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Fremd-
oder
seLbstbesti
m mt?
Ref
[exivität aLs Methode
zur Bearbeitung
der unauf Lösbaren Paradoxie
Sozia[er Arbeit
Text:
Prof. Dr. ELena
WiLheLm, CorneLia
Rüegger
:;llel'lUr-rC
Die Einschränkung
der Organisations-
und
Handlungsautonomie
der Sozialen
Arbeit
durch
die Rationalitäten
anderer
Systeme
(Bürokratie,
Ökonomie,
Poli-
tik)
und
ihre
Fremdbestimmtheit
durch
andere Professionen
(Medizin,
Jurispru-
denz,
Pädagogik
oder Psychologie)
ist
seit Beginn ihrer
Geschichte
ein viru-
lentes Thema.
1922
sah
'§Tilhelm
Feld die
größte Ge-
fahr ftir
die Soziale Arbeit
darin liegen,
dass die
Verwaltungsjuristen nur
auf
einen
,,reibungslosen
Ablauf
des Klap-
peratismus" eingestellt
seien, und ihnen
die Besonderheit
der
Fürsorgearbeit
nicht
einleuchte
(vgl.
Feld
1922a,
S.
165). Feld
sah
in
der Bürokratisierung
und
im
,Juristenmonopol"
das größte
Verhängnis
der Fürsorge
und unter-
strich seine Deutung mit
Hilfe eines
Briefes,
den er von einer Fürsorgerin
er-
halten hatte:
,,Der
ewig
unnötige Kampf
um Dinge,
die
klar
auf der Hand liegen
und die wir dennoch nicht
aufnehmen
und bearbeiten können,
weil Versränd-
nislosigkeit
des
juristischen
Cheß sich
dagegen stemmt, macht
sehr müde
und
schwächt
unsere Kraft
fur unsere ei-
gentliche Arbeit."
(ebd.;
vgl. auch Feld
1992b).
Schon in den Zwanzigerjahren
wurde an Tägungen
und Kongressen
die bürokratische
Struktur moniert,
welche
die
Fürsorge
in ihren
schweren
Aufgaben
behindere.
'§(l'urde
in
der ge-
sellschaftskritischen
Phase
der
70er
Jah-
re insbesondere
das
,,doppelte
Mandat"
der Sozialen Arbeit
zwischen Hilfe
und
Kontrolle
verhandelt
(vgl.
Bohnisch/
Lösch 1998), richtete
sich in
den
90er
Jahren
die Aufmerksamkeit
erneut auf
die strukturlogische
(Un-)MOglichkeit
professionellen Handelns
im Kontext
bürokratischer
Organisationen
("g1.
Oevermann 1996;
Schütze 1996).
In der aktuellen
Diskussion um
,,Sozial-
management"
und betriebswirtschaftlich
ausgerichtete
Organisationsreformen
als
Bedingungen
professionellen
Handelns
(vgl.
Mtiller 2000;
Thole/Cloos 2000)
scheint
das
Disziplinierungsproblem
auf
beiden Seite zu verschwinden.
Die
Klientin
wird
(vermeintlich)
zur Kun-
din und
der
Sozialarbeiter zum
,,Case-
manager".
Vor dem Hintergrund
em-
pirischer Erkenntnisse
wird allerdings
deutlich, dass
die Sozialhilfe
nicht nur
die
Klientel
diszipliniert, sondern auch
das Personal
(vgl.
Maeder/Nadai 2004,
s.147).
.§(l'er
heute also
von
,,zunehmender
Bü-
rokratisierung"
spricht
(vgl.
z.B. Dewe/
Otto
2005,
S. 181), sollte
das
histori-
sche Bewusstsein
etwas schärfen. Und
auch
zur
oft kritisierten
,,zunehmenden
Ökonomisierung" der Sozialen Arbeit
(vgl.
ftir eine
Übersicht Vilken
2000)
lassen
sich entsprechende historische
Vorläufer finden.
