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Fritz Krafft: Geschichte der (spekulativen) Atomistik bis John Dalton. (Vorlesungen im SS 1991, WS 1991/92 und SS 1992). Marburg, Institut für Geschichte der Pharmazie der Philipps-Universität 1993. IV und 233 Seiten. -- Digitalisat: Weimar / Lahn 2015.

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Unverändertes Digitalisat 2015.
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PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG
Institut für Geschichte der Pharmazie
Fritz Krafft
G E S C H I C H T E
D E R ( S P E K U L A T I V E N ) A T O M I S T I K
B I S J O H N D A L T O N
Vorlesungen
im Sommersemester 1991
Wintersemester 1991/92
und Sommersemester 1992
Marburg 1993
(unverändertes Digitalisat, Weimar / Lahn, 2015)
Institut für Geschichte der Pharmazie der Philipps-Universität Marburg
Roter Graben 10, D-35037 Marburg (Lahn)
I
NHALTSVERZEICHNIS
1. Allgemeine Einleitung .................................................................................................. 1
2. Die Suche nach den stofflichen Prinzipien ................................................................... 11
2.1. Thales von Milet (ca. 624–546) ............................................................................ 12
2.2. Hesiodos (7./6. Jahrhundert) und Anaximandros (ca. 610–546) .......................... 16
3. Anaximenes von Milet (um 580 – um 520) ............................................................... 21
4. Eleatische Ontologie .................................................................................................... 31
5. Empedokles von Akragas (ca. 490/85 – ca. 426) ...................................................... 39
6. Anaxagoras von Klazomenai (um 500–428) ............................................................... 47
7. Die älteren Atomisten Leukippos und Demokritos ..................................................... 53
7.1. Die Begründung der Atomistik ............................................................................. 53
7.2. Die Bewegung der Atome und die Bildung des Kosmos ...................................... 58
8. Platon (427–348/47) ..................................................................................................... 67
8.1. Ideen, Mathematik und Wirklichkeit ................................................................... 68
8.2. Die mathematische Elementenlehre Platons ......................................................... 74
8.3. ‚Mathematische‘ contra ‚empirische‘ Naturwissenschaft .....................................84
9. Aristoteles (384–322) ................................................................................................ 86
9.1. Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie und Wissenschaft ....................... 87
9.2. Die Aristotelische Elementenlehre ....................................................................... 95
10. Epikuros (341–270) ...................................................................................................106
11. ‚Minima Naturalia‘ .......................................................................................................115
12. Die Wegbereiter der neuzeitlichen Atomistik ............................................................ 123
12.1. Die aristotelischen Vorgaben .......................................................................... 123
12.2. Daniel Sennert (1572–1637): ‚mixtio‘ der ‚minima naturalia‘ ............................124
12.3. Weitere Wegbereiter der Atomistik ................................................................. 128
13. Die Leere und der ‚Horror Vacui‘ ................................................................................132
13.1. Aristoteles’ Vorstellungen von Raum und Leere in der Kritik ......................... 132
13.2. Das Lehrstück vom ‚horror vacui‘ ....................................................................136
14. Pierre Gassendi (1592–1655) und die Erneuerung der Epikureischen Atomistik ...... 144
15. Daniel Sennerts Synthese ..........................................................................................149
16. Die Korpuskulartheorie René Descartes’ (1596–1650) ...............................................157
17. Robert Boyle (1627–1691) ..........................................................................................162
18. Dynamischer Atomismus .......................................................................................... 170
18.1. Von Isaac Newton erbrachte Voraussetzungen ................................................ 170
18.2. Immanuel Kants dynamische ‚Atome‘ ................................................................173
18.3. Roger Joseph Boscowichs dynamischer Atomismus ........................................ 177
19. John Dalton (1766–1844) .......................................................................................... 180
20. Das nachdaltonsche Atom .......................................................................................... 194
21. Literatur zur Geschichte der Atomistik .......................................................................212
1
1. Allgemeine Einleitung
Einem Naturwissenschaftler ist heute meist nicht bewußt, daß die von ihm vertretenen
Disziplinen, daß die Naturwissenschaften auch eine Geschichte haben. Die Vergangenheit,
das Herkommen heutiger Theorien und Ideen, wird über den Blick nach vorn meist ignoriert
oder verdrängt. Aber auch die Naturwissenschaften leben in und von ihrer Tradition – wie es
in den Geistes- und Sozialwissenschaften selbstverständlich gesehen und entsprechend je-
weils auch in die Lehre mit einbezogen wird.
Die Loslösung von der eigenen Geschichte erfolgte innerhalb der Naturwissenschaften im
Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Verselbständigung und Eman-
zipierung der naturwissenschaftlichen Disziplinen von der übergreifenden und sie ursprüng-
lich einschließenden Philosophie. Die Vorstellung von einer vermeintlichen Geschichtslosig-
keit der Naturwissenschaften gegenüber den im Selbstverständnis jeweils geschichtlich ori-
entierten und als geschichtlich aufgefaßten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften hat die
gegenwärtige tiefe geistige Trennung dieser beiden Bereiche sicherlich zumindest mitbewirkt.
Man umschreibt sie heute schlagwortartig mit dem Begriff der ‚two cultures‘, der ‚zwei Kul-
turen‘ (zu denen sich inzwischen eine dritte gesellt haben soll). Geprägt wurde dieser Begriff
1956 von dem englischen Physiker, Philosophen, Soziologen und Literaten Sir Charles Percy
Snow (geb. 1905). Gemeint ist damit die in der modernen Welt fast unvermeidliche Gegen-
überstellung zweier soziologischer Gruppen, der Vertreter der Naturwissenschaften und der
Technik auf der einen Seite und der Vertreter der Geistes- und Kulturwissenschaften sowie
der Literatur und Kunst auf der anderen Seite. Im englischen Denken wird dieser Graben noch
deutlicher, weil der englische Begriff ‚science‘ nur die exakten Erfahrungswissenschaften
umfaßt, während der deutsche Begriff ‚Wissenschaft‘ darüber hinaus auch die Geistes- und
Kulturwissenschaften einschließt.
Der Begriff ‚Naturwissenschaft‘ seinerseits wurde im 18. Jahrhundert geprägt als Über-
setzung des lateinischen Begriffs ‚physica‘ (eigentlich ‚scientia physica‘), der daneben über
das Französische auch zu ‚Physi(c)k‘ eingedeutscht worden war, wofür als anderes deutsches
Wort dann noch ‚Naturlehre‘ (zur Unterscheidung von der methodisch anders vorgehenden
‚Naturgeschichte‘ oder ‚Naturkunde‘) geprägt wurde. Alle drei deutschen Begriffe wurden im
18. (und auch noch im 19.) Jahrhundert parallel und synonym verwendet neben anderen,
älteren Ausdrücken wie ‚scientia naturalis‘ und ‚philosophia naturalis‘ (welch letzterer im
deutschsprachigen Kulturraum erst im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert auf den
Teilaspekt eingeschränkt wurde, den man seitdem ‚Naturphilosophie‘ nennt; während im
Englischen ‚Natural Philosophy‘ bis in die Gegenwart durchaus noch die ‚philosophischen‘
Aspekte der Physik benennt, die Theoretische Physik). Alle diese Bezeichnungen gehen
jedoch zurück auf den griechischen Begriff φυσική (eigentlich φυσικ¬ ¦πιστήµη).
Schon dieser Überblick über die begriffliche Differenzierung zeigt, daß die Naturwissenschaft
und die sich aus ihr seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts loslösenden und dadurch neu
entstehenden Naturwissenschaften eine lange Geschichte haben müssen. Es ist allerdings
nicht das heutige Lehrbuchwissen, das wir in dieser Geschichte vorfinden können. Das ist
2
auch schon deshalb unwahrscheinlich, weil ‚Naturwissenschaft‘ (als φυσικ¬ ¦πιστήµη und
physica) die älteste Wissenschaft überhaupt ist. Das, was als in sich abgeschlossenes und
gesichertes Teilwissen von der Gesamtwahrheit galt und deshalb gelehrt werden konnte, ist
denn auch jeweils etwas anderes gewesen, das auch jeweils durch andere Sehweisen und
Denkmethoden erkannt worden war, als sie heute angewendet werden.
Jede Zeit ist davon überzeugt, daß die eigenen Seh- und Denkweisen und die durch sie ge-
wonnenen Erkenntnisse jeweils die richtigen und die wahren sind. Ein Blick in die Geschichte
lehrt jedoch, daß trotz dieser Überzeugung das jeweilige Lehrbuchdogma stets wieder
umgestoßen, zumindest modifiziert worden ist, so daß Gleiches auch für die heutigen Natur-
wissenschaften eintreten wird. Wer schon längere Zeit in einem wissenschaftlichen oder
akademischen Beruf steht, hat sicherlich schon die Erfahrung gemacht, daß in immer ra-
scherer Folge in dem einen oder anderen Fall mehr oder weniger umfassend umgelernt
werden mußte. Die Gegenwart ist ja nicht das Ziel der Geschichte, sie ist jeweils nur ein
Durchgangsstadium; und wir können nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Wollen
wir also die Gegenwart in ihrem Selbstverständnis verstehen lernen, so müssen wir, da dies
nur durch einen Vergleich mit einer anderen historischen Situation möglich ist, die Vergan-
genheit zum Verstehen der Gegenwart heranziehen zumal auch die gegenwärtigen Natur-
wissenschaften aus einem Konglomerat von jeweils historisch gewordenen Ideen und Theo-
rien bestehen, die als solche jeweils zu den unterschiedlichsten Zeiten entstanden sind und
seit verschiedenen Zeitpunkten in das Theorien- und Ideengebäude eingegangen sind.
Historische Daten als Anmerkungen zu durch Namen bezeichneten Gesetzen, Konstanten,
Modellen, Methoden und Theorien können natürlich noch nicht die ‚Geschichte‘ ausmachen
wenn dies auch in vielen naturwissenschaftlichen Lehrbüchern als die historische Kom-
ponente dargestellt wird. Die Aufgabe der Naturwissenschaftsgeschichte ist vielmehr um im
Thema dieser Vorlesung zu bleiben – gleichsam die Atomisierung des gegenwärtigen Theo-
rien- und Ideenkomplexes und die historische Herleitung der einzelnen Bestandteile dieses
Komplexes, also eine Entwickelung der gegenwärtigen Verwicklung dieser einzelnen Kom-
ponenten. Auf diesem Wege erhält man dann auch Einblicke in den Spezialisierungsprozeß
innerhalb der Naturwissenschaft sowie innerhalb der einzelnen naturwissenschaftlichen Dis-
ziplinen. Diese sind nämlich alle entstanden aus einer einheitlichen Wissenschaft, von der die
Wissenschaft von der Natur nur einen einzelnen Aspekt darstellte, der sich für die Frühzeit
auch nur aus der Rückschau und künstlich abtrennen läßt. Die Naturwissenschaft der Frühzeit
ist deshalb auch nur vom Gesamtbereich Wissenschaft her zu verstehen, während andererseits
für die gegenwärtigen Wissenschaften oder doch für die gegenwärtigen naturwissenschaftli-
chen Disziplinen wenigstens die gemeinsame Herkunft das sie zusammenhaltende Band sein
kann. Die dorther rührenden ideellen und methodischen Gemeinsamkeiten gewähren denn
heute auch den einzigen Zusammenhalt, nachdem seit den 1970er Jahren mit den Naturwis-
senschaftlichen Fakultäten das letzte institutionelle Band verloren gegangen ist.
Die Anfänge naturwissenschaftlichen Denkens liegen etwa 2600 Jahre zurück. Das ist für
menschliches Vorstellungsvermögen zwar eine ungeheure Zeitspanne; aber manche der heute
noch gültigen und verwendeten Vorstellungen und Ideen stammen aus dieser Anfangszeit –
so auch der Begriff ‚Atom‘ und die damit verbundenen Grundvorstellungen. Man muß also
3
für die Geschichte der Atomistik so weit in die Vergangenheit zurückgehen. Aber was ist das
überhaupt, was vor diesen etwa 2600 Jahren entstand? Was ist ‚Naturwissenschaft‘ oder
‚Wissenschaft von der Natur‘ und damit Wissenschaft generell? Da die Antwort auf diese
Frage nicht so einfach ist und bisher auch die unterschiedlichsten Antworten erfolgten, wenn
man sich überhaupt an sie heranwagte, begnüge ich mich erst einmal damit, zu sagen, was
Naturwissenschaft und Wissenschaft nicht sind: Sie sind ebensowenig wie die Technik und
technische Artefakte etwas dem erkennenden Menschen schicksalhaft Vorgegebenes mit
anderen Worten: das erfahrende und erkennende Subjekt Mensch findet Wissenschaft und die
Wissenschaft von der Natur nicht bereits als Teil der objektiven ‚Natur‘ vor. Er kann also die
Naturwissenschaft nicht wie die ‚Natur‘ Stück für Stück ‚entdecken‘ und sich daraufhin
auch der Verantwortung für das entziehen, was er ja nur ‚entdeckt‘. Er findet sie vor allem
nicht in dem Sinne vor, daß sie etwas außerhalb menschlicher, das heißt: außerhalb soziokul-
tureller Traditionen Stehendes wäre.
Wissenschaft wird stets erst durch des Menschen denkerisches und sprachliches Handeln
geschaffen, und zwar selbst dann, wenn wie im Falle der Naturwissenschaften mit der Natur
oder bestimmten Aspekten der Natur etwas Außersubjektives den Bezugsrahmen bildet. Auch
die Naturwissenschaften sind wie andere Wissenschaften ein Produkt des menschlichen Intel-
lekts und somit ein genuin geschichtliches Geschehen, das folglich weder in seinem Fortgang
determiniert ist, noch irgendeiner Form von Naturgesetzlichkeit unterliegt. Der Zustand und
die Form dieses intellektuellen und kommunikativen Handlungsprozesses W issenschaft von
der Natur‘ ist vielmehr weitestgehend jeweils von den Absichten und Zielen des handelnden
Subjektes Wissenschaftler bzw. der intersubjektiv handelnden ‚scientific community‘ her
bestimmt gewesen, und es wird es auch in Zukunft sein – wobei die subjektiv oder im Rah-
men einer ‚scientific community‘ intersubjektiv gesetzten Ziele der Wissenschaft von der
Natur und ihrer Teildisziplinen nicht stets dieselben gewesen sind, sondern vielfältigen
Wandlungen unterworfen waren.
Worauf die wissenschaftliche Erkenntnis aus ist und was deshalb als das allein von ihr Erkenn-
bare gilt, das ist nämlich im Laufe der Geschichte und auch r die verschiedenen naturwissen-
schaftlichen Disziplinen jeweils etwas anderes gewesen. Die Orientierung einer Wissenschaft
kann dabei einerseits auf reine Erkenntnis um ihrer selbst willen ausgerichtet sein – wobei das
Erkenntnisobjekt, also der Bezugsrahmenn für die Wissenschaft, auch dann etwas Unter-
schiedliches sein kann, selbst wenn dieser Bezugsrahmen stets die ‚Natur‘ (allerdings unter je-
weils anderen Aspekten) bleibt nämlich etwa das ‚Sein‘, die ‚Ideen‘ oder das Wesen der na-
türlichen Dinge, Gott als Inbegriff der ‚Natur‘ oder Gottes Schöpfungsplan in den natürlichen
Dingen, die Zweckmäßigkeit der einzelnen Prozesse oder der gesamten auf einander bezogenen
‚Natur‘, die ble Kinematik oder die Funktion von Bewegungsprozessen oder deren kausal-
deterministische Begründung und Erzeugung, menschliche oder tierische Verhaltensweisen
usw. Und neben solchen rein auf ‚Erkenntnis‘ ohne Nutzanwendung ausgerichteten intellektuel-
len Orientierungen gab und gibt es für die Naturwissenschaften auch utilitaristische Zielset-
zungen, aufgrund deren ihre Ergebnisse nicht schon selbst als Zielund Zweck der Wissen-
schaft angesehen werden, sondern als bloßes Mittel zur Erreichung anderer Zwecke dienen sol-
len etwa solcher theologischer, ideologischer, pädagogischer, gesundheitlicher, sozialer, tech-
nischer, milirischer, wirtschaftlicher oder ökologischer Art.
