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Sedlarski, T. (2010), "Kommentar zu Henrik Egbert: 'Die Gesetzesreform zur Entwicklung des wissenschaftlichen
Personals in Bulgarien'", Osteuropa-Wirtschaft, 4/2010, S.311-317.
Teodor Sedlarski1
Kommentar zu „Die Gesetzesreform zur Entwicklung des wissenschaftlichen Personals in
Bulgarien“
Key words: ökonomische Analyse des Rechts, Wissenschaftsreform in Bulgarien
Im Artikel „Die Gesetzesreform zur Entwicklung des wissenschaftlichen Personals in
Bulgarien: Eine ökonomische Gesetzesfolgenabschätzung“2 wendet Henrik Egbert die
ökonomische Analyse des Rechts an, um die Wirkungen eines Gesetzes in Bulgarien
abzuschätzen. In diesem Kommentar lege ich neuere Entwicklungen zu diesem Thema vor, zeige
kritisch zusätzliche Gesetzesfolgen auf, die aus der entscheidungslogischen Analyse
hervorgehen, und erweitere die Diskussion um zwei alternative Ansätze, nämlich das
Identitätskonzept von Akerlof/Kranton3 und die wirtschaftskulturellen Dimensionen von
Hofstede4.
Im ersten Absatz stelle ich eine kurze Übersicht der Gesetzesänderungen dar, die seit der
Veröffentlichung von Egbert (2010) erfolgt sind. Der Reformversuch des bulgarischen
akademischen Systems ist, wie korrekt prognostiziert5, auf Widerstand gestoßen. Das Gesetz zur
akademischen Entwicklung vom 15. April 2010 wurde durch ein Veto des Präsidenten erneut zur
parlamentarischen Beratung geschickt. Die Bulgarische Akademie der Wissenschaften und die
„St. Kliment Ohridski“ Universität zu Sofia haben zusammen mit anderen Organisationen
Bedenken geäußert und auf Änderungen im Gesetzestext gedrängt. Als Motive für sein Veto
nennt der Präsident unter anderem das Fehlen nationaler Standards bei der Vergabe von
wissenschaftlichen Titeln, sowie die unklare Unterscheidung zwischen den einzelnen
wissenschaftlichen Stellen6. Er beruft sich auf die Richtlinie 2005/36/EG, dass die Anerkennung
1 Dr. Teodor SEDLARSKI, Hauptassistent an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der “St. Kliment Ohridski“
Universität zu Sofia, Bulgarien.
2 Henrik EGBERT: „Die Gesetzesreform zur Entwicklung des wissenschaftlichen Personals in Bulgarien: Eine
ökonomische Gesetzesfolgenabschätzung“, in: Osteuropa-Wirtschaft, 3/2010, S. 180-191.
3 George A. AKERLOF und Rachel E. KRANTON: „Identity and the Economics of Organizations”, in: Journal of
Economic Perspectives, 19, 1, 2005, S. 9-32.
4 Geert HOFSTEDE: „Култури и организации. Софтуер на ума”, bulgarische Ausgabe von Geert HOFSTEDE:
„Cultures and Organizations: Software of the Mind“ [1991], Sofia 2001.
5 EGBERT, 2010, S. 190.
6 Z.B. zwischen ‘Hauptassistent’ und ‘Dozent’, die beide nach dem Erhalt des Doktortitels zu erwerben sind und bei
denen eine akademische Jury (bestehend aus 5, bzw. 7 Dozenten oder Professoren) wissenschaftliche Beitrage des
Kandidaten (nach der Dissertation) bewertet. Im neuen Gesetz wird der Begriff ‚wissenschaftlicher Ruf‘ durch
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Personals in Bulgarien'", Osteuropa-Wirtschaft, 4/2010, S.311-317.
