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Die Frucht des Paradieses – Reflektionen über den Besuch einer Favela in Sao Paulo

Authors:

Abstract

Was kommt einem in den Sinn, wenn man an eine Favela denkt? Wie sehr ist der persönliche Erwartungshorizont von der eigenen kulturellen Sozialisation geprägt? Kann man die „Favela an sich“ überhaupt treffend beschreiben, oder ist – wie so oft – alles nur eine Frage der Perspektive? Zwei Europäer wagen den Selbstversuch und reflektieren ihre Vorurteile und Erfahrungen mit der Begegnung einer brasilianischen Favela.
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STANDPUNKT
STANDORT (2013) 37:270–275
DOI 10.1007/s00548-013-0303-z
Die Frucht des
Paradieses
Reektion über den Besuch einer
Favela in Sao Paulo
Hannes Taubenböck
Michael Wurm
Was kommt einem in den Sinn, wenn
man an eine Favela denkt? Wie sehr ist
der persönliche Erwartungshorizont
von der eigenen kulturellen Soziali-
sation geprägt? Kann man die „Favela
an sich“ überhaupt treffend beschrei-
ben, oder ist – wie so oft – alles nur
eine Frage der Perspektive? Zwei
Europäer wagen den Selbstversuch
und reektieren ihre Vorurteile und
Erfahrungen mit der Begegnung einer
brasilianischen Favela.
Vorher
A: Hältst Du es immer noch für eine
gute Idee, nach Paraisópolis zu
fahren?
B: Zweifelst Du jetzt etwa? Wir woll-
ten doch mit eigenen Augen sehen,
hören, fühlen, riechen und spüren,
was eine Favela bedeutet.
A: Was aber, wenn alles, was uns
deutsche Medien von Favelas er-
zählen, zutrifft: Dreck, Armut und
Gewalt. Was passiert, wenn etwas
schief geht? Hast Du „City of God“
(Buch von Paulo Lins, verlmt von
Fernando Meirelles; Anm. d. Au-
toren) nicht gelesen oder gesehen?
Der Film suggeriert, dass ein Men-
schenleben zwischen all der Ver-
zweiung, Hoffnungslosigkeit und
den oftmals von Kindern geführten
Kriegen der Drogenbanden wertlos
ist. Man hört auch immer wieder
von Menschen, die sich gegen die
Banditenkommandos stellen und
dabei ihre Gesundheit oder sogar
ihr Leben riskieren.
B: „City of God“ ist ein Film, der die
Extreme stark hervorhebt. Wird es
in der Realität so schlimm sein?
Denk doch mal an das Buch „An-
kunftsstadt“ (von Doug Saunders
2010). Der Autor hat selbst in einer
Favela gelebt und beschreibt diese
als Orte der Ankunft, als Zwi-
schenstation für Menschen, deren
Lebenssituation auf dem Land ver-
heerend war und nun Anschluss an
eine urbane Gesellschaft suchen.
Menschen, die bereit sind, dafür im
Elend zu leben und jeden, wirklich
jeden Job anzunehmen, angespornt
von der Hoffnung, irgendwann
mehr zu verdienen. Diese Hoffnung
auf eine bessere Zukunft treibt sie
unaufhörlich an. Und wenn nicht
für sich selbst, dann nehmen sie den
Kampf für ihre Kinder auf. Im Prin-
zip kann man es auch als Wette auf
die eigene Zukunft verstehen – man
nimmt die Lebensbedingungen der
Favela in Kauf, um die Chancen auf
einen Aufstieg zu maximieren.
A: Das Bild, das Du zeichnest, ist
mir zu einseitig: Favelas sind si-
cher nicht nur Orte der Ankunft,
der Hoffnung, des Aufbruchs und
der Zukunft. Vielleicht können sie
es sein, sie müssen es aber nicht.