4
Solche unterschiedlichen Zielsetzungen bedingen natürlich auch jeweils unterschiedliche
Methoden, die einerseits durch den Bezugsrahmen, andererseits durch die Absichten und
Ziele, die mit ihnen verfolgt werden, bestimmt sind. Auch das die Methoden bedingende Ziel
ist nur zu einem Teil objektbedingt; in viel stärkerem Maße wird es von dem jeweiligen
‚Historischen Erfahrungsraum‘ des zielsetzenden Menschen bzw. der zielsetzenden ‚scientific
community‘ geprägt. Die Zielsetzungen für die Wissenschaft werden nämlich in den selten-
sten Fällen aus rein innerwissenschaftlichen Erwägungen heraus getroffen; meist geben
vielmehr außerwissenschaftliche Komponenten den Ausschlag dafür so etwa Philosophie
und Religion, Ideologien und Weltanschauungen, technische und wirtschaftliche Bedürfnisse,
pädagogische Ideen und Moralvorstellungen, soziale Systeme und anderes sowie an ihnen
orientierte humane oder politische Entscheidungen. Dabei können durchaus mehrere Faktoren
gleichzeitig für eine Zielsetzung verantwortlich sein, und wird die Gewichtung dieser ein-
zelnen Faktoren von dem handelnden Subjekt bzw. der handelnden ‚scientific communityin
engem, kommunikativem Kontakt mit der Gesellschaft oder ihren Repräsentanten vorge-
nommen (jedenfalls wurde sie es wie selbstverständlich in früheren Zeiten).
Das Zusammenwirken all solcher außer- und innerwissenschaftlicher Faktoren wird ‚Histori-
scher Erfahrungsraum‘ genannt, weil aus ihm heraus die jeweilige Erfahrungsweise nicht nur er-
möglicht, sondern auch bestimmt wird. Die einzelnen Komponenten, die einen solchen ‚His-
torischen Erfahrungsraum‘ bilden, nenne ich ‚Präsentabilien‘, weil diese den ‚Historischen
Erfahrungsraumeiner Zeit oder einer Wissenschaft konstituierenden Faktoren nicht alle jedem
einzelnen oder auch nur einem einzelnen Insassen dieses ‚Erfahrungsraumes‘ zugleich gegen-
rtig, ‚psent‘, sind, es aber prinzipiell sein könnten. (Sie sind sozusagen ‚präsentabel‘.) Die-
se ‚Präsentabilienumfassen nun einerseits die die einzelnen Denk-, Seh- und Erfahrungsweisen
ermöglichenden und prägenden Komponenten philosophischer, religiöser und ideologischer,
technischer, wirtschaftlicher und sozialer, erkenntnistheoretischer und methodologischer usw.
Art, andererseits aber auch die übernommenen und die neu geschaffenen Erfahrungen und
Erkenntnisse einschlilich der daraus geformten Wissenschaft selbst. Die aus einem bestimm-
ten ‚Historischen Erfahrungsraum‘ heraus erbrachten Erkenntnisse, auch wissenschaftlichen
Erkenntnisse, gehen also als Komponenten wieder in den ‚Historischen Erfahrungsraum‘ ein
und vendern ihn daraufhin, womit aber gleichzeitig natürlich auch die möglichen Erfahrungs-
weisen einer Änderung unterworfen sind. Mit der wechselseitig bedingten Änderung und
Wandlung der ‚Psentatabilien‘ und des ‚Erfahrungsraumes‘ sind aber auch Änderungen und
Wandlungen der aus ihm heraus gesetzten Aufgaben und Ziele einer Wissenschaft verbunden,
so daß mit dem ‚Historischen Erfahrungsraumauch die Wissenschaften selbst einer ständigen
Wandlung unterworfen sind, die mehr oder weniger sprunghaft erfolgt.
Geschieht diese Wandlung in kleinen Schritten, so spricht man von einer ‚Entwicklung‘ der
Wissenschaft (oder vielmehr besser: von einem steten Fortgang; denn es handelt sich ja
gerade nicht um einen von innen gesteuerten Entwicklungsvorgang wie im organischen
Bereich), erfolgt sie in großen Schritten etwa durch die sprunghafte Veränderung einer
wesentlichen Komponente des ‚Erfahrungsraumes‘ –, so spricht man von einer Wissen-
schaftlichen Revolution (scientific revolution) beziehungsweise Wende oder im Deutschen
besser: von einer Revolution oder Wende der Wissenschaft.
5
Nun ist grundtzlich jedem einzelnen Insassen eines solchen Historischen Erfahrungsraumes‘
durch Tradition, Begabung und Unterweisung auch ein anderer Ausschnitt aus der einer Kultur
zu einer bestimmten Zeit jeweils verfügbaren, also grundsätzlich gegenrtigen Menge solcher
‚Präsentabilien‘ auch mehr oder weniger tatchlich ‚präsent‘. Letztlich besitzt sogar jeder ein-
zelne auch seinen ganz persönlichen ‚Erfahrungsraum‘; und eine kulturelle, religse, politische,
soziale, aber eben auch eine wissenschaftliche oder disziplinäre Gemeinschaft, eine ‚scientific
community‘, entsteht und besteht immer dann, wenn der Durchschnitt der Mengen der ‚Präsenta-
bilien‘ aller persönlichen ‚Erfahrungsräumezumindest jeweils die für diese Gemeinschaft kon-
stitutiven ‚Präsentabilienumfaßt. (Man denke etwa an bestimmte Glaubenssätze, deren Aner-
kennung Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu bestimmten Religions- oder Konfessions-
gemeinschaften ist, und ähnliches gilt auch für die Zugehörigkeit zu bestimmten wissenschaftli-
chen oder diszipliren Gemeinschaften.) Ist man nicht durch Tradition und entsprechende
Unterweisung in eine solche Gemeinschaft hineingewachsen, so kann man sich daraufhin aber
auch durch Aneignung und Erlernen der entsprechenden ‚Präsentabilien‘ einer durch sie kon-
stituierten Gemeinschaft einfügen. Dabei bringen dann Autodidakten sogar häufig zusätzliche
innovative ‚Präsentabilien‘ ein, weil sie nicht frühzeitig auf das unbedingt erforderliche Maß
und Muß eingeübt und damit eingeengt worden sind.
Innovationen, Entdeckungen und Erfahrungen im Bereich von Naturwissenschaft und Tech-
nik, sind nämlich jeweils die Folge einer Erweiterung des Präsenzbereiches einer diszipli-
nären oder wissenschaftlichen Gemeinschaft. Eine solche Erweiterung kann auf die verschie-
densten Weisen erfolgen: entweder dadurch, daß die Sehweise, die durch die ‚Präsentabilien‘
einer wissenschaftlichen Disziplin bestimmt ist, auf andere Objektbereiche übertragen wird
(so entstanden etwa Zwischendisziplinen wie die Astrophysik durch die Übertragung physika-
lischer Sehweisen auf astronomische Objekte oder die Biochemie durch die Übertragung
chemischer Denkweisen auf Organismen) oder dadurch, daß eine im disziplinären Präsenz-
bereich bis dahin nicht anzutreffende neue oder traditionelle Sehweise eingebracht wird (auf
diese Weise entstanden etwa in der Renaissance durch die Wiedereinführung antiker Denk-
und Sehweisen die neuzeitlichen Naturwissenschaften oder bei Paracelsus durch die Ein-
führung chemischer Sehweisen in die Arzneiwissenschaft die Ansätze chemotherapeutischer
Methoden) oder die Erweiterung des Präsenzbereiches erfolgt dadurch, daß neues und den
bisherigen Erklärungsumfang übersteigendes Datenmaterial empirisch oder durch Gedanken-
experimente gewonnen wird (was am häufigsten der Fall ist).
Die Aufgabe des Wissenschaftshistorikers besteht deshalb darin, diejenigen ‚Präsentabilien‘
als Komponenten des alten und des neuen ‚Historischen Erfahrungsraumes‘ herauszuprä-
parieren, die eine solche Änderung bewirkten. Dabei hat er gegenüber allen anderen Histo-
rikern für seine Forschungsarbeiten den beträchtlichen Vorteil, daß er vom Wissensstand
seiner Zeit her weiß, was man in der Vergangenheit hätte sehen und erfassen nnen, wenn
man nach denselben Seh- und Erfahrungsweisen verfahren wäre und dasselbe Datenmaterial
besessen hätte wie gegenwärtig; denn daraufhin kann er nach den Bedingungen und Ursachen
für das andersartige Sehen und die andersartige Erkenntnis suchen, und er kann prüfen, ob die
gefundenen Komponenten ausreichen, die Andersartigkeit des anderen zu erklären. Voraus-
setzung hierfür ist nun wiederum, daß das Objekt, das die Naturwissenschaften seit ihrer
Begründung durch die alten Griechen zu erfassen und zu ergründen suchen, daß die ‚Natur‘
6
und die in der Natur nach bestimmten, unveränderlichen Gesetzen ablaufenden Prozesse stets
dieselben gewesen sind.
Der erfahrene und beobachtete Objektbereich einer Naturwissenschaft blieb und bleibt auch
tatsächlich derselbe, doch erscheint er natürlich nicht stets als der gleiche; denn der Blick-
und Standpunkt des Beobachtenden und Erfahrenden ist aufgrund des Wandels des ‚Histori-
schen Erfahrungsraumes‘ ebenfalls ständiger Änderung unterworfen, und seine Zielsetzung
ist daraufhin jeweils eine andere. Jede Erkenntnis und somit auch jede wissenschaftliche Er-
kenntnis beruht ja auf Abstraktion, sie isoliert aus einem komplexen Gebilde oder Geschehen
einen ganz bestimmten Aspekt und verselbständigt ihn gleichsam – oder auch anders ausge-
drückt: Jede wissenschaftliche Erkenntnis beruht auf der Vernachlässigung von Aspekten und
Erscheinungsformen an dem Objekt, die als für die jeweilige Erkenntnisweise unwesentlich,
weil außerhalb der Zielsetzung liegend, und deshalb als nicht erkennbar gelten. Insofern ist
auch das Phänomen, also das, was einem Beobachter an und von einem Objekt erscheint und
ihm in den Blick kommt, vom Beobachter und seiner Art zu beobachten selbst abhängig. Es
erscheint ihm nur so, wie er es sehen will und sehen kann; und das gilt auch für die vermeint-
lich so objektiven Naturwissenschaften. Uns heute fremde Blick- und Standpunkte, die sich
zudem auf den Objektbereich ‚Natur‘ unter einem anderen oder umfassenderen Aspekt bezie-
hen, sind auch noch nicht deshalb unwissenschaftlich, weil sie heute nicht mehr eingenom-
men werden; denn dann wären auch die gegenwärtigen Standpunkte und Sehweisen unwis-
senschaftlich, weil sie irgendwann einmal nicht mehr eingenommen werden (können).
Bei der Definition dessen, was als Wissenschaft und speziell als Naturwissenschaft auf-
zufassen ist, müßte also dieser überzeitliche Aspekt Berücksichtigung finden – und so defi-
niere ich ‚Naturwissenschaft‘ bzw. auf die ‚Natur‘ bezogene Wissenschaft (was ‚Natur‘ auch
immer sei) als
System von aufeinander bezogenen, jeweils mehr oder weniger allgemeingültigen Aus-
sagen, durch die konkrete Einzelfälle des natürlichen Geschehens auf allgemeine, nicht-
außernatürliche Prinzipien, die sich bewährt haben, zurückgeführt und aus ihnen ab-
gleitet werden.
Voraussetzung dafür ist selbstverständlich eine mehr oder weniger formalisierte Logik; denn
Kriterium für die Wissenschaftlichkeit ist dann allein die Widerspruchsfreiheit innerhalb des
jeweiligen Systems von Sätzen einerseits sowie andererseits gegenüber dem Bezugsrahmen,
den die jeweilige Zielsetzung für den Objektbereich bestimmt. Logisch abgeleitete Aussagen
müssen daraufhin innerhalb des Bezugsbereiches ebenfalls völlige Bestätigung finden. Daß
der Bezugsrahmen auch für die Wissenschaft von der Natur zu anderen Zeiten ein breiterer
und dem heutigen Wissenschaftsverständnis nicht mehr entsprechender gewesen ist, macht
ein darauf widerspruchsfrei bezogenes ‚System von Aussagen‘ jedenfalls noch nicht unwis-
senschaftlich, ja es macht dieses nicht einmal weniger nützlich wenn natürlich auch für
anderes nützlich – nämlich entsprechend der jeweils dafür gewählten Zielsetzung.
Absichtlich besagt die vorgestellte Definition von ‚Naturwissenschaft‘ auch nicht, daß diese
die einzige oder auch nur die einzig richtige Art sei, sich in der außersubjektiven Welt, die
wir seit den Griechen ‚Natur‘ nennen, zurechtzufinden und zu orientieren, sie zu erfassen und
zu bewältigen. Aber eine Naturwissenschaft gibt es nur in Kulturen, die diese zusammen mit
7
dem Begriff ‚Natur‘ direkt oder indirekt von den Griechen übernommen haben, und nur diese
vermittelt ein logisch nachvollziehbares und reproduzierbares Wissen, nämlich ¦πιστήµη /
scientia / Wissenschaft.
Im Grunde unterscheiden sich die modernen Naturwissenschaften von denen der Antike auch
nur in den allgemeinen nicht-außernatürlichen Prinzipien, auf die alles Geschehen reduziert
wird. Grundvoraussetzung für jegliches wissenschaftliche Erfassen der außersubjektiven Welt
ist jedenfalls die als Axiom gesetzte, nicht beweisbare Annahme, daß etwas an und in der
‚Natur‘ Erkanntes nicht nur für den konkreten Einzelfall gilt, an dem es erkannt wurde,
sondern für alle gleichartigen Fälle zu allen Zeiten und überall auf der Welt. Durch Verall-
gemeinerung und Abstraktion wird dabei immer weitergehende Vergleichbarkeit erreicht, das
heißt: das Erkannte gilt für mehr oder weniger unterschiedliche, aber jeweils unter diesem
bestimmten Aspekt zusammenfaßbare Einzeldinge oder Einzelvorgänge. Erkennbar durch
Abstraktion ist aber nur das gleichbleibend Wiederkehrende; dieses ist also etwas, das dem
konkreten Einzelfall zeitlich vor- oder logisch übergeordnet ist, das ‚vorher‘ oder ‚zuerst‘ da
war. Die Griechen nannten es den ‚Anfang‘ (ρχή) bzw. das ‚Schuldige‘ (αÆτία, αÇτιον), die
Römer übersetzten diese Begriffe mit principiumund causa‘, welche Wörter mit ihren Be-
griffsinhalten meist als Fremdwörter in die modernen Sprachen eingegangen sind, im Deut-
schen etwa als ‚Prinzip‘ beziehungsweise ‚kausal‘/‚Kausalität‘.
