Content uploaded by Frank Jacobi
Author content
All content in this area was uploaded by Frank Jacobi on Dec 05, 2018
Content may be subject to copyright.
Doch was wird unter psychischer Gesund-
heit verstanden? Die Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) definiert psychische Ge-
sundheit als ,,Zustand des Wohlbefindens,
in dem der Einzelne seine Fa
¨higkeiten aus-
scho
¨pfen, die normalen Lebensbelastungen
bewa
¨ltigen, produktiv und fruchtbar arbeiten
kann und imstande ist, etwas zu seiner
Gemeinschaft beizutragen‘‘. In dieser Defi-
nition kommt die individuelle und die ge-
samtgesellschaftliche Perspektive zum Tra-
gen: Psychische Gesundheit ist fu
¨r jeden von
uns Voraussetzung dafu
¨r, unser intellektuel-
les und emotionales Potenzial zu entfalten
und unsere Rolle in der Gesellschaft und im
Arbeitsleben finden. Dies wiederum fu
¨hrt
auf gesellschaftlicher Ebene zu wirtschaft-
lichem Wohlstand, Solidarita
¨t und sozialer
Gerechtigkeit. Indem das Individuum im
Hinblick auf ko
¨rperliche, seelisch-geistige
und materielle Faktoren eine Balance erlebt,
kann es erst seinen kleinen, jedoch bedeut-
samen Beitrag zum Mosaik der Gesellschaft
beitragen. Erkranken Individuen jedoch an
psychischen Krankheiten, verursacht dies
nicht nur individuelles Leid und individuelle
Kosten, sondern, neben der Belastung fu
¨r das
Gesundheitssystem, ebenso gesellschaftli-
che Kosten und Verluste.
Diese Erkenntnisse und Entwicklungen sollten
uns eigentlich fu
¨r die Wichtigkeit der psychi-
schen Gesundheit sensibilisieren: Wir, als In-
dividuum und Gesellschaft, sollten sie erhal-
ten, fo
¨rdern und Menschen helfen, sie wieder-
zuerlangen, wenn sie in ihr beeintra
¨chtigt sind.
Doch uns fa
¨llt es oftmals schwer, das aufgrund
der Krankheit vera
¨nderte Verhalten von Mit-
menschen einzuordnen und wir begegnen ih-
nen mit Unversta
¨ndnis und Unsicherheit. So
sind auch heute noch psychisch Kranke Au-
ßenseiter – psychisch krank zu sein, bedeutet
oftmals stigmatisiert zu werden.
Eine Studie der WHO zeigt, dass im Jahr
2030 unter den weltweit ha
¨ufigsten Krank-
heiten in den Industriestaaten fu
¨nf psychi-
sche Erkrankungen sein werden: Depres-
sion, Alkoholabha
¨ngigkeit, bipolare Sto
¨run-
gen, Schizophrenie und Demenz. Also
mu
¨ssen wir weiter lernen, uns mit psychi-
schen Erkrankungen auseinanderzusetzen,
sie zu verstehen, zu akzeptieren, zu lindern.
Diese Ausgabe des Public Health Forums
mo
¨chte dazu einen Beitrag leisten. Die Viel-
falt der Artikel spiegelt auch die Vielgestal-
tigkeit der Thematik wider. Ausgehend von
Betrachtungen zur seelischen Gesundheit im
Kindes- bis hin zum Erwachsenenalter wer-
den die jeweilig kritischen Lebensereignisse
oder Lebensaufgaben, die zum psychischen
Gesund- bzw. Kranksein beitragen, darge-
stellt. So spielen gerade Schutzfaktoren im
Kindesalter eine bedeutsame Rolle beim ge-
sunden Aufwachsen. Ansa
¨tze zur Pra
¨vention
von seelischen Erkrankungen im Jugendalter
werden ebenso aufgegriffen wie Themen der
Arbeitswelt und des sozioo
¨konomischen
Status. Daru
¨ber hinaus gibt diese Ausgabe
einen breiten U
¨berblick zu Strukturqualita
¨t
und Rahmenbedingungen bei der Versor-
gung seelisch Kranker.