Möglicherweise bündeln sie ganz
einfach Sehnsüchte – insbesonde-
re, wenn Armut und Ungleichheit
immens sind und die Lichter der
Stadt verheißungsvoll locken. Wer
nichts zu verlieren hat, ist bereit,
große Risiken einzugehen. Die Kri-
minalitätsrate ist nachgewiesener-
maßen sehr hoch, die Bereitschaft
zur Gewalt ebenso.
B: Aber Armut ist immer auch rela-
tiv. In unseren Augen mögen die
Bewohner der Favelas extrem arm
sein. Im Verhältnis zu den länd-
lichen Regionen, aus denen sie
ursprünglich kommen, sind die
Menschen dort allerdings besser
gestellt. Das Einkommen in den
Städten ist meist viel höher als auf
dem Land, auch bei den einfachs-
ten Jobs. Meist reicht das Geld
sogar noch aus, die zurückgelas-
senen Verwandten auf dem Land
nanziell zu unterstützen. Womit
wir beim sozialen Zusammenhalt
in armen Gesellschaften wären.
Wo ndet man das noch in unseren
Breitengraden? In Deutschland ist
doch jeder froh, der seine Eltern
bzw. Großeltern nicht mehr an der
Backe hat.
A: Ich habe dennoch ein schlechtes
Gefühl bei dieser Art von Touris-
mus. Egal wie wir es anstellen, wie
wir uns kleiden, wie wir uns ver-
halten, man sieht uns unsere Her-
kunft doch von weitem an.
B: Wenn wir jetzt nicht gehen, wenn
wir uns jetzt nicht ein eigenes Bild
machen, dann müssen wir der kli-
scheebeladenen medialen Bericht-
erstattung glauben, die wir zur
Fußball-WM 2014 in Brasilien mit
Sicherheit erleben werden.
A: Du meinst wie beim letzten Mal in
Südafrika, als live genau das in die
Wohnzimmer übertragen wurde,
was der europäischen Fernseh-
zuschauer erwartet? Die Medien
haben weitgehend ins gleiche Horn
gestoßen. Im Grunde konnte sich
jedermann zuhause vor dem Fern-
seher seine vorgefertigte Meinung
über den schwarzen Kontinent be-
stätigen lassen. Und sich dabei
auf seinem Sofa wohl und sicher
fühlen.
B: Genau. Und man wird für Brasilien
sicherlich mit vorhersehbaren und
einfach transportierbaren Wider-
sprüchen arbeiten: Samba, Copaca-
bana, Karneval und Fußball stehen
Online publiziert: 14. November 2013
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Standpunkt
für brasilianische Lebenslust; Fa-
velas für Drogen, Gewaltexzesse
und Kriminalität, also für das ma-
nifestierte Böse.
A: Vielleicht sind wir einfach zu pes-
simistisch und man wird sich dem
Thema differenzierter nähern. Die
Demonstrationen gegen die im-
mensen Investitionen bei so einer
Großveranstaltung sowie gegen
das soziale Ungleichgewicht wäh-
rend des Confed-Cups in Brasilien
haben es doch geschafft, diese glo-
balen Klischees zumindest in Frage
zu stellen.
B: Die Demonstrationen haben auch
gezeigt, wie explosiv die Stim-
mung im Land ist und wie es mo-
derne Technologien ermöglichen,
dass sich die Massen organisieren.
Von einer gesellschaftlichen Läh-
mung oder fatalistischer Akzeptanz
ist man inzwischen weit entfernt.
Auch die Betrachtung von außen
verändert sich. Die Menschen in
den Favelas werden immer mehr
als Teil der Gesellschaft wahrge-
nommen, wenn auch mit minderem
sozialen Status. Selbst die brasi-
lianische Präsidentin ist während
ihres Wahlkampfs in die Favela
Paraisópolis gegangen und hat den
Menschen dort Aufmerksamkeit,
Achtung und Wertschätzung ge-
schenkt. Das ist doch ein gewalti-
ges Statement für die Bewohner.