von im Ausland erworbenen Titeln durch eine zentrale Instanz geschehen sollte7. Dadurch wurde
die Reform verzögert, allerdings hat das Parlament das Gesetz am 14. Mai 2010 endgültig
verabschiedet. Auf Ansuchen von 52 Abgeordneten wurde das neue Gesetz anschließend vor
dem Verfassungsgericht beklagt. Einige Paragraphen wurden vom Gericht als verfassungswidrig
abgelehnt8, und das Parlament sollte eine korrigierte Fassung verabschieden. Dies geschah am
17.12.2010. Die Änderungen bezogen sich vor allem auf die Regelung der Gerichtskontrolle
über die administrativen Entscheidungen, die stärkere landesweite Harmonisierung des Ablaufs
durch die Vorschriften des Gesetzes, und den Erhalt früher erworbener Rechte (Oberassistenten
und Hauptassistenten werden in der neuen Fassung nicht zu Assistenten herabgestuft, wenn sie
keinen Doktortitel erworben haben, da es vorher diese Bedingung nicht gab. Sie werden
Hauptassistenten, sollen aber innerhalb von 4 Jahren promovieren). Die vorgesehene nationale
Liste mit Wissenschaftlern, die an akademischen Jurys zum Erteilen von Titeln und Stellen
teilnehmen dürfen, wurde nicht eingeführt. Laut verabschiedetem Gesetz werden die Jurys auf
Vorschlag der jeweiligen wissenschaftlichen Abteilungen (Departments9) von den Fakultätsräten
bestätigt und durch den Rektor festgelegt. Mit Ausnahme dieser Korrekturen wurde der
geschaffene Rahmen des Karriereaufstiegs im Wissenschaftsbereich wenig geändert. Im zweiten
Absatz greife ich einige zusätzliche Aspekte bei der entscheidungslogischen Analyse auf, die zu
anderen Gesetzesfolgen führen könnten, als die von Egbert10 vorhergesehenen Effizienz- und
Qualitätssteigerungen in Forschung und Lehre11.
Nach der Intention des Gesetzgebers12 sollen die Änderungen eine wettbewerbliche,
marktkonforme Situation im Wissenschaftssektor hervorbringen. Die zentralisierte Struktur der
VAK13 wurde abgeschafft, damit einzelne wissenschaftliche Organisationen auf Basis von
‚wissenschaftliche Stelle’ ersetzt. Wissenschaftliche Stellen sind Assistent, Hauptassistent, Dozent und Professor.
Wissenschaftliche Titel sind nach wie vor Doktor und Doktor der Wissenschaften.
7 Präsident der Republik Bulgarien: „Президентът връща за ново обсъждане текстове от Закона за развитието
на академичния състав”, http://www.president.bg/zakonod.php?id=3823, 2010 (letzter Zugriff: 29.01.2011).
8 Darzschaven vestnik (Държавен вестник): “Конституционен съд: Решение № 11 от 5 октомври 2010 г. по
конституционно дело № 13 от 2010 г.”, 81/15.10.2010.
9 Im Unterschied zum deutschen Hochschulsystem sind die internen Organisationseinheiten in den Fakultäten nicht
Lehrstühle (mit einem Professor an der Spitze), sondern Departments (bulgarisch „катедри”). Ein Department hat in
der Regel ca. 10-15 Mitglieder, von denen mehrere Professoren und Dozenten (im Sinne eines wissenschaftlichen
Rufes, siehe EGBERT, 2010) sein können, die auf dem entsprechenden Gebiet spezialisiert sind.
10 EGBERT, 2010, S.188-189.
11 Egbert beschreibt die Anreize vor der Reform ausführlich. Da die Notwendigkeit einer Änderung des Systems von
allen betroffenen Seiten nicht bestritten wird, können die Schlussfolgerungen in dieser Analyse, was die negative
Auswirkung auf Effizienz und Qualität der Wissenschaftsproduktion anbelangt, teilweise bestätigt werden. Hier fällt
das Hauptaugenmerk auf die durch das Gesetz geschaffene neue Anreizsituation.
12 Das Gesetz wurde vom Team des jetzigen Bildungsministers ausgearbeitet.
13 Die Hohe Attestierungskommission (bulg: Висша атестационна комисия), VAK ist eine nationale Gremie, die
für die Vergabe von wissenschaftlichen Titeln und Rufen seit 1972 verantwortlich war.
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Qualität und Quantität von vergebenen wissenschaftlichen Titel und Stellen konkurrieren
können. Dabei gerieten einige wichtige Elemente der existierenden Motivationsstruktur außer
Sicht. Wie Egbert richtig aufzeigt, werden bulgarische Hochschulen nach wie vor in
Abhängigkeit von der Zahl der eingeschriebenen Studenten (pro Kopf) finanziert. Die
finanziellen Stimuli führen zu Erweiterungen, beispielsweise der Einführung neuer Bachelor-
und Masterprogramme an allen Universitäten. Lehrpersonal mit bestimmter Qualifikation
(wissenschaftlichen Titeln) wird benötigt14, um die Expansion der Organisationen (z.T.