http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2013.12.002
Psychische Gesundheit: Definition und Relevanz
Carina Schlipfenbacher und Frank Jacobi
Die Bedeutung der ,,Psychischen
Gesundheit‘‘ ist ein vieldiskutiertes
Thema, dessen Aktualita
¨t vermehrt
in das gesellschaftliche Bewusstsein
ru
¨ckt. Im Folgenden wird ein U
¨ber-
blick u
¨ber Definitionsversuche gege-
ben, um anschließend die Public-
Health-Relevanz beeintra
¨chtigter psy-
chischer Gesundheit – bzw. psychi-
scher Sto
¨rungen – herauszustellen.
Was heißt das – Gesundheit? Bereits
1948 definierte die WHO Gesundheit
aus einem bio-psycho-sozialen Ver-
sta
¨ndnis heraus: ,,Gesundheit ist ein
Zustand vo
¨lligen psychischen, physi-
schen und sozialen Wohlbefindens
und nicht nur das Freisein von Krank-
heit und Gebrechen. Sich des best-
mo
¨glichen Gesundheitszustandes zu
erfreuen, ist ein Grundrecht jedes
Menschen, ohne Unterschied der Ras-
se, der Religion, der politischen U
¨ber-
zeugung, der wirtschaftlichen oder so-
zialen Stellung.’’ (The Preamble of the
Constitution of the World Health
Organisation, 1946-48).
Psychische Gesundheit wird hier mit
psychischem Wohlbefinden gleichge-
setzt. Andere Definitionen von psy-
chischer Gesundheit sind jedoch
mo
¨glich und auch in zahlreicher
Form versucht worden. Der Weg zu
einer genaueren Eingrenzung der
psychischen Gesundheit gelingt am
besten durch Abgrenzung zu psychi-
scher Krankheit.
Psychische Krankheit. Zahlreiche
Definitionsversuche ko
¨nnen durch
das Krankheitsmodell von Schulte
(1998) geordnet und systematisiert
werden (siehe Abbildung 1).
Schulte (1998) unterscheidet klar
zwischen Krankheitsursache, Krank-
heit, Kranksein und Krankheitsfol-
gen. Es gibt also verschiedene
Perspektiven, aus welchen der Sach-
verhalt ‘‘Krankheit’’ oder ‘‘krank’’
betrachtet werden kann. Der Begriff
Krankheit umfasst hier den ko
¨rperli-
chen Aspekt, er bezeichnet die
Abbildung 1. Die Ebenen des allgemeinen Krankheitsmodells.
Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)
http://journals.elsevier.de/pubhef
2.e1
pathologischen Vera
¨nderungen, den
Defekt in einer Person. Kranksein be-
zeichnet den psychologischen Aspekt,
das Erleben von Unwohlsein und Be-
eintra
¨chtigung. Unter den Krankheits-
folgen wird der soziale Aspekt aufge-
griffen. Krankheitsfolgen beziehen
sich auf die vera
¨nderten Rollenerwar-
tungen mit bestimmten Anspru
¨chen
und Privilegien.
Die Folgen einer Krankheit, also die
vera
¨nderten Rollenerwartungen wir-
ken sich ru
¨ckwirkend auf die Be-
schwerden und die wahrgenommenen
Symptome aus, sowie in Folge auch
auf die Krankheit an sich und weitere
pathologische Vera
¨nderungen.
Psychische Gesundheit. Das Krank-
heitsmodell von Schulte (1998) dient
nicht nur der Definition von Krank-
heit, sondern kann ebenso fu
¨r Gesund-
heit angewendet werden. Dementspre-
chend geht er von Gesundheitsursa-
chen, Gesundheit, Gesundsein und
Rolle des Gesunden aus.