A: Aber sie hat die Favela in dem
Wissen besucht, dass die Macht
der Politiker auf den Schultern
der Armen liegt. Durch die schie-
re Masse an Menschen dort und
die geringe Abhängigkeit der sehr
Reichen von staatlichen Mitteln
werden Wahlen nur mehr durch
die Nähe zu den Armen gewonnen.
Und die Präsidentin hat die Fave-
la mit einer Schar an Bodyguards
besucht. Womit wir wieder zu dem
Punkt kommen, dass unsere Neu-
gier, dieses Abenteuer, sich auch
als unnötiges, ja dummes Spiel mit
der Gefahr herausstellen könnte! In
all unserem Zögern spielen doch
Unsicherheit und Angst die größte
Rolle.
B: Wir verlassen uns einfach auf unser
Gefühl, wenn wir dort sind. Unser
aktuelles Gefühl ist doch haupt-
sächlich medial vorgeprägt. Wenn
wir uns nur im Geringsten unwohl
fühlen, hauen wir ab.
A: Na gut, wollen wir hoffen, dass wir
mögliche Gefahren früh genug er-
ahnen. Aber auch wenn wir unsere
Ängste beiseiteschieben – bleibt
es nicht irgendwie ein perverser
Voyeurismus, Armut zu begaffen?
Sich vom „Mysterium Favela“
faszinieren zu lassen? Menschen,
Schicksale, die Schattenseiten der
Gesellschaft mit Sehenswürdigkei-
ten zu verwechseln? Ist das mora-
lisch tragbar? Dürfen wir uns das
ansehen?
B: Lautet die Frage nicht vielmehr:
Müssen wir uns das nicht ansehen?
Nachher
C: Erzählt doch mal, wie war Euer
Abenteuertrip in das brasilianische
Slumgebiet?
A: Die Favela kam aus dem Nichts.
Gerade waren wir noch im wohl-
habenden Morumbi (Nachbar-
viertel, Anm. d. Autoren), wo sich
Villen und moderne Luxushoch-
häuser aneinander reihen, wo sich
die Reichen einigeln, geschützt
von hohen Mauern, Eisengittern
und Stacheldraht, dann bogen wir
um die Ecke und – peng – standen
wir mittendrin. Kein Schild, keine
Vorwarnung. Armut wurde ganz
plötzlich sichtbar, vor allem durch
den Unterschied der baulichen
Strukturen. Räumlich war die Dis-
tanz zwischen reich und arm nur
ein Schritt, sozial hingegen war sie
immens (vgl. Abb. 1).
B: Mich hat überwältigt, auf einmal
vor diesem unendlich dichten Meer
an Gebäuden zu stehen, über- und
nebeneinander aufgetürmt an ext-
rem steilen Hängen, die eigentlich
viel zu steil zum Bebauen sind. Wie
in einem mittelalterlichen Gassen-
gewirr begrenzen Hausfassaden die
engen Straßen direkt. Überrascht
hat mich allerdings, wie solide ge-
mauert viele Gebäude waren – bis
zu vier Stockwerken hoch. Irgend-
wie hatte ich mit ausschließlich
kleinen Wellblechhütten gerechnet
(vgl. Abb. 2a und f). Und ich habe
gar keine Angst verspürt, die mit-
gebrachte Unsicherheit war schnell
verogen.
A: Mir ging es genauso. Das Vier-
tel war voller Leben, voller Ge-
schäftigkeit. Im reichen Morumbi
waren die Boulevards breit, aber
menschenleer. Der öffentliche
Raum war vom privaten Raum
durch Hochsicherheitszäune strikt
getrennt – eine unangenehme At-
mosphäre. In Paraisópolis waren
die Straßen eng, aber sie waren le-
bendige Orte der Begegnung (vgl.
Abb. 2c). Überall gab es kleine,
Abb. 1 Soziale
Diskrepanz und phy-
sische Manifestation.