Die Frage,
ob und inwiefern
die
Soziale
Arbeit fremdbestimmt
sei oder nicht,
findet im historischen
und aktuellen
T
h e o r i edisktrs divergierendeAntworten.
Diese
gegenwärtigen
Antworten
werden
nachfolgend
dargelegt und diskutiert,
um anschließend einen möglichen
\Veg
im Umgang mit
der unaufösbaren
Pa-
radoxie
Sozialer Arbeit anzudeuten,
der
sich an
Pierre
Bourdieus Konzept
der
wissenschaftlichen Reflexivität
anlehnt.
Refexivität ist
selbswerständlich ein viel
postulierter
Gedanke
in
der Sozialen
Arbeit
und nicht neu. Doch
wird Refe-
xivität
vielfach auf die Falldeutung ein-
gegrervt, kaum
spezifiziert und bleibt
ein
häufig
bis zur Bedeutungslosigkeit
vages Etikett.
Dre systerntheoi-etrsch
i-req ru nd eien Thes.. n
C e
r
Autrromie
Sozia Ler,Ar-bert
Ein Teil
der scientifc community betont
seit
geraumer
Zeit
die Normalisierung
der Sozialen Arbeit als Profession so-
wie ihren
zunehmenden Zugewinn an
Autonomie. Begriffe wie,.autonome
Profession",,,postmoderne Professio-
nalität"
oder,,Dienstleistungsprofessio-
nalität"
stellen hierfür Sinnstiftungsan-
gebote dar. Insbesondere wird auch
die
quantitative Ausdehnung der Sozialen
Arbeit
im 20.
Jahrhundert
zur Begrün-
dung ihrer Autonomie herangezogen.
Thomas Rauschenbach
(1999)
zeichnet
die
Normalisierung
und
Entstigmatisie-
rung
der Sozialen Arbeit nach, die sich
von der modernen, wohlfahrtsstaatlich
mitkonstituierten hin zu
einer
sozialpo-
litisch
unabhängigen
Profession
enrwi-
ckelt habe. Auch Roland Merten
(1997)
unterstreicht
die quantitative
Ausdeh-
nung der
Sozialen
Arbeit. Er versucht,
ihre Autonomie
damit
zu belegen,
dass
sie als
gesellschaftliches
tilsystem eine
einzigartige Funktion
innehabe,
wo-
durch sie sich von allen anderen Teilsys-
temen abgrenze. Sie sei demzufolge mit
allen anderen Teilsystemen
ungleichar-
tig. Gleichrangig seien diese
Teilsysteme
deshalb, da kein System die
Funktion
eines anderen Systems übernehmen
könne, ohne dass es in der Folge darin
aufgelöst würde. Solange also ein
Teil-
system existiere, sei es auch autonom,
womit die Autonomie der Sozialen
Arbeit bewiesen sei
(vgl.
ebd., S.
20f.).
Die Autonomie
von
Teilsystemen wird
dadurch garantiert, dass diese
funk-
tional und operativ geschlossen sind.
Jedoch
wird die Frage, ob die Soziale
Arbeit
ein eigenständiges
Funktions-
Sl0 01/O9_Schwerpunkt
system
darstellt, durchaus
auch kontro-
vers diskutiert
(frir
eine Übersicht vgl.
M..t.r, 2000). So stellt
gemäß
Michael
Bommes und Albert Scherr
-
im Ge-
gensatz
zur Einschätzung von Roland
Merten oder Dirk Baecker
-
die Sozi-
ale Arbeit
(noch)
kein
eigenständiges,
ausdifferenziertes Funktionssystem dar,
woraus sie
folgern,
dass die
Etablierung
der Sozialen
Arbeit
als eigenständige
Profession
eher skeptisch einzuschätzen
sei
(vgl.
Bommes/Scherr 2000). Peter
Sommerfeld
markiert
die analytischen
Bestimmungsmerkmale, welche zu ei-
ner
positiven
Einschätzung
der
funktio-
nalen Eigenständigkeit
Sozialer
Arbeit
führen
(vgl.