Der Begriff der Gesundheit ist dabei
schwerer klar zu umgrenzen. Im Un-
terschied zur Krankheit gibt es keine
spezielle Art der Gesundheit. Gesund-
heit wird von Schulte (1998) daher,
anders als in der Definition der WHO,
als Abwesenheit von Krankheit
verstanden.
Differenziert man zwischen dem ob-
jektiven und dem subjektiven Gesund-
sein bzw. Kranksein, sind diese beiden
Begriffe unabha
¨ngig voneinander zu
verwenden. Ein eigentlich Gesunder
kann sich krank fu
¨hlen, ein eigentlich
Kranker kann sich gesund fu
¨hlen. Psy-
chisches Gesundsein bezeichnet nicht
den Normalzustand, sondern vielmehr
einen psychischen Idealzustand. Psy-
chisches Gesundsein und psychisches
Kranksein ko
¨nnen als die Extrempole
eines Kontinuums verstanden werden.
Im mittleren, neutralen Bereich kann
der durchschnittlich Normale angesie-
delt werden. Das Versta
¨ndnis von Nor-
malita
¨t ist stark kulturabha
¨ngig und
auch nicht als unaba
¨nderlich zu
betrachten.
Die soziale Perspektive nach dem
Krankheitsmodell von Schulte be-
scha
¨ftigt sich mit den unterschiedli-
chen Erwartungsspektren an einen
Kranken und an einen Gesunden.
Ohne sichtbare Hinweise auf Krank-
heit wird einer Person automatisch die
Rolle des Gesunden verliehen. Auch
hier kann man von einem neutralen
Mittelbereich sprechen. Die Rolle
der Mutter, des Partners, etc. kann
unterschiedlich gut erfu
¨llt werden.
Die Kultur ist entscheidend fu
¨r die
Definition und Normierung der
Rollen.
Die Ursachen von Krankheit und Ge-
sundheit ko
¨nnen vielfa
¨ltig sein. Ge-
sundheit kann zum einen durch das
Heilen von Krankheit wiederherge-
stellt werden, zum anderen ist auch
bei Gesunden die Erhaltung und Fo
¨r-
derung der Gesundheit ein Ziel.
Salutogenese. Antonovsky (1997) be-
scha
¨ftigte sich seit den 70er Jahren mit
der Frage: Wie entsteht Gesundheit?
Das Konzept der Salutogenese, ent-
wickelt als Gegensatz zur Pathogene-
se, versteht dabei Gesundheit als Pro-
zess, nicht als Zustand. Einen ganz
Gesunden gibt es nicht, und auch in
einer sterbenskranken Person sind
noch gesunde Anteile zu finden. Jede
Person befindet sich auf einem Konti-
nuum und ist nicht entweder gesund
oder krank, sondern befindet sich im
Prozess von gesund und krank. Zent-
rales Element der Salutogenese ist
das Koha
¨renzgefu
¨hl, ein Gefu
¨hl des
generellen Vertrauens auf die Ver-
stehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Hand-
habbarkeit der Stimuli in unserem
Leben. Dieses Koha
¨renzgefu
¨hl stellt
auch einen wichtigen Schutzfaktor
gegenu
¨ber psychischen Sto
¨rungen
dar. Im Zusammenhang mit Saluto-
genese stehen Begriffe wie Resilienz
und Empowerment. Letztendlich
sind dies Konzepte der Pra
¨vention
vor psychischer und ko
¨rperlicher
Erkrankung.
Gesto
¨rte psychische Gesundheit:
Ha
¨ufigkeit und Krankheitslast psychi-
scher Erkrankungen. Die psychische
Gesundheit zu erhalten ist eine der
gro
¨ßten Herausforderungen unserer
Gesellschaft. Nicht umsonst lautet
eine zentrale Botschaft der Europa
¨-
ischen Kommission (2005) ,,Keine
Gesundheit ohne psychische Gesund-
heit‘‘. Eine versta
¨rkte Bescha
¨ftigung
mit psychischer Gesundheit dra
¨ngt
sich auch durch immer wieder neue
Diskussionen u
¨ber ,,Burn-Out‘‘ in
den Medien auf. Durch den – im Grun-
de konzeptuell problematischen – Be-
griff ,,Burn-Out‘‘ hielt die psychische
Sto
¨rung Einzug in die Arbeitswelt. Die
Dringlichkeit, psychische Gesundheit
als gesellschaftliche Aufgabe wahrzu-
nehmen und ernst zu nehmen, ergibt
sich vor allem durch die hohen Kosten
bzw. die extrem hohe Krankheitslast,
die psychische Erkrankungen mit sich
bringen. Wenn nicht-u
¨bertragbare, d.h.
