegeln Daten, die auf Verurteilungssta-
tistiken beruhen, nicht das ganze Ausmaß
der Belastung dieser Menschengruppe
mit aggressivem Verhalten wider.
In einer englischen Patientengruppe
berichteten ,% der Männer und ,%
der Frauen mindestens einmal im Leben
eine gravierende Gewalthandlung began-
gen zu haben. ,% der Männer und
,% der Frauen berichteten in den vo-
rangegangenen Monaten gegen eine
andere Person tätlich geworden zu sein.
,% der Männer und ,% der Frau-
en berichteten, in den vorangegangenen
Monaten in lebensbedrohlicher Wei-
se gegen andere gewalttätig geworden zu
sein. In gleicher Weise wurden aus an-
deren Stichproben Schizophrener Häu-
figkeiten aggressiven Verhaltes in einem
-Monats-Zeitraum von –% und
potenziell lebensbedrohlicher Gewalt zwi-
schen und % berichtet.
Die Verurteilungsrate wegen Gewalt-
taten ist bei schizophrenen Frauen nied-
riger als bei Männern, jedoch legen einige
Studien nahe, dass die Prävalenz aggressi-
ven Verhaltens gleichhoch ist (Übersicht
bei []). Gewaltkriminalität gegenüber
anderen in der Gemeinde und strafrecht-
lich nicht verfolgtem aggressivem Verhal-
ten liegen die gleichen Korrelate zugrun-
de []. Eine weitere wichtige Konsequenz
gewalttätigen Verhaltes bei Schizophre-
nen ist deren eigene Viktimisierung [].
Gewalttätiges Verhalten
Schizophrener besser verstehen
Schizophrene Gewalttäter stellen eine he-
terogene Population dar. Unterschiede be-
stehen bezüglich des Alters bei Erstauftre-
ten und der Persistenz gewalttätigen Ver-
haltens und – vermutlich – im Hinblick
auf die dem aggressiven Verhalten jeweils
zugrunde liegenden neurobiologischen
Mechanismen. Positivsymptome erklären
Aggressionshandlungen in akuten Krank-
heitsphasen, nicht aber aggressive Verhal-
tensweisen, die in anderen Krankheits-
phasen oder bereits vor Krankheitsaus-
bruch auftreten []. Drei distinkte Ty-
pen von Schizophrenen mit aggressivem
Verhalten gegenüber anderen ließen sich
identifizieren:
F Typ I: Individuen, die von klein auf
antisoziales und aggressives Verhalten
zeigen, das sich – unbeeinflusst vom
Ausbruch der Schizophrenie – im Er-
wachsenenalter fortsetzt.
F Typ II: Individuen, die weder in
Kindheit noch Jugend Verhaltenspro-
bleme hatten, dann aber ab Ausbruch
der Erkrankung aggressives Verhalten
zeigen.
F Typ III: Eine kleine Gruppe von Indi-
viduen ohne antisoziale oder gewalt-
tätige Vorgeschichte, die nach län-
gerem Krankheitsverlauf in der 3.
bzw. 4. Lebensdekade plötzlich eine
schwerste Gewalthandlung begehen.
Typ I: Schizophrenie bei
vorausgehender Störung
des Sozialverhaltens
Der Vorläufer einer Schizophrenie ist in
bis zu % der Fälle eine Störung des So-
zialverhaltens [, ]. Dies ist dann mit
frühem Beginn eines lebenslangen Mus-
ters von antisozialem, aggressivem und
kriminellem Verhalten assoziiert. Im Ver-
gleich zu anderen schizophrenen Rechts-
brechern haben Schizophrene mit frühen
gravierenden Verhaltensproblemen mehr
Verurteilungen wegen gewaltfreier und
gewalttätiger Delikte und verübten eine
breitere Palette verschiedenartiger Taten.
Ihre Delinquenzkarrieren gleichen denen
psychisch gesunder Täter mit antisozia-
ler Persönlichkeitsstörung. Weiterhin zei-
gen fast alle eine bis in die frühe Adoles-
zenz zurückreichende Vorgeschichte von
Substanzmissbrauch ([], Literaturnach-
weis bei []).