Der entscheidende Ansatzpunkt dabei ist dann die Annahme, die sich bereits bei den frühe-
sten griechischen Denkern, etwa bei Thales von Milet, findet, wonach das zeitlich stets und
immer Vorhergehende als das notwendig Vorangehende gilt, der ‚Anfang‘ als der ‚Ursprung‘
und die ‚Ursache‘: Ein Samenkorn ergibt eine bestimmte Pflanze, ist also für diese der ganz
konkrete unmittelbare Anfang, ihre unmittelbare ‚Ursache‘. Die vergleichende Abstraktion
zeigt dann, daß gleiche Samenkörner gleiche Pflanzen ergeben, was jeweils für alle Arten von
Samen zutrifft, so daß man auch allgemein sagen kann: Jedes (einzelne) Samenkorn ergibt
eine (bestimmte) Pflanze, beziehungsweise generell: Samen ergeben Pflanzen. Eine solche
Abstrahierungskette, die zum konkret nicht existierenden allgemeinen (nämlich abstrakten)
‚Samen‘ führt (und entsprechend bei Menschen und Tier zu Vater‘ und ‚Mutter‘), betrifft
allerdings jeweils noch den direkten, unmittelbaren ‚Anfang‘, die unmittelbare ‚Ursache‘, die
natürlich auch ihrerseits wieder einen zeitlichen Anfang und eine Ursache (oder vielmehr
Ursachen) hat. Man denke etwa an die Eltern der Eltern und deren Eltern usw., also an eine
Ahnenreihe; und an einer solchen Ahnenreihe von Göttern ist die Fragenkette nach dem
jeweiligen ‚Anfang‘ auch tatsächlich von dem frühgriechischen Denker und Dichter Hesiodos
erstmals für die ‚Natur‘ durchgeführt worden, indem er die Götter seiner Göttergenealogie als
Repräsentanten und Hypostasen von Naturgewalten auffaßte.
Fragt man nämlich nach den Ursachen der Ursachen und wiederum nach deren Ursachen, so
gelangt man letztlich zu den ersten Ursachen - und zwar sowohl in zeitlichem Sinne (als Ur-
anfang) als auch in logisch-kausalem Sinne. Die allgemeinste und erste Ursache ist so zeitlich
entweder mit dem Weltbeginn gleichzusetzen, mit dem Schöpfungsakt und dem Schöpfer, oder
sie ist permanent gegenrtige erste ‚Ursache‘. Je näher man dieser ersten Ursache kommt,
desto genereller gelten die Ursachen, für desto mehr Dinge und Ereignisse sind sie ‚Ursache
und ‚Prinzip‘und desto weniger Ursachen treten auch noch auf derselben Stufe auf.
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Dieses Aufsteigen zu immer ‚früheren‘ und ‚allgemeineren‘ Ursachen bis hin zu den allge-
meinsten ersten ‚Prinzipien‘ erfordert ein sehr hohes Man Abstraktion, da die Ursachen
eines konkreten Einzelereignisses jeweils schon Ursache für mehrere Ereignisse sein können,
und zwar entweder wieder als konkretes Einzelding (Vater und Mutter etwa können mehrere
Kinder haben, auch jeweils mit einem anderen Partner) oder als allgemeines, abstraktes
‚Ding‘ wie der Same als solcher, das Prinzip des Samens, in dem die durch sukzessive Ab-
straktionsschritte erhaltene Sameneigenschaft aller Samen aller Pflanzen zusammengefaßt ist.
Die alten Griechen besaßen jedenfalls soweit die Quellen und Zeugnisse einen solchen Schluß
zulassen erstmals in der Geschichte der Menschheit in ausreichendem, bereits außergewöhn-
lich hohem Maße das Vermögen zu derartigen Abstraktionen. Sie haben genau diese Schritte
vollzogen; und sie haben sich als sprachliches Hilfsmittel r solche Abstraktionen den generel-
len bestimmten Artikel geschaffen, mit dessen Hilfe beispielsweise durch Abstraktion erfte
gleiche Eigenschaften verschiedener Dinge zu einem (abstrakten) Einzelding zusammengefaßt
werden können, das als solches konkret nicht existiert, von dem aber daraufhin wie von einem
konkreten Einzelding Aussagen getroffen werden können: etwa das Kalte, das Warme, die lte
und die Wärme, die Luft, das Feuer, das Wachsen, das Gechs, das Sich-Bewegen, das Lebe-
wesen, das Leben, die Natur. Dieser generelle bestimmte Artikel wurde aus dem speziellen be-
stimmten Artikel entwickelt, den die Griechen ebenfalls erstmals (nämlich aus dem Demon-
strationspronomen) sich geschaffen hatten und der schon in ihren frühesten literarischen Zeug-
nissen bei Homeros und Hesiodos auftaucht: φυτόν bedeutet ursprünglich ‚eine (nämlich eine
bestimmte) Pflanze‘, und τ φυτά im Plural ‚diese (nämlich diese bestimmten) Pflanzen‘. τÎ
φυτόν, das heißt ‚die Pflanze (an sich / als solche)‘, ‚das Gewächs (als solches)‘ vermögen dage-
gen auch die Griechen erst in der zweiten lfte des nften vorchristlichen Jahrhunderts zu
sagen (wobei die Frage ungeklärt bleibt, ob sie dies auch erst dann zu denken vermochten). Erst
jetzt gibt es zumindest den generellen bestimmten Artikel, und erst jetzt kann bei Leukippos und
Demokritos die r das materielle Sein von ihnen als notwendig angenommene Eigenschaft
einer unteren Teilbarkeitsgrenze begrifflich zu einem Ding zusammengefaßt werden, über das
sich auch Aussagen machen lassen, nämlich zu dem Atomund ‚den Atomen‘ die deshalb auch
keine weiteren Eigenschaften besitzen.
Der Begriff ist ein Eigenschaftswort, gebildet durch ein α-privativum im ersten Teil und
einem Wort im zweiten Teil, das bedeutungsgemäß mit dem Verb τέµνειν (‚schneiden‘) zu-
sammenhängt. τοµος bedeutet also ‚nicht weiter zerschneidbar‘, ‚nicht weiter teilbar‘ (nicht
dagegen: ‚nicht aus Teilen bestehend‘), τ τοµα (im Neutrum) also ‚das nicht weiter Teil-
bare‘. Wie es zu dieser Vorstellung von der Materie gekommen ist, wird in den späteren
Vorlesungen dargelegt.
Auch der Begriff τÎ ζèον, ‚das Lebewesen‘, läßt sich erst für diese Zeit der zweiten Hälfte
des fünften Jahrhunderts belegen. War für die deshalb so genannten ‚Hylozoisten‘ aus Milet
noch alles Leben (Hylozoismus nennt man die Annahme, daß die ‚Materie‘ (àλη) von sich aus
‚lebendig‘ ist), so ermöglicht die mit dem Begriff ζèον einhergehende Differenzierung und
Abtrennung des ‚Lebendigen‘ vom ‚Nicht-Lebendigen‘ eine spezielle Betrachtung und Unter-
suchung von derartigen ‚Lebewesen‘ und als Wissenschaft eine Zoologie, wie sie dann im
vierten Jahrhundert vor Christus bei Aristoteles ausgebildet wurde.
9
Welche Schwierigkeiten für die Verdinglichung von Abstraktionen in Sprachen bestehen, die
diesen bestimmten Artikel, besonders in seiner generellen Form, nicht besitzen, kann man
von den modernen europäischen Sprachen her gar nicht ermessen; denn hier wurde nach ge-
wissen Ansätzen im spätmittelalterlichen Latein des 14. und 15. Jahrhunderts Entsprechendes
nachgebildet und zwar ebenfalls aus dem Demonstrationspronomen (ille wurde zu il/le,
was die romanischen Sprachen übernahmen; dieser/diese/ dieses zu der/die/das). Das klas-
sische Latein besaß dagegen dieses sprachliche Ausdrucksmittel noch nicht, wenn auch die
gebildeten griechisch-sprachigen Römer das mit dessen Hilfe Gedachte nachvollziehend in
ihre Muttersprache übernehmen konnten. Cicero etwa mußte dann aber den generellen be-
stimmten Artikel ziemlich umsndlich umschreiben, um seinen nicht des Griechischen mäch-
tigen Landsleuten eine Vorstellung vom Inhalt eines Ausdrucks wie des griechischen τÎ
hερµόν gedanklich vermitteln zu können: id quod re vera calidum est . (Das Fehlen dieses
Artikels ist dann sicherlich einer der Gründe dafür gewesen, daß die Römer griechische Ma-
thematik und Naturwissenschaft zwar rezeptiv übernehmen, nicht aber innovativ weiterführen
konnten.)
Der genannte Artikel vermag nämlich sprachlich eine Eigenschaft (in Form eines Adjektivs)
oder eine Tätigkeit (in Form eines Verbs) zu einem Substantiv und ‚Ding‘ zu machen; und
solche Substantivierungen schaffen in der philosophisch-wissenschaftlichen Sprache dem
Denken erst feste Gegenstände, über die Aussagen zu treffen sind, neue allgemeine (abstrak-
te) Dinge, die gar nicht mehr als ein Einzelding oder an einem solchen auftreten. Das bedeutet
dann aber auch, daß eine Wissenschaft von der Natur als dem hinter dem konkreten Ein-
zelding und Einzelvorgang Stehenden, als den sie verursachenden und bedingenden einheit-
lichen und allgemein gültigen Prinzipien, daß also ein rationales Erklären des verschieden-
artigen Geschehens in der Natur selbst den Griechen eigentlich erst seit der zweiten Hälfte des
nften vorchristlichen Jahrhunderts möglich war wenn auch nicht deshalb, weil es vorher
noch keinen generellen bestimmten Artikel gegeben tte, sondern weil die higkeit zu relativ
hohen Abstraktionsstufen erreicht sein mußte, die unter anderem eben durch das Auftreten die-
ses Artikels angezeigt wird. Vorleistungen dazu wurden insbesondere von den Naturphiloso-
phen aus Milet erbracht, bei deren Überlegungen sich denn auch zeigt, von wo griechische
Wissenschaft von der Natur (als Gesamtnatur) ihren sie prägenden Ausgang nahm.
Dabei ist der ‚Natur‘, griechisch: φύσις, schon ein höchst abstrakter Begriff, gleichsam eine
Entdeckung oder fast Erfindung der frühen Griechen, gewonnen durch sukzessive Abstrak-
tionsschritte auf induktivem Wege, als aufgeklärtes Denken die Dinge in der Natur nicht mehr
als Götter und Dämonen ansah, sondern diese neben sie stellte oder durch sie wirken ließ.
Solange nämlich Götter als übernatürliche Machtprinzipien galten, unterlag das Geschehen
in der Natur gleichzeitig deren Willkür, und der Mensch war den Göttern (der ‚Natur‘) weit-
gehend hilflos ausgesetzt gemildert durch entsprechende kultische Handlungen, durch
welche die Götter gnädig gestimmt werden sollten. Es bedurfte also der Rückführung auf
nicht-göttliche, eben ‚natürliche‘ Prinzipien, um die ‚Natur‘ rational erfassen zu können. Die-
ser Vorgang wird auch Übergang vom Mythos zum Logos genannt.
Den sukzessiven Abstraktionsprozeß hat man sich etwa durch Induktionsschlüsse folgender
Art erfolgt zu denken:
10
Minerale Pflanzen Tiere warme Gegenstände Feuer/Glut/Sonne
* ( ' ' * ( *
* Lebewesen erwärmte Dinge tierische Wärme strahlende Wärme
* * ( * ' *
tote Körper lebendige Körper Wärme Licht
( ' ( '
Körper (Materie) lebenspendende UEnergieU
( *
Natur (Ursprung, Herkommen)
Zu diesem Begriff ‚Natur‘ ist abschließend noch zu bemerken, daß er inhaltlich mit dem Verb
φύειν /φύεσθαι zusammenhängt, das soviel wie ‚hervorbringen‘, im Passiv hervorgehen‘,
‚wachsen‘ bedeutet – es ist derselbe Wortstamm, der auch in φυτόν (Pflanze, Gewächs) ent-
halten ist. Die Gesamtnatur, die Welt, wird von den Griechen auch stets als eine organische
Einheit ähnlich einem pflanzlichen Gewächs, also mit Eigendynamik versehen aufgefaßt; und
das Universum galt Griechen und Römern entsprechend auch als wie jedes andere Lebewesen
beseelt. φύσις ist also so etwas wie das ‚Hervorbringen‘ und die ‚Herkunft‘, jeweils in orga-
nologischem Sinne, der aus sich heraus die narlichen Dinge hervorbringende ‚Ursprung‘,
der ‚Lebensquell‘ (‚Mutter Natur‘), und zwar sowohl für ein einzelnes Ding als auch in ab-
strahierender Zusammenfassung der ‚Naturen‘ aller einzelnen Dinge für alle Dinge, wobei die
Konstitution, das Verhalten usw. jedes einzelnen Dinges beziehungsweise aller Dinge von
diesem ‚Ursprung‘ her geprägt und bestimmt ist in demselben Sinne, wie wir auch heute im
Anschluß an die Griechen noch sagen: Es liegt in der ‚Natur‘ der Sache begründet was näm-
lich gleichzeitig besagt, daß man dieses nicht weiter begründen kann, daß die Suche nach den
Ursachen beim letzten ‚Prinzip‘ angelangt ist, das nicht weiter zu hinterfragen ist.
Es wird sogleich dargelegt werden, wie dieses letzte Prinzip ‚Natur‘ seinerseits ebenfalls ent-
sprechend seinem Herkommen geprägt ist, daß also diese Art der Naturauffassung sich durch
das erklärt, was die Griechen ursprünglich darunter verstanden und woraus ihre Wissenschaft
von der ‚Natur‘ ihren Ursprung nahm. – Die Art griechischen naturwissenschaftlichen Den-
kens zeigt dann auch generell, daß diese Grundbedeutung stets bewußt blieb was auch
dadurch deutlich wird, daß die Römer im ersten vorchristlichen Jahrhundert diesen Begriff
nicht einfach mit der Wissenschaft von der Natur als Fremdwort übernahmen, sondern ihn
übersetzten. Dazu benutzten sie den entsprechenden gleichbedeutigen Wortstamm ihrer
Sprache, der auch dem Verb (nascere)/nasci zugrundeliegt, das dieselbe Bedeutung hat wie
φύειν /φύεσθαι und soviel wie ‚erzeugt werden‘, ‚geboren werden‘, ‚entspringen‘, ‚hervor-
gehen‘, ‚wachsen‘ heißt. Auch der lateinische Begriff natura, den die modernen europäischen
Sprachen als Fremd- oder Lehnwort übernahmen (weil in ihnen nicht mehr dieselbe Bedeu-
tung mit ‚Natur‘ gleichgesetzt wurde), bedeutet also ‚Ursprung‘, ‚Herkommen‘ in biologisch-
orgalogischem Sinne, das ‚Entspringen‘, der ‚Lebensquell‘ im Sinne von ‚Mutter Natur‘
ohne daß dem Fremdwort ‚Natur‘ die ursprüngliche Bedeutung noch anhaftete.
