ChapterPDF Available

Interdisziplinarität im (Auf-)Bau

Authors:
1
Zitierfähige Fassung in: Wilhelm, Elena/Sturm, Ulrike (2019): Gebäude als System. S. 33-41.
Interdisziplinäre Kooperation im (Auf-)Bau
Einleitung
Wie bereits in der Einleitung zu diesem Band dargelegt, möchte die Hochschule Luzern mit ihrem
interdisziplinären Bildungs- und Forschungsprogramm «Gebäude als System» zunächst den Dialog
und die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen fördern. Letztlich werden natürlich Antworten
auf die Fragen gesucht, wie sich das Bauwesen künftig entwickeln und neu formieren kann und
welchen Beitrag interdisziplinäre Zusammenarbeit dazu leistet. In diesem Beitrag werden sowohl
die inhaltliche Programmatik des Interdisziplinären Schwerpunkts «Gebäude als System» als auch
die unterlegte Konzeption von Interdisziplinarität erörtert.
1. Zielsetzung des interdisziplinären Programms «Gebäude als System»
Das planvolle Entwerfen, Gestalten, Bauen, Betreiben und Rückbauen eines Gebäudes ist eine
anforderungsreiche und komplexe Denk- und Handlungspraxis, die sich mit vielen Fragen
auseinandersetzen muss. Zum Beispiel mit ästhetischen, technischen, ökonomischen und
ökologischen Fragen. Aber auch mit sozialen, politischen und kulturellen Aspekten. Das Handeln
im Bauwesen ist auch risikoreich, weil es zentrale individuelle und gesellschaftliche Werte tangiert
und daher auch Antworten auf ethische und normative Fragen gefunden werden müssen. Bauen
sollte daher nebst einer produktiven und formgebenden immer auch eine reflexive, analytische und
affektive Praxis sein. Die Komplexität dieses Handelns ist sowohl in der Wissenschaft wie auch in
der Praxis nur noch in enger Zusammenarbeit von Akteuren und Akteurinnen aus unterschiedlichen
Disziplinen und Professionen bearbeitbar. Daher wurde dieser interdisziplinäre Schwerpunkt
entwickelt: Um umfassend zu verstehen und die Zukunft «ganzheitlich» zu gestalten. Dass dabei
von «Bauwesen» und «Gebäude als System» und nicht von Architektur gesprochen wird, ist eine
bewusste Entscheidung. Bisher wurde im Kontext des Baus und des Bauens die Architektur ganz
selbstverständlich als Leitprofession betrachtet. Untersuchungen in anderen komplexen und
wertebezogenen Arbeitsfeldern wie beispielsweise der Medizin plausibilisieren aber die These,
dass die Zeit der Leitprofessionen zu Ende geht. Der Professionssoziologe Rudolf Stichweh hat
dargelegt, dass sich die Kontrolle einer Leitprofession langsam auflöst: «Die fortschreitende interne
Differenzierung und die professionelle Pluralisierung in Funktionssystemen löst die faktische und
normativ gestützte Kontrolle nur einer Leitprofession über ganze Funktionssysteme auf.» (vgl.
«How buildings adapt and interact»
2
Stichweh 2005, S.7) An die Stelle von Leitprofessionen treten kooperative Netzwerke von
Spezialistinnen und Spezialisten. Wir teilen diese Auffassung und die Hochschule antwortet auf
diese Entwicklung mit dem interdisziplinären Schwerpunkt «Gebäude als System». Dieser
Schwerpunkt bringt abhängig natürlich vom Erkenntnisinteresse oder vom Handlungsproblem
und den zur Problemlösung benötigten Kompetenzen Forschende, Praktizierende, Dozierende und
Studierende aus den Bereichen Architektur, Design, Innenarchitektur, Kunst, Musik, Ökonomie,
Soziale Arbeit, Soziologie, Technik und aus weiteren Bereichen zusammen, um an dieser
komplexen Auffassung von Bauen und Gebäude zu arbeiten.
Dabei wird bewusst das «klassische» Verständnis von Architektur überschritten. Architekten
verstehen sich häufig als «Autoren». Oder aber dann als «Dienstleister». Das sind auch nach wie
vor die beiden gängigen Topoi in der Architekturausbildung. Beide Selbstverständnisse greifen
jedoch zu kurz.