auch wesentlich durch soziale und
Verhaltensfaktoren mit beeinflusste
Krankheiten aufgrund ihrer großen
Verbreitung und ihrer großen wirt-
schaftlichen Auswirkungen (Behand-
lungskosten, Arbeitsunfa
¨higkeit, Fru
¨h-
berentung) sozial ins Gewicht fallen
und somit Public-Health-Relevanz er-
langen, werden sie als ,,Volkskrankhei-
ten‘‘ bezeichnet. Psychische Sto
¨run-
gen verursachen ho
¨here Krankheits-
kosten als chronische ko
¨rperliche
Erkrankungen wie Krebs, Diabetes
oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen
(Gustavsson et al., 2011; Wittchen
et al., 2011) und ko
¨nnen also nach
dem aktuellen Kenntnisstand zu den
,,Volkskrankheiten‘‘ geza
¨hlt werden.
Ursache und Wirkung. Interessant
bleibt die Frage nach Ursache und
Wirkung psychischer Erkrankungen.
Zum Beispiel finden wir bei Arbeits-
losen deutlich erho
¨hte Krankheitsra-
ten. Macht nun Arbeitslosigkeit
Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)
http://journals.elsevier.de/pubhef
2.e2
psychisch krank, oder landen vor al-
lem psychisch Kranke in der Arbeits-
losigkeit? In Anbetracht des multifak-
toriellen Geschehens im Bereich psy-
chischer Sto
¨rungen verwundert es
nicht, dass beide Aspekte eine Rolle
spielen.
Angesichts der Tatsache, dass ver-
mehrt Diagnosen fu
¨r psychische Sto
¨-
rungen vergeben werden (Versor-
gungsdaten der Kostentra
¨ger), liegt
die Vermutung nahe, dass immer
mehr Menschen unter psychischen
Sto
¨rungen leiden. Andererseits
scheint aber die Pra
¨valenz psychischer
Sto
¨rungen in der Allgemeinbevo
¨lke-
rung im Zeitverlauf nicht zugenom-
men zu haben (Jacobi et al., 2014).
Der Anstieg diagnostizierter psychi-
scher Verhaltensauffa
¨lligkeiten oder
psychischer Sto
¨rungen la
¨sst sich den-
noch erkla
¨ren.
Wie in der Abbildung 2 anhand der
Erwerbsunfa
¨higkeitsrenten-Statistik
zwischen 1993 und 2011 deutlich
wird, sind wir heute mo
¨glicherweise
einfach ,,anders krank‘‘. Die absoluten
Zahlen zeigen, dass die Rentenzuga
¨n-
ge aufgrund von Krankheiten im All-
gemeinen zuru
¨ckgegangen sind. Pro-
zentual zeigt sich, dass sich das Ver-
ha
¨ltnis psychischer und ko
¨rperlicher
Erkrankungen stark in Richtung psy-
chischer Erkrankungen verschoben
hat. Dies hat insbesondere damit zu
tun, dass psychische Probleme heutzu-
tage eher erkannt und benannt werden
und somit auch A
¨rzte die Diagnose
eher vergeben als fru
¨her. Dies bedeutet
aber keinen Artefakt (,,Psychische Sto
¨-
rungen werden heute u
¨berdiagnosti-
ziert, weil sie in Mode sind.‘‘), sondern
eher ein Aufholen an den wahren Er-
kenntnisstand (,,Psychische Sto
¨rungen
wurden fru
¨her ha
¨ufiger u
¨bersehen bzw.