11
2. Die Suche nach den stofflichen Prinzipien
Der Begriff ‚Atom‘ und sein Inhalt entstammen der griechischen Naturphilosophie. Sie sind
dort auf rein spekulative Weise entstanden, und zwar als Reaktion (oder vielmehr: als eine
von mehreren Reaktionen) auf die Ontologie der beiden eleatischen Philosophen Parmenides
und Zenon von Elea, die in der ersten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts wirkten.
Die Lehren dieser Eleaten sind ihrerseits wieder als Überwindung und Reaktion auf die ältere
Naturphilosophie der Milesier und besonders des Herakleitos von Ephesos aufzufassen.
Deren Lehrmeinungen sind zwar grundverschieden, sie haben aber in ihrer Unterschied-
lichkeit eines gemeinsam: Sie legten das Schwergewicht ihrer Naturerklärung und Naturdeu-
tung nämlich auf das Entstehen und Vergehen der Dinge in der Welt, auf deren Veränderlich-
keit und stetige Veränderung.
Wie ist es zu dieser Art von Welterklärung aus ihrem stofflichen Inhalt, der dem Wandel
zugrunde liegt, gekommen? In der Regel wird Thales von Milet als derjenige angesehen, der
erstmals diesen Gedanken äußerte; er soll das Wasser als den Urgrund und Ursprung aller
Dinge angesehen haben. Doch wird eine solche rationale, mythische Vorstellungen ablösende
Auffassung von der Welt kaum plötzlich und ohne geistige Vorbereitung entstanden sein, hat
sie doch immerhin das nachfolgende Denken vom Aufbau der Welt und der Dinge in ihr bis
in unsere Zeit hinein geprägt, ein Denken, das Naturphilosophie und Naturwissenschaft über-
haupt erst ermöglichte. Eine solche Vorstellung muß gedanklich und sprachlich vorbereitet
gewesen sein, sie muß damit auch an die Vorstellungswelt der Zeitgenossen angeknüpft ha-
ben, weil sie sonst kaum hätte verstanden und angenommen werden können. Außerdem fragt
sich, in welchem Sinne Thales denn von einem stofflichen Prinzip gedacht haben kann und
ob er überhaupt in diesem Sinne als der Begründer einer stofflich ausgerichteten Naturphi-
losophie und damit des naturwissenschaftlichen Denkens angesprochen werden kann.
Prüft man nun die Nachrichten aus der Antike über Thales und seine Lehre einmal näher –
und das Beispiel soll gleichzeitig dazu dienen, zu demonstrieren, welche Sorgfalt man auf das
Studium der Quellen und ihre Interpretation anzuwenden hat –, so stellt sich heraus, daß
Thales als der erste Philosoph und als der Begründer einer materialistischen Naturdeutung
eine nachträgliche Konstruktion ist, die auf einer Fehldeutung der maßgeblichen Quelle
beruht. Die Ursprünge solcher Vorstellungen liegen auch vor Thales - und allein diese Ur-
sprünge erklären die spezifische Art des naturphilosophischen Denkens der frühen Grie-chen
und auch die erste Ausbildung dieses Denkens in der klassischen Zeit. Vor Thales ist der
Epiker Hesiodos mit seiner Theogonia anzusetzen, nach ihm die Schrift des Anaximandros
mit dem Titel Περ φύσεως.
Ζuerst wird über Thales gesprochen, dann über Hesiodos und Anaximandros, den mittleren
der drei großen Denker aus dem kleinasiatischen Milet, Thales, Anaximandros und Anaxi-
menes. Der Erste von ihnen,
12
2.1. Thales von Milet (ca. 624–546),
wird heute im Anschluß an eine Bemerkung in der Metaphysik des Aristoteles aus der Mitte
des vierten vorchristlichen Jahrhunderts fast allgemein als der Begründer griechischer und
damit auch der Philosophie überhaupt betrachtet. Die Suche nach Vorläufern des Anaximan-
dros, der als erster ein überwiegend rationales Weitgebäude errichtete, das in sich abge-
schlossen und durchdacht war, ließe sich also, sieht man einmal von Mythen und Sagen ab,
schnell beenden, und man bräuchte nur die Meinungen des Thales zusammenzutragen, um
sehen zu können, was Anaximandros bereits vorlag und was er daraus gemacht hat.
Betrachtet man jedoch die Quellengeschichte für die Lehren des Thales, so erfährt man, daß
Aristoteles, auf den die wichtigsten Nachrichten zurückgehen, selbst eine Schrift des Thales
gar nicht mehr gekannt hat, daß seine Darstellungen thaletischer Lehren vielmehr von Zitaten
und Berichten ausgingen, die er bei einem (mehereren) älteren Autoren vorgefunden hatte. Zu
Beginn einer Untersuchungen der Lehrmeinungen des Thales muß also geprüft werden, was
Aristoteles dann zu der Annahme geführt haben konnte, Thales sei der Begründer der Philo-
sophie, und weitergehend sogar, ob er überhaupt diese Behauptung aufstellte.
Die Schrift oder die Schriften, die Aristoteles selbst als Quelle für die Lehrmeinungen des
Thales dienten, müssen auch in späterer Zeit noch greifbar gewesen sein, wie glaubhafte
Zeugnisse zeigen, die nicht auf die Angaben bei Aristoteles oder bei seinem Schüler Theo-
phrastos von Eresos zurückgehen, die beide die ‚Doxographie‘ der sog. Vorsokratiker begrün-
deten. – Außerdem erhält man mehrere Nachrichten über Thales von dem Historiker Hero-
dotos von Halikarnassos (Mitte 5. Jh.v.Chr.), dessen Werk Historien nach 430 abgeschlossen
wurde und als ganzes erhalten ist. Herodotos seinerseits verdankt seine Kenntnisse seinem
Vorgänger Hekataios von Milet (560/550um485), dessen Periegesis er eifrig benutzte. He-
kataios wiederum steht in demselben Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Landsmann Anaxi-
mandros, dessen vorwiegend spekulativ-geometrisches Erdbild er empirisch bestätigen zu
können glaubte, worin ihm dann Herodotos teilweise folgte, soweit selbstgewonnene Empirie
für ihn nicht dagegen sprach. Es besteht also eine ununterbrochene Traditionskette Anaxi-
mandros/Hekataios/Herodotos. Da Herodotos eine der Hauptquellen für Nachrichten über
die Lehren des Thales ist, werden diese über diese Traditionskette zu ihm gelangt sein. – Da-
raus ergeben sich nun mehrere Folgerungen, die auch von anderer Seite her bestätigt werden,
ohne daß hier näher darauf eingegangen werden kann:
- Schon Anaximandros muß sich mit den Lehren des Thales (wohl auch unter Nennung
seines Namens) auseinandergesetzt haben.
- Anaximandros oder Hekataios oder beide müssen die Quelle für spätere, über die An-
gaben des Herodotos hinausgehende Nachrichten gewesen sein.
- Die Schrift des Thales muß wie die des Hekataios und die diese benutzenden Teile des
Werkes von Herodotos im Stile einer ‚Periegesis‘ abgefaßt gewesen sein. Eine solche
‚Periegesis‘ ist die Beschreibung einer Küstenfahrt (im oder gegen den Uhrzeigersinn) um
das Mittelmeer herum mit Angabe der Hafenstädte und wichtiger Landmarken, die von
den Hafenplätzen aus auch eine Beschreibung des Landesinneren einschließt, also eine
Art Reiseführer für Handeltreibende, der die zu beachtenden Eigenarten der Örter, Länder,
Menschen und Produkte vermittelte.
13
1 A
RISTOTELES
: Meteorologica. Buch 2, Kap. 1 (353
b
6 ff.) (= A
NAXIMANDROS
: Fragment A 27 D
IELS
-K
RANZ
).
Daraufhin lassen sich nun bestimmte gedankliche Verbindungen ziehen zwischen den ver-
schiedenen Vorstellungen, welche die Genannten über das Entstehen der Erde hatten – ohne
daß nun unter ‚Entstehen‘ von vornherein der geologisch-genetische Prozeß und unter ‚Erde‘
der materielle Urstoff auch nur des Erdkörpers verstanden werden muß, wie sich herausstellen
wird.
Man weiß mit einiger Sicherheit, daß Thales ebenso wie Hekataios und Herodotos Ägypten
bereist hat, ein die Griechen stets faszinierendes Land, in dem mit den Worten des Herodotos
alles gerade umgekehrt wie sonst (das heißt: wie in Griechenland) sei, oder doch anders. He-
rodotos erklärte nun, daß Unterägypten (das eigentliche Ägypten) auch oberhalb des Nildeltas
vormals Meer gewesen wäre. Das ließe sich noch an den Salzausscheidungen und am Mu-
schelkalkstein bei den Pyramiden erkennen. Zusätzlich zu diesen Beobachtungen ging er ganz
modern vor und suchte eine weitere empirische Bestätigung: Er holte vor der Küste Ägyptens
Schlamm vom Meeresboden herauf und identifizierte ihn als (Nil-)Schlamm. Hier vor der
Küste steige demnach der Meeresboden durch Aufschwemmung immer noch an. Bestätigt
fand er dies auch durch das allmähliche Steigen des Nilpegels in den Angaben der königlic-
hen Annalen wobei ihm allerdings entging, daß zwischenzeitlich einmal ein neuer Pegel
eingerichtet worden war. Er schloß daraus jedenfalls, daß Unterägypten mitsamt dem Nildelta
erst allmählich aus Nilschlamm gebildet worden war was
für seinen Zusammenhang bedeutete, daß es ursprünglich
‚Ägypten‘ gar nicht gegeben hat und die üblichen T-Erdkar-
ten der ‚Ionieralso falsch sein müßten, da in ihnen für Ägyp-
ten kein Platz vorgesehen sei, höchstens als vierten Erdteil
neben Europa, Asia und Libya (Africa); und mit Europa der
‚Ionier‘ war in erster Linie Hekataios gemeint, dessen Erdkar-
te auf der des Anaximandros basierte, der sich seinerseits mit
Thales auseinandergesetzt hatte).
Herodotos erklärte also das ‚Entstehen‘ Ägyptens als allmäh-
liche Anschwemmung von Nilschlamm. Dieselbe Erschei-
nung und dieselben geologischen Phänomene hatte Anaximandros jedoch umgekehrt mit dem
Fallen des Meeresspiegels erklärt. Aristoteles berichtet in seinen Meteorologika
1
, daß nach
Anaximandros ursprünglich der ganze Raum um die Erde herum feucht gewesen sei“. (Was
es damit auf sich hat, wird später dargelegt.) Diese Feuchtigkeit (Wasser) werde von der Son-
ne allmählich ausgetrocknet, wobei der verdunstende Teil der Feuchtigkeit die meteorologi-
schen Erscheinungen bewirke, der gegenwärtig noch verbliebene Rest die Meere bilde. Die
Meere würden aber immer weniger, bis schließlich bei vollständiger Trockenheit das Ende
erreicht sei. Da die Erde (die Erdscheibe) von der sie umgebenden Feuchtigkeit nicht be-
einflußt werden soll, kann das durch die Verdunstung der Feuchtigkeit erreichte Ende aber
nicht sie betreffen sollen, und somit kann dieser Vorgang für Anaximandros auch nichts mit
dem ‚Entstehen‘ der Erde als Erdkörper zu tun haben.
14
2 A
RISTOTELES
: Metaphysik. Buch 1, Kap. 3 (983
b
6-12,18–24,26f.) (= A
NAXIMANDROS
: Fragment A 12 D
IELS
-
K
RANZ
).
Genau dieselben Erscheinungen erklärte nun Thales nicht mit einem Sinken des Meeres-
spiegels (wie Anaximandros) oder einem partiellen Aufschwemmen von Erde (wie Herodo-
tos), sondern mit dem allmählichen Auftauchen, mit einem Steigen der gesamten Erdscheibe
aus der ‚Feuchtigkeit‘, aus dem Meere. Er verglich den Vorgang mit dem allmählichen Heben
eines schwer beladenen Lastschiffes, während es entladen wird. Die Erdscheibe schwimme
auf dem Wasser wie ein Schiff. Das zeige sich auch an dem Schwanken der Erde bei einem
Erdbeben, bei dem gleichzeitig starke Winde aufträten und neue Quellen entstünden was
Thales mit dem Schwanken und Leckschlagen eines Schiffes bei Sturm gleichsetzte. – Hier
wird also von gleichzeitig auftretenden gleichartigen Erscheinungen her auf die Gleich-
artigkeit des Vorganges und des Gegenstandes geschlossen, mit dem es geschieht. Das Nicht-
Bekannte wird durch die Gleichsetzung mit vergleichbar erscheinendem Bekannten er-
schlossen. – Dieser Art des Analogiedenkens begegnet man bei Thales immer wieder.
Auch diese Erklärung von Erscheinungen auf der Erde durch die Analogie zu einem leckschla-
genden Schiff im Sturm und einem Lastschiff während des Entladungsvorganges hat also mit
einem ‚Entstehen‘ der Erde aus Wasser in dem landläufigen (auch von Aristoteles schon unter-
stellten) Sinn nichts zu tun. Es ist auch eine in der Antike weit verbreitete Vorstellung gewesen,
daß die Erdscheibe auf dem Meere schwimme, was dann insbesondere r einzelne Inseln auch
lange beibehalten wurde man denke an die schwimmende Insel Aiolos in der Odyssee, an die
Sage von der schwimmenden Insel Delos, auf der bekanntermaßen ufig Erdbeben stattfanden,
und an die schwimmende Insel bei Chemes in Ägypten, zu der Herodotos übrigens eigens hin-
fuhr, um Nachrichten zu überprüfen, welche die erwähnte Traditionskette ihm übermittelt hatte.
Es ist also durchaus möglich, daß Thales, der ja ebenfalls in Ägypten gewesen war, von dieser
Insel berichtete oder sie gar in seine Erklärung der schwimmenden Erde einbezog.
Das alles macht es sehr unwahrscheinlich, daß Aristoteles mit seiner sowieso nur erschlos-
senen Annahme recht hat, Thales habe die Erde aus dem Wasser ‚entstehen‘ lassen, weshalb
er der Begründer einer solchen Art zu philosophieren sei, die alle Dinge auf stoffliche Prin-
zipien zurückführe, aus denen und zu denen alle Dinge werden sollen; denn insbesondere
dieser von ihm Thales untergeschobene Begriff eines stofflichen Prinzips wurde erst sehr viel
später entwickelt. – Die fragliche Stelle
2
sei möglichst wörtlich übersetzt:
„Die meisten von denen, die zuerst philosophierten, glaubten, daß die ρχαί (‚Prinzipien‘) aller Dinge nur
stofflicher Art seien; denn woraus alle Dinge bestünden, aus welchem als erstem sie entstünden, in welches als
letztes sie vergingen, wobei die ‚Substanz‘ bleibe und nur ihre Eigenschaften sich änderten, dieses sei, wie sie
sagen, ein στοιχεÃον (‚Element‘) und die ρχή der Dinge; und deshalb glauben sie, daß nichts entstehe und
vergehe, da eine so beschaffene ‚Natur‘ stets erhalten bleibe. Allerdings über Zahl und Art einer solchen ρχή
sagen nicht alle dasselbe, vielmehr sagt Thales, der Begründer einer solchen Art zu philosophieren, es sei das
Wasser, indem er vielleicht die Beobachtung, daß als aller Dinge Nahrung das Feuchte zu finden sei und daß
selbst das Warme aus diesem entstehe, zu dieser Überzeugung kam [...], außerdem aber dadurch, daß aller Dinge
Samen eine feuchte Natur habe, daß Wasser also der natürliche Ursprung für die feuchten Dinge sei.“
Aristoteles referiert und vermutet in diesem Text etwas, das er dann aus seinem Denken, von
seinen Fragestellungen her erklärt und natürlich in seiner Terminologie mitteilt. Er unterstellt
dabei, daß der sehr viel ältere Thales bereits in seinen termini gedacht habe. Die wichtigsten
Begriffe dieser Terminologie sind hier:
15
Materie àλη/materia (direkte Übersetzung), eigentlich Bauholz‘, ‚Baumaterial‘, das
stoffliche Prinzip, an dem Veränderungen erfolgen, aus dem alle Dinge entstehen und in
das hinein sie wieder vergehen, das als solches aber erhalten bleibt. Es war ein langer
Weg, bis der Begriff geprägt wurde und den aristotelischen Inhalt erhielt, ein Weg, der zur
Zeit des Thales erst seinen Anfang nahm.
