Der deutsche öffentliche Dienst galt lange Zeit als Modellarbeitgeber, der die Arbeitsstandards maßgeblich beeinflusste und mit seinem distinkten Beschäftigungssystem eine Vorbildrolle für die Privatwirtschaft einnahm (Bach/Kessler 2007, Keller 2008). In einem marktwirtschaftlichen Beschäftigungssystem war der öffentliche Dienst weniger durch wirtschaftliche Zwänge, Gewinnstreben und eine Marktorientierung und stärker durch eine Orientierung am Gemeinwohl geprägt. Basierend auf der Art der produzierten Güter, seiner bürokratischen Funktionslogik, stark ausgeprägten industriellen Beziehungen und besonderen gesetzlichen Grundlagen entstand ein Beschäftigungssystem mit Regelungen, die den öffentlichen Dienst stärker von kurzfristigem wirtschaftlichem Kostendruck und Wettbewerb entkoppelten und das Entstehen von vorteilhaften Beschäftigungsbedingungen begünstigten, die das Potential boten, sich positiv auf zentrale Lebensbereiche wie die Familiengründung oder die Jobzufriedenheit auszuwirken (Becker 1993; Czerwick 2010; Gallie 2007; Gottschall et al. 2015; Sauer et al. 2022; Scherer 2005; Tepe/Kroos 2010).
Inwieweit der deutsche öffentliche Dienst diese Sonderrolle noch einnimmt, ist nahezu unerforscht. Ab den 1990er Jahren geriet der öffentliche Dienst aufgrund wiederholt auftretender Wirtschaftskrisen, der Wiedervereinigung und zunehmenden Staatsdefiziten unter Druck (Kalleberg 2012; Kronauer/Linne 2005; Balfour/Grupps 2000; Kilian/Schneider 2003). Im deutschen öffentlichen Dienst wurde sich, wie in vielen europäischen Ländern, an den Ideen des New Public Management (NPM) orientiert (Pollitt et al. 2007). Das NPM hat das Idealbild eines „Minimalstaates“, der sich auf die Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit konzentriert und lediglich die Erfüllung von Aufgaben garantiert, anstatt sie selbst zu vollbringen (Czerwick 2007). Markfähige Güter und Dienstleistungen sollten fortan auch vom Markt produziert werden. Für die verbleibenden Tätigkeiten sollte ein Wechsel – weg von einer bürokratischen hin zu einer kapitalistischen Leistungs- und Verwertungslogik – vollzogen werden. Der öffentliche Dienst sollte wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen agieren, um Kosten zu senken und die Produktivität zu erhöhen (Czerwick 2007; Sauer et al. 2019). Der NPM-Ansatz biete das Potential das Beschäftigungssystems des öffentlichen Dienstes beutend zu verändern (Demmke 2011; Sauer et al. 2022; Wilson et al. 2015). Deutschland galt jedoch bei der Umsetzung der Reformen als Nachzügler (Keller 2011; Pollitt/Bouckaert 2011), mit strukturellen Besonderheiten gegenüber anderen europäischen Ländern, die eine gesonderte Betrachtung von Umsetzung und Konsequenzen der Reformen erfordern (Gottschall et al. 2015).
Die diskutierten Konsequenzen reichen dennoch von einem Verschwinden der Position als Modellarbeitgeber mit distinktem Beschäftigungssystem durch eine Angleichung an die Bedingungen der Privatwirtschaft einhergehend mit Gefahren für die gesamtgesellschaftliche soziale Integration (Gallie 2007; Gottschall et al. 2015; Keller 2008; Keller 2010), über eine Polarisierung bei der die bisherigen, universal vorteilhaften Bedingungen zunehmend nur noch für die Beamten gelten, während für die Arbeitnehmer*innen eine immer stärkere Annäherung an die Privatwirtschaft stattfindet (Czerwick 2007; Gottschall et al. 2015; Henneberger 1997; Hohendanner et al. 2015; Keller/Seifert 2014), bis zu einer weitestgehend stabilen Distinktion des Beschäftigungssystems und zentraler Beschäftigungsbedingungen zur Privatwirtschaft (Bogumil/Jann 2009; Briken et al. 2014; Ellguth/Kohaut 2011; Keller 2011), sodass der öffentliche Dienst weiterhin die Beschäftigten vor zunehmenden Marktkräften schützen, die Funktionsfähigkeit des Staates erhöhen und die gesellschaftlichen Spaltungen reduzieren könnte (Balfour/Grupps 2000; Becker 1993; Gallie 2007; Keller/Seifert 2013; Streeck 2009).
Die bestehende Forschung fokussiert sich entweder auf eine intensive theoretische Diskussion des strukturellen Wandels aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht (Bogumil/Jann 2009; Czerwick 2007; Keller 2006), bei der die empirische Analyse der Konsequenzen für den Arbeitsmarkt in den Hintergrund tritt. Andere Studien bieten detaillierte Analysen der Konsequenzen und betrachten dabei in Fallanalysen ausschließlich einzelne Arbeitsbereiche, wie die kommunalen Verwaltungen, die Polizei oder die Abfallentsorgung (Bogumil et al. 2007; Gottschall et al. 2015; Schultheis et al. 2014). Die umfassenden Untersuchungen, die sowohl Strukturen als auch Konsequenzen aus einer soziologischen Perspektive für den gesamten öffentlichen Dienst in den Blick nehmen, liegen entweder weit zurück und erforschen die Phase des Ausbaus des öffentlichen Dienstes (Becker 1993), beziehen sich ausschließlich auf den Anfang der Reformphase (Henneberger 1997) oder konzentrieren sich nur auf einzelne Jahre der Reformperiode (Keller/Seifert 2014).
Die vorliegende Arbeit erweitert den Forschungstand zu einem öffentlichen Dienst im Wandel, durch die Untersuchung von zwei Forschungsfragen in vier Artikeln. (1) Wie hat sich der deutsche öffentlichen Dienst über die vergangenen drei Dekaden entwickelt und welche Auswirkungen hatte dies für das distinkte Beschäftigungssystem und die vorteilhaften Bedingungen? Diese Frage wird in Artikel 1 und 2 unter Berücksichtigung von zentralen strukturellen und soziostrukturellen Merkmalen untersucht. Die zweite Forschungsfrage wird in Artikel 3 und 4 bearbeitet und baut auf den Ergebnissen aus den Analysen in Artikel 1 und 2 auf. Es wird erstmals sehr detailliert in umfangreichen Mediations- und Moderationsanalysen untersucht, ob die bestehenden Unterschiede zwischen öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft ausreichen, um einen relevanten Einfluss auf die individuell und gesellschaftlich bedeutende Lebensverlaufsereignisse des Erwerbseinstieges und der Familiengründung zu nehmen: (2) Wie beeinflussen die Beschäftigungsbedingungen im öffentlichen Dienst zentrale Lebensereignisse?