Eröffnung neuer Fakultäten und Departments) zu ermöglichen. Dieses Optimierungsverhalten,
das auf größtmögliche Einnahmen aus Studiengebühren abzielt, lässt – in Kombination mit der
Beseitigung der zentralisierten Kontrolle – auf einen starken Anstieg der vergebenen
wissenschaftlichen Titel und Stellen schließen. Ein zweiter Aspekt, der diese Erwartung
realistisch erscheinen lässt, beruht auf der Gruppendynamik in den Fakultäten. In den
ehemaligen VAK-Gremien haben Mitglieder strategisch für die Kandidaten anderer
Universitäten gestimmt, damit später auch deren Kandidaten unterstützt werden15. Ein solches
Verhalten kann sich bei der autonomen Vergabe von Titeln in den Universitäten nur verstärken.
Die dominante Strategie in den Departments ist die gegenseitige Unterstützung. Die Person, die
jetzt für einen wissenschaftlichen Titel oder eine Stelle kandidiert, wird in Zukunft mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit16 an den Jurys teilnehmen, die über die Titel anderer
Departmentmitglieder entscheiden. Da die Mitglieder von Reziprozität ausgehen, wird
strategisch gehandelt – alle unterstützen alle. Im Denkrahmen der ‚Collective Action’17 wird der
Beitrag jedes einzelnen Mitglieds der kleinen Gruppe bei der Zustellung des kollektiven Gutes
sichtbar. Diese Vorgehensweise kann mit dem in der Tragik der Allmende beschriebenen
rationalen Verhalten bei kollektiven Gütern verglichen werden. Erst nach mehrfachen
Wiederholungen des Spiels, in denen das kollektive Gut (Reputation der wissenschaftlichen
Organisation und damit verbundene Anzahl der Studienbewerber und letztlich Einnahmen)
eventuell zerstört wird, wird ein Umdenken erwartet18. Die mehrstufige Hierarchie der VAK
hatte unter anderem die Funktion, das beschriebene Verhalten auszuschließen, indem die
14 Nach den im Gesetz für die Hochschulausbildung festgelegten Mindestanforderungen für Akkreditierung der
Programme.
15 EGBERT, 2010.
16 Wegen der kleineren Mitgliederzahl der Departments im Vergleich zu den Wissenschaftsräten der VAK.
17 Vgl. Mancur OLSON: “The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups (Revised edition)”,
Cambridge, 1971 [1965].
18 Vgl. Elinor OSTROM: „A Behavioral Approach to the Rational Choice Theory of Collective Action. Presidential
Address, American Political Science Association, 1997”, in: American Political Science Review, 92, 1, 1998, S. 1-
22. Allerdings koennen auch Budgetrestriktionen in den Universitäten diesen Prozess effektiv bremsen (eine hoere
Entlohnung für hoehere Grade und Positionen wird angenommen).
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Gutachter zu einem geringeren Grad abhängig von den zu Begutachtenden waren. Der dritte
Aspekt ist die Korruptionsanfälligkeit. Fünf Personen, die in der Jury für die Erteilung des
Doktorgrades oder sieben Personen, die in den Jurys für die höheren Titel und Grade sitzen, sind
– rein kalkulatorisch – zu geringeren Gesamtkosten zu bestechen, verglichen mit den 25 im
entsprechenden spezialisierten Wissenschaftsrat der VAK, zusammen mit den anderen 12
Personen in der Kommission, die die endgültige Entscheidung nach dem Votum des Rates trifft.
Die Möglichkeit zur Beeinflussung der Entscheidung in der neuen Situation wird zusätzlich
durch die Tatsache verstärkt, dass die Besetzung der Ausschüsse jetzt intern von den Fakultäten
vorgeschlagen und durch den Rektor bestätigt wird19. Es können genau diese Personen gewählt
werden, von denen man sich einen „Erfolg“ bei der Abstimmung verspricht20. Der vierte Aspekt
betrifft die Motivation von jungen Akademikern, den wissenschaftlichen Karriereweg zu
betreten. Rationale Akteure, die sich für die wissenschaftliche Laufbahn entscheiden, erwägen –
wovon Egbert ausgeht - monetäre und nichtmonetäre Nutzen und Kosten. Die Sicherheit des
Arbeitsplatzes kann auch als monetär interpretiert werden, wenn von einer Diskontierung der
erwarteten künftigen Einnahmen ausgegangen wird. In diesem Sinn hatte der garantierte
Arbeitsplatz an wissenschaftlichen Organisationen einen ausgleichenden Anreizeffekt – kleinere,
aber über lange Zeitperioden gesicherte Löhne21. Die Reform, die befristete Verträge für junge
Wissenschaftler einführt und Extraverdienstmöglichkeiten22 im höheren Alter an der VAK
abschafft, minimiert den Nettoerwartungswert der extrinsischen Stimuli und somit die
Attraktivität der Wissenschaftskarriere, ohne diesen Verlust durch zusätzliche extrinsische oder
intrinsische Anreize zu kompensieren23.