Element στοιχεÃον/elementum, eigentlich ‚Buchstabe‘. Der Begriff wurde in dieser
Form von den Atomisten geprägt: Wie die gesprochene Sprache, die Schrift, sich aus
einer begrenzten Anzahl immer wieder gleicher Bestandteile zusammensetze, so die ding-
liche Welt aus immer wieder gleichen, unveränderlichen ‚elementaren‘ Atomen.
Substanz - ßποκείµενον/substantia beziehungsweise subjectum (das einer Satzaussage
zugrunde liegende ‚Subjekt‘), das ‚bleibend Zugrundeliegende‘, an dem alles geschieht.
Die dieser Begrifflichkeit zugrundeliegenden Fragestellungen wurden also von Aristoteles
auch Thales selbst zugewiesen und unterstellt. Aristoteles denkt damit jedoch mit Sicherheit
unhistorisch und anachronistisch!
Thales erklärte dagegen die Phänomene dem Problemkreis einer ‚Periegesis‘ entsprechend
einzeln und für sich, ohne in ihnen oder in ihren Erklärungen einen inneren Zusammenhang,
ein System, zu suchen oder auch nur zu vermuten, wie es Aristoteles aber unterstellte – und
wie es dann bei Anaximandros wenigstens ansatzweise erstmals anzutreffen ist.
Eine solche unhistorische Fragestellung an die Überlieferung über die Lehrmeinungen des
Thales führte Aristoteles noch zu einem weiteren Mißverständnis. In seiner Schrift De caelo be-
richtete er, Thales habe das Verharren der Erde in ihrer Lage damit erklärt, daß sie auf dem
Wasser schwimme. Aristoteles gab also richtig den Satz des Thales wieder, daß die Erde auf
dem Wasser schwimme, benutzt diesen Satz dann aber fälschlich im Sinne seiner eigenen doxo-
graphischen Fragestellung als Begründung r etwas, nach dem Thales selbst noch gar nicht
gefragt hatte, nämlich als Grund für das Verharren, die Ruhe der Erde. Er kann diese angebliche
These des Thales durch die Unterstellung der anachronistischen Fragestellung deshalb auch so
einfach mit dem Hinweis widerlegen, daß ja das Wasser, auf dem die Erde verharre, damit noch
nicht selbst verharre und daraufhin das Schweben‘ der Erde unerklärt bleibe. Aber Thales hatte
sich ja gar keine Gedanken über ein Verharren oder Schweben der Erde gemacht, sondern
lediglich einzelne Erscheinungen auf der Erdoberfche erklären wollen ohne schon die an
sich und aus späterer Sicht erforderlichen Folgerungen daraus mit einzubeziehen.
Daraus ergibt sich für Thales, daß zumindest seinen Erklärungen der natürlichen Dinge und
Erscheinungen ein innerer Zusammenhang noch fehlte, daß für ihn die Natur noch kein zu-
sammenhängendes System war, in dem die einzelnen Dinge und Vorgänge auf einander bezo-
gen sind und sich insgesamt auseinander ergeben. Das wird zwar teilweise bedingt gewesen
sein durch die gewählte Form seiner Publikation denn eine ‚Periegesis‘ ist schon von der
Anlage her eine Aneinanderreihung einzelner Erscheinungen und Daten und eine nur darauf
bezogene Detailerklärung andererseits ließ diese Art der Erklärung ein Denken in Systemen
wohl auch gar nicht erst aufkommen.
Es scheint also, als ob erst die Kritik an einem solchen Werk, das Weiterfragen also, eine
entsprechende systematische Basis erreichen konnte und als ob deshalb auch erst Anaximan-
dros’ Naturauffassung mit einem gewissen Grad von (entwicklungsbedingter) Systematik hat
16
arbeiten können. Dabei hatte er dann allerdings in Thales einen Vorgänger in der rationalen
Erklärung einzelner natürlicher Vorgänge, insbesondere in der Gleichsetzung von Gleich-
zeitigkeit und Ursächlichkeit, indem er gleichzeitig auftretende Erscheinungen in einen ur-
sächlichen Zusammenhang brachte.
2.2. Hesiodos (7./6. Jahrhundert v.Chr.) und Anaximandros (ca.610–546)
Anaximandros erklärte zwar die angeführten geologischen Erscheinungen auf der Erdober-
fläche ähnlich wie Thales mit dem Auftauchen der Erde aus dem Wasser, begründete dieses
Auftauchen jetzt aber anders, nämlich mit dem Verdunsten der sie ursprünglich als Wasser
umgebenden Feuchtigkeit. Er ließ dann allerdings darüberhinaus aus dem verdunstenden Teil
der Feuchtigkeit die meteorologischen Erscheinungen wie Winde, Wolken, Niederschläge,
aber auch Sonnen- und Mondwenden, ja sogar Sonne und Mond selbst entstehen. Aus dem-
selben feuchten Dunst sollen auch die einzelnen Seelen der Lebewesen bestehen. Da ur-
sprünglich alles auf der Erde mit Wasser bedeckt gewesen sein soll, kann es anfangs keine
Landtiere gegeben haben; und so erklärte Anaximandros, alle tierischen Lebewesen ein-
schließlich des Menschen seien zuerst in Wassertieren gewesen und herangewachsen (wie es
heute noch etwa bei dem Menschen anzutreffen sei) und hätten sich erst nach dem Trocken-
werden der Erde an Land begeben und ihre stachelige Schale abgeworfen. (Von einer Evo-
lutionstheorie mit sich verändernden Arten war bei Anaximandros also noch keine Rede.) Das
Leben auf der Erde höre deshalb auch auf, wenn alle Feuchtigkeit durch Verdunstung auf-
gebraucht sei. Der gegenwärtige ‚Kosmos‘ als derzeitiger Zustand der Welt gehe dann ganz
zugrunde und ein neuer entstehe auf die gleiche Weise und an derselben Stelle um die
davon nicht betroffene Erdscheibe herum.
Dieses rhythmische kosmische Geschehen soll nun nach einer gewissen Gesetzlichkeit ab-
laufen indem ein entstehendes Ding sich jeweils dadurch schuldig mache, daß es an die
Stelle eines anderen trete und aus diesem entstehe, und dieses Verschulden geahndet werde
durch den Untergang des Dinges, der wiederum darin bestehe, daß ein neues Ding aus diesem
und an seiner Stelle entstehe – und sich dadurch wieder schuldig mache usw. Als jedermann
einleuchtende Beispiele hierfür wurden genannt: der Wechsel von Tag und Nacht, von Som-
mer und Winter, von Leben und Tod, Wachen und Schlaf; das Grundgeschehen des Kosmos
selbst bestünde in dem Kampf zwischen Feuchtigkeit (Wasser) und Feuer, die anfangs von
allen Seiten die Erdscheibe umgeben hätten (innen das Wasser, außen das Feuer).
Diese Beschreibung von kosmischer Gesetzlichkeit arbeitet mit den aus dem Bereich von
Recht und Moral stammenden Begriffen δίκη und τίσις die man etwa mit ‚Schuld und
Sühne‘ übersetzen kann. Diese Begriffe würde man in einer Beschreibung der ‚toten‘ Natur
aber eigentlich nicht erwarten, da sie aus der Sphäre menschlichen Sozialverhaltens stammen.
Ihre Benutzung zeigt uns deshalb, daß
1) für Anaximandros die im späteren Sinne ‚leblosen‘ natürlichen Dinge offenbar noch nicht
ganz unbelebt gedacht gewesen sein können, sondern daß ihnen noch eine Art lebendiger
Göttlichkeit anhaften mußte (wie man es natürlich in den Göttergenealogien, auch noch
in der Theogonia des Hesiodos antrifft; auch Thales behauptete noch, „alles ist voll von
Göttern“); und daß
17
2) die Begriffe auch kaum für die (doch schon mehr am Dinglichen orientierte) Beschreibung
des Kosmos oder vielmehr des kosmischen Geschehens geprägt und eingeführt worden
sein können, wie sie Anaximandros vornimmt.
Man weiß auch, daß erstmals Hesiodos den abstrakten Begriff ‚Recht‘ (δίκη) dachte und
prägte; und dieses Recht galt ihm nicht nur unter den Menschen, sondern auch unter den ja
anthropomorph gedachten Göttern. Die einzelnen Göttergeschlechter verloren nach Hesiodos
dadurch ihre Macht, daß deren Stammväter die eigenen Nachkommen nicht zur Macht
kommen, sich nicht entfalten ließen, und daß diese sich dafür jeweils rächten, indem sie
ihrerseits jene entmachteten, wodurch sie sich wieder schuldig machten usw. Nach Hesiodos
kommt es zu folgender sukzessiver Generationenfolge:
1) Chaos
2) Eros Gaia(+Uranos)Tartaros (männlich-weiblich-neutral/sächlich): Uranos verbirgt
die gemeinsamen Kinder in der Mutter Gaia (Erde). In theogonisch-kosmogonischem
Sinne heißt dies: Der Kosmos konnte sich nicht entfalten. Es kommt jedoch zu einer
Verschwörung durch Gaia unter der Führung des Sohnes Kronos, die zur Entmannung
von Uranos führt. Dieser ist dadurch nicht nur entmachtet, sondern auch verhindert, neue
Nachkommen zu zeugen. Der jüngste, Kronos, wird zum Haupt der neuen Generation.
3) Kronos Rheia: Damit ihm nicht Gleiches geschehe, wie er seinem Vater antat, ver-
schlingt Kronos seine Kinder sofort nach der Geburt; er verbirgt sie also in sich selbst
macht sich aber natürlich dadurch ebenfalls schuldig. Es kommt wieder zu einer Ver-
schwörung durch die Stammutter der ‚Kroniden‘. Statt ihres Kindes Zeus, der dann da-
durch zum letztgeborenen wird, setzt Rheia Kronos einen in Windeln gewickelten Stein
vor und verbirgt das Kind auf dem Berg Ida auf Kreta, wo Zeus heranwächst – um sich
seinerseits für die Schuld an seiner Generation am Vater zu rächen. Indem er durch
Versprechungen späterer Machtpositionen oder Wiedereinsetzung in alte Ämter den
Großteil der älteren Generation der Uraniden und Kroniden auf seine Seite bringt, kann
er in einer gewaltigen Götterschlacht, dem sog. Kampf der Titanen, den Sieg über seinen
Vater erringen. Die alten Götter, die sich auf seine Seite geschlagen hatten, werden in ihre
Ämter und Positionen wieder eingesetzt (hierzu gehören aus der Frühzeit der Theogonie
etwa Meer, Berge, Tag und Nacht, Sonne, Mond usw.). Der Kosmos entfaltet sich also
neu.
4) Zeus Metis (‚Gedächtnis‘): Durch diesen Sieg über Kronos, der dadurch entmachtet wird
(alle besiegten Gegner werden in den neutralen Tartaros gesperrt und damit an der Aus-
übung ihrer Macht verhindert; töten und damit völlig ausschalten kann man ‚unsterbliche‘
Götter ja nicht), macht Zeus sich aber auch seinerseits schuldig – und ein neuer Sukzes-
sionsakt droht.
Soweit gibt es in orientalischen Theogonien Vorbilder für eine sukzessive Machtfolge unter
Göttern, so daß Hesiodos sich darin sicherlich ihm bekannten Mythen angeschlossen hat. Er
führt jedoch einen neuen Kunstgriff ein und läßt Zeus etwa folgende Überlegung anstellen,
um dem gleichen Schicksal zu entgehen (man bedenke, daß Zeus schon immer der Gott des
Geistes, der Ratio, gewesen ist): Uranos hatte seine Kinder in seiner Frau und deren Mutter,
in Gaia, der Erde, verborgen; er war also auf ihre Solidarität angewiesen, was solange gut
18
ging, wie bei ihr die Solidarität gegenüber dem eigenen Nachwuchs überwog. Kronos hatte
deshalb seine Kinder nach der Geburt durch Verschlingen in sich selbst verborgen; das setzte
aber voraus, d deren Mutter Rheia ihm die Kinder nach der Geburt auch wirklich aus-
lieferte, also auch mit ihm solidar ging. Zeus mußte also beides vermeiden. Er verschlang des-
halb nicht nur sein erstes Kind, sondern dieses auch noch vor dessen Geburt und mitsamt der
Mutter Metis. Weitere legitime, also gleichgestellte Nachkommen sind damit von vornherein
ausgeschlossen, und Zeus gebiert seine Tochter Athene selbst. Sie ist deshalb ihm auch sehr
ähnlich und wird zur Göttin der Weisheit und Wissenschaft. Das heißt aber gleichzeitig auch,
daß die Entwicklung des Kosmos abgeschlossen ist, da keine neuen Götter mehr entstehen,
und daß Zeus, der Gott des Geistes, als der Mächtigste der herrschenden Götter die rationale
Ordnung des durch sie repräsentierten Kosmos gewährleistet. Die dunklen Mächte sind
ausgeschaltet. Dadurch ist der Kosmos aber auch rational erfaßbar geworden, weil der Will-
kür und der Erweiterung enthoben – und im Endeffekt heißt das: Es kann Naturwissenschaft
betrieben werden, was im Anschluß hieran dann auch geschah.
Nun nennt Uranos nach einer von Hesiodos angeführten falschen Etymologie (Erklärung aus
dem Herkommen des Wortes) seine Nachkommen selbst ‚Titanen‘, weil sie einmal τίσις
(‚Vergeltung‘/‚Rache‘) für ihren Frevel an ihm ereilen werde; was dann durch Zeus gesche-
hen wird.
Hier bei Hesiodos wurde also das von Anaximandros verwendete Begriffspaar geprägt, hier-
her gehört es im eigentlichen Sinne. Die hesiodischen Götter hatten noch die anthropomor-
phen Züge innerhalb der Theogonie, die hier Handeln nach menschlichen Maßstäben be-
urteilen ließen. Indem Anaximandros die die Dinge repräsentierenden Götter gänzlich durch
die Dinge selbst (durch die deshalb noch ‚göttlichen‘ Dinge selbst) ersetzte, erhielt die Recht-
lichkeit der Schuld-und-Sühne den Charakter einer Gesetzlichkeit des natürlichen Gesche-
hens, einer Art Erhaltungsgesetz für das kosmische Geschehen.