2. Professionalisiertes Handeln als ethische und nicht-standardisierbare Praxis
Unzureichend sind diese Topoi deshalb, weil Professionen wie beispielsweise die Medizin, die
Jurisprudenz, die Pädagogik oder eben auch die Architektur ein ganz besonderer Typus von
Berufen sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Handlungspraxis keine Ausübung einer
technischen Problemlösung ist. Professionalisiertes Handeln stellt immer auch eine
Beziehungspraxis dar und ist niemals standardisierbar. Die Nicht-Standardisierbarkeit bedingt auf
Seiten der Professionellen eine permanent reflektierte, begründete und auch ethisch angeleitete
Praxis. Professionen sind also ein besonderer Typus von Berufen. Der Architekt kann deshalb
weder Dienstleister noch Künstler bzw. Autor sein. Eine Architektin hat zu vermitteln zwischen
individuellen, gesellschaftlichen, ethischen und ästhetischen Geltungsansprüchen. Oliver
Schmidtke hat eine sehr interessante Forschung darüber gemacht (vgl. Schmidtke 2006). In der
Architektur wurde sie allerdings leider kaum rezipiert.
Im Fokus der Betrachtungen des interdisziplinären Schwerpunkts «Gebäude als System» stehen nun
vor diesem Hintergrund vor allem die Beziehungen und Interaktionen zwischen dem Innen und
Aussen eines Gebäudes, zwischen dem Gebäude (seinen Materialien, Strukturen, Komponenten und
«Operationen») und dem menschlichen Subjekt (seiner Wahrnehmung, Aneignung, Nutzung,
Umnutzung, Interpretation und Veränderung des Gebäudes) sowie zwischen dem Gebäude und der
natürlichen und gebauten Umwelt. Die Betonung des interdisziplinären Schwerpunktes liegt damit
auf dem Verstehen und Erklären eines Gebäudes in seiner Gesamtheit, in seinem vollständigen
Lebenszyklus, in seiner auch ethischen Anbindung an sein inneres und äusseres Milieu. Zwei Foki,
welche interdisziplinär angelegt sind, sollen dieser Betrachtungsweise Vorschub leisten: Zum einen
geht es um das Gebäude als soziale Interaktions- und kulturelle Ausdrucksgestalt («What buildings
mean and do»). Zum anderen wird das Gebäude als ein adaptives und interagierendes System
3
fokussiert («How buildings adapt and interact»). Eine mit Holzschnitten hergestellte Visualisierung
veranschaulicht diese beiden Fokusfelder:
3. Das Gebäude in seiner interaktiven und sozialen Bedeutung
Es wurde bereits dargelegt, dass Gebäude auch eine symbolische, eine affektive und eine soziale
Dimension haben. Die Bedeutung eines Gebäudes zeigt sich zum einen im Visuellen: in seiner
Form, in seiner Farbigkeit oder in der Differenz von Licht und Schatten. Zum Verständnis eines
Gebäudes ist jedoch zum anderen immer auch die eigene Bewegung nötig. Ein Gebäude wird nicht
nur gesehen, sondern auch durchschritten und betastet. Es ist also neben der Visualität die
Dreidimensionalität, die für das Verstehen eines Gebäudes massgeblich ist. Man kann das sehr
differenziert nachlesen bei der Architektursoziologin Heike Delitz (vgl. Delitz 2010). Sie legt dar,
wie Gebäude Körperhaltungen und Wahrnehmungen auslösen, Affekte institutionalisieren und
damit den Einzelnen zu je verschiedenen vergesellschafteten Wesen mit je spezifischen
Bedürfnissen machen. Die Affektivität von Gebäuden hat damit auch soziale Effekte. Gebäude sind
ein «Medium des Sozialen», wie Heike Delitz dies treffend nennt. Sie dienen als Stabilisatoren und
Interaktivität
Sozietät
Kulturelle Identität
Adaptivität
Nutzende
unbebaute
Umwelt
bebaute
Umwelt
Techn ik
«What buildings mean and d
Gebäude als System
System als Praxis
«How build ings adapt and interact»
4
Mediatoren von Gesellschaft. Sie integrieren das Individuum in unterschiedlicher Weise in den
sozialen Zusammenhang. Oder aber sie schliessen es aus dem sozialen Gefüge aus.
