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SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
2010;162(4):148–54
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Review article
148
Summary
Concept of the atypical depression and German translation of “Atypical Depression
Diagnostic Scale (ADDS)”
Atypical depression is, contrary to its name, a common disorder that to
this day is nosologically not clearly classifiable, which affects some 30% of
unipolar depressive patients and is characterised by depressive mood, emo-
tional reactivity, increased sleep, eating disorders and somatic impairment.
Atypical depression occurs more often in women than men, and has an
earlier onset and a more chronic course of illness than endogenous depres-
sion. Comorbidities are common in patients with atypical depression: besides
anxiety disorders, other axis I diseases such as addiction, eating or somato-
form disorders are mentioned, as well as an association with borderline or
cluster C personality disorders.
Despite the early findings it was not until 1994 that atypical depression
was included as a specifier of major depressive episodes in DSM-IV. Contro-
versy persists concerning the validity of both the construct and the DSM-IV
criteria, especially the need for “mood reactivity” criteria.
This paper contains the German version of the “Atypical Depression
Diagnostic Scale (ADDS)”, which, since it investigates the criteria in greater
detail, is regarded as the most highly elaborated instrument for the diagno-
sis of atypical depression.
In a short review we demonstrate that, on the basis of several factors –
biology, course of illness and treatment response – atypical depression can
be considered a separate depressive group.
In summary, the concept of atypical depression is highly relevant, and
additional studies investigating the validity and relevance of treatment would
therefore be preferable. With regard to DSM-V, a revision of the criteria
would seem to be appropriate.
Key words: atypical depression; diagnostic scale; measurement; mood reactivity;
nonmelancholic depression; validity
Einleitung
Atypische Depression ist nicht, wie es der Begriff implizieren
könnte, ein seltenes klinisches Phänomen, sondern vielmehr
eine relativ häufige Form der Depression, die etwa 30% der
unipolar depressiven ambulanten Patienten betrifft [1]. Das
Attribut «atypisch» bezieht sich dabei auf die ungewöhn-
lichen klinischen Merkmale dieser Depressionsart, wes-
halb sie leicht übersehen wird, was oft eine Chronifizierung
bis hin zur Suizidalität zur Folge hat. Atypisch depressive
Patienten zeichnen sich im Vergleich zu melancholischen
Patienten aus durch eine Aufhellbarkeit der Stimmung,
Konzept der atypischen Depression und deutsche
Übersetzung der «Atypical Depression Diagnostic
Scale (ADDS)»
Daniela J. Gremaud-Heitz
a
,Jonathan W. Stewart
b
,Gerhard Dammann
a, c
a
Psychiatrische Klinik, UniversitärePsychiatrische Kliniken Basel, Schweiz
b
Depression Evaluation Centre, New York State Psychiatric Institute, Columbia University Medical Centre, New York, USA
c
Psychiatrische Klinik Münsterlingen, Psychiatrische Dienste Thurgau, Schweiz
No financial support and no other potential conflict of interest relevant to this article was reported.
Korrespondenz:
lic. phil. Daniela Gremaud-Heitz
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
CH-4012 Basel
Switzerland
daniela.gremaud-heitz@upkbs.ch
Hypersomnie und Hyperphagie, bleierne Schwere des Kör-
pers sowie eine lang anhaltende Überempfindlichkeit gegen-
über Zurückweisung.
Das Konzept der atypischen Depression ist von gros-
sem Interesse durch seine Verbindung mit dem weibli-
chen Geschlecht. Es hat sich gezeigt, dass diese Form in
einem bedeutenden Ausmass die geschlechtsspezifischen
Unterschiede einer Depression erklären kann [2]. Atypische
Depression ist zwei bis dreimal wahrscheinlicher bei Frauen
als bei Männern, das Erstauftreten erfolgt in einem jüngeren
Alter als bei der endogenen Depression, und der Verlauf ist
eher chronisch als episodisch [3].
Der folgende Überblick basiert auf einer Recherche der
aktuellen Literatur mittels Pubmed, PsycInfo und Web of
Science.
Historische Entwicklung des Konzepts
«atypische Depression»
Die Entwicklung des Konzepts begann in den späten 1950er
Jahren mit den Untersuchungen von West und Dally in
London, die eine Gruppe von Patienten beschrieben hat-
ten, welche nicht auf die Behandlung mit Trizyklika oder
Elektrokrampftherapie reagierten, hingegen auf den Mono-
aminoxidase (MAO)-Hemmer Iproniazid ansprachen [4].
Die Autoren berichteten, dass Iproniazid besonders güns-
tig bei denjenigen Patienten wirke, die «eine Art atypischer
Zustände haben, welche zeitweise an ängstliche Hysterie mit
sekundärer Depression erinnerten» (pp. 1491).