19 Wegen der existierenden Informationsasymmetrie wird der Rektor stets die vorgeschlagenen Jurys akzeptieren, da
er nicht auf allen Spezialgebieten kundig sein kann.
20 Auch könnte es dazu kommen, dass manche Professoren die Reputation aufbauen, ständig positive Gutachten zu
schreiben, um dadurch öfter in Jurys eingeladen zu werden. Auf diese Weise können Honarareinnahmen für
Gutachten maximiert werden, auch wenn keine ‚echte’ Korruption vorliegt (angenommen, hohe Honorare für
Gutachten werden in den neuen internen Universitätsregelungen vorgesehen).
21 Für die Realisierung von wissenschaftlichen Ideen braucht man oft längere Zeit, und die Sicherheit des alten
Systems hat intrinsisch motivierte Akteure in deren Widmung der Forschung zusätzlich unterstützt.
22 Von den nicht-monetären Faktoren wie Prestige und Macht jetzt abgesehen.
23 Vgl. “Science fortunes of Balkan neighbours diverge”, Nature 469, 142-143 (2011) | doi:10.1038/469142a,
http://www.nature.com/news/2011/110112/full/469142a.html (published online 12 January 2011, corrected online:
12 and 14 January 2011 / letzter Zugriff: 16.02.2011). Die seit 20 Jahren ‚drohenden’ Reformversuche haben den
Erwartungswert der Einnahmen in der Karriere stark reduziert. Dies kann als den eigentlichen Grund für das
Schrumpfen der Wissenschaftlerzahl in Bulgarien nach der Wende interpretiert werden. Genau wie beim von D.
NORTH (“Understanding the Process of Economic Change”. Princeton, N.J., 2005, S. 151-154) beschriebenen
Prozess des Kollapses der sozialistischen Wirtschaftsordnung, induziert durch die Erwartung selbst, das der alte
institutionelle Rahmen in Zukunft nicht erhalten bleibt, haben unsichere Perspektiven die Attraktivität der Karriere
minimiert. In einem System, in dem die erhofften Früchte der eigenen Anstrengung weit in der Zukunft liegen und
teilweise in Form von Status und Privilegien kommen, die nur innerhalb dieses Systems zu konsumieren sind, führt
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Die so angeführten vier Aspekte lassen auf einen Qualitätsrückgang in Forschung und
Lehre schließen, der Jahre dauern kann. Um notwendiges Lehrpersonal unter dem existierenden
Finanzierungschema anzuziehen, werden Universitäten die Kriterien bei der dezentralen Vergabe
von wissenschaftlichen Titel und Stellen zuerst auflockern müssen. Eine allgemeine
„Entwertung“ der Titel und Stellen wird die Folge sein. Erst langfristig könnten sich relative
Qualitätsunterschiede in der vergebenen Grade einzelner Universitäten herausstellen und ein
Wettbewerb um die besseren entstehen, der es letzteren erlaubt, höhere Anforderungen zu
implementieren.