Aus dieser Perspektive bzw. in diesem Fokusfeld können Gebäude als eine spezielle Form von
Technik betrachtet werden, deren Funktion darin besteht, der Gesellschaft eine bestimmte Identität
zu verleihen und soziale Interaktionen herzustellen oder aber auch zu unterbinden. In diesem Fokus
ist die Form und Ausdrucksgestalt eines Gebäudes nicht nur deshalb von Interesse, weil sie
künstlerisch mehr oder weniger wertvoll ist, sondern auch, weil sie bestimmte Interaktionen und
Identitäten ermöglicht, ermutigt oder entmutigt. Eine solche Sichtweise auf Gebäude eröffnet
natürlich eine Vielzahl von Fragen r eine künftig zu entwickelnde «Theorie und Methodologie
von Gebäuden»: Zum Beispiel: Welche Expressivität, welche symbolische Bedeutung hat ein
Gebäude? Wie sind Gebäude und Interaktionen miteinander gekoppelt? In welchem Verhältnis
stehen Gebäude, Alltagskultur und Ort? Wie prägt die Form den Gebrauch und der Gebrauch die
Form? Unter welchen Umständen stabilisieren Gebäude bestimmte Interaktionen und umgekehrt?
Welche Rolle spielen dabei spezifische Gebäudetypen? Wie werden durch Gebäude bestimmte
Aktivitäten gestützt oder verhindert? Welche soziale Bedeutung haben einzelne Gebäude und
Gebäudetypen? Wie verändern sich Interaktion und Kommunikation, wie verändert sich der soziale
Zusammenhalt und das soziale Gefüge durch einzelne Gebäude und deren Anordnung? Schliesslich
stellt sich die Frage, wie der Wandel und die Änderungen von Gebäuden, wie aneignungsoffene
Gebäude, die vielfältige Interpretationen und unterschiedliche Gebrauchsmuster zulassen
konzeptualisiert werden können und welches die Möglichkeiten, Ansprüche und Potenziale eines
aneignungsoffenen und sozialen Gebäudes sind. Welches sind innovative Gebäudetypen und
Raumprogramme, zukunftsweisende Entwurfsstrategien und Planungsinstrumente zur Qualifikation
von Gebäuden im urbanen Raum? Wie lassen sich planerische Handlungsoptionen vor dem
Hintergrund einer zunehmend entformalisierten Lebensgestaltung und dynamischer
Siedlungsprozesse präzisieren? Für die Beantwortung dieser Fragen braucht es das Wissen
verschiedener Disziplinen der Geistes-, Sozial-, Kultur- und Ingenieurwissenschaften.
In diesem Fokusfeld gibt es verschieden Projekte, die im vorliegenden Sammelband skizziert und
diskutiert werden. Zum Beispiel auch der Beitrag über das Zusammenarbeitsprojekt mit zwei
Architekturbüros in Kunming, China. Wir ein interdisziplinäres Team, bestehend aus zwei
Künstlern, einer Architektin und mir als Kultur- und Sozialwissenschaftlerin wurden von zwei
Architekturbüros und einer Immobilienfirma vor Ort eingeladen, die von ihnen entworfenen und
gebauten Quartiere (es handelt sich dabei um «Gated Neighborhoods», auch «Mikro-Residential-
Districts» genannt) mit einem westlichen Blick zu betrachten und zu kommentieren. Dabei ging es
insbesondere um diese Frage der kulturellen Identität(en), der sozialen Kohäsionsmechanismen und
der Aneignungsmöglichkeiten im Kontext dieser städtebaulichen und architektonischen Strukturen
und Systeme. Und natürlich gibt es weitere Projekte in diesem Fokus. Zum Beispiel das Projekt
5
«Building for Diversity». Darin geht es um Wohnumgebungen als sozialräumlicher Kontext für
vielfältige Nachbarschaften. Es wurden Siedlungsprojekte porträtiert, welche fr den Versuch
stehen, durch Planung des Wohnumfeldes und der Infrastruktur das Zusammenleben unter der
heterogenen Bewohnerschaft zu fördern.