Diese Patienten unterschieden sich von der typischen
depressiven Vergleichsgruppe in erster Linie durch feh-
lende Merkmale endogener Depression und dem Vorhan-
densein multipler Phobien und Ängste. West und Dally be-
schrieben damals jedoch noch keine reversiblen vegetati-
ven Symptome. Dieses Phänomen wurde erst zehn Jahre
später von Klein und Davis aufgenommen, die diese Form
der Depression besonders bei jüngeren Frauen ohne Melan-
cholie beschrieben.
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Klein und Davis [5] berichteten von Patientengruppen
mit einem spezifischen Ansprechen auf MAO-Hemmer und
stellten fest: «So genannte ‹atypische Depressionen› kom-
men bei Patienten mit depressiver Stimmung vor, die die
üblichen Konsequenzen der klassischen Depression um-
kehren und/oder Hypersomnie, Hyperphagie, ansteigende
Libido oder Gewichtszunahme zeigen, oder die vorrangig
phobisch-ängstliche Tendenzen haben» (pp. 182).
Quitkin und Mitarbeiter [6] formulierten dann die erste
operationale Definition der atypischen Depression, welche
Stimmungsschwankungen, begleitet von übermässigem
Schlaf,Energieverlust, Gewichts- oder Appetitzunahme
sowie interpersonelle Sensitivität bei Zurückweisung mit
einschloss. In den 1980er Jahren wurde der Ausdruck «aty-
pische Depression» dann jedoch ziemlich variabel verwen-
det bis das Konzept 1994 dann ins DSM-IV, jetzt DSM-IV-
TR [7] aufgenommen wurde mit den folgenden Kriterien A:
affektive Reagibilität und B: mindestens zwei von vier Sym-
ptomen (Appetit- oder Gewichtszunahme, Hypersomnie,
bleierne Schwere des Körpers und lang anhaltende Über-
empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung).
Epidemiologie und Prävalenz
Epidemiologische Studien zeigen, dass atypische Depres-
sion relativ häufig in der Allgemeinbevölkerung vorkommt,
mit Raten zwischen 0,7 und 4% [2, 8]. In der klinischen
Population von depressiven Patienten, die eine Behand-
lung aufsuchen, finden sich Anteile von 16 bis 36% [9, 10].
Unter depressiven ambulanten Patienten finden sich je nach
Studie 15 bis 47%, welche die atypischen Kriterien erfül-
len [11–13].
In verschiedenen grossen Studien [3, 13, 14] zeichne-
ten sich Patienten mit atypischen Merkmalen aus durch
ein früheres Auftreten depressiver Episoden und eine hohe
Behandlungsrate. Sie hatten grössere funktionelle Beein-
trächtigungen und – mit einer grösseren Wahrscheinlich-
keit –einen chronischen Krankheitsverlauf als Patienten mit
nicht atypischer Depression.
Beim Erkrankungsalter belegen zahlreiche Studien, dass
die Patienten mit einer atypischen Depression bei der Erst-
erkrankung anderthalb bis zwei Jahre jünger sind als die
nicht atypisch depressiven Patienten [2, 3, 15]. Auch beim
Geschlecht scheint ein deutlicher Unterschied zu bestehen,
in mehreren Studien findet sich sogar ein Verhältnis zwei zu
eins [3, 12, 13].
Komorbiditäten
Komorbiditäten, insbesondere zu Störungsbildern, die
früher als neurotisch bezeichnet wurden (z.B. Phobien,
Zwangsstörungen), finden sich häufig bei atypisch depres-
siven Patienten. Sie scheinen auch signifikant häufiger auf-
zutreten im Vergleich zu nicht atypisch depressiven [15,
16]. Eine Verbindung zu den Angststörungen ist nahelie-
gend, hatten doch West und Dally [4] schon von ängstli-
cher Hysterie geschrieben, und auch Klein und Davies [5]
beschrieben phobisch-ängstliche Tendenzen. Diese Tendenz
konnte auch in verschiedenen Studien nachgewiesen wer-
den: So fanden sich signifikant häufiger Kriterien einer
Panikstörung [8, 14], höhere Raten sozialer Phobie [3, 15]
sowie eine grössere Komorbidität mit verschiedenen Sym-
ptomen von Angststörungen [2, 12] bei Patienten mit aty-
pischer Depression.