» Kognitive Defizite behindern
das Erlernen nichtaggressiver
Problemlösungswege
Diese Verhaltensmuster sind moderat er-
blich und erste Hinweise deuten auf er-
höhte Raten an Kriminalität und Subs-
tanzgebrauch bei Verwandten von Schi-
zophrenen, die eine Störung des Sozial-
verhaltens haben, hin []. Möglicherwei-
se haben diese Individuen eine spezifische
Kombination von Genen, die eine Vul-
nerabilität sowohl für Schizophrenie als
auch für eine Störung des Sozialverhal-
tens erzeugen und so zu einer veränder-
ten Reaktion auf Umwelteinflüsse führen.
Die bei Schizophrenen häufiger als
bei Nichtschizophrenen gestellte Diag-
nose Störung des Sozialverhaltens legt die
Schlussfolgerung nahe, dass eine Vulnera-
bilität für Schizophrenie, das Risiko eine
Störung des Sozialverhaltens zu bekom-
men, erhöht. Die Mechanismen über die
Gene und Umweltfaktoren additiv oder
interaktiv diese Verhaltensmuster erzeu-
gen, sind unbekannt.
Bezüglich der genetischen Faktoren
und Umwelteinflüsse, die zu den jeweili-
gen Störungen führen, unterscheiden sich
Schizophrene mit einer vorausgegange-
nen Störung des Sozialverhaltens sowohl
von anderen Schizophrenen als auch von
Nichtschizophrenen mit einer Störung
des Sozialverhaltens. Kürzlich wurde ge-
zeigt, dass schizophrene Männer, die vor
Krankheitsausbruch die Kriterien einer
Störung des Sozialverhaltens aufweisen,
die gleichen, mit aggressivem Verhalten
assoziierten Anomalien der grauen Subs-
tanz zeigen, wie Menschen ohne Schizo-
phrenie, aber mit einer Störung des So-
zialverhaltens. Zusätzlich zeigen sie aber
auch Anomalien, die sich bei Schizophre-
nen ohne Störung des Sozialverhaltens
finden lassen [].
Angesichts der Präsenz kognitiver,
perzeptueller und motorischer Defizi-
te bei Kindern, die später eine Schizo-
phrenie entwickeln [, ], liegt es na-
he, dass dies die Wahrscheinlichkeit des
Auftretens einer Störung des Sozialver-
haltens erhöht. Diese Defizite behindern
das Erlernen nichtaggressiver Problem-
lösungswege. Weiterhin werden spezifi-
sche Genkombinationen in Interaktion
mit Umwelteinflüssen, Geburtskompli-
kationen, ungünstigen Aufwuchsbedin-
gungen und der verminderten Fähigkeit,
Emotionen in der Mimik anderer zu er-
kennen, mit persistierendem aggressivem
Verhalten in Verbindung gebracht (Über-
sicht bei []). Andererseits führt eine Stö-
rung des Sozialverhaltens dazu, dass jene,
die eine Vulnerabilität für Schizophrenie
haben, Verhaltensweisen zeigen, die das
Risiko eines Ausbruches der Schizophre-
nie erhöhen (z. B. früh beginnender Can-
nabiskonsum) [].
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Der Nervenarzt 3 · 2014
Leitthema
Typ II: Delinquenzbeginn
bei Krankheitsausbruch
Einige schizophrene Rechtsbrecher wa-
ren vor Krankheitsausbruch weder anti-
sozial noch gewalttätig, zeigen aber mit
Übergang zur ersten psychotischen Epi-
sode wiederholt aggressive Verhaltenswei-
sen gegen Personen. Verglichen mit schi-
zophrenen Rechtsbrechern vom Typ I ist
bei Typ II der Anteil jener, die jemals eine
Gewalttat begangen haben, gleich, sie be-
gehen jedoch insgesamt weniger gewalt-
tätige und noch weniger gewaltfreie Straf-
taten. Bemerkenswerterweise ist der An-
teil von Tötungsdelikten bei Typ II grö-
ßer (,%) als bei Typ I (,%). Erwar-
tungsgemäß hatten Patienten ohne Vor-
geschichte von früherer Antisozialität ein
späteres Alter bei Erstverurteilung [].