Im zweiten Fokusfeld «How buildings adapt and interact» werden Anpassungs- und
Interaktionsformen von Gebäuden untersucht und entwickelt. Zu diesem Thema hat Ulrich Königs
einen anregenden und klugen Artikel geschrieben (vgl. Königs 2005). Gebäude müssen zunehmend
höheren Ansprüchen genügen. So führen beispielsweise Urbanisierungsprozesse und die
zunehmend stärkere Beachtung von sozialen, ökologischen, klimatischen und wirtschaftlichen
Aspekten dazu, dass von einem Gebäude immer höhere Anpassungsfähigkeit, Dynamik und
«Wahrnehmungsfähigkeit» gefordert wird. Die Notwendigkeit der Anpassungsfähigkeit bezieht
sich dabei auf unterschiedliche Bereiche wie beispielsweise die Konstruktion, den Grundriss, das
Material, den Verbrauch von Energie, die Gebäudetechnik, die Gebäudeautomation und -sicherheit,
die Gebäudeinformatik und andere mehr. Wie Ulrich Königs ausführt, sind bisher bekannte
Versuche, Gebäude an sich verändernde Anforderungen und Bedingungen anzupassen meistens
daran gescheitert, dass Planende versucht haben, mit flexiblen Systemen zu arbeiten, deren vorher
kategorisiertes Repertoire an Veränderungsmöglichkeiten jedoch häufig nicht in der Lage war, den
neuen Anforderungen gerecht zu werden. Überdies stellt sich dabei häufig auch noch das Problem
der Charakterlosigkeit von (vermeintlich) flexiblen Gebäuden.
Auch die Partizipationsmodelle mit Nutzenden und Planenden der siebziger und achtziger Jahre
waren häufig erfolglos. Einer der Gründe mag sein, dass mit tradierten Planungsverfahren
gearbeitet wurde oder Ergebnisse zum vornherein bereits fixiert wurden. Flexibilität nach
«deterministischen Prinzipien» scheint also nicht zielführend, wie Ulrich Königs dies ausführt. Aus
diesem Grund scheinen die Begriffe «Adaptivität» oder «Anpassungsfähigkeit» geeigneter als der
Begriff «Flexibilitä. Unter «Anpassungsfähigkeit» wird die Fähigkeit eines Systems zur
Veränderung und zur Selbstorganisation verstanden, dank derer auf gewandelte innere und äussere
Umstände reagiert werden kann. Die Zunahme der Veränderungsgeschwindigkeit und vor allem die
Notwendigkeit eines umsichtigen, sorgfältigen und damit hoffentlich nachhaltigeren Umgangs mit
den verschiedenen Kapitalsorten wie soziales, kulturelles, ökologisches und ökonomisches
Kapital machen es notwendig, nach neuen Strategien zu suchen, welche die geforderte
Anpassungsfähigkeit von Gebäuden in den verschiedenen Bereichen möglich macht.
In diesem Fokusfeld wird ganz unterschiedlichen Fragestellungen nachgegangen. Zum Beispiel
wird untersucht, wie neue Planungsmethoden aussehen müssen, um zukunfts- und
anpassungsfähige Gebäude zu konzipieren. Es interessiert, wie ein Bedarf und wie Bedürfnisse
evaluiert werden können, wie die Zukunftsfähigkeit von Gebäuden vorausgesagt und wie überhaupt
mit Hilfe von Zukunftsszenarios gearbeitet werden kann. Wir möchten wissen, wie konstruktiv
6
nicht flexible Strukturen anpassungsfähig werden können, wie trotz Anpassungsfähigkeit kulturelle
Kohärenz und Identifikation geschaffen und wie trotz Anforderung an Energieeffektivit eine
Vielfalt von Gebäuden geschaffen werden kann. Es geht auch um die Frage, wie viel Technik mit
unterschiedlicher Lebensdauer ein Gebäude überhaupt verträgt und welches die Konsequenzen für
die Gesellschaft, die Nutzenden, die Betreibenden und für das Gebäude selbst sind.
4. Das Gebäude als «Akteur»
Die Basis des Wirkens in diesem Programm bildet die Frage nach dem hinterlegten Systembegriff.