Bei atypisch depressiven Patienten finden sich aber auch
Lebenszeitkomorbiditäten mit Essstörungen [3, 14], somato-
formen Störungen [8, 11] sowie Erkrankungen aus dem
Suchtbereich [8, 15]. Auch ist die Wahrscheinlichkeit einer
komorbiden Achse-II-Störung signifikant erhöht [13, 16],
neben einer Verbindung mit der Borderline Persönlichkeits-
störung sind auch Persönlichkeitsstörungen aus dem ängstli-
chen Cluster C (nach DSM-IV-TR [7]) häufig zu finden [13].
Atypische Depression scheint häufiger auch bei stationären
Patienten aufzutreten als früher vermutet [10].
Verbindung mit bipolarer Störung
Oft wird auch von einer starken Verbindung der atypischen
Depression mit bipolaren Störungen berichtet, insbesondere
mit der Bipolar-II-Störung [2, 17], die bestimmt wird durch
eine oder mehrere Episoden einer Major Depression und
mindestens einer hypomanen Episode. In einer grossen kli-
nischen Versuchsreihe in Italien [14] zeigte sich, dass Patien-
tenmit einer Bipolar-II-Störung mit einer doppelt so grossen
Wahrscheinlichkeit eine atypische Depression aufwiesen als
Patienten mit einer unipolaren Depression. Keinen Zusam-
menhang zwischen Hinweisen auf Bipolarität in der Vorge-
schichte und atypischen Merkmalen der Depression fanden
hingegen Seemüller und Mitarbeiter [11] in ihrer Studie bei
1073 stationären Patienten.
Therapie der atypischen Depression
Pharmakotherapie
Da die Entwicklung des Konzepts auf dem besonders guten
Ansprechen der Patienten auf einen MAO-Hemmer be-
ruht, ist es naheliegend, dass diese Medikamentengruppe
als Therapie der Wahl bestanden hat, zumal sie sich im Ver-
gleich mit trizyklischen Antidepressiva als überlegen erwies
[18, 19].
Paradoxerweise verloren die MAO-Hemmer allerdings
relativ bald nach der offiziellen Aufnahme der atypischen
Depression ins DSM-IV ihre alltagspraktische Bedeutung
durch die Einführung der bald allgemein die Verschrei-
bungspraxis dominierenden selektiven Serotonin-Wieder-
aufnahmehemmer (SSRIs) in den 1990er Jahren [20]. Die
Bedeutung der MAOIs ging möglicherweise auch deshalb
etwas zurück, weil die neueren (reversiblen) Substanzen
(insbesondere Moclobemid), die weniger strenge diätische
Massnahmen beanspruchen, sich zwar wegen ihrer Sicher-
heit durchsetzen, aber weniger wirksam erscheinen als die
ersten MAOIs wie Phenelzin [21].
Dennoch kommen Stewart [22] oder Thase [20] in
neueren Übersichtsarbeiten zur Behandlung zu der Schluss-
folgerung, dass MAO-Inhibitoren weiterhin Mittel der
ersten Wahl bei der atypischen Depression sein sollten. In
den USA erfährt die (ohne sehr strenge diätetische Vor-
schriften mögliche) transdermale Applikation des ersten
selektiven MAO-B Inhibitors Selegilin (EMSAM
®
, das zuvor
in der Parkinson-Behandlung eingesetzt wurde) [23] gegen-
wärtig eine Renaissance.
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Eine weitere Substanz, die international relativ häufig
zur Behandlung der atypischen Depression eingesetzt wird
[24], ohne dass jedoch eine prospektive Studie vorliegt, ist
das Bupropion (Wellbutrin
®
), welches auch zum Nikotin-
entzug verwendet wird. In einer anderen Studie konnte ge-
zeigt werden, dass die Behandlung mit Chrom (600 μg/Tag)
im Unterschied zu Plazebo einen signifikanten Einfluss auf
das Kohlenhydrat-Craving, den vermehrten Appetit und
das vermehrte Essen bei Patienten mit atypischen Depres-
sionen, hatte [25]. Unklar bleibt dabei, ob z.B. bei höherer
Dosierung auch die depressive Stimmungslage beeinflusst
werden könnte.
Psychotherapie
Bisher finden sich nur wenige Studien, die Psychotherapie
bei atypischer Depression verglichen haben.
Jarrett und Mitarbeiter [26] fanden in einer Plazebo-
kontrollierten Studie, dass sowohl Phenelzin wie kognitive
Psychotherapie der Gabe von Plazebo hochsignifikant über-
legen war. Zwischen den beiden Behandlungsverfahren
(Phenelzin und KVT) dagegen fanden sich keine Unter-
schiede in allen gemessenen Items. Beide Therapien er-
scheinen somit wirksam zu sein, allerdings fanden sich in
beiden Gruppen über 40% Non-Responder. Die Studie
wurde jedoch wegen ihrer hohen Zahl von eingeschlosse-
nen Patienten und den wenig geeigneten psychometrischen
Tests (HRSD-21) kritisiert [27].