(Foto © Tuca Viera)
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Standpunkt
Slum-upgradings ersetzt Baracken
durch solide gemauerte Wohn-
blocks und überführt die Bewohner
aus der Informalität in die Forma-
lität. Allerdings müssen die ehe-
maligen Slumbewohner nun selbst
für Strom und Wasser aufkommen
– beides wird in der Favela eigent-
lich illegal angezapft –, außerdem
müssen sie Steuern bezahlen. Die
nanzielle Belastung gefährdet
plötzlich ihre Existenzgrundlage.
Damit ist der Eingriff in die phy-
sische Struktur der Favela auch ein
Eingriff in die soziale Struktur.
A: Ungleichheit war überall sicht-
bar… Besonders aufgefallen ist mir
das am anderen Ende der Favela,
Da gab es in meiner Wahrnehmung
kein Gefühl von Resignation oder
gar Depression. Kein Gefühl von
bedrückender Armut, sondern ein
faszinierendes Gewimmel von
Menschen, die ihre individuellen
Ziele verfolgen. Und zumindest
auf der Hauptstraße war viel zu viel
los, als dass es unheimlich hätte
werden können.
B: Interessant fand ich auch das Neu-
baugebiet am Rand der Favela mit
symmetrisch angeordneten Wohn-
blöcken, die eine unübersehbare
physische Trennung zur organisch-
chaotischen Siedlungsstruktur der
Favela darstellen (Abb. 2d). Der
top-down verordnete Versuch eines
orierende Läden im Erdgeschoss,
in denen man alles bekommen
konnte: von Gegenständen wie
Fahrrädern, Möbeln oder Wasch-
maschinen bis hin zu Essen oder
Dienstleistungen wie Haareschnei-
den. Die informelle Wirtschaft dort
scheint zu blühen. Außerdem gab
es eine Busverbindung, die die Fa-
vela an die Stadt anschließt, einen
Fußballplatz, Schulen, ein Lokal-
radio und eine individuelle, model-
lierte Architektur beim Haus eines
Künstlers – Bestandteile einer
funktionsfähigen Gemeinschaft,
verbunden durch den sozialen Kitt
einer Gesellschaft, die sich inner-
halb der Favela selbst organisiert.
Abb. 2 Eindrücke aus Paraisópo-
lis a Das Häusermeer der Favela
b Physische Zementierung von
Ungleichheit c Die Lebendigkeit
der Straße d Slum-Upgrading
oder soziale Spaltung? e Holzhüt-
ten f Die Steilheit des Geländes.
(Fotos: Taubenböck und Wurm)
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Standpunkt
zieren. Wobei dies fast automatisch
zur Frage führt: War unser Besuch
denn nun authentisch …
A: … oder haben wir nur eine Mo-
mentaufnahme erlebt, geschossen
zu einer friedlichen und geschäfti-
gen Tageszeit, die das wahre Ge-
sicht dieser Gegend verschleiert?
B: Es bleibt ein Dilemma. Ein Di-
lemma der Perspektive, der Sub-
jektivität, des Zufalls und der
Erwartungshaltung. Aber gemessen
am Zugewinn an neuen Einblicken,
ist das Dilemma vergleichsweise
klein. Eine richtige oder falsche
Einschätzung von Slums gibt es
eben nicht. Genauso wenig wie
einfache Rezepte zur Hilfe und zur
Verbesserung der Situation. Was
kann unser Besuch oder wenn man
so will, unser Voyeurismus, denn
bewirken? Was können wir mit die-
ser persönlichen Erfahrung schon
anfangen?
A: Wir können darüber berichten, dass
eine Favela, ein Slum, mehr ist
als eine wilde Ansammlung ver-
wahrloster Menschen, Hütten und
Infrastrukturen, voller Ungleich-
heit, Armut und Kriminalität: Sie
beheimatet kreative und hoff-
nungsvolle Menschen mit großer
Risikobereitschaft, die eine gewal-
tige informelle Wirtschaftskraft ge-
nerieren. Zwar ist mit diesen Orten
ein bestimmter sozialer Status ver-
bunden, aber sie sind keineswegs
Exklaven urbaner Gesellschaften,
sondern integraler Teil erfolgrei-
cher Städte. So ein Bericht wäre
doch zumindest ein Anfang.