Sommerfeld
2000),
weist
jedoch
theoretisch wie empirisch nach,
dass sich dieser theoretisch erhobene
Autonomieanspruch des Funktionssys-
tems
nicht
logisch zwingend auch auf
der
Ebene
der
Profession zeigt.
Über die
Beobachtung
der quantitativen Ausdeh-
nung
hinaus, wird der Nachweis der So-
zialen Arbeit
als
normale
und autonome
Profession haufig mit
einer weitgehen-
den Abstinenz, manchmal gar Ignoranz
gegenüber empirischen
Erkenntnissen
bewerkstelligt
(vgl.
auch Y/ilhelm
2005,
S.
31ff.).
Diese
Erkenntnisse nämlich
deuten
viel
eher daraufhin, dass es un-
ter
den
Professionen Interdependenzen,
funktionale
Überschneidungen, Über-
und Unterschichtungsprozesse gibt und
es
innerhalb
von einzelnen
Handlungs-
feldern auch zu Nivellierungen
der
Pro-
fessionen kommt
(vgl.
auch Stichweh
1996, S.
5o).
Andere Mitglieder
der
scientifc com-
muniry beziehen sich auf Ulrich Oe-
vermanns strukturtheoretische Begrün-
dung
professionalisierten Handelns
(1996).
Oevermann behauptet,
dass
bürokratische
und ökonomische
Ra-
tionalität professionelle Rationalität
durchbreche und die Soziale Arbeit auf-
grund des
Eindringens
dieser Rationa-
litäten in
ihre Handlungsmöglichkeiten
keine Profession sei. Die fehlende bzw.
eingeschränkte Autonomie lässt
sich
auf
zwei
Ebenen nachzeichnen:
Zum
einen
werde
durch die beschränkte
Freiwil-
ligkeit
der
Klientel in
der
Ambivalenz
von Hilfe
und
Kontrolle
die
Schließung
eines
Arbeitsbündnisses
erschwert und
professionelles Handeln damit ver-
unmöglicht. Professionelles
Handeln
werde
zum
anderen aber auch dadurch
verhindert,
indem
die bürokratische
Rationalität auf Standardisierung und
Routinisierung abstellt, womit die
Hilfe
zur Krisenbewältigung und damit
die
Autonomie professionellen
Handelns
eingeschränkt sei.
Oevermanns Vorstellung von
Professio-
nen existiert empirisch allerdings
nicht
-
noch nicht einmal im
medizinisch-the-
rapeutischen Handeln, anhand dessen
Oevermann seine Theorie
idealtypisch
entwickelt hat. Auch die
Arzteschaft be-
klagt
sich über die
Fremdbestimmung
ihres Handelns
(vgl.
exemplarisch
Hop-
pe 2004; Kolkmann et al. 2004).
Alle
Professionen handeln im Kontext
po-
litisch
und ökonomisch
beeinflusster
Bedingungsgefuge, in organisationalen
Kontexten
und stehen
in Interaktion
mit anderen Professionen. Und das
Arbeitsbündnis ist auch in therapeuri-
schen Kontexten keine demokratische
Beziehung in einem Schonraum.
Alle
Professionen erfüllen einen öffentlichen
Auftrag, der sich
nicht
auf die
Bezieh-
ung
zwischen zwei Personen reduzieren
lässt, von denen die eine
Person die
Krise
der anderen
wohlmeinend und
stellvertretend deutet. Oevermann
und
seine Rezipienten
in
der Sozialen
Arbeit
klammern Machtfragen
notorisch aus.