In einer interessanten Studie, die möglicherweise Hin-
weise auf unterschiedliche neurobiologische Beeinfluss-
barkeit für Psychotherapie von Endophänotypen liefern
könnte, fanden Lehto und Mitarbeiter [28], dass von 19 Pa-
tienten, die wegen Depression ein Jahr lang psychodynami-
sche Psychotherapie erhalten hatten, nur die Untergruppe
mit atypischen Merkmalen (n = 8) in der Single-Photon-
Emissions-Computertomographie (SPECT) nach Psychothe-
rapie bei der Dichte der Mittelhirn-Serotonin-Transporter
(SERT) eine signifikante Zunahme zeigten.
Die Diagnose «atypische Depression»
Der Begriff «atypische Depression» ist lange Zeit sehr vari-
abel verwendet worden. Erst 1994 etablierte die American
Psychiatric Association [7] im DSM-IV die atypische Depres-
sion als separaten Subtypen der affektiven Erkrankungen
und legte die Diagnosekriterien fest (Tab. 1).
Das DSM-IV orientierte sich bei der Diagnose stark an
der von Stewart und Mitarbeitern entwickelten Atypical
Depression Diagnostic Scale (ADDS) [29], wobei die Kriterien
insbesondere bei der affektiven Schwingungsfähigkeit im
Gegensatz zur ADDS ungenauer formuliert wurden, wes-
halb das Eingangskriterium A besonders umstritten ist und
als nicht essentiell erscheint [10, 13, 30].
In einer aktuellen Literaturübersicht von Stewart und
Mitarbeitern [31] schlagen die Autoren vor, einen frühen
Krankheitsbeginn sowie einen chronischen Krankheitsver-
lauf in die Definition einer atypischen Depression einzube-
ziehen.
In der in den deutschsprachigen Ländern gültigen ICD-
10-Klassifikation ist die atypische Depression nicht als eigen-
ständige Diagnose aufgeführt und muss unter F32.8. (sons-
tige depressive Episode) kodiert werden [10].
Die «Atypical Depression Diagnostic Scale (ADDS)»
von Stewart und Mitarbeitern
Die Columbia-Gruppe begann 1979 mit einer Reihe von
Behandlungsversuchen, um zu testen, ob eine prospektiv
definierte Population vorzugsweise auf Phenelzin im Ver-
gleich zu Imipramin reagieren würde.
Basierend auf der Literatur sowie aufgrund von Erfah-
rungen im Klinikalltag definierten sie operationalisierte
Kriterien für eine Patientengruppe, bei der sie voraussag-
ten, dass sie überwiegend auf ein MAOI im Gegensatz zu
einem TCA ansprechen würde. Einschlusskriterium für die
Teilnahme an der Studie war die Diagnose einer depressi-
ven Erkrankung nach DSM-III. Weiter mussten die Patien-
ten fähig sein, zumindest in einem gewissen Grad durch
ein positives Ereignis aufgeheitert zu werden. Zusätzlich
mussten noch zwei der Symptome «Hypersomnie, bleierne
Paralyse, Hyperphagie und pathologische Empfindlichkeit
gegenüber Zurückweisung» erfüllt sein.
In den Behandlungsversuchen wurde die Hypothese
der Columbia-Gruppe bestätigt: So verbesserten sich unter-
schiedliche atypisch depressive Kohorten mit grösserer
Wahrscheinlichkeit nach der Behandlung mit Phenelzin
als mit Imipramin. Aufgrund verschiedener Tests konnte
die Gruppe feststellen, dass neben der Stimmungsreaktion
mindestens eines der zusätzlichen Symptome vorhanden
sein musste, damit sich der Behandlungserfolg des MAOIs
gegenüber dem TCA zeigte.
Im Anschluss an diese Untersuchungen wurden die vor-
definiertenKriterien noch detaillierter beschrieben und zum
Teil erweitert, woraus dann die Atypical Diagnostic Depression
Scale (ADDS – siehe Anhang) der Columbia-Gruppe ent-
stand, welche als das elaborierteste Instrument für die atypi-
sche Depression bezeichnet werden kann [29].
Im Gegensatz zum DMS-IV differenziert die ADDS
verschiedene Ausprägungsgrade der einzelnen Kriterien.
Zudem wird bei der Hyperphagie unterschieden zwischen
gesteigertem Appetit, gesteigerter Nahrungsaufnahme und
signifikanterGewichtszunahme, und auch die pathologische
Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung wird in ver-
schiedene Problembereiche unterteilt.