C: Dann solltet ihr versuchen, darüber
zu schreiben. Auch wenn es sicher-
lich nicht einfach ist.
Hintergrund
Die Favela „Paraisopolis“ [paraisó
(Hisp.): Paradies; -opolis (Griech.):
Stadt] ist eine Favela in Brasiliens
Megastadt Sao Paulo, mit 20 Mio. Ein-
wohnern sechstgrößte Stadt der Welt
der Muttermilch aufgesogen, sind
total „street smart“. Ganz nebenbei
fragten sie Dich, ob sie einmal eine
europäische Münze sehen könnten.
Du zeigtest ihnen, dass Du nur ein
paar Real in der Hosentasche hast
– und schon waren die glänzenden
Münzen weg. Erinnerst Du Dich,
wie gierig die Jungs nach den um-
gerechnet vielleicht 50 Cent in
Deiner Hand gegriffen haben? Sie
haben sie regelrecht weggerissen.
Die Wucht und Bestimmtheit des
kurzen physischen Kontaktes hat
Dich sofort wieder alarmiert. Über
die kurze Unachtsamkeit hast Du
Dich sehr geärgert.
C: Ihr wart also da, habt die Favela
tatsächlich gespürt, gesehen und
erlebt. Wie ist Euer Gefühl jetzt?
B: Die Kontraste haben mich ge-
troffen. Der Gleichmut und die
Ignoranz, mit der die Reichen im
benachbarten Morumbi ihre Mau-
ern bauen, um sich den Blick auf
die Favela zu ersparen; die Ab-
scheu, mit der sie damit die soziale
Distanz physisch zementieren, war
schockierend (Abb. 2b). Außerdem
hat mich die Heterogenität inner-
halb der Favela überrascht. Die
Atmosphäre von Gefahr mitten
am Tag im unbelebten Teil hat mir
Angst gemacht, der Dreck dort hat
mich erschüttert. Im belebten Teil
fand ich viel Positives: Ich hatte
den Eindruck, dass viele Menschen
bereit sind, sich den durch die Ge-
burt gegebenen Ungerechtigkeiten
des Lebens zu stellen, ich habe
eine Aufbruchsstimmung wahrge-
nommen, ein Lächeln in vielen Ge-
sichtern gesehen und fühlte mich
relativ sicher.
C: Und, war das nun im Nachhinein
armseliger, perverser Voyeurismus?
B: Keine Ahnung. Mit der Sicher-
heit im Rücken, nur für kurze Zeit
Gast in der Favela zu sein, könnte
man es so bezeichnen. Aber die-
ser Voyeurismus erlaubt uns nun
zumindest, das vorgefertigte Mei-
nungsbild ein wenig zu differen-
wo es kaum mehr Geschäfte gab,
wo es nur noch Bretterverschläge
anstelle gemauerter Gebäude gab,
wo die Straßen nicht mehr geteert
waren, wo sich stinkender Müll
auftürmte, wo viele Jugendliche
herumlungerten, wo die Blicke
allzu neugierig, argwöhnisch und
misstrauisch wurden, wo wir uns
als fette Beute fühlten (Abb. 2e).
Wo unser Bauchgefühl „Halt!“ rief.
Die Atmosphäre dort war komplett
anders, es lag spürbar Gefahr in der
Luft. Dort haben wir sofort kehrt
gemacht. Sogar innerhalb der Fa-
vela war eine Ghettoisierung sicht-
und spürbar.
B: Ja, wir wirkten dort wie Außerirdi-
sche. Aber ist Dir aufgefallen, dass
wir auch im belebten Teil nicht
in der Masse untertauchen konn-
ten: Wir waren zwar Beobachter,
wir wurden aber auch beobachtet.
Vor allem wurde genau registriert,
wovon wir Fotos machten. Solan-
ge wir nur Gebäude fotograerten,
war alles ok, aber sobald unsere
Linsen die Jugendlichen an der
Straßenecke einngen, wurde uns
freundlich, aber unmissverständ-
lich klar gemacht, dass wir das
unterlassen sollten.