'Während
im erstgenannten
Zugang die
Autonomie der Sozialen
Arbeit als her-
gestellt
gilt, wird unter strukturtheore-
tischer
Prämisse
die
Fremdbestimmung
;
der Sozialen Arbeit als
unumstößlich
und
kategorisch
professionsverhindernd
konstatiert
und bleibt nur noch zu
bekla-
gen. Es ist allerdings
erstaunlich, warum
gerade Oevermann,
der
selber
ja
mit
der
Konstruktion
von,,widersprüchlichen
Einheiten"
operiert und
damit einen
ge-
eigneten Begriff
geschaffen hat,
um am-
bivalente
Strukturierungen
als dynami-
sche Größen zu
begreifen, kategorisch
auf
diese
Autonomieeinschränkung
abstellt und
die Soziale
Arbeit
dadurch
als nicht professionalisierbar
beschreibt.
In
der Realität zeigt
sich, dass
sich die
unterschiedlichen
Logiken
zu kon-
textspezifischen
Formen professionel-
ler Praxis
verflechten
und sich in Folge
von kollektiven Aushandlungsprozessen
lokale
Deutungen
und
Ausprägungen
von professionellem Handeln
ausbilden
(vgl.
Nadai/Sommerfeld
2005).
Un-
seres Erachtens
stellen die
lü/irkungen
bürokratischer,
politischer
und ökono-
mischer
Rationalitäten
auf
die
professi-
onelle Rationalität keine
Einbahnstra-
ße
dar. Organisationen sind keine
vom
Handeln
der Akteurinnen
und Akteure
unabhängigen
Strukturen.
Dre rnteraktionrstisch
begr undete
ihese d-oT zu
bearbeiienden
Paradoxien ScziaLel
Arbett
Auf diesen
Sachverhalr verweisen
vor
allem zwei Vertreter in
der Tiadition
des Symbolischen
Interaktionismus
-
Andrew Abbott
(1988)
und Fritz
Schütze
(1996,
2000). Abbott
unter-
sucht
interprofessionelle
Konflikte
und
Kräfteverhältnisse
und geht
der
Frage
der
Entwicklung,
Teilung,
des Zusam-
menschlusses,
der Übernahme
und des
Verschwindens
von
Professionen
nach.
,,My
underlying question concern
the
evolution and interrelations
of profes-
sions"
(ebd.,
S. B). Die Beziehungen
der Professionen
untereinander
seien
der
entscheidende
Motor professionel-
ler
Ausdifferenzierungen.
Auch Fritz
Schütze geht nicht von
einem Idealty-
pus
professionellen Handelns
bzw. von
Professionen
aus, sondern von
der empi-
rischen Rekonstruktion
professioneller
Handlungsprobleme
und
-paradoxien.
Professionelles Handeln
sei, so
Schütze,
durch Unwägbarkeiten,
Risikos, Unge-
wissheiten
und
Beeinfussungen
von
an-
deren
Logiken
gekennzeichnet,
welche
grundsätzlich nicht aufhebbar
seien.
Das professionelle Handeln
sei dann be-
droht, wenn diese'Widersprüchlichkei-
ten in
den
Handlungssituationen
ein-
seitig aufgelöst würden.
Diese einseitige
Auflösung
könne
jedoch
durch
(Selbst)
Refl exion kontrolliert
werden.
Die
unseres Erachtens zu
unbeach-
tet gebliebene professionstheoretische
Skizze von
Fritz Schütze bietet manche
Anknüpfungspunkte
fur
die
Bearbei-
tung
der unauflösbaren Paradoxie
und
damit des Verhältnisses
von Autono-
mie
und
Heteronomie
der Sozialen
Arbeit.
Es
bleiben aber zwei Probleme
unbewältigt: Schütze vermag mit
sei-
ner akteurzentrierten
Perspektive
die
institutionellen
bzw. organisationellen
Rahmenbedingungen nur zu
beschrei-
ben, nicht
jedoch
als analytische Kom-
ponente
für
das
Handeln zu
analysieren.
Die zwar richtige
Erkenntnis,
dass die
Paradoxie(n)
letztlich immer
nur refle-
xiv
bearbeitet werden können
bzw.
müs-
sen, mündet
vor diesem analytischen
Ungenügen bei Schütze auch in
ein un-
zureichendes
und
letztlich
ausschließ-
lich fallbezogenes
Reflexionskonzept
der,,beherzten
Selbst-Reflexion"
(vgl.