Tabelle 1
Diagnosekriterien der atypischen Depression nach DSM-IV-TR [7].
Kriterium AAffektive Schwingungsfähigkeit (d.h., die Stimmung hellt sich bei
aktuellen oder möglichen positiven Ereignissen auf)
Kriterium BMindestens zwei der folgenden Merkmale sind erfüllt:
1. Bedeutsame Gewichtszunahme oder Zunahme des Appetits
2. Hypersomnie (Vermehrter Schlaf, mehr als 10 Std./Tag)
3. Bleierne Schwere in Armen und Beinen
4. Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung
(Weit zurückreichendes Verhaltensmuster von Empfindlichkeit
gegenüber Zurückweisung durch andere, das zu einer bedeut-
samen sozialen oder beruflichen Beeinträchtigung führt)
Kriterium CWeder die Kriterien für den melancholischen noch für den katatonen
Subtypus sind erfüllt
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Im Rahmen einer Studie wurde die ADDS von uns ins
Deutsche übersetzt. Zur Validierung der wort- und sinn-
gemässen Übersetzung wurde die deutsche Fassung von
einem «native speaker» ins Englische zurück übersetzt und
abschliessend von Prof. Stewart für gut geheissen. Die aus-
führlicheVersion des Interviews in deutscher und englischer
Sprache ist bei den Autoren erhältlich.
Tests zur Reliabilität wurden kurz nach Erscheinen der
englischen Version durchgeführt, die Daten sind beim Au-
tor (Prof. Stewart) erhältlich. Da die Validität des Interviews
von der Validität des Konstruktes selbst herrührt, stellt sich
zunächst die Frage, ob die atypische Depression als eigen-
ständiger depressiver Subtypus abgrenzbar ist.
Atypische Depression: ein valider Subtyp?
Die laufende Definition der atypischen Depression gibt
immer wieder Anlass zu Diskussionen und wird von ver-
schiedenen Autoren in Frage gestellt [2, 30, 32]. In ver-
schiedenen Studien konnten keine Verbindung der Schwin-
gungsfähigkeit mit den anderen diagnostischen Kriterien
der atypischen Depression gefunden werden [11, 13]. Auch
ist «bleierne Schwere» relativ ungenau, wird häufig nicht
spontan berichtet und meint nicht «fatigue». In einer Stu-
die fanden Riedel und Mitarbeiter [10] bei insgesamt 829
Patienten mit atypischer und nicht atypischer Depressions-
art, dass sich beide Gruppen insbesondere in folgenden
Items unterschieden, die signifikant häufiger mit atypischer
Depression verbunden waren: Somatische Angst, Genital-
störungen, Depersonalisation und Derealisation, paranoide
Symptome (inkl. Misstrauen) und interessanterweise auch
Schuld. Kein Unterschied zeigte sich hingegen bei Suizid-
gedanken.
Stewart und Mitarbeiter haben sich deshalb in einem
aktuellen Artikel [33] mit der Validität der atypischen De-
pression auseinandergesetzt und konnten anhand der nach-
folgenden Faktoren aufzeigen, dass die atypische Depression
als eigenständiges Konzept bestehen kann.
Biologische Studien
In einer Literaturübersicht zeigt auch Posternak [34] auf,
dass verschiedene biologische Kriterien starke Hinweise
darauf liefern, dass es sich bei der atypischen Depression
um einen eigenen existierenden Subtypus der Depression
handle: «Studies involving hypothalamic-pituitary-adrenal
axis activity, cerebral laterality, neurochemical profiles, and
sleep parameters» (pp.1), siehe Tabelle 2.
McGinn undMitarbeiter [35] fanden in ihrer Stu-
die unterschiedliche kortikale Reaktionen auf Desipramin
bei depressiven Patienten mit atypischen Merkmalen im
Vergleich zu anderen depressiven Patienten. Fountoulakis
und Mitarbeiter [36] konnten einen veränderten zerebra-
len Blutfluss bei atypisch Depressiven zeigen, der sich nicht
nur von einer gesunden Kontrollgruppe, sondern auch von
melancholischen und undifferenzierten depressiven Patien-
ten unterscheidet.
Weitere Studien, welche Kortisol [37], evozierte Poten-
ziale [38], perzeptuelle Verarbeitung [39] sowie Variatio-
nen in der Hypothalamus-Hypophysen-Achse [40] evaluie-
ren, liefern ebenfalls deutliche Hinweise, dass Personen mit
atypischer Depression neurobiologisch von anderen Depres-
sionsgruppen unterschieden werden können.