Alternativ zur oben benutzten Rational-Choice-Argumentation, werden im vorletzten
Absatz zwei alternative Ansätze zur Diskussion der Gesetzesfolgen herangezogen – das
Identitätskonzept von Akerlof/Kranton24 und die wirtschaftskulturellen Dimensionen von
Hofstede25. Akerlof/Kranton führen den Begriff der Identität in die verhaltenstheoretische
Analyse der Organisation ein. Sie stellen fest, dass wenn eine Organisation ihre Mitglieder dazu
bringen kann, sich mit ihr zu identifizieren (Identifikation geht als Argument in die
Nutzenfunktion ein), kann sie von denen höhere Leistung erwarten, sogar wenn die finanzielle
Belohnung niedriger als bei anderen Beschäftigungsmöglichkeiten ist26. Als Beispiel benutzen
sie die Motivierung in der Armee27. In Ausbildungsstätten, in denen die eigentliche Leistung
(Anstrengung und Qualität der Lehre) schwierig zu beobachten (messen) und – ähnlich wie in
der Armee – entsprechend finanziell zu belohnen ist, könnte das Aufbauen einer langfristigen
Identität die effizientere Motivationslösung sein, als das Suchen nach quantifizierbaren
Ergebnissen28. Mit dem neuen Gesetz werden aber genau die lebenslängliche Perspektive der
Zugehörigkeit zum System, des langsamen, aber ständigen Aufstiegs in der Hierarchie29 und die
jede Unsicherheit im Fortbestehen des Systems zur Minderung des Erwartungswerts der heutigen Investitionen
(Demotivation).
24 AKERLOF und KRANTON, 2005.
25 HOFSTEDE, 2001.
26 Vgl. mit den Motivationstheorien im Personalmanagement, wo zwischen Hygienefaktoren (ein bestimmtes
Niveau muss garantiert werden, damit die Arbeit erst verrichtet wird – hier fällt die Bezahlung ein) und echte
Motivationsfaktoren – wie Aufsteigen in der Hierarchie, mehr Verantwortung, Lob usw.
27 Tatsächlich sind viele Parallele zwischen der früheren Organisation des bulgarischen akademischen Systems und
der Militärordnung festzustellen. Der Kandidat für die Assistentenstelle durfte z.B. nach dem abgeschafften Gesetz
nicht älter als 35 Jahre, wenn er keinen Titel hat, oder 40 Jahre, wenn er schon einen Titel /Doktor/ hat. Die Rufe
selbst – Assistent, Oberassistent, Hauptassistent und Professor – ähneln stark einer militärischen Hierarchie.
28 Wie Akerlof und Kranton argumentieren, schafft die Belohnung von messbaren Resultaten, wie Publikationen,
verzerrte Anreize – in diesem Fall wird mehr Gewicht auf das Publizieren gelegt, als auf die eigentliche
Lehrtätigkeit, die jetzt als „Zeitverlust“ aufgenommen wird und möglichst minimiert werden soll. Publikationen sind
imperfektes Indikator für die Qualität der Lehre.
29 Die Berufung zum Professor geschieht in Bulgarien in der Regel erst in der späten Phase der akademischen
Karriere.
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Erwartung von Privilegien mit zunehmender Erfahrung (wie die Mitgliedschaft in den Gremien
von VAK) abgeschafft. Ein etwas weiter von den herkömmlichen verhaltenstheoretischen
Modellen entfernter Ansatz, ist der der Wirtschaftskultur. Hofstede hat nationale
Wirtschaftskulturen in vier Dimensionen eingeordnet, unter anderem Kollektivismus,
Machtdistanz und Risikoaversion. Wirtschaftssubjekte in kollektivistischen Gesellschaften
rechnen mit Gegenseitigkeit, wenn sie Probleme der Außenwelt gemeinsam meistern und
entwickeln starke Gruppenidentität30. Gegenseitige Geschenke werden als Bestandteil der
Zugehörigkeit zum Kollektiv betrachtet. Die harmonische, konfliktlose Beziehung zwischen den
Mitgliedern hat höchste Priorität, auch über die Arbeit31. Typisch für kollektivistische
Gesellschaften mit starker Risikoaversion und höherer Machdistanz sind stark ausgebaute
Hierarchiestrukturen32. Hierarchie kann als ein Mittel interpretiert werden, das effektive
Lenkung einer Organisation unter diesen kulturellen Bedingungen ermöglicht. In einer
kollektivistischen Gesellschaft mit hoher Risikoaversion wie der bulgarischen33, könnte das
Überlassen der Karriereentwicklung in den Händen der Wissenschaftskollektiven (der „internen
Gruppen“) selbst zu ungebremsten Anwachsen der verliehenen Titel führen. Die hierarchisch
weit höher gestellte Struktur der VAK („externe Gruppe“) hat Möglichkeiten für objektive
Sanktion des Karriereaufstiegs geschaffen, die außerhalb der jeweiligen Organisation lag und
dadurch viel weniger von persönlichen Beziehungen beeinflusst war34. Wie gezeigt, unterstützen
beide alternativen Ansätze nicht nur die Schlussfolgerungen im ersten Ansatz, sondern
verstärken den erwarteten negativen Effekt auf die Motivation und letztlich auf die Qualität von
Ausbildung und Forschung.