Betroffene wurden, obwohl eine psy-
chische Sto
¨rung vorlag, eher wegen
anderer ko
¨rperlicher Diagnosen krank-
geschrieben.‘‘)
Relevanz psychischer Erkrankungen.
Es gibt seit einiger Zeit Ansa
¨tze,
,,Krankheitslast‘‘ nicht mehr nur
u
¨ber Sterblichkeitsziffern zu quantifi-
zieren, sondern auch u
¨ber die Lebens-
zeit, die Menschen mit Beeintra
¨chti-
gungen und Behinderung verbringen
(z.B. ,,Years lived with disability‘‘,
YLD). Psychische Erkrankungen
machen in Bezug auf diese YLD
u
¨ber 40% Prozent der Krankheitslas-
ten aller Erkrankungsgruppen aus
(Wittchen et al., 2011) – und dennoch
fließen nur etwa 10% der Gesund-
heitsausgaben in die Versorgung psy-
chischer Sto
¨rungen. Scha
¨tzungen der
direkten und der indirekten Kosten fu
¨r
psychische Sto
¨rungen und neurologi-
sche Erkrankungen zusammen erga-
ben den Betrag von 800 Milliarden
Euro fu
¨r die gesamte Europa
¨ische
Union (standardisiert auf das Jahr
2010; Gustavsson et al., 2011). Dies
ist mehr als die Kosten fu
¨r Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen, Krebs und Diabe-
tes zusammen. Diese enormen Kosten
lassen sich vor allem durch die Beson-
derheiten psychischer Erkrankungen
gegenu
¨ber ko
¨rperlichen Erkrankun-
gen erkla
¨ren: Die hohe Erkrankungs-
rate – etwa jeder dritte Frau und jeder
vierte Mann sind betroffen (Jacobi
et al., 2014) – spielt selbstversta
¨ndlich
eine maßgebliche Rolle. Selbst bei
geringen Kosten im Einzelfall ist die
Summe der Behandlungskosten psy-
chischer Erkrankungen beachtlich.
Um den Einwand der Dramatisierung
vorwegzunehmen, zum Vergleich:
70% aller Erwachsenen unter 65 Jah-
ren haben im Laufe eines Jahres
zumindest eine ko
¨rperliche Diagnose
– von der Allergie bis hin zur Krebs-
erkrankung. Warum sollten Gehirn
und Nervensystem weniger ha
¨ufig be-
troffen sein als andere, weit weniger
komplexe Organbereiche?
Die Dauer psychischer Erkrankungen
ist zudem ha
¨ufig episodisch oder chro-
nisch, so dass Betroffene viel Zeit mit
ihrer Sto
¨rung verbringen. Außerdem
sind von psychischen Erkrankungen
zumeist Personen betroffen, die sich
im leistungsfa
¨higsten, mittleren Le-
bensalter befinden, was wirtschaftlich
sta
¨rker ins Gewicht fa
¨llt als beispiels-
weise Erkrankungen im Rentenalter.
Abbildung 2. Absolute und relative Ha
¨ufigkeiten von psychischen und ko
¨rperlichen Diagno-
sen bei Rentenzuga
¨ngen von 1993 - 2011.
2.e3
Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)
http://journals.elsevier.de/pubhef
Die Anforderungen in unserer heuti-
gen Arbeitswelt sind ha
¨ufig kommuni-
kativer, psycho-mentaler und emotio-
naler Art, was sich mit den Einschra
¨n-
kungsprofilen psychischer Sto
¨rungen
u
¨berschneidet. Bei ehemals eher ko
¨r-
perlichen Anforderungen spielten Ein-
schra
¨nkungen, die durch psychische
Sto
¨rungen hervorgerufen wurden, nur
eine nachgeordnete Rolle.