Das «Gebäude als System» wird dabei als eine Art von Praxis begriffen. Ein System besteht dabei
nicht nur aus Elementen und Komponenten, sondern vor allem auch aus Operationen. Letztlich ist
es das Gebäude selbst, welches Lebensräume konzipiert und schafft. Lebensräume, die hoffentlich
reichhaltig und differenziert sind. Bruno Latour und Albena Yaneva haben darüber einen
anregenden Artikel geschrieben (vgl. Latuor/Yaneva 2008). Für sie ist das Gebäude ein «Akteur»,
weil es ein bestimmtes Handeln ermöglicht oder verhindert. Sie analysieren die Architektur nach
der «Actor-Network-Theorie» und begreifen das Gebäude nicht als ein statisches Objekt, sondern
als ein bewegendes Projekt. Das Gebäude altert und wird von den Nutzenden umgestaltet,
gebraucht, «missbraucht».
1
Der euklidische Raum (also der Raum der Anschauung, wie er in
Euklids Elementen durch Axiome beschrieben wird), so meinen Bruno Latour und Albena Yaneva,
sei zwar der Raum, in dem das Gebäude auf Papier gezeichnet würde, nicht jedoch das Umfeld, in
dem Gebäude entstehen und noch weniger die Welt, in der sie bewohnt würden. Eine Zeichnung
oder ein Foto eines Gebäudes als Objekt sage nichts aus über die Bewegung eines Gebäudes als
Projekt. Und doch würden wir immer wieder auf den euklidischen Raum zurückgreifen als e inzige
Darstellungsform, die uns (vermeintlich) ermöglicht zu erfassen, was ein Gebäude ist.
Bruno Latour und Albena Yaneva betonen hingegen, dass wir in einer Welt leben, die sich vom
euklidischen Raum stark unterscheide und es einen grossen Unterschied gebe zwischen der Art und
Weise, wie der Verstand die Umgebung wahrnimmt, und der objektiven Gestalt der materiellen
Objekte. Auf der Ebene der Architektur stellt sich daher die Frage, wie die alte Trennung in
subjektive und objektive Dimensionen, die die Architekturtheorie seit jeher prägt, überwunden
werden kann. Ein Bauprojekt gleicht viel stärker einem komplexen ökologischen Gefüge als einem
statischen Objekt. Die Biologie liefert wohl bessere Metaphern und Bilder, um über Gebäude zu
sprechen. Bruno Latour und Albena Yaneva fordern letztlich lebendige Beschreibungen von
Gebäuden und Entwurfsprozessen, welche die Vielzahl von Verbindungen zwischen den Dingen in
den Räumen und Zeiten ihrer Koexistenz aufspüren. Das ist natürlich ein schwieriges Unterfangen
1
Einer solchen statischen Betrachtungsweise leisten übrigens auch die Architekturkritiken Vorschub. In der
architekturkritischen Betrachtung steht meistens das statische Einzelgebäude im Mittelpunkt, die ästhetische
Dimension dominiert, wohingegen die Kriterien der Nutzbarkeit und Veränderung, der städtebaulichen
Einbindung und urbanen Programmatik, der ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen
Verträglichkeit kaum berücksichtigt werden. Vgl. hierzu den Artikel «Von der Kritik des statischen Objekts
zur Erkundung des bewegenden Projekts Architekturkritik als Praxis» in diesem Sammelband.
7
und wir brauchen dafür letztlich auch ein neues visuelles Vokabular, welches dem Gebäude als
Objekt und «Akteur» gerecht werden kann.