Eben war von ‚Göttern‘ des Hesiodos die Rede; der Titel seines Werkes lautet ja auch Theo-
gonia“, also ‚Entstehen der Götter‘. Aber Hesiodos sagt zu Beginn seines Lehrgedichtes über
das Entstehen der Götter, die Musen hätten ihm den Auftrag gegeben, zu sprechen über alles
das, „was sowohl ist, sein wird, als auch war“ also über das Unvergängliche, über das ‚Sein‘
an sich, wie später Parmenides sagen wird, wozu Hesiodos’ Sprache noch nicht fähig ist.
Dieses unvergängliche Seiende, das war, ist und sein wird und außerhalb des menschlichen
Einflusses steht, wurde auch von den frühen Griechen vor Hesiodos wie von ihm selbst als
Götter bezeichnet. Die Überlieferung hatte diese Götter größtenteils als anthropomorphe
Personen durch Mythen unter einander verbunden, die Hesiodos in seiner Geschichte der
Götter nicht hätte übergehen können, ohne unverständlich zu werden. Aber die wenigsten
seiner Götter sind wirklich noch dieser Art; im wesentlichen stellen sie wenig ausgeprägte
Göttergestalten oder gar gänzlich neue Wesen dar, durch Vergöttlichung verdinglichte Hypo-
stasen von Naturgewalten oder Abstraktionen aus menschlichen Handlungs- und Verhaltens-
bereichen, wie ‚Recht‘, ‚Streit‘, ‚Liebe‘ usw. In der Darstellung sind zwar alle Gottheiten
mehr oder weniger Hypostasen und Personen, aber im theogonischen System herrscht ein-
deutig der hypostatische Charakter vor, der ja auch überhaupt erst ermöglichte, diese Natur-
gewalten in eine dingliche Beziehung zu einander, in ein System zu bringen, daß letztlich so
19
logisch und lückenlos aufgebaut ist, daß Hesiodos seine Richtigkeit emphatisch vertreten
konnte, während er allen anderen Dichtern vorwarf, sie wären Lügner.
Man kann Hesiodos zwar nicht den Glauben an Götterpersonen gänzlich absprechen, doch
tritt dieser Glaube schon stark zurück gegenüber dem an die Göttlichkeit der Dinge selbst, der
bei Anaximandros dann ganz an dessen Stelle tritt. Schon die in der Theogonie genannten
Götter besitzen in hohem Maße diesen Charakter von Naturgewalten. So erklärt es sich auch
nur, daß Hesiodos nicht, wie es andere Theogonien taten, als die erste Gottheit und den
Stammvater aller Götter den höchsten Gott Zeus oder das Haupt eines früheren Geschlechtes
wählte, sondern ein von allem befreites, neutrales und höchst abstraktes Prinzip, das Chaos
(τÎ Χάος).
‚Chaos‘ ist eigentlich das ‚Gähnen‘, das ‚Klaffen‘, ein Begriff, der schon vom Wort her
man denke an ein ‚klaffendes Loch‘, einen ‚gähnenden Abgrund‘ – eine räumliche Begren-
zung erfordert, die allerdings nur schwer zu erreichen ist. So sagt Hesiodos auch, daß ein
Meteorstein die Grenzen des Chaos nicht einmal nach einem Jahr erreichen könne, das doch
sonst alles zu einem Ende bringe.
Dieselbe Bedeutung hat dann auch der zentrale Begriff bei Anaximandros, das πειρον. In
späterer Zeit erhält das Wort die Bedeutung ‚unendlich‘. Es ist ein (hier substantiviertes)
Adjektiv, gebildet aus dem α-privativum und einem Wortteil, das verwandt ist mit πέρας, was
‚Grenze‘, ‚Ziel‘, ‚Bestimmung‘ (entsprechend dem lateinischen ‚definieren‘) bedeutet; ‚apei-
ron‘ ist dasjenige, ‚dessen Grenzen man nicht erreichen kann‘, dasjenige, ‚das noch in jeder
Beziehung unbestimmt ist‘. ‚apeiron‘ ist einfach der prosaische Begriff für das poetische
‚chaos‘ und faßt den Inhalt der Verse zusammen, in denen das Chaos bei Hesiodos umschrie-
ben wird. Es kann auch schon deshalb ebensowenig wie das Chaos das Unendliche sein, weil
in beiden Fällen in dessen Mitte die Erde sich befinden soll, das Unendliche aber keine Mitte
besitzt. Ebenso wie das Chaos ist auch das Apeiron‘ göttlich; es erhält dieselben Eigen-
schaften („ohne Tod und ohne Alter“), die das Epos mit eben diesen Worten stereotyp seinen
Göttern zuschreibt.
Dieselben Zusammenhänge gelten für das anaximandrische Prinzip der ewigen Bewegung
entsprechend dem hesiodischen Eros, das er τÎ γόνιµον nennt. Es ist die Fähigkeit des noch
unbestimmten ‚Apeiron‘, etwas Bestimmtes auszuscheiden, etwa das Warme und Kalte, das
Himmelsfeuer und die Feuchtigkeit, das Gegensatzpaar, aus dem sich jeweils der Kosmos
bildet, wobei der Entwicklungsprozeß vom Beginn des Überwiegens des Wassers bis zum
Ende des Überwiegens des Feuers aus der Spannung dieser Gegensätze gemäß dem Prinzip
von Schuld und Sühne resultiert.
Dieses Ausscheiden nennt Anaximandros ποκρίνειν, was auch ‚gebären‘ heißt und nur ein
anderes Wort für das poetischere Wort τίκτειν ist, das Hesiodos für den Geburtsakt seiner
anthropomorphen Götter benutzt. Anaximandros verwendet also Begriffe aus den gleichen
Wortfeldern wie die hesiodischen, mehr poetischen Wörter; er schließt sich damit zwar direkt
an diesen an, dokumentiert aber mit der Abstrahierung auf den Prozeß gleichzeitig die stär-
kere Verdinglichung der mehr personifizierten Natur des Hesiodos.
Auch der Aufbau des gegenwärtigen Zustandes des Kosmos lehnt sich bis in Einzelheiten
an die Beschreibung bei Hesiodos an, ohne daß hier näher darauf eingegangen werden
20
3 Siehe hierzu F
RITZ
K
RAFFT
: Die Begründung einer Wissenschaft von der Natur durch die frühen Griechen
(Geschichte der Naturwissenschaft, I). (rombach hochschul paperback, Bd 28) Freiburg i.Br.: Rombach 1971,
bes. Kapitel 4: "Anaximandros von Milet und die Anfänge kosmogonischen Denkens" (S. 92–120).
kann
3
. Insgesamt ergeben sich somit als Wurzeln und Quellen der anaximandrischen Natur-
und Weltauffassung einerseits die systematisch-genealogische und kosmogonische Deutung
und die Ordnung des hesiodischen Götterapparates, andererseits die rationalistische Erklärung
einzelner Phänomene bei Thales.
Nach Anaximandros wird mittels des Prinzips der ewigen Bewegung aus dem Apeiron, dem
in jeder Beziehung noch ‚Unbestimmten‘, und in dem Apeiron Gegensätzliches, also dann
bereits Bestimmtes, ausgeschieden:
warm - kalt
trocken - feucht
hell - dunkel,
die sich in der stofflich und qualitativ ‚bestimmten‘ Form des Wassers und Feuers ausbilden,
die sich um die vom Entstehungs- und Veränderungsprozeß ausgenommene Erdscheibe her-
um ansammeln – zu unterst das Wasser, um dieses herum das Feuer. Diese Gegensätze gera-
ten in Kampf mit einander und vernichten sich gegenseitig: das Feuer verdampft und verdun-
stet das Wasser, das Wasser löscht das Feuer. Hierfür müssen sie einander Strafe zahlen, weil
sie sich auf Kosten des anderen ausbreiten.
Es ist faszinierend zu sehen, wie Anaximandros nicht nur den hesiodischen Sukzessions-
mythos übernahm und rational in ein ‚natürliches‘ Geschehen umbildete, sondern in den
Kampf mit periodisch wechselnder Vormacht der beiden Gegensätze Wasser/Feuer auch das
gesamte Geschehen auf der Erde und um die Erde herum einzubeziehen und daraus zu
erklären sich bemühte – worauf hier aber nicht näher eingegangen werden kann.
Anaximandros hatte von etwa 610 bis um 546 gelebt. Als er starb, hatte sein Landsmann Ana-
ximenes seine Blütezeit; er starb etwa um das Jahr 525. Auch er lebte also noch im sechsten
vorchristlichen Jahrhundert.
21
3. Anaximenes von Milet (um 580 - um 520)
Anaximenes scheint seinem ganzen Wesen nach mehr dem Anschaulich-Dinglichen ver-
bunden gewesen zu sein als kühnen Gedankenflügen, wie sie bei seinem Vorgänger Ana-
ximandros anzutreffen waren. Bei ihm entdeckte er manche Inkonsistenz, manches Detail, das
mit der von ihm daran geprüften sinnlichen Wirklichkeit nicht übereinstimmte. Anderes war
ihm sicherlich zu hn spekuliert und deshalb für seine an den Dingen und Erscheinungen
haftende Anschauungsweise unverständlich und unvorstellbar.
Mit seinen Vorstellungen sei gleich einmal das dem ‚Chaos‘ des Hesiodos nachgebildete
‚Apeiron‘ des Anaximandros geprüft, jenes in jeder Beziehung Unbestimmte, das die Gegen-
sätze als bestimmte in biologischem Sinne ausscheiden soll. Konsequent weiter gedacht käme
dieses Ausscheiden dann einer ständigen Schöpfung gleich, und zwar einer Schöpfung aus
dem Nichts; denn es ist bei Anaximandros nirgends gesagt, daß die vom Apeiron ausgeschie-
denen und damit bestimmten und stofflich gewordenen Gegensätze auch wieder vom Apeiron
eingesogen werden. Die Gegensätze verzehren sich vielmehr gegenseitig und treten jeweils
an die Stelle des verzehrten Gegenparts. Da dieser Prozeß zeitlich seit dem Anfang nicht
begrenzt gewesen sein soll, würden also vom Apeiron in Ewigkeit immer aufs Neue die Ge-
gensätze ausgesondert, sobald der eine dieser beiden vom anderen gänzlich vernichtet worden
wäre. Die Weltentstehung als solche galt aber seit Hesiodos als abgeschlossen; Endgül-
tigkeit galt auch für die Ordnung dieser Welt, also für die Gesetzlichkeiten, nach denen das
natürliche Geschehen ablaufen soll. Was Anaximandros dem entgegenzusetzen hatte, war die
Annahme, daß nicht der sinnlich wahrnehmbare, dingliche Bestand der Welt ein für alle Mal
gegeben sei, sondern nur das, woraus diese Dinge (mit Ausnahme der Erde selbst) entstehen,
und jene Gesetzlichkeit, nach der diese entstehen und vergehen.
Anaximenes übernahm zwar diese Vorstellung bezüglich der Gesetzlichkeit, doch ist die
Gesetzlichkeit selbst bei ihm anderer Art, und sie umfaßt das Entstehen und Vergehen sämtli-
cher Dinge und auch ihre Veränderung.
Beiden ging es ja in erster Linie um die Erfassung der veränderlichen Welt des Menschen, der
Tiere, Pflanzen und sog. ‚Meteora‘, also um die Erfassung der an den Erscheinungen über der
Erdoberfläche auftretenden Veränderungen. Die Erde selbst wurde jedoch von Anaximandros
wie von Hesiodos und Thales als unveränderlich und stets gegeben angesehen.
Alle genannten Denker hatten die Erde aus dem Entstehen ausgenommen, indem sie sie ent-
weder als Faktum hinnahmen, an dessen Oberfche bestimmte Erscheinungen auftreten, die
erklärt werden müssen, ohne daß die Erde selbst davon betroffenre diese Vorstellung fin-
det sich bei Thales –, oder indem sie die Erde nicht nach gleichen Prinzipien entstehen ließen
wie die übrigen Dinge um und auf der Erde – diese Vorstellung findet sich bei Hesiodos, bei
dem Gaia ungeschlechtlich nach dem Chaos entsteht, ohne d dieses etwas anderes dazu bei-
trägt, als das Beltnis zu liefern. Anaximandros dagegen hatte die Erde nicht in die Gegen-
tzlichkeit eingeschlossen; es gab für ihn keinen Gegensatz zur Erde, sie bildete ihm vielmehr
so etwas wie einen zentralen, massiven Fix- und Bezugspunkt für alles andere.
22
Hier setzte nun offenbar Anaximenes mit seiner Kritik an: Auch die Erde müsse aus densel-
ben Prinzipien erklärt werden wie die anderen Dinge; ihr Entstehen könne kein prinzipiell
anderes gewesen sein, wenn die ‚Natur‘ denn eine Einheit darstellen soll.
Anaximenes brauchte also einen Gegensatz, der einerseits wie bei Anaximandros in irgend-
einer Form die Gesetzmäßigkeit des Entstehens und Vergehens der Dinge bedingt, der ande-
rerseits aber auch die Erde mit einschließt. Er bedurfte eines Gegensatzes, der wie bei Anaxi-
mandros in den konkreten Dingen selbst verkörpert und vorhanden ist (ihnen also nicht von
außen aufgeprägt wird; denn übernatürliche, göttliche Mächte waren schon bei Hesiodos zu
den natürlichen Dingen selbst geworden). Der Gegensatz durfte aber auch nicht schon die
Dinge selbst ausmachen, sondern nur ihren Zustand, er durfte nur in ihnen sein. Und so wurde
das Apeiron des Anaximandros, das einzige Prinzip, aus dem sich alles absondert, bei Ana-
ximenes zu dem einzigen Prinzip, dessen Zustand sich nur ändert, das aber in allem enthalten
bleibt.
Weil es seinen Zustand ändert, mußte das Prinzip schon von ‚Anfang‘ (als Prinzip) einen Zu-
stand haben, es mußte bereits in gewisser Weise vorbestimmt sein und durfte nicht – wie bei
Anaximandros – ‚in jeder Hinsicht unbestimmt‘ sein. Es brauchte aber nur soweit bestimmt
zu sein, daß alle anderen Arten der Bestimmung noch glich blieben. Die Art der Be-
stimmung des Prinzips mußte also so beschaffen sein, daß sie trotz anderer, zusätzlicher
Bestimmungen bestehen blieb. Das Prinzip mußte eine Qualität darstellen, die in allen Dingen
und bei allen Zustandsänderungen vorhanden war und selbst nicht verändert wurde.
Solche Überlegungen im Anschluß an die Vorstellungen von Hesiodos und Anaximandros
sind es gewesen, die die Idee der ‚Stofflichkeit‘ entstehen und reifen ließen. Die Abstraktion
hinsichtlich des Gemeinsamen aller Zustände und Dinge, des in allen Zustandsformen Ent-
haltenen, führt so zu der Erkenntnis, daß diese gemeinsame Qualität das Stoffliche, das Ma-
terielle ist, das den Zustandsänderungen Zugrundeliegende, das nur seinen Zustand ändert.