Schütze
1996,
S. 248). Auch in anderen
professionstheoretischen Beiträgen
wird
Reflexivität
als ftir die Soziale Arbeit
konstitutiv postuliert
(vgl.
z. B.
Dewe/
Otto
2005;
Schnurr 2005), allerdings
auch
dort
vorwiegend fallbezogen
und
falldeutend
verstanden, weshalb
die or-
ganisationellen
und strukturellen Kon-
texte des Handelns
weitgehend außer
Acht
gelassen werden
(müssen).
Pierre Bourdreus Konzepi der
RefLexrvrtät
a[s GrundLage fur
eine
'Theorie
professioneLLen
Ha ndeLns
Für einen stärkeren Einbezug
des sozi-
alen Raums und
der organisationellen
Kontexte professionellen
Handelns so-
wie
eine theoretische und methodische
Fassung
einer
über die
reine
Falldeu-
tung hinausreichenden
Refexivität
bietet Pierre Bourdieus
Konzept der
wissenschaftlichen
Reflexivität
einen
möglichen Anknüpfungspunkt.
Bourdi-
eu geht davon aus,
dass
in
der sozialen
Velt
objektive Relationen existieren
und
nicht
Interaktionen
oder
intersub-
jektive
Beziehungen
zwischen Akteuren
und
Akteurinnen.
Diese
objektiven Re-
lationen
bestehen zunächst
einmal un-
abhängig vom Bewusstsein und
\Millen
der
Individuen
(vgl.
Bourdieu 1996, S.
127). Die
Strategien und
Handlungs-
möglichkeiten
der
Akteurinnen
und
Akteure in
Organisationen sind abhan-
gig von
deren
Position im Feld
(also
von
der Verteilung des sozialen, ökono-
mischen
und
kulturellen
Kapitals) und
von
deren
\Tahrnehmung
des
Feldes
(also
von ihrer
Sicht
auf
das
Feld
von
ihrer
jeweiligen
Position
aus). \7ir ha-
ben
somit einen Raum
von
objektiven
Relationen zwischen
unterschiedlichen
Positionen,
die durch
ihren
Rang
in
der
Verteilung
der Macht und der verschie-
denen
Kapitalsorten
definiert sind
(vgl.
ebd.,
S.
145).
,,Yon
Beruß wegen"
wer-
den Handlungs-
und
Verhaltensweisen
hervorgebracht,
die in den Grenzen
der
Zwänge
und
Konflikte
der für das Feld
konstitutiven
Machtbeziehungen an-
gelegt sind. Die professionellen Hand-
lungsweisen
sind also grundsätzlich da-
rauf zugeschnitten,
Strukturen
zunächst
zu
reproduzieren.
Soziale Gebilde
folgen
Routinen, Tendenzen, in ihrem Sein zu
verharren. Dennoch ist
der Spielraum
für
professionelles Handeln bzw. sind
organisationelle Bedingungen und in-
rerprofessionelle Arrangements verän-
derbar. Die Akteurinnen haben eine
Chance, ihren Spielraum auszunutzen
und
zu
erweitern, wenn sie das Verhält-
nis, in
dem sie zu ihren eigenen Disposi-
tionen
stehen, bewusst beherrschen und
reflektieren. Die Arbeit
des Umgangs
mit den eigenen Dispositionen bedingt
eine permanente Aufldärungsarbeit
-
also Refexivität.
Bourdieus Konzept
der Refexivität geht
über eine
fallbezogene Refexivitär
bzw.