A: Eine Art der sozialen Kontrolle
war deutlich spürbar. Als ich auf
der einen Kreuzung fotograeren
wollte, kam sofort ein Aufpasser
und hat mich gefragt, was ich dort
mache. Erst dadurch habe ich ge-
merkt, dass die Gegend an jeder
strategisch wichtigen Kreuzung
kontrolliert wird. Eine subtile
Überwachung!
B: Natürlich wechseln in so einem
Spannungsfeld die Rollen sehr
schnell. Urplötzlich waren wir
nicht mehr Beobachter, sondern die
Beobachteten. Spannend war auch
die Situation mit den neugierigen
kleinen Jungs, die auf der Stra-
ße Fußball spielten. Es war sehr
nett, mit ihnen zu kicken und von
Deutschland zu erzählen. Aber sie
haben das Gesetz der Straße mit
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1 3
Standpunkt
Gesellschaft zu integrieren, wurden
entwickelt.
Die heutige Favela „Paraisópolis“
in Sao Paulo umfasst nur etwa einen
Quadratkilometer und entstand auf
einem ehemaligen Farmgebiet, das in
den 1920er Jahren für den Bau von
Häusern für die Oberschicht beplant
wurde (Estadao 2005). Daher rührt
auch die charakteristische schach-
brettartige Struktur von Paraisópolis:
Angelegt wurden Straßenblöcke mit
einer Größe von 10 mal 50 Metern
mit über 2.000 Parzellen (Präfektur
Sao Paulo 2005). Die sehr steile und
exponierte Orographie (Abb. 3c und
2f) lockte allerdings keine Interes-
senten an, so dass der zentrumsnahe
Freiraum nach und nach informell mit
Hütten bebaut wurde. Verstärkt seit
den 1950er Jahren begann die Inva-
sion in das zu dieser Zeit noch länd-
lich geprägte Gebiet durch Familien
mit niedrigem Einkommen, meistens
Migranten aus den nordöstlichen Tei-
len des Landes um Bahia de Salva-
dor, die auf Arbeitsmöglichkeiten im
Baugewerbe hofften. Lange Dürren
in ihren Heimatregionen hatten das
nannten sie „Morro da Favela“, nach
einer Strauchart, die sie im Krieg von
Canudos unangenehm kennengelernt
hatten, da sie bei Berührung schmerz-
hafte Verbrennungen verursachte
(Dietz 2001). In den Jahren von 1902
bis 1906 wurde das Zentrum Rio de
Janeiros radikal umgestaltet mit dem
Ziel, moderne Siedlungsstrukturen für
die Hauptstadt der neu gegründeten
Republik zu bauen, was zur massen-
haften Zerstörung preiswerter Miet-
wohnungen führte. Der Großteil der
vertriebenen Bevölkerung begann
die über das Stadtgebiet verstreuten
Hügel („morros“) zu besetzen, womit
der Beginn des Favelawachstums in
Rio de Janeiro markiert wurde (Dietz
2001). Favelas werden medial häug
als Orte von Kriminalität und Gewalt
assoziiert, welche die Ordnung und
Sicherheit der Städte gefährden
(Rivera 2009). In Zeiten der Militär-
diktatur Brasiliens wurden Favelas
über zwei Jahrzehnte von der Regie-
rung als aufgegebene Orte ignoriert.
Erst mit dem Wechsel zur Demokra-
tie setzte ein Prozess des Umdenkens
ein; Strategien, um die Favelas in die
und wirtschaftliches Zentrum Brasi-
liens (United Nations 2012). Favelas
sind informelle Siedlungen, die durch
illegale Landnahme einer oft durch
Landucht in die Städte getriebenen
ökonomischen Unterschicht entste-
hen und durch einfache Behausungen
in einer hoch verdichteten, organisch
wachsenden ungeplanten Struktur
morphologisch charakterisiert wer-
den. Sie entstehen entweder auf ver-
lassenen Gebieten oder Grundstücken,
deren Besitzverhältnisse ungeklärt
sind, auf öffentlichem Land in der
Nähe von Transportwegen (Flüssen
oder Straßen) oder auf Flächen, wel-
che irregulär zerteilt und verkauft
wurden (Rivera 2009).