Anaximenes kann jedoch den Abstraktionsschritt noch nicht bis ans Ende führen. Nicht schon
die ‚Materie an sich‘, der ‚Stoff an sich‘ ist für ihn dieses gemeinsame Prinzip, sondern es ist
vorerst noch ein bestimmtes Stoffliches und zwar dasjenige bestimmte Stoffliche, das (ohne
sich selbst grundlegend zu verändern) bereits vielfältige Zustandsänderungen erleiden kann:
Anaximenes sieht deshalb das ‚Luftartige‘ als dieses gemeinsame Prinzip an, die ‚Luft‘, die
auch als Luft schon die verschiedensten Qualitäten annehmen kann, ohne dabei den Charakter
der ‚Luftartigkeit‘ zu verlieren: Die Luft kann kalt oder warm sein, feucht oder trocken, dicht
– wie in Nebel und Wolken oder dünn und verteilt, so d man sie gar nicht direkt wahr-
nehmen kann; sie kann sich in heftiger Bewegung befinden, die man als Wind wahrnimmt,
oder scheinbar ruhen, so daß man sie auch mit dem Tastsinn nicht zu fühlen vermag usw.
Anaximenes bezeichnet dieses Prinzip des Luftartigen, das darüberhinaus aber keinerlei
andere Bestimmung hat, als die ‚unbestimmte Luft‘. Dazu übernimmt er den anaximandri-
schen Begriff des πειρον und macht ihn zum bloßen Attribut der ‚Luft‘ bzw. der Luft-
artigkeit: πείρων ήρ.
Die Luft oder vielmehr das natürliche Substrat, das schon offenkundig die Möglichkeit der
Zustandsänderung verkörpert, wird zum Prinzip erhoben, das in jeder anderen Hinsicht noch
im Sinne des Anaximandros unbestimmt‘ ist das heißt jetzt aber: das Prinzip, das jede
23
4 A
NAXIMENES
: Fragment A 7 D
IELS
-K
RANZ
.
5 A
NAXIMENES
: Fragment B 1 D
IELS
-K
RANZ
.
andere Art von Bestimmtheit empfangen kann. In einem Referat über die Lehren des Anaxi-
menes heißt es dazu bei Hippolytos
4
:
„Wenn die Luft ganz gleichmäßig verteilt sei, sei sie unsichtbar; sie offenbare aber ihr Dasein durch Wärme und
Kälte und durch Feuchtigkeit und Bewegung. Sie sei nämlich ständig in Bewegung; denn was sich verändere,
könne sich nicht verändern, ohne sich zu bewegen.“
Dieser Bericht enthält bereits eine Reihe von interessanten Bemerkungen und Erkenntnissen.
Man kann ihm vor allem entnehmen, daß für Anaximenes Veränderung mit Bewegung ver-
bunden ist, oder daß Veränderungen als Bewegungen aufgefaßt werden. Veränderung ist also
nur eine Form von Bewegung. Die ‚Bewegungeines Dinges erscheint gleichzeitig oder aus-
schließlich als Veränderung. Veränderung und Bewegung sind gleichzusetzen; das, was wir
als (Orts-)Bewegung bezeichnen, ist danach nur eine spezielle Form von Veränderung.
Für das Verständnis des frühgriechischen Denkens ist es wichtig, nicht in den Fehler zu
verfallen, unter ‚Bewegung‘ stets ‚Ortsbewegungzu verstehen. ‚Bewegungkann Ortsbewe-
gung meinen, man hat es in dieser frühen Phase griechischen Denkens aber nie ausschließlich
darunter verstanden. Ortsbewegung bleibt mit anderen Bewegungsformen, die man zum bes-
seren Verständnis deshalb generell etwa mit ‚Veränderungen‘ bezeichnen sollte, eng verbun-
den. Aristoteles und mit ihm die Folgezeit bis ins 18. Jahrhundert wird später vier Bewe-
gungsformen unterscheiden, in denen sich etwas verändern kann; die ‚Ortsbewegung‘ ist nur
eine davon, und alle Bewegungen müssen auf denselben Prinzipien beruhen.
Hier bei Anaximenes sind diese später analysierten und unterschiedenen ‚Bewegungsformen‘
aber noch nicht getrennt, sie treten stets gemeinsam auf; und aufgrund dessen lassen sich die
verschiedenen Erscheinungsformen von Bewegung (Veränderung) auf einen einheitlichen
Nenner bringen, sich auf ein einheitliches Prinzip zurückführen. Folglich bewirkt eine Zu-
standsänderung für Anaximenes gleichzeitig eine Veränderung von Qualitäten, von quali-
tativen Merkmalen, die mit den jeweiligen Zustandsformen verbunden sind. Entsprechend
heißt es in einem Fragment
5
:
„Die sich zusammenziehende und verdichtete Materie erklärt Anaximenes für kalt, dagegen die dünne und
lockere [...] für warm.“
Der Begriff ‚Materie‘/àλη stammt natürlich wieder vom Berichterstatter, hier von Plutarchos
(ca.46 120). Von Platon und Aristoteles eingeführt, wird er überhaupt erst ermöglicht durch
die Unterscheidung von stofflicher und bewegender Ursache, die erstmals am Ende des fünf-
ten vorchristlichen Jahrhunderts bei Empedokles anzutreffen ist. Bei Anaximenes ist ebenso
wie bei Anaximandros und Thales (und den übrigen deshalb so genannten ‚Hylozoisten‘) Be-
wegungs- und Stoffursache noch ungetrennt. Die Bewegungsfähigkeit galt noch als Grund-
eigenschaft des Stofflichen und war selbst durch Abstraktion noch nicht davon trennbar. Stoff
war für diese Zeit noch notwendig ‚bewegter Stoff‘ bzw. ‚bewegungsfähiger Stoff‘. Anaxime-
nes hatte ja auch ausdrücklich gesagt, die Luft sei ständig in Bewegung; denn was sich ver-
ändere, könne sich nicht verändern, ohne sich zu bewegen.
Damit gibt er jedoch erstmals überhaupt eine Begründung für die Bewegtheit des Stoffes,
während Anaximandros und Thales diese Eigenschaft einfach vorausgesetzt und unhinterfragt
24
hingenommen hatten. Thales hatte daraufhin ja alle Dinge als beseelt angesprochen, auch den
Magnetstein, der eine aktive Bewegungseigenschaft besitze. Anaximenes wollte allerdings
nicht – wenigstens nicht in diesem Zusammenhang – nach den Bewegungsursachen fragen.
Er sah, daß die ‚Luft‘ sich ständig bewegt und sich ständig verändert, setzte beides als ver-
schiedene Erscheinungsformen ein und desselben Vorganges gleich und sagte: Die Luft ist
ständig in Bewegung, auch wenn uns diese Bewegung nicht als eine örtliche Versetzung,
sondern als Veränderung einer ihrer Eigenschaften (oder vielmehr: aller ihrer Eigenschaften)
erscheint. Da die Luft sich ständig verändert was durch die Beobachtung als Tatsache
erwiesen sei –, ist sie auch ständig in Bewegung; und sie muß in ständiger Bewegung sein
wenn man das auch nicht wahrnimmt – weil sie sich ständig verändert.
Anaximenes sagte ja, daß verdichtete Luft kalt sei, dünne und lockere dagegen warm. Das
Qualitätenpaar kalt/warm ist also eine wahrnehmbare Eigenschaft, an der sich der nichtwahr-
nehmbare Dichtezustand der ‚Luft‘ ablesen lassen kann. Für den Fall der Qualität kalt und
warm der verdichteten bzw. verdünnten Luft untermauert Anaximenes seinen Schluß erstmals
durch so etwas wie ein physikalisches Experiment: Blase man nämlich die Luft mit zu-
sammengepreßten Lippen durch eine kleine Mundöffnung aus, verdichte man sie also, so sei
sie kalt, hauche man sie dagegen mit weit geöffnetem Munde aus, so sei sie warm. Die
Deutung dieser experimentellen Erfahrung ist natürlich falsch; denn in beiden Fällen hat die
ausgeatmete Luft dieselbe Temperatur (wie wir sagen würden). Sie erscheint uns auf der Haut
nur einmal als kalt und einmal als warm. Das Phänomen ist physiologisch bedingt und wird
durch die Heftigkeit der Luftbewegung gegenüber der in unmittelbarer Nähe der Haut
ruhenden, wärmeisolierenden Luft verursacht, die dort verbleibt oder weggeblasen wird und
dann als Wärmeschutz fehlt.
Obgleich die Deutung des Experiments also falsch ist, zeigt sie, daß Anaximenes (für den die
Deutung natürlich galt) hiermit ein wesentliches Erkenntnismittel jeglicher Wissenschaft von
der Natur entdeckt hatte, nämlich die Möglichkeit, aus sichtbaren oder in anderer Form
wahrnehmbaren Eigenschaften auf das gleichzeitige Vorhandensein nicht wahrnehmbarer
Eigenschaften oder Zustände zu schließen, die mit ihnen verbunden auftreten. Bewußt zum
Erkenntnisprinzip erhoben wird dieses Erkenntnismittel allerdings erst um die Mitte des
fünften vorchristlichen Jahrhunderts und begegnet uns seitdem als das berühmte Ðψις δή-
λων τ φαινόµεναdes Anaxagoras („Das Erscheinende ist das Schaubild des Nicht-Offenba-
ren“, des ‚Nicht-Sichtbaren‘.). Mag sein, daß Anaximenes dieses Verfahren einfach aus der
zeitgenössischen Heilkunde übernommen hatte; schon die Ägypter des zweiten vorchristli-
chen Jahrtausends hatten nämlich eine entsprechende Symptomenlehre entwickelt, die davon
ausging, daß die Krankheit nicht dort ihren Sitz hat, wo sie sich im Körper äußert. Das be-
ruhte ebenso auf Erfahrungen, ohne daß diese vor Hippokrates von Kos, also vor dem aus-
gehenden fünften vorchristlichen Jahrhundert in irgendeiner Form begründet oder erklärt
worden wären.
Für Anaximenes ergab sich diese Anwendungsmöglichkeit aus der Erfahrung oder Ent-
deckung, daß bestimmte Eigenschaften oder Zustände der Luft stets gleichzeitig auftreten,
diese also eine gemeinsame Ursache, ein gemeinsames Prinzip (eben die Luft) haben müssen.
Als dieses Gemeinsame erschloß er die unterschiedliche Dichte der Luft – was er sich dann
25
6 A
NAXIMENES
: Fragment A 5 D
IELS
-K
RANZ
.
7 A
NAXIMENES
: Fragment A 5 D
IELS
-K
RANZ
.
experimentell bestätigte. Damit ergab sich gleichzeitig eine mehr physikalisch orientierte Er-
klärungsweise für die von Anaximandros erkannte Wandelbarkeit der Dinge aus einander, die
nicht über das an den Dingen selbst Beobachtete und Beobachtbare hinauszugehen brauchte
wozu Anaximenes die Wandelbarkeit aus einander unter Beibehaltung dessen, was sich
wandelt, in eine Wandelbarkeit in einander umdachte. Er kam damit methodisch zum Ansatz
eines Erhaltungsprinzips für die Materie (noch vor der eleatischen Ontologie). So sagt denn
auch Simplikios (6. Jahrhundert n. Chr.) über seine Lehren
6
:
„Auch Anaximenes erklärt die zugrundeliegende Substanz r eine einzige und für unermeßlich [sic!], wie
Anaximandros, ßt sie aber nicht unbestimmt wie jener, sondern bestimmte sie, indem er die Luft als den
Urgrund erklärte; sie unterscheide sich aber durch Lockerheit und Dichtigkeit. Alles ist Luft und entsteht durch
Verdichtung und Verdünnung dieser Luft.“
In einem anderen Fragment heißt es
7
:
„Sobald sich die Luft verdichtete, sei zuerst die Erde entstanden, von ganz flacher Gestalt. Daher schwimme sie
auch begreiflicherweise auf der Luft.“
Man denke an die Kritik an Thales’ Auslassen einer Erklärung für das Verharren der Erde;
hier scheint diese Kritik bereits anzuklingen. Anaximandros hatte sich erstmals diesbezüglich
geäußert und behauptet, die Erde verharre deshalb in der Mitte des ‚Apeiron‘, weil kein
Grund vorliege, weshalb sie sich eher zu der einen als zu einer anderen Seite bewegen solle.
Dieses später zu einem solchen erhobene ‚Prinzip des fehlenden hinreichenden Grundes‘ war
in den Augen des Anaximenes sicherlich zu kühn. Die Erde mußte für ihn einen konkreten,
stofflich bedingten Halt in der Mitte erhalten. Da die Erde jedoch in der Luft und aus Luft
entstehe und bestehe, müsse sich natürlich auch unterhalb der Erde solche Luft befinden,
genau wie über ihr, wenn auch jeweils in anderem Zustand. Die Erde schwimme also in der
Luft und schwebe gleichzeitig über und auf Luft so wie ein dürres Blatt, das sich von
seinem Zweig gelöst habe, nicht senkrecht auf den Boden hinunterfalle, sondern, von der Luft
getragen, hin- und hergleitend langsam zur Erde schwebe. Die Erde muß deshalb für Anaxi-
menes wie das als Beispiel angeführte Blatt eine sehr flache Gestalt haben und sehr groß sein,
um von der Luft im Schwebezustand gehalten werden zu können, was hinwiederum aus der
Herkunft und der Luftsubstanz der Erde erschlossen worden war.
War die flache Gestalt einer Erdscheibe bei Hesiodos, Thales und Anaximandros noch ein
Relikt aus der alten Vorstellung, daß die Erde eine flache Gestalt habe, weil sie sich nur in
einer Ebene erstrecke und man niemals schräg auf ihr stehe, wenn man auch noch so weite
Strecken zu Lande oder zu Wasser auf ihr zurücklege, so gab Anaximenes für die aus dieser
naiven Vorstellung sich ergebende Gestalt erstmals eine physikalische Begründung, und zwar
aus dem Systemzusammenhang seiner Physik heraus, gestützt durch eine als analog aufge-
faßte Erscheinung im sinnlich zugänglichen Bereich. Auch das ist neu bei ihm: Sogar das als
selbstverständlich Geltende bedarf einer begründenden Erklärung, die sich widerspruchsfrei
in den Gesamterklärungsversuch einzufügen hat. Die Erde kann nach Anaximenes gar keine
andere Gestalt besitzen; sie muß so flach sein, damit sie auf der Luft schweben kann, was als
Folge ihrer Genese angesehen wird. Es sei nicht so, daß die Erde deshalb auf der Luft
schwimme, weil sie eine so flache Gestalt habe, sondern diese flache Gestalt sei Voraus-
26
8 A
NAXIMENES
: Fragment A 7 D
IELS
-K
RANZ
.
9 A
NAXIMENES
: Fragment A 7 (7)–(8) D
IELS
-K
RANZ
. Vgl. zum Text J
OACHIM
K
LOWSKI
: Ist der Aer des Ana-
ximenes als eine Substanz konzipiert? Hermes 100 (1972), 131–142. Dem von ihm gezogenen Schluß vermag
ich nicht zu folgen. Hier (H
IPPOLYTOS
I, 7 [7]) ist nicht von der Verdünnungsreihe die Rede wie in I, 7 (3) (siehe
oben), sondern nur von einzelnen meteorologischen Phänomenen.
setzung für die Möglichkeit des aufgrund der naiven Anschauung und als Resultat des aus der
‚Physik‘ erschlossenen Schwebens der Erde.