Im interdisziplinären Schwerpunkt «Gebäude als System» wird also das Gebäude als Gesamtsystem
und nicht in seinen materiellen Einzelteilen begriffen. Dieser Zugang ermöglicht letztlich die
Bearbeitung einer sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit, die sich sowohl aus
der Sozial-, Energie- und Wertschöpfungsbilanz eines Gebäudes, als auch aus der Wahrnehmung,
Nutzung und Anpassung des Gebäudes durch das Subjekt erschliessen lässt. Mittlerweile begründet
dieser Zugang, wie auch der Begriff «Gebäude als System», schon fast einen State oft the Art. Die
Forderung nach einer umfassenden und interdisziplinären Betrachtungsweise wurde beispielsweise
auch am Schlusspodium der im Jahr 2010 durchgeführten Tagung des Schweizerischen Ingenieur-
und Architektenvereins (SIA) «Zwischen den Disziplinen» aufgeworfen. Das Fazit auch dieser
Tagung lautete, dass die künftigen Fragen und Probleme nur gemeinsam gemeistert werden
könnten, also interdisziplinär. Für Marc Angélil, Professor für Architektur und Design an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, war an dieser Tagung allerdings selbstredend
klar, dass bei aller Inter- und Transdisziplinarität der Lead auch künftig beim Architekten liegen
würde. In dieser Äusserung wird deutlich, dass sich der genannte gesellschaftliche Wandel noch
nicht im beruflichen Selbstverständnis der Architektinnen und Architekten niedergeschlagen und
noch keinen Eingang in den beruflichen Habitus gefunden hat. Denn eine echte interdisziplinäre
Zusammenarbeit muss sich auch mit der veralteten Vorstellung einer Leitprofession
auseinandersetzen und die Rollen und Positionen flexibel handhaben und permanent neu erfinden .
5. Interdisziplinarität als fortdauernd gelebte, kooperative Beziehung
Nun ist eine «echte Interdisziplinarität» natürlich eine anspruchsvolle Angelegenheit. In der
konkreten interdisziplinären Kooperation muss man sich zunächst einmal an der eigenen
Geschichte, an der Geschichte der anderen und auch an Vorurteilen abarbeiten. Die Zugänge, die
Bildungssozialisationen und die Habitusformationen sind sehr unterschiedlich. Die disziplinären
Codes und Sprachen der anderen sind einem häufig fremd. Die methodologisch-methodischen
Zugänge scheinen manchmal unvereinbar und es existieren disziplinäre Weltbilder und
Paradigmen, die man nicht gerne antastet. Es prallen verschiedene Wissenskulturen aufeinander.
Verständigung ist also keineswegs selbstverständlich. Entscheidend ist zunächst, dass man die
richtigen Menschen findet, mit denen man zusammenarbeiten will und kann. Aber das gilt natürlich
für die innerdisziplinäre wie für die interdisziplinäre Zusammenarbeit gleichermassen. Darüber
hinaus braucht es bei allen beteiligten den Willen zu lernen und die Bereitschaft, die eigenen
disziplinären Vorstellungen zur Disposition zu stellen. Es braucht eine produktive
Auseinandersetzung mit den anderen beteiligten Disziplinen und die Fähigkeit, die eigenen
Zugänge im Horizont der gewonnen interdisziplinären Kompetenz zu reformulieren und zu
rekonturieren. Ergebnis ist dann letztlich ein gemeinsam erstellter Text, in welchem eine
8
ganzheitliche Argumentation an die Stelle eines Konglomerats von fragmentierten disziplinären
Versatzteilen tritt.
Uwe Voigt hat eine gewinnbringende Differenzierung und Definition von Interdisziplinarität
vorgenommen und eine wichtige Schlussfolgerung gezogen (vgl. Voigt 2010). Er unterscheidet
grundsätzlich Interdisziplinarität, die sich über denselben Gegenstand oder aber über dieselbe
Methode herstellt. Eine gängige Unterscheidung in der wissenschaftstheoretischen Diskussion.
Beide Orientierungen sind aber letztlich unzureichend. Wissenschaftliches Arbeiten lässt sich in
aller Konsequenz weder nach ihrem Gegenstandsbereich noch nach ihrem methodologisch-
methodischen Zugang differenzieren. Was übrig bleibt, so Uwe Voigt, sei das wissenschaftliche
Arbeiten als solches, welches sich in interdisziplinären Beziehungen ganz konkret als Kooperation
vollzieht.
Interdisziplinarität zeigt sich also nicht im Gegenstandsbereich und auch nicht in der Methode. Sie
zeigt sich in der fort- und andauernden kooperativen Beziehung. Das klingt zunächst banal, macht
aber die interdisziplinäre Kooperation zum konstitutiven Faktor von Wissenschaft überhaupt. Und
dadurch kommt in Zukunft dem Netz der interdisziplinären Beziehungen ein Vorrang vor den
reinen Disziplinen und der individuellen Autorschaft zu.