Krankheitsverlauf
Bereits die Columbia-Gruppe [29] berichtete von einem
früheren Erstauftreten und einem chronischeren Verlauf
bei atypisch depressiven im Vergleich mit melancholischen
Patienten. Ein Resultat, welches auch durch grosse epide-
miologische Studien gefestigt wird [2, 15].
Der Krankheitsverlauf kann auch beschrieben werden
durch eine Bestimmung der Konstanz der Symptome de-
pressiver Subtypen über Zeit. Nierenberg und Mitarbeiter
[41] wie auch Kendler und Mitarbeiter [42] fanden in ihren
Studien, dass bei einer späteren Befragung über 70% der
Patienten die gleichen Symptome aufwiesen oder berichte-
ten wie anfänglich. So scheinen vor allem die neurovegeta-
tiven Symptome über Zeit stabil zu sein.
Tabelle 2
Gruppenweise Unterschiede zwischen Patienten mit atypischer Depression, undifferenzierter Depression, Melancholie und Kontrollen
(nach Stewart et al. [31]).
Atypisch
vs.
Kontrollen
Atypisch
vs.
Undifferenziert
Atypisch
vs.
Melancholie
Undifferenziert
vs.
Kontrollen
Melancholie
vs.
Kontrollen
Undifferenziert
vs.
Melancholie
McGinn et al. [33] ***––NS
Fountoulakis et al. [34] *****NS
Anisman et al. [35] **–NS ––
Bruder et al. [37] ***NS* NS
Stewart et al. [41] –A––––
Joyce et al. [42] –**––NS
Anmerkungen
*Gruppen unterschieden sich signifikant.
NS Gruppen unterschieden sich nicht signifikant.
–eine oder beide Gruppen waren nicht in der Studie eingeschlossen.
APatienten mit atypischer Depression unterschieden sich signifikant von nicht atypisch depressiven Patienten in ihrer Reaktion auf die
Behandlung, die nicht atypische Gruppe war jedoch nicht weiter unterteilt worden in solche mit und ohne Melancholie.
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Pharmakologische Differenzierung
Stewart und Mitarbeiter [43] konnten eine signifikante
Dreifachinteraktion zwischen Behandlung (Imipramin vs.
Plazebo), Subtyp (atypisch vs. nicht atypisch) und Behand-
lungserfolg aufzeigen. Dabei fand sich bei atypisch Depres-
siven keine starke Verbesserung mit dem Medikament im
Vergleich zum Plazebo, während die nicht atypisch depres-
siven Patienten einen stabilen Imipramineffekt aufwiesen.
In der Studie von Joyce und Mitarbeiter [44] wurden
195 depressive Patienten randomisiert einer Behandlung
mit Nortriptylin und Fluoxetin zugeteilt. Dabei waren beide
Medikamentegleich wirksam bei melancholischen und
undifferenzierten depressiven Patienten, während sich bei
den atypisch depressiven eine signifikante Überlegenheit des
Fluoxetins zeigte.
Fazit
Diese Resultate sprechen deutlich dafür, dass Patienten,
welche die DSM-IV-Kriterien einer atypischen Depression
erfüllen, sich von Patienten mit melancholischer und un-
differenzierter Depression unterscheiden, und die atypische
Depression als eigener Subtypus abgrenzbar ist.
Trotzdem gibt die laufende Definition der atypischen
Depression immer wieder Anlass zu Diskussionen und wird
von mehreren Autoren in Frage gestellt [2, 30]. Insbeson-
dere die hierarchische Position des Kriteriums «affektive
Schwingungsfähigkeit» wird immer wieder diskutiert, zu-
mal einerseits in verschiedenen Studien keine Verbindung
mit den anderen diagnostischen Kriterien der atypischen
Depression gefunden werden konnte [12, 35]. Andererseits
zeigte sich, dass die Schwingungsfähigkeit auch bei nicht
atypischen Depressionen häufig vorhanden ist [10]. Es ist
bis jetzt jedoch noch keine Studie bekannt, die ausschliess-
lich eine depressive Patientengruppeohne affektive Schwin-
gungsfähigkeit untersucht hat. Einige Autoren schlagen
zudem vor, weitere Kriterien (z.B. somatische Symptome,
Chronizität) in die Diagnose aufzunehmen [29, 45].
Eine Überarbeitung der momentan geltenden Kriterien
im Hinblick auf das DSM-V scheint demnach angebracht.
Die Autoren dieses Artikels regen an, die Diagnose atypi-
sche Depression um die Kriterien «früher Krankheitsbe-
ginn» (<20 J) sowie «deutliche Chronizität» (nicht länger
als zwei Monate andauerndes Wohlbefinden) zu erweitern,
da diese eine gute Vorhersagbarkeit für den Therapieverlauf
zeigten [31].