Es gibt nur wenige Untersuchungen an
wiederholt gewalttätigen Schizophrenen,
die vor Krankheitsausbruch kein antiso-
ziales Verhalten zeigten. Die wichtigste
Studie, die diesen schizophrenen Täter-
typ beschreibt, wurde unter Benutzung
nationaler Gesundheits- und Strafregister
in Dänemark durchgeführt []. Die spä-
ter Verurteilten waren eher männlich, hat-
ten ein geringeres Alter bei Diagnosestel-
lung und hatten spätestens zum Zeitpunkt
des Krankheitsausbruches eine Substanz-
diagnose.
Aggressives Verhalten ist über die Le-
bensspanne hinweg recht stabil. Wenn ein
erwachsenes Individuum ohne entspre-
chende Vorgeschichte anfängt aggressi-
ve Verhaltensweisen zu zeigen, so liegt
es nahe, dass hier veränderte Hirnfunk-
tionen zugrunde liegen. Bei jenen Indi-
viduen ohne Vorgeschichte von Gewalt
und Antisozialität, die mit Übergang in
oder nach einer ersten akuten psychoti-
schen Episode gewalttätig werden, könn-
ten jene Veränderungen im Gehirn, die
der Psychose zugrunde liegen [], ent-
weder die Hemmschwelle für aggressives
Verhalten herabgesetzt oder zu einer Ge-
fühlskälte gegenüber anderen geführt ha-
ben. Viele dieser Menschen dürften wäh-
rend der Übergangsphase in die erste psy-
chotische Episode ihren Zustand mit Al-
kohol und Drogen verschlimmert haben,
da diese Substanzen, ebenso wie andere
äußere Einflüsse bei Schizophrenen gra-
vierendere Folgen haben als bei psychisch
Gesunden [].
Drei Ursachen können mit einer Stei-
gerung des Risikos aggressiven Verhaltens
in Verbindung gebracht werden:
F Substanzmissbrauch,
F mit dem Krankheitsausbruch einher-
gehende massive Veränderungen in
Hirnstruktur und -funktion und
F die Reaktion des Individuums auf
diese Veränderungen [5].
Typ III: Gewalttaten nach
längerem Krankheitsverlauf
Gewöhnlich handelt es sich hier um ca.
Jahre alte, chronisch schizophrene Män-
ner, die ohne eine Vorgeschichte von Ge-
walt oder antisozialem Verhalten nach
- bis -jährigem Krankheitsverlauf,
plötzlich töten oder zu töten versuchen,
häufig eine Bezugsperson []. Bislang
wurde diese Tätergruppe nur in einer ein-
zigen Studie untersucht. Hierbei war Ge-
fühlskälte mit Gewalttätigkeit und Nega-
tivsymptomen, nicht aber mit Störung
des Sozialverhaltens oder Substanzmiss-
brauch assoziiert []. Möglicherweise
resultiert die das Risiko aggressiven Ver-
haltenes steigernde Gefühlskälte einiger
chronisch Schizophrener aus den mit der
Krankheit einhergehenden progressiven
morphologischen Hirnveränderungen.
Was sind die Konsequenzen?
Weitaus die meisten der Schizophrenen,
die strafrechtlich untergebracht sind, wa-
ren zuvor – meist über Jahre hinweg mit
einer Vielzahl stationärer Aufnahmen –
Klienten der Allgemeinpsychiatrie gewe-
sen. Gleichwohl hat die dortige Behand-
lung nicht verhindern können, dass De-
likte begangen wurden und eine Einwei-
sung in eine forensische Fachklinik er-
folgte []. Auf der anderen Seite belegen
Studien, dass nach absolvierter kriminal-
präventiver Behandlung im Maßregelvoll-
zug das durchschnittliche Delinquenzrisi-
ko entlassener Forensikpatienten geringer
ist, als jenes von Patienten, die aus statio-
närer Behandlung in der Allgemeinpsych-
iatrie entlassen wurden [].