Psychische Sto
¨rungen und ko
¨rperli-
che Erkrankungen. Ein weiterer
wichtiger Aspekt im Zusammenhang
mit psychischer Gesundheit ist die
ko
¨rperlich-psychische Komorbidita
¨t
(gleichzeitiges Vorliegen mehrerer
Erkrankungen): psychisch erkrankte
Personenweisenha
¨ufiger ko
¨rperliche
Beschwerden auf und umgekehrt.
Hierfu
¨r gibt es vielfa
¨ltige Erkla
¨rungs-
hypothesen. Mo
¨glicherweise fehlt ei-
ner depressiven Person zum Beispiel
die notwendige Compliance, um eine
ko
¨rperliche Erkrankung durch konse-
quente Medikamenteneinnahme und
aktives Gesundheitsverhalten zu
kontrollieren. Man muss somit von
einer wechselseitigen Beeinflussung
ausgehen. Studien zeigen zum Bei-
spiel, dass ko
¨rperliche Erkrankungen
schlechter verlaufen, wenn eine psy-
chische Erkrankung hinzukommt. So
ist die Mortalita
¨t bei Herzerkrankun-
gen ho
¨her, wenn auch eine Depres-
sion diagnostiziert wurde (Barth
et al., 2004). Eine weitere Mo
¨glich-
keit, das geha
¨ufte Auftreten psychi-
scher Sto
¨rungen mit ko
¨rperlichen Er-
krankungen zu erkla
¨ren, betrifft ko
¨r-
perliche Folgescha
¨den durch die
chronischen Stressreaktionen, wie
sie zum Beispiel bei posttraumati-
schen Belastungssto
¨rungen hervorge-
rufen werden.
Verdeutlicht wird die Wechselwir-
kung auch durch den ko
¨rperlichen Ri-
sikofaktor U
¨bergewicht: wenn auch in
hohem Maße genetisch determiniert,
tragen doch psychologische bzw. Ver-
haltensfaktoren sowie soziale Einflu
¨s-
se entscheidend zu krankhaftem U
¨ber-
gewicht bei. Allerdings sind psychi-
sche Sto
¨rungen nicht mit erho
¨hten
Raten an Adipositas assoziiert (Hach
et al., 2007).
Seelischem Leid mehr Gewicht geben.
Es ist Zeit, die Gesundheitsdefinition
der WHO erneut aufmerksam zu pru
¨-
fen und Maßnahmen anzupassen, zu
aktualisieren und neue Schwerpunkte
zu setzen. Der bestmo
¨gliche Gesund-
heitszustand wird hier als Grundrecht
des Menschen proklamiert, unabha
¨n-
gig von seiner sozialen Stellung. Der
Notwendigkeit, diese Chancenun-
gleichheit zu verringern, sollte auf
allen Ebenen mehr Nachdruck verlie-
hen werden. Da wir heute ,,anders
krank‘‘ sind, mu
¨ssen auch die
Schwerpunkte im Gesundheitsbe-
reich neu gesetzt werden. Dies be-
trifft u
¨brigens nicht nur das Gesund-
heitssystem im engeren Sinne, son-
dern auch andere Instanzen (z.B.
Schule, berufliches Umfeld, soziale
Tra
¨ger, etc.). Dem psycho-sozialen
Teil der Gesundheit sollte den aktuel-
len Untersuchungen entsprechend
mehr Gewicht zugewiesen werden,
um eine Anpassung der Versor-
gungs-, Angebots- und Pra
¨ventions-
struktur im Sinne des Public Health-
Nutzens zu erzielen. Die gewissen-
hafte Umsetzung der Gesundheitsde-
finition der WHO ist vielleicht eine
der herausforderndsten, aber auch
vielversprechendsten Aufgaben einer
Gesellschaft.