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Anhang
Atypische Depression: Diagnostik-Skala (ADDS)
1
I. DSM Depression
Der Patient erfüllt die Kriterien einer Affektiven Störung
gemäss DSM.
II. Reaktionsfähigkeit der Stimmung
Ausmass, in welchem positive umgebungsbedingte Ereig-
nisse verknüpft sind mit einer Verbesserung der Stimmung
(Kriterium erfüllt, wenn maximale Reaktion ≥50%).
a) übliche Reaktion ’ %
b) maximale Reaktion ’ %
III. Assoziierte Eigenschaften
Zwei Kriterien von A bis D müssen erfüllt sein.
A: Schlaf
Exzessives Schlafen (mind. drei Tage in der Woche zehn
Stunden oder mehr).
B: «Bleierne Paralyse»
Das körperliche Empfinden, sich schwer, bleiern oder von
Gewichten heruntergezogen zu fühlen. Kriterium erfüllt bei
einem Rating von 4 bis 6.
1. Adäquate oder übermässige Energie
2. Milde Abnahme von fragwürdiger Signifikanz wenn
depressiv
3. Mässige Abnahme mit möglicher funktionaler Beein-
trächtigung, aber keine oder seltene bleierne Paralyse
wenn depressiv
4. Merkliche Abnahme; bleierne Gefühle mindestens eine
Stunde im Tag für mindestens drei Tage in der Woche
wenn depressiv
5. Ernsthafte Abnahme; bleierne Gefühle die meiste Zeit
an den meisten Tagen wenn depressiv
6. Extreme Abnahme; bleiernes Gefühl den grössten Teil
der Zeit oder immer wenn depressiv
C: Appetit/Gewicht
Kriterium erfüllt bei einem Rating von 4 bis 6 in C1, C2
oder C3.
C1: Appetit
Übermässiger Drang zu Essen (unabhängig von der konsu-
mierten Menge).
1. Kein gesteigerter Appetit
2. Leichte Zunahme von fragwürdiger Signifikanz
3. Minimale Zunahme; Appetit war ein wenig gesteigert
wenn depressiv (z.B. will gelegentlich bingen oder mehr-
mals in der Woche einen Extraimbiss oder eine zweite
Portion)
4. Merkliche Zunahme; will mindestens drei Mal in der
Woche bingen oder hat an den meisten Tagen (5/7) den
starken Drang, sich zu überessen
5. Ernsthafte Zunahme; hat den Drang, an den meisten
Tagen zu bingen oder will sich die meiste Zeit über-
essen
6. Extreme Zunahme; will praktisch den ganzen Tag bingen
C2: Essen
Exzessives Konsumieren von Nahrung.
1. Keine Störung; isst normal oder zu wenig wenn depres-
siv
2. Minimale Zunahme; kann gelegentlich einen Happen
essen wenn depressiv, dies scheint aber nicht klinisch
signifikant zu sein
3. Leichte Zunahme; z.B. isst eine Zwischenmahlzeit oder
andernfalls überisst sich wenn depressiv, dies aber in
einem leichten Ausmass
4. Mässige Zunahme; z.B. bingt zweimal in der Woche oder
isst beinahe täglich Zwischenmahlzeiten, oder nimmt
mehrmals im Tag an drei Tagen der Woche einen Imbiss
zu sich wenn depressiv
5. Ernsthafte Zunahme; z.B. bingt mindestens vier Mal
in der Woche oder nascht praktisch dauernd wenn
depressiv
6. Extreme Zunahme; bingt täglich wenn depressiv
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154
C3: Gewicht
Signifikante Gewichtszunahme.
1. Keine Gewichtszunahme wenn depressiv
2. Minimale Gewichtszunahme von fragwürdiger Signifi-
kanz (0–4 Pfund)
3. Leichte Gewichtszunahme, weniger als 10 Pfund
4. Mässige Gewichtszunahme, 10–15 Pfund
5. Markante Gewichtszunahme, 15–20 Pfund
6. Extreme Gewichtszunahme, mehr als 20 Pfund
D: Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung/Zurückweisung/
Kritik
Kriterium erfüllt bei einem Rating von 46 in D1, D2, D3, D4
oder D5.
D1: Zwischenmenschliche Empfindlichkeit
Emotionale Überreaktion auf Zurückweisung oder Kritik.