Ein Relikt aus den Vorstellungen des Hesiodos und Anaximandros blieb allerdings insofern
noch erhalten, als auch Anaximenes die Erde als erstes aus der Luft entstehen ließ, obgleich
ein sukzessiver Verdichtungsprozeß innerhalb seiner Vorstellungen eigentlich angebrachter
gewesen wäre. Die Erde blieb somit auch für Anaximenes Bezugspunkt für alle anderen sich
aus der Luft bildenden Dinge. Das bestätigt auch wieder, daß seine Lehren in direkter Aus-
einandersetzung mit denen des Anaximandros entstanden waren.
Aus der Luft entstehen nach Anaximenes selbstverständlich auf ähnliche Weise auch die
meteorologischen Erscheinungen. Hierzu heißt es in einem Bericht
8
:
„Verdichtet und verdünnt erscheint die Luft mlich als etwas Unterschiedliches; denn wenn sie zum Lockere-
ren verdünnt wird, entsteht Feuer, während Winde wieder verdichtetere Luft sind; aus der Luft entstehen
entsprechend der Verdichtung Nebel, noch stärker verdichtet Wasser, dann weiter verdichtet Erde und schließ-
lich bei stärkster Verdichtung Steine, so daß die Extreme des Werdens gegensätzlich sind, warm und kalt.“
Diese Vorstellung beruht zum Teil auf der Kenntnis von den verschiedenen Aggregatzustän-
den des Wassers als flüssigen Wassers, festen Eises und luftartigen Dampfes. Die Wolken be-
stehen aus Wasserdampf, der sich in Niederschläge verwandelt. Diese aus der Erfahrung
gegebene Verwandlungsreihe wurde von Anaximenes nach beiden Seiten um eine Stufe
ergänzt, um alle Erscheinungsformen einbeziehen zu können. Verdünnte Luft ergibt danach
Feuer, verdichtete Erde (Eis) Stein:
Feuer
Verdünnung Wärme Trockenheit Bewegtheit
Winde
Wolken @
Luft
Regen
Wasser
Erde A
Verdichtung Kälte Feuchtigkeit Unbewegtheit
Stein
Speziell zu den meteorologischen Phänomenen heißt es dann in dem zitierten Bericht an spä-
terer Stelle
9
:
„Winde entstünden, wenn die zuvor verdichtete Luft durch Stoß in Bewegung gerate. Zusammengeballt und
mehr verdichtet entstünden Wolken, und so verwandele sie sich in Wasser. Hagel entstehe, wenn das aus den
Wolken niedergehende Wasser gefriere, Schnee dagegen, wenn eben dieses mehr Feuchtigkeit enthalte und dann
Festigkeit annehme“
dann folgen einige Phänomene, die bloße optische oder andere Begleiterscheinungen an
bestimmten Naturkörpern sind und nicht eigene Entitäten, Wesenheiten:
„Der Blitz dagegen entstünde, wenn die Wolken durch die Gewalten der Luftströmungen zerrissen würden; denn
dann entstünde ein heller und feuriger Strahl [weil die Luft dort, so kann man ergänzen, sehr verdünnt wird]. Der
Regenbogen entstünde, wenn die Sonnenstrahlen auf zusammengeballte Luft träfen; Erdbeben dagegen, wenn
die Erde stärkere Wandlungen infolge von Erwärmung und Abkühlung erführe.“
27
10 A
NAXIMENES
: Fragment A 21 D
IELS
-K
RANZ
.
Es wurde schon bemerkt, daß Wärme und Kälte für Anaximenes eine Begleiterscheinung der
Verdichtung und Verdünnung sind, so daß die Erdbeben für ihn aus regionalen Ausdehnun-
gen und Schrumpfungen des Erdkörpers resultierten, die durch Erwärmung und Abkühlung
entstehen. Das eine sei die notwendige Begleiterscheinung des anderen, so daß sie auch
gegenseitig aus einander resultierten: Die Luft werde kalt, wenn sie verdichtet werde wie in
dem Beispiel mit der aus einer engen Mundöffnung geblasenen kalten“ Luft und sie werde
verdichtet, wenn sie abkühle (abgekühlt werde) wie hier in dem Bericht als Ursache für die
Erdbeben.
Zur Frage der Erklärung von Erdbeben ist noch ein weiterer Bericht, jetzt von Aristoteles,
anzuführen, der auf den ersten Blick dem eben zitierten zu widersprechen scheint. In seinen
Meteorologika heißt es
10
:
„Anaximenes behauptet, daß die Erde, wenn sie durchnäßt und wenn sie ausgetrocknet würde, Risse bekäme
und von den dann losgerissenen Erdmassen, die [in die Tiefe] stürzten, erschüttert würde. Daher entstünden die
Erdbeben sowohl in Zeiten der Dürre wie umgekehrt in Zeiten übermäßiger Regengüsse.“
In dem anderen Fragment hatte es dagegen geheißen, Erdbeben würden durch Verdichtung
und Abkühlung auf der einen Seite und Verdünnung und Erwärmung auf der anderen Seite
entstehen. Der aristotelische Bericht zeigt nun, daß die gleichzeitig auftretenden Eigen-
schaften offenbar jeweils noch um eine vermehrt werden müssen: Verdichtung, Kälte und
Feuchtigkeit gehören zusammen und ebenso Verdünnung, Wärme und Trockenheit. Regen
und Wasser sollen dichte Luft sein und kalte und feuchte zugleich; Feuer soll trocken, warm
und äußerst verdünnt sein. Wenn eine dieser Eigenschaften erkannt sei, seien auch die an-
deren erschließbar und damit bekannt, weil sie stets gleichzeitig mit jener aufträten. Und
alle Eigenschaften sind als relative zu verstehen; sie sind jeweils nur mehr oder weniger aus-
geprägt und führen dadurch zu einer schrittweisen Zustandsänderung der ursprünglich gleich-
mäßig verteilten Luft.
Diese gleichmäßig verteilte Luft als solche sei „unsichtbar“, wie es in dem zuerst zitierten
Teil des Berichts von Hippolytos hieß, sie offenbare jedoch ihr Vorhandensein durch Kälte
und Wärme und durch Feuchtigkeit und Trockenheit daneben aber natürlich auch durch
Bewegung. Unter ‚Bewegung‘ ist hier die örtliche Versetzung zu verstehen, die ihrerseits
nach Anaximenes aus der Veränderung des von derselben Luftmenge eingenommenen Volu-
mens, nämlich aus der Veränderung der Dichte der Luft resultiert.
Dieser Bericht enthält somit die Bestätigung dafür, daß jene beiden sich scheinbar widerspre-
chenden Referate über die Erdbebenlehre des Anaximenes in der erschlossenen Form zusam-
mengehören: Die Luft wird wahrnehmbar durch ihre vier Eigenschaften warm/kalt, feucht/
trocken, verdünnt/verdichtet sowie bewegt/unbewegt; und nur in diesen Eigenschaften
äußern sich die unterschiedlichen Zustandsformen der Luft in den verschiedenen Dingen, die
alle Luft sind und Luft bleiben; denn ihr Entstehen und Vergehen soll ja nur eine Zustands-
änderung der Luft sein, aus der sie bestehen und die nach ihrem Vergehen in anderer Zu-
standsform weiter besteht. Das Luftartige ist also der Träger dieser verschiedenen Eigen-
schaften, es ist dasjenige, an dem diese Eigenschaften in den verschiedenen Formen auftreten
können, wenn auch gleichzeitig immer nur in einem bestimmten Grad zwischen den Extre-
28
11 Siehe etwa bei A
ËTIOS
die Einleitung zu A
NAXIMENES
: Fragment B 2 D
IELS
-K
RANZ
.
12
A
NAXIMENES
: Fragment A 22 D
IELS
-K
RANZ
und die Einleitung zu Fragment B 2 D
IELS
-K
RANZ
.
13 In der Einleitung zu A
NAXIMENES
: Fragment B 2 D
IELS
-K
RANZ
.
14 A
NAXIMENES
: Fragment A 7 (5) D
IELS
-K
RANZ
.
15 A
NAXIMENES
: Fragment A 16 D
IELS
-K
RANZ
.
men. So wird das sonst nicht weiter bestimmte Luftartige zum Grundstoff, zum Eigenschafts-
träger, also zu ‚Materie‘.
Die Luft ist das beweglichste der Naturelemente, in ihr gehen die schnellsten und größten
Veränderungen vor; und so wundert es nicht, daß Anaximenes gerade diese veränderliche Er-
scheinung zu seinem Prinzip erwählt hat, aus dem alle Dinge bestehen sollen. Man sagte spä-
ter
11
, er lasse alles aus Luft entstehen und in Luft vergehen in demselben Sinne, wie Aristo-
teles es von Thales und dem Wasser behauptet hatte. Diese Anschauungsweise setzt natürlich
anachronistisch die spätere Vier-Elementen-Lehre oder wenigstens eine Mehr-Elementen-
Lehre voraus, nach der sich die ‚Elemente‘ mit prinzipiell verschiedenen Eigenschaften in
einander verwandeln und umwandeln, wenn die Eigenschaften sich auf irgendeine Weise
wandeln, nach der also mehrere qualitativ von einander zu unterscheidende Grundstoffe je-
weils ganz bestimmte Eigenschaften besitzen. Solche Lehren entstanden aber erst später. Für
Anaximenes gab es nur den einen Stoff ‚Luft‘ mit wandelbaren Eigenschaften: Die Dinge
sollen nicht aus Luft entstehen und wieder zu Luft werden, sondern sie seien und blieben stets
und immer Luft.
So sagt denn auch der große griechisch-römische Arzt Galenos hierzu richtig
12
:
„Ich erkläre den Menschen nicht schlechthin für Luft, wie das Anaximenes tat“;
und bei Aëtios heißt es ähnlich
13
:
„Anaximenes irrt, wenn er meint, daß die Lebewesen aus einfacher und einförmiger Luft und Lufthauch gebildet
seien“
sie müßten vielmehr aus mehreren heterogenen Stoffen bestehen. So lassen sich denn auch
andere Berichte über Lehren des Anaximenes verstehen. Bei Hippolytos heißt es etwa zum
Entstehen der Gestirne
14
:
„Die Gestirne seien aus der Erde entstanden, und zwar dadurch, daß die Feuchtigkeit von dieser emporgestiegen
wäre. Sowie diese sich verdünnt hätte, sei Feuer entstanden, aus dem Feuer aber, das in die Höhe gestiegen sei,
hätten sich die Gestirne gebildet.“
Von anderer begrifflicher Ebene aus beschrieb Theon von Smyrna diesen Vorgang so, daß
Anaximenes lehre
15
,
„daß Sonne, Mond und die übrigen Gestirne den Ursprung ihres Entstehens von der Erde hätten. Er erklärte also
die Sonne für Erde; diese re jedoch infolge ihrer raschen Bewegung erhitzt worden und in diesen Brenn-
zustand geraten.“
Es wird wieder deutlich, daß man sich in dieser späteren Zeit des zweiten nachchristlichen
Jahrhunderts, aus dem der Bericht stammt, nicht vorstellen konnte, d alles ein und derselbe
Stoff sein solle. Anaximenes fehlte noch der Begriff ‚Materie‘, der sein Anliegen den späteren
Autoren verständlicher gemacht hätte; er bezeichnete diese noch mit dem Namen für eines der
späteren Elemente. Im Rahmen einer Mehr-Elementen-Lehre bedeutete die Aussage, daß die
Sonne oder ein anderes Gestirn den Ursprung ihres Entstehens von der Erde hätten, aber, daß sie
notwendig auch ‚erdig‘, also ‚Erde‘ gewesen sein müßte, die sich zu ‚Feuer‘ gewandelt hätte.
29
16 Vgl. insbesondere den Anfang des Berichtes von Hippolytos in A
NAXIMENES
: Fragment A 7 (1) D
IELS
-K
RANZ
,
wo die an die Formulierungen Hesiodos’ erinnernde Ausdrucksweise für das Uewig SeiendeU wegen ihrer
Altertümlichkeit durchaus auf Anaximenes zurückgehen könnte: Αναξιµένης [...] έρα πειρον §φη τ¬ν ρχ¬ν
εÉναι, ¦ξ οâ τ γινόµενα κα τ γεγονότα κα τ ¦σόµενα κα θεο×ς κα θεÃα γίνεσθαι.
Auch die zweite Folgerung ist in den Worten des Berichterstatters für Anaximenes anachroni-
stisch und somit falsch, wenn sie auch noch den richtigen Kern enthält. Es hieß, die Gestirne
wären infolge ihrer raschen Bewegung erhitzt worden. So sollte etwa später ein Anaxagoras
denken, nicht aber bereits Anaximenes. Für diesen folgte aus der starken Verdünnung der
Luft in den feurigen Zustand notwendig eine schnelle Bewegung, da diese eine Eigenschaft
dieses Zustandes der Luft sei. Verdünnung, Feuer, Trockenheit und rasche Bewegung beding-
ten als gleichzeitig auftretende Eigenschaften eines bestimmten Luftzustandes einander; und
die Gestirne bestünden aus Luft eben diesen Zustandes.
Damit wird erst Anaximenes zu dem Begründer der Vorstellung von irgendwelchen physi-
kalischen Erhaltungssätzen; für ihn bleibt die Luft Luft, und zwar immer in derselben Menge.
Anaximenes gelangte aus einer Verknüpfung hesiodischen und anaximandrischen Gedanken-
guts zu seinen Vorstellung; und so wundert es denn auch nicht, daß er trotz der vorgenomme-
nen Umformungen noch Grundannahmen seiner beiden Vordenker in seine Lehren aufnahm
und weitertradierte. So erklärt er auch seine ‚Luft‘ wie Anaximandros sein ‚Apeiron‘ als den
Gott. Als Gott ist sie aber unvergänglich und unveränderlich und muß folglich auch stets als
‚Luft‘ erhalten bleiben (nicht notwendig als ‚Luft‘ desselben Zustandes)
16
. Sie wurde für Ana-
ximenes die von den veränderlichen Zustandsformen (Eigenschaften) abstrahierte unver-
änderliche ‚Luftartigkeit‘ als solche, das Stoffliche. Auch die Erhaltungssätze der späteren
griechischen Naturwissenschaft, auf denen diejenigen der neuzeitlichen basieren oder nach
denen sie gebildet worden sind, haben also einen religiösen Ursprung. Daß die gesamte Natur
eine Gottheit ist, steht hier bei Anaximenes sogar noch deutlicher, da alle Dinge Luft sein
sollen, also diese Gottheit, während bei Anaximandros nur alle Dinge ihren Ursprung im gött-
lichen ‚Apeiron‘ haben sollen.
Die ganze Welt bestehe aus Luft, und die Luft sei der Gott. Auch die Seele sei luftartig wie
schon bei Anaximandros und später wieder bei den Stoikern. Die Seele ist aber auch dasje-
nige, was den toten Körper beseelt, ihn bewegungs- und wahrnehmungsfähig macht; sie ist
das bewegende Prinzip. Daraus folgt aber für Anaximenes andererseits: Luft ist in der Lage,
andere Luft zu bewegen, wenn sie in dem Zustand ist, den wir am Lebewesen als Seele be-
zeichnen. – ‚Seele‘ (ψυχή, psyche) ist ursprünglich der ‚Hauch‘, der ‚Atem‘; sie verläßt den
Menschen oder das Tier, wenn diese zu atmen aufhören oder vielmehr umgekehrt: Das Le-
bewesen hört zu atmen auf, nachdem die Seele es verlassen hat. (Man spricht auch heute noch