Der korrespondierende Autor erkla
¨rt, dass
kein Interessenkonflikt vorliegt.
http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2013.12.012
Prof. Dr. Frank Jacobi
Psychologische Hochschule Berlin
(PHB)
Am Ko
¨llnischen Park 2
10179 Berlin
f.jacobi@psychologische-hochschule.de
Literaturverzeichnis
Antonovsky A. Salutogenese - Zur Entmystifizie-
rung der Gesundheit. In: (Deutsche erweiterte
Herausgabe von Alexa Franke). Tu
¨bingen:
dgvt; 1997.
Barth J, Schumacher M, Herrmann-Lingen C.
Depression as a risk factor for mortality in
patients with coronary heart disease: A
meta-analysis. Psychosomatic Medicine
2004;66(6):802–13.
GustavssonA, Svensson M, Jacobi F, Allgulander
C, Alonso J, Beghi E, et al., on behalf of the
CDBE2010 study group. Cost of disorders of
the brain in Europe. European Neuropsycho-
pharmacology 2011;21:718–79.
Hach I, Ruhl U, Klotsche J, Klose M, Kirch W,
Jacobi F. Obesity and the risk for mental
disorders in a representative German adult
sample. European Journal of Public Health
2007;17:297–305.
Jacobi F, Ho
¨fler M, Strehle J, Mack S, Gerschler
A, Scholl L, et al. Ha
¨ufigkeit, Beeintra
¨chti-
gung und Inanspruchnahmeraten psychischer
Sto
¨rungen in der Allgemeinbevo
¨lkerung: Die
Studie zur Gesundheit Erwachsener in
Deutschland und ihr Zusatzmodul ,,Psychische
Gesundheit‘‘ (DEGS1-MH). Der Nervenarzt
2014;19(1).http://dx.doi.org/10.1007/s00115-
013-3961-y.
Schulte, D. Psychische Gesundheit, Psychische
Krankheit, Psychische Sto
¨rung. In U.
Baumann & M. Perrez (Hrsg.), Lehrbuch
klinische Psychologie - Psychotherapie (2.
vollsta
¨ndig u
¨berarbeitete Aufl.). Bern: Huber,
1998.
Wittchen H-U, Jacobi F, Rehm J, Gustavsson A,
Svensson M, Jo
¨nsson B, et al. The size and
burden of mental disorders and other disorders
of the brain in Europe 2010. European Neu-
ropsychopharmacology 2011;21:655–79.
2.e4
Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)
http://journals.elsevier.de/pubhef
Einleitung
Ausgehend von der Definition der Weltgesundheitsorganisation wird eine Konkretisierung der Begriffe psychische
Gesundheit und psychische Erkrankung anhand des allgemeinen Krankheitsmodells von Schulte (1998) bereitgestellt.
Der Artikel bescha
¨ftigt sich anschließend na
¨her mit den aktuellen Vera
¨nderungen in der Ha
¨ufigkeit psychischer Er-
krankungen und die damit verbundene Krankheitslast, die deutliche Public-Health-Relevanz besitzt. Die Besonderheiten
psychischer Erkrankungen werden herausgestrichen, und es wird die wechselseitig Beeinflussung ko
¨rperlicher und
psychischer Erkrankungen behandelt. Es gibt gute Argumente dafu
¨r, seelischem Leid auf verschiedensten strukturellen,
gesellschaftlichen bis hin zu ethischen Ebenen mehr Gewicht einzura
¨umen.
Abstract
Based on the definition of health by the WHO, mental health and mental illness are put into concrete terms by Schulte’s
(1998) disease model. Furthermore, the article deals with current changes in prevalence of mental disorders and the
associated burden of disease which has significant public-health-relevance. The peculiarities of mental disorders are
highlighted and the mutual interaction of mental and somatic diseases is addressed. There are good reasons for providing
more resources for disturbed mental health on various structural, social and ethical levels.
Schlu
¨sselwo
¨rter:
Psychische Gesundheit = mental health, psychische Sto
¨rung = mental disorders, Public-Health-Relevanz = public-health-
relevance, Pra
¨valenz = prevalence, Komorbidita
¨t = comorbidity
2.e5
Public Health Forum 22 Heft 82 (2014)
http://journals.elsevier.de/pubhef