Das Wort Favela kommt aus den Por-
tugiesischen und bedeutet Elends-
oder Armutsviertel, als Begriff
geprägt wurde es in Rio de Janeiro
Ende des 19. Jahrhunderts, als Söld-
ner eine Hüttensiedlung auf dem
„Morro da Providencia“ unweit des
Kriegsministeriums gründeten, um
Druck auf die Regierung bezüglich
einer versprochenen Landvergabe
auszuüben. Ihren besetzten Hügel
Abb. 3 Die Favela Paraisópolis
a Luftbild von 1958 (Quelle ©
geoportal.com.br) b Luftbild von
2008 (Quelle © geoportal.com.
br) c Perspektivischer dreidimen-
sionaler Detailausschnitt der hoch
verdichteten Gebäudestruktur
(Quelle © DLR) d Organische,
komplexe Gebäudestruktur
(Quelle © Google Earth)
275
1 3
Standpunkt
Literatur
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für Kleinstadt) zu ersetzen. Ungeach-
tet der physischen und sprachlichen
Transformationen bleibt die Barriere
zwischen Favela und formaler Nach-
barschaft trotz massiver Investitio-
nen der öffentlichen Hand immanent
(Rivera 2009).
Die urbane Struktur Paraisópolis ist
nach wie vor chaotisch, auch wenn
das ursprüngliche Schachbrett eine
gewisse Orientierung erlaubt (vgl.
Abb. 3). Die Gebäudedichte ist über-
wältigend: Während die Breite der
geplanten Straßen etwa zehn Meter
beträgt, sind die Gassen zwischen den
Gebäuden nur etwa einen Meter breit
und aus der Luft schwer zu erkennen.
Die Bebauungsdichte beträgt in Teil-
bereichen über 80% (vgl. Abb. 3c
und d). Zum Vergleich: Im Münchner
Zentrum ergibt sich eine Bebauungs-
dichte von 48,9% und in vorstädti-
schen Wohnsiedlungen liegt sie bei
rund 20 Prozent. In Paraisópolis sind
die Hänge bis zu 35 Grad geneigt, der
maximale Höhenunterschied beträgt
mehr als 41 Meter. Heute leben dort
mehr als 42.000 Menschen auf etwa
einem Quadratkilometer (IBGE
2010), in München wohnen im Schnitt
nur etwa 4.500 Menschen auf einem
Quadratkilometer. Paraisópolis gilt
dennoch als Beispiel dafür, wie ein
maßvoller staatlicher Eingriff die
Lebensbedingungen in einer Favela
signikant verbessern kann. „Bald
werden 1,5 Milliarden Menschen
weltweit in Slums leben“ (Arimah,
2010). Für die globale Gesellschaft
wird es zukünftig entscheidend sein,
inweit es gelingen kann, die Bewohner
von Slums zu integralen Teilen urba-
ner Gesellschaften zu machen.
Danksagung
Wir bedanken uns bei Luis Paulo Simardi für
seine herzliche Betreuung in Sao Paulo und
die Informationen zu Paraisópolis sowie bei
Nicolas Kraff für die Bildanalyse.
Land ausgezehrt, viele Menschen
lebten am Existenzminimum. In den
1970er Jahren siedelten bereits 20.000
Menschen auf dem Gebiet, das sich
inmitten der gehobenen Wohnvier-
tel entwickelte. In den 1980er Jahren
wurde ein Straßenbauprojekt gestoppt,
das mitten durch Paraisópolis geplant
wurde. Zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts setzte ein Umdenken ein, von
öffentlicher Seite wurden Investitio-
nen vorgenommen, um die Favela ins
Stadtgefüge zu integrieren. Ab 2005
wurden Urbanisierungs- und Regulie-
rungsprozesse durchgeführt, die von
der kommunalen, der Landes- und der
Bundesregierung sowie durch private
Investoren mit mehr als 250 Mio. Real
nanziert wurden (rd. 80 Mio. €) (Prä-
fektur Sao Paulo 2006).