Selbstreflexion hinaus. In der Adapti-
on
des
ftir
die Soziologie
als Profession
konzipierten Konzepts auf die Soziale
Arbeit,
ginge es um die Objektivierung
der
Sozialen
Arbeit
und des Sozialarbei-
ters,
d.h. um die
Reflexion der Sozialen
Arbeit
und der
Sozialarbeiterin über
die
sozialen
Bedingungen ihrer Erfahrungs-
möglichkeiten. Bourdieu unterscheidet
diese
Reflexivität
dezidiert
von einer
,,narzisstischen
Reflexion"
zum
Selbst-
zweck.
Sie dient nicht der Selbstana-
lyse
oder Selbstverständigung oder der
Selbstbezüglichkeit, sondern
der
Ver-
feinerung
und Stärkung der
Erkennt-
Sl0 01/09_Schwerpunkt
nismöglichkeiten
und
des Handlungs-
.
spielraums
der Profession
und
der
in
ihr
handelnden
Subjekte
und
ermöglicht,
,,mit
der Illusion
des
gesunden
Men-
schenverstand
es zu breclten".
(Bourdieu
1995,
S.
367;Hervorhebung
im
Origi-
nal).
Sie ist insofern
kein individuelles,
sondern
ein kollektives
l]nternehmen.
Bourdieus
Refexivität
umfassr
drei Mo-
mente
der Analyse,
die auf
das professi-
onelle
Handeln
in
der
Sozialen
Arbeit
übertragen
werden
können:
Erstens
geht
es
um die
Reflexion
der sozialen
Bedin-
gungen
des Handelns
der Sozialarbei-
terin. Dabei
werden
die Einstellungen
und Interessen
analysiert,
die der
Sozial-
arbeiter
seiner
sozialen,
geschlechtlichen
oder
ethnischen
Herkunft
verdankt
(so-
ziale
Stellung).
Zweitens
muss
der Mi-
krokosmos
einer
Refexion
unterzogen
werden,
innerhalb
dessen
die
Handeln-
den
um eine
ganz
besondere
Art
von
Einsatz
kampfen
und
spezifische
Inter-
essen
verfolgen.
Dabei
geht es nicht
um
die Reflexion
der
allgemeinen
sozialen
Stellung
der
Sozialarbeiterin,
sondern
Dr. Elena
Withetm,
Professorin,
Co-Leiterin
des Masterstudiums
und
Stab
Forschung
und
Entwick-
Lung
der
Hochschu[e
für
SoziaLe
Arbeit
FachhochschuLe
Nordwest-
schweiz.
Themenschwerpunkte
srnd
Wissenschafts-
und
Professi-
onstheorien,
HochschuLforschung
und -entwickLung,
hrstorisch-sys-
tematische
SoziaLe
Arbeit
und The-
orien
der Machi
Ielena.wilhelm[d
fhnw
chJ.
Cornetia
Rüegger,
wissenschafili-
che Assistentin
und
Masterstuden-
tin
an
der HochschuLe
fur
SoziaLe
Arbeit
Fachhochschule
Nordwest-
schweiz.
Als wissenschaftIiche
As-
sistentin
rst
sre tätig
in
einem For-
schungs-
und
Entwicklungsprojekt
zur
ProfessionaLisierung
der So-
ziaLen
Arbeit
im
Straf-
und
Mass-
nahmenvoLlzug
in
der Schweiz
und
in
Russland.
Themenschwerpunk-
te
sind
TheoriebiLdung
und Fragen
der ProfessionaLisierung
und
so-
zialen
Dragnostik
{corneLia.rueeg-
geridfhnw.chl.
',,.,wrry. f h nw.
c h/sozia
Lea
rbe it
um
die Refexion
ihrer
Stellung
unrer
den Akteuren
im
Kontext
des
je
kon-
kreten
Handlungsfeldes
(Organisation)
und
des Feldes
der Profession
(besonde-
re
Stellung).
Drittens
geht es
um die Re-
fexion
und
Kontrolle
des §7issens,
der
Begriffe,
Methoden,
Instrumente
und
Operationen,
die
die
-il/ahrnehmung
und
Deutungen
der Handelnden
beein-
fussen.