Zusammengefasst, bringt die Gesetzesreform nicht nur Chancen mit sich, aber auch nicht
zu unterschätzenden Risiken. Obwohl das Ziel des Gesetzgebers eine steigende Qualität der
Forschung und Lehre ist, wird die neue Anreizstruktur erst mal die Tür für Kandidaten nur weit
30 HOFSTEDE 2001, S. 91, vgl. auch Avner GREIF: „Institutions and the Path to the Modern Economy. Lessons from
Medieval Trade“, Cambridge, 2008 [2006], S. 282-283, 300-301.
31 HOFSTEDE, 2001, S. 79-80, 92.
32 HOFSTEDE, 2001, S. 179, 213.
33 Vgl. mit Michael MINKOV: „Хофстеде и значението на неговите трудове за България”, Vorwort zur
bulgarischen Ausgabe von Geert HOFSTEDE: „Cultures and Organizations: Software of the Mind“, 2001, S. XI,
XIII-XIV und C. DAVIDKOV, D. ILIEVA, E. NIKOLOVA: “Дистанцията на властта в Софийския университет ‘Св.
Климент Охридски’”, in: Jahresbuch der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der “St. Kliment Ohridski“
Universität zu Sofia, 6, 2006, S. 281-299.
34 Aber diese formelle, unpersönliche Kontrolle der wissenschaftlichen Ergebnisse hatte auch eine fördernde
Dimension. Auch wenn die informellen, persönlichen Verhältnisse eines Wissenschaftlers zum Kollektiv gestört
waren, konnte er sich leichter der vorabgenommenen Sanktion der inneren Gruppe entziehen, indem er sich auf die
höhere Kompetenz der VAK berief (Kandidaten für wissenschaftliche Titel mussten erst durch eine Abstimmung im
Department zur Disputation vor dem entsprechenden Wissenschaftsrat der VAK zugelassen werden). Eine
zusätzliche Gesetzesfolge ist die gestiegene Macht der Departmentsvorstitzende und Dekane, die jetzt stärkeren
Einfluss auf die endgültige Entscheidung über Vergabe von Titeln durch die Wahl der Jurys haben.
Sedlarski, T. (2010), "Kommentar zu Henrik Egbert: 'Die Gesetzesreform zur Entwicklung des wissenschaftlichen
Personals in Bulgarien'", Osteuropa-Wirtschaft, 4/2010, S.311-317.
offen halten. Wenn aber die Kontrolle am Eingang und an den entscheidenden Punkten des
Karriereaufstiegs gelockert, ohne dass genügend Konkurrenz um die Lehrstellen induziert wird,
ist die Qualität durch die ‚Marktauslese‘ nicht mehr garantiert. Denn Konkurrenz kann erst dann
entstehen – und die erwarteten positiven Effizienzfolgen haben – wenn es genug Interessierte
gibt, die miteinander konkurrieren. Es muss folglich an neue Motivierungsschemata für junge
Wissenschaftler gedacht werden, wenn die begonnene Reform Wettbewerb um Forschungs- und
Lehrstellen und dadurch letztlich mehr Qualität schaffen will. Die staatliche Finanzierung von
den Hochschulen erfolgt weiterhin pro Kopf (Subvention je Studentenzahl). Das finanzielle
Motiv zwingt Hochschulen die Anzahl der aufgenommenen Studenten auszuweiten. Sie sind per
staatliche Mindestanforderungen gezwungen auch deren Lehrpersonal zu erhöhen. Der Druck
zur Vergabe von Titeln und Stellen verstärkt sich. Bevor sich die relativen Unterschiede in der
Qualität der Lehre und Forschung herausbilden und vom Publikum wahrgenommen werden,
kann es eine lange Periode an Qualitätsrückgang geben, in der Grade und Positionen „leicht“
vergeben werden. Besonders wenn das Pro-Kopf-Finanzierungschema weiterhin erhalten
bleibt35.
35 Oder sogar durch ‚studentische Vouchers’ ausgebaut wird, die jedem Studenten erlauben würden, ein neues
akademisches Jahr an einer anderen Universität zu beginnen, die staatliche Finanzierung mit sich bringend.