» Auch in der Allgemeinpsych-
iatrie sollten Risiken eingeschätzt
und gemanagt werden können
Wenn es offenkundig möglich ist, mit ad-
äquaten Interventionen Risiken, die sich
in der Vergangenheit bereits verwirk-
licht hatten, zu beherrschen, sollten die-
se Interventionen auch geeignet sein, pri-
mär präventiv eingesetzt zu werden [].
Dies würde aber voraussetzen, dass auch
in der Allgemeinpsychiatrie zumindest
die Basistechniken von Risikoeinschät-
zung und Risikomanagement verfügbar
sind und auch tatsächlich eingesetzt wer-
den. Entsprechende Behandlungstechni-
ken stehen zur Verfügung [].
Angesichts der zunehmend schwin-
denden rechtlichen Möglichkeiten, be-
handlungsuneinsichtige Schizophrene
mit hohem Gewalttäterrisiko bereits im
Vorfeld einer Einweisung in den Maßre-
gelvollzug einer suffizienten Behandlung
zuzuführen, ist gegenwärtig aber eher zu
erwarten, dass der psychiatrische Maßre-
gelvollzug – in Deutschland – mehr und
mehr ein Teil der Regelversorgung wird,
mit aller sich daraus entwickelnden wei-
teren Stigmatisierung, die dann aber al-
le psychisch Kranken treffen wird. Auch
wenn in Deutschland nicht absehbar ist,
dass die Verhinderung von Delinquenz als
Aufgabe ambulanter Versorgung gesehen
wird, sollte man wissen, dass Studien aus
Ländern, in denen unfreiwillige ambulan-
te Behandlungsmaßnahmen auch außer-
halb strafgerichtlicher Weisungen zulässig
sind, zeigen, dass sich so Rehospitalisie-
rungen, Gewalthandlungen sowie eigene
Viktimisierung verringern und Compli-
ance sowie Parameter von Lebensqualität
steigern lassen ([], Übersicht bei []).
Fazit für die Praxis
F Angesichts des mit Schizophrenie ein-
hergehenden erhöhten Gewalttäter-
risikos sollten Menschen, die sich we-
gen einer Schizophrenie in Behand-
lung begeben, grundsätzlich gleich
zu Beginn ihrer Krankheitskarriere auf
das Vorhandensein einer frühen Vor-
geschichte von Verhaltensproblemen
und Aggressivität hin untersucht wer-
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Der Nervenarzt 3 · 2014
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den. Dies ist nicht aufwendig, man
muss nur danach fragen.
F Eine bereits bei erstem Kontakt zum
psychiatrischen Versorgungssystem
identifizierbare Hochrisikogruppe ist
gekennzeichnet durch: Erziehungs-
versagen der Eltern, frühe Verhaltens-
auffälligkeiten zu Hause, in der Schu-
le und in der Öffentlichkeit, Substanz-
missbrauch im Kindes- und Jugend-
alter, Institutionalisierungen mit der
Diagnose einer Störung des Sozialver-
haltens, Erstdelinquenz vor Erstkon-
takt mit der Psychiatrie, Kodiagnosen
von antisozialer Persönlichkeitsstö-
rung und Missbrauch illegaler Subs-
tanzen sowie Persönlichkeitszüge von
Gefühlskälte, Gewissenlosigkeit und
Empathiemangel [11, 12].
Korrespondenzadresse
Prof. S. Hodgins
Département de Psychiatrie,
Université de Montréal
C.P.6128, Succ. Centre-
Ville (Pavillon 3050) Montréal
Québec H3C 3J7
Kanada
R. Müller-Isberner
Vitos Klinik für forensische
Psychiatrie Haina
Landgraf-Philipp-Platz 3,
35114 Haina/Kloster
rmi@vitos-haina.de
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. S. Hodgins und R. Müller-Isber-
ner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen
oder Tieren.
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Der Nervenarzt 3 · 2014
Leitthema