1. Keine; geht locker um mit den Kurven des Lebens
2. Minimal; fühlte sich ein wenig verletzt oder ist ein wenig
gekränkt
3. Mild; ist etwas entmutigt oder wütend, kommt aber
rasch wieder auf die Beine
4. Mässig; ist deutlich masslos entmutigt oder wütend
5. Ernsthaft; reagiert deutlich übertrieben über eine län-
gere Zeit
6. Extrem; wird ausserordentlich depressiv oder wütend
für längere Zeit oder sucht übertrieben nach Situationen,
in denen sie/er schlecht behandelt worden ist
D2: Qualität von Beziehungen
Turbulente oder stürmische Beziehungen aufgrund der
Überreaktion auf Zurückweisung oder Kritik.
1. Keine; Beziehungen sind problemlos
2. Minimal; es gibt geringfügige Schwierigkeiten, aber von
zweifelhafter Signifikanz
3. Leicht; es gibt etwas Aufruhr in Beziehungen, diese sind
aber ziemlich stabil
4. Mässig; Eifersucht oder Empfindlichkeit gegenüber
Kritik resultiert in stürmischen Beziehungen, Schwierig-
keiten, den Beruf aufrechtzuerhalten oder einen Haus-
halt zu führen
5. Ernsthaft; häufige Streitereien, Missverständnisse, Aus-
einandersetzungen aufgrund der Empfindlichkeit gegen-
über Zurückweisung/Ablehnung oder Kritik
6. Extrem; zwischenmenschliche Schwierigkeiten wegen
der Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung oder Kritik
sind nahezu konstant
D3: Funktionale Beeinträchtigung
Beeinträchtigung in der Schule oder bei der Arbeit aufgrund
der Überreaktion auf Kritik oder Zurückweisung.
1. Keine Beeinträchtigung
2. Minimale; geringfügige Beeinträchtigung, die aber nicht
klinisch signifikant ist
3. Leichte; einige leichte Beeinträchtigungen, macht nicht
den besten, aber doch gerade noch seinen Job
4. Mässige; z.B. verlässt die Arbeit früher, erfüllt wichtige
Hausarbeiten nicht, betrinkt sich alsdirekte Reaktion auf
Kritik oder Zurückweisung mindestens viermal in zwei
Jahren
5. Ernsthafte; z.B. hat bei der Arbeit mindestens zwölfmal
in zwei Jahren gefehlt wegen Kritik oder Zurückweisung
6. Extreme; Wiederholte funktionale Beeinträchtigung (zu
viele zum Zählen)
D4:Vermeidung von Beziehungen
Fehlen von Beziehungen wegen Angst vor Zurückweisung.
1. Keine; ht Beziehungen oder der Beziehungsmangel ist
eindeutig nicht wegen der Vermeidung von Zurück-
weisung
2. Minimale;ist minimal besorgt bezüglich Zurückweisung,
hat aber Beziehungen
3. Leicht; ziemlich besorgt bezüglich eventueller Zurück-
weisung, zwingt sich aber dazu, ein paar Beziehungen
zu haben
4. Mässig; vermeidet intime Beziehungen wegen Zurück-
weisungsangst, erlaubt aber oberflächliche Beziehungen
5. Ernsthafte; hat nur minimalen, oberflächlichen Kontakt
zu anderen wegen Vermeidung von Zurückweisung
6. Extreme; absoluter Einsiedler aufgrund der Zurückwei-
sungsangst
D5:Vermeidung anderer Zurückweisung
Vermeidung anderer wichtiger Lebensaufgaben, um einer
Zurückweisung zu entgehen.
1. Keine; keine Vermeidung
2. Minimal; minimale Vermeidung wegen Zurückwei-
sungsempfindlichkeit, aber mit minimaler oder keiner
Beeinträchtigung
3. Leicht; gewisse Vermeidung aufgrund der Empfindlich-
keit gegenüber Ablehnung mit leichter Beeinträchtigung
4. Mässig; signifikante Beeinträchtigung wegen der Ver-
meidung von Zurückweisung
5. Ernsthaft; merkliche Beeinträchtigung aufgrund der
Vermeidung einer möglichen Ablehnung
6. Extrem; z.B. ist unfähig, einen Job zu behalten oder die
Schule zu besuchen aus Angst vor einer Zurückweisung;
oder ist unfähig, während zweier Jahre mit jemandem
Kontakte zu knüpfen
Diagnose Atypische Depression
0=Nicht depressiv (I nicht erfüllt)
1=Nicht atypische Depression (II maximale Reaktion
<50%)
2=Einfache Stimmungsreaktionsdepression (II max.
Reakt. ≥50%, keines von III A–D ist erfüllt)
3=Mögliche atypische Depression (II max. Reakt.
≥50%, eines von III A–D ist erfüllt)
4=Definitive atypische Depression (II max. Reakt.
≥50%, zwei oder mehr von III A–D sind erfüllt)
1Deutsche Übersetzung: Daniela Gremaud-Heitz und Gerhard
Dammann (2008)