Literatur
Delitz, Heike (2010): Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Frankfurt am
Main/New York: Campus Verlag.
Königs, Ulrich (2005): Adaptive und selbstorganisierte Systeme in der Architektur. In: GAM.02.
Design Science in Architecture. Graz Architecture Magazine. Wien: Springer-Verlag.
Latour, Bruno/Yaneva, Albena (2008): Die Analyse der Architektur nach der Actor-Network-
Theorie (ANT). In: Geiser, Reto (Hg.): Explorations in Architecture. Basel: Birkhäuser-Verlag
AG.
Schmidtke, Oliver (2006): Architektur als professionalisierte Praxis. Soziologische
Fallrekonstruktionen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Architektur. Frankfurt am Main:
Verlag Humanities Online.
Stichweh, Rudolf (2005): Die Soziologie der Professionen. Online unter: www.unilu.ch. Download
vom 23. Januar 2012.
Voigt, Uwe (2010): Interdisziplinarität: Ein Modell der Modelle. In: Jungert, Michael/Romfeld,
Elsa/Sukopp, Thomas/Voigt, Uwe (Hg.): Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 31-46.
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
Chapter
Full-text available
Die Hochschule Luzern forscht nicht nur in disziplinären, sondern auch in interdisziplinären Zusammenhängen. Sie ist dafür prädestiniert, da die einzelnen Fachbereiche räumlich sehr dicht zusammenliegen. Diese Nähe ermöglicht auch spontane und überraschende Begegnungen. Immer wieder zeigt sich, wie bedeutsam solche physischen Kontakte über alle verfügbaren technischen Kommunikationsmittel hinweg für eine gemeinsame Erschliessung von Wirklichkeit sind. Ein institutionalisierter interdisziplinärer Zusammenhang der Hochschule Luzern ist das Forschungsprogramm «Gebäude als System». Dieses Programm greift die Thematik des öffentlichen Raumes, der Kunst im öffentlichen Raum sowie der «Urban Art Marks» mit auf. Der vorliegende Artikel legt das Forschungsprogramm dar und skizziert fünf ausgewählte Projekte, die darin unter der Federführung des Departements Design und Kunst der Hochschule Luzern durchgeführt werden.
Chapter
Im ausgehenden 20. Jahrhundert hat ein allgemeiner Paradigmenwechsel in Teilbereichen der Wissenschaft stattgefunden. Die Abkehr von der linearen Logik eines deterministischen Weltbildes, welches über einen langen Zeitraum unsere Bemühungen um Erkenntnis geprägt hat, öffnet den Blick auf neue Wissenschaftsbereiche. Die Komplexitätstheorie, die Chaostheorie, Fuzzy Logik oder die Netzwerktheorie verankerten in diesem Kontext neue Begriffsgruppen: Emergenz, Selbstorganisation, Selbstähnlichkeit, Adaptivität, Synthetik etc. Architektur als förderndes und forderndes Abbild von Gesellschaft sollte sich diesem wissenschaftlichen Diskurs nicht verschließen, sondern müsste aktiver Teil dieses Prozesses werden, denn das erkennbare Verharren auf ein selbstreferenzielles System würde dazu führen, dass Architektur als gesellschaftliche Kraft an Einfluss verliert und sich damit selbst abschafft.
Wissenschaftliches Arbeiten lässt sich in aller Konsequenz weder nach ihrem Gegenstandsbereich noch nach ihrem methodologischmethodischen Zugang differenzieren. Was übrig bleibt, so Uwe Voigt
  • Beide Orientierungen
Beide Orientierungen sind aber letztlich unzureichend. Wissenschaftliches Arbeiten lässt sich in aller Konsequenz weder nach ihrem Gegenstandsbereich noch nach ihrem methodologischmethodischen Zugang differenzieren. Was übrig bleibt, so Uwe Voigt, sei das wissenschaftliche
  • Literatur Delitz
Literatur Delitz, Heike (2010): Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag.
Online unter: www.unilu.ch. Download vom 23
  • Rudolf Stichweh
Stichweh, Rudolf (2005): Die Soziologie der Professionen. Online unter: www.unilu.ch. Download vom 23. Januar 2012.