Ziel
dieses
dritten
Moments der
Reflexion
ist
es, nicht
die eigene
Denk-
weise
an
die Stelle
der Denkweisen
der
Adressaten
der Sozialen
Arbeit
zu
set-
zen.
Dieser
Schritt
erfordert
weniger
eine
analytische
Introspektion,
als
eine
permanente
Refexion
der sozialarbeite-
rischen
Praktiken.
Es
geht
also nicht
um eine
Reflexion
des
Subjektes
über
sich selbst.
Die
Reflexivi-
tät
geht weit
über
die gelebte
Erfahrung
des Subjektes
hinaus
und umfasst
die
organisatorische
und kognitive
Struktur
der ganzen
Profession.
Der
Sozialarbei-
ter hat
nur
dann
die Moglichkeit,
den
gesellschaftlichen
Bedingungen,
de-
ren
Produkt
er ist, zu
entgehen,
wenn
er
sich mit
der Erkenntnis
der auf
der
Profession
und ihm
selber
lastenden
gesellschaftlichen
Determinierungen
ausrüstet
und
die Zwänge
und
die
Be-
grenzungen
reflektiert,
die an
die eigene
Stellung
gebunden
sind.
Nur so können
die
\X/irkungen
dieser Determinierun-
gen neutralisiert
werden.
Es muss
gelin-
gen, eine
solche
Reflexivität
in
der Pro-
fession
zu
institutionalisieren
und in
der
Einstellung
der Professionellen
zu
habi-
tualisieren.
Um einen
reflexiven
profes-
sionellen
Habitus
als
modus
operandi
dieser
Refexivität
zu,,produzieren"
und
zu
flordern,
müssen
in
der Ausbildung
Verfahren
und Methoden
der Sozioana-
lyse
(verstanden
als Anamnesearbeit
an
der Profession
und an
sich selbst)
deut-
lich
stärker
gewichtet
werden
(zur
So-
zioanalyse
vgl. Bourdieu
1992).
Die
Anrwort
auf
die Frage,
wie
das
Handeln
in
der Sozialen
Arbeit
trotz
möglichen
Strukturzwängen
gelingen-
der zu
gestalten ist,
liegt
folglich
in
der
Ref
exivität
als
(inkorporierte)
Methode
und Bestandteil
des
professionellen
Ha-
bitus.
Lileralur
Bourdieu, Pierre
(1992):
Rede und Antwort.
Suhrkamp:
Irrankfirrr
am Main.
Bourdieu,
Picrre
(1995):
NarzisstischeRcflcxivirät
undwissenschafi-
liche
Reflcxivirät.
Irr: Berg,
Eberhard/Fuchs,
Martin
(Hg.):
Kultur,
sozialc Praxis,
Text. Die
Krise dcr erhnogralischcn
Repräsentarion.
§uhrkrmp:
Fr:nkturr
;. V..5.
Jr,< J-
r.
Bourdieu,
Pierre
(1996)
:
Die Pruis
der
retlexiven
Anthropologic.
In: Bourclieu,
Pierre/\i(acquant,
Loit
J.
D.: Reflcxive Andrropologie.
ruhrl:mp:
Fr.rnklirua.
M..
\
2sl-2qr.
Bommes,
Michael/Scherr
Albert
(2000):
Soziale Arbeit,
sekun-
däre
Ordnungsbildurg
und
die Kornmunikation
unspczifischer
Hilfsbedürfrigkeit.
In: Merten.
Roland
(Hg.).
Sysrernrheorie
Soziaier Arbeir.
Opladen:
Leske + Budrich,
S. 67-86.
Böhnisch, Lorhar/Lasch,
Hans
(1998):
Das Handlungsverständnis
des Sozialarbeircrs
und seire institutionelle
Determinarion. lnr
Thole,
Werner/Caluske,
Michael/Gängle1
Hans
(Hg.):
Klassike-
rlnnen
der Sozialen
Arbeit.
Neuwied/Kriftel/Bcrlin
1998: Luchr
erhand, S.367'382.
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