Straßen wurden asphaltiert, ein Fuß-
ballplatz wurde angelegt, Buslinien
eingerichtet, die Paraisópolis nun in
das öffentliche Transportnetzwerk
Sao Paulos einbinden. Zur nan-
ziellen Unterstützung der Bewoh-
ner wurden Programme aufgelegt,
um die einfachen Hütten durch sta-
bile Ziegelbauten zu ersetzen und
Gesundheitseinrichtungen sowie
Gemeinschaftszentren zu errichten.
Die Stadt hat sich also entschieden,
die illegale Landnahme nachträglich
zu legalisieren und den Bewohnern
Eigentumsrechte zu gewähren. Über
dieses sogenannte Slum-upgrading
versucht die Regierung, die Favelas
in formale Nachbarschaften umzu-
wandeln und die Bewohner in die
soziale Struktur der Stadt zu integ-
rieren. Damit zielt man darauf ab,
den Favela-Bewohnern eine Perspek-
tive und – noch viel wichtiger – eine
Anbindung an die urbane Gesellschaft
zu bieten. Ironischerweise werden zur
gleichen Zeit in Rio de Janeiro die
Favelas von der Regierung mit einer
drei Meter hohen Mauer vor den Bli-
cken der umgebenden Nachbarschaf-
ten abgeschirmt. Gleichzeitig wird
versucht, den Begriff Favela durch
politisch korrekte Bezeichnungen wie
ZEIS (Zonen mit speziellem sozialem
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
The face of urban poverty
  • B C Arimah
  • BC Arimah
Favelas, public housing and the reconfiguration of urban space in Brazilian slums
  • G Rivera
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Favela-Sanierung in Rio de Janeiro: Aufwertung ganzer Stadtteile
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Segunda maior de SP, favela Paraisópolis passa por mudança. www. estadao.com.br/noticias/cidades,segunda-maior-de-sp-favela-de-paraisopolis-passa-por-mudanca,317413,0.htm
  • Estadao
Estadao (2005) Segunda maior de SP, favela Paraisópolis passa por mudança. www. estadao.com.br/noticias/cidades,segunda-maior-de-sp-favela-de-paraisopolis-passa-por-mudanca,317413,0.htm. Zugegriffen: 28. okt 2013
Donos de terrenos em Paraisópolis fazem doação à Prefeitura e têm dívida perdoada
  • Paulo Präfektur São
  • Präfektur São Paulo
Präfektur Sao Paulo (2005) donos de terrenos em Paraisópolis fazem doação à Prefeitura e têm dívida perdoada. www. prefeitura.sp.gov.br/cidade/secretarias/ habitacao/noticias/?p=4291. Zugegriffen: 28. okt 2013
Paraisópolis: Lotes em Paraisópolis são trocados por perdão de dívida de IPTU
  • Paulo Präfektur São
  • Präfektur São Paulo
Präfektur Sao Paulo (2006) Paraisópolis: Lotes em Paraisópolis são trocados por perdão de dívida de IPtU. www.prefeitura.sp.gov.br/cidade/secretarias/comunicacao/noticias/?p=136907. Zugegriffen: 28. okt 2013
Arrival City -the final migration and our next world. Karl Blessing Verlag, München, 576 S. ISBN 9783896673923, geb. United nations (2012) World urbanization prospects -the 2011 revision. department of Economic and Social affairs
  • D Saunders
Saunders D (2010) Arrival City -the final migration and our next world. Karl Blessing Verlag, München, 576 S. ISBN 9783896673923, geb. United nations (2012) World urbanization prospects -the 2011 revision. department of Economic and Social affairs, new York