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Krisen / Crises
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© 2012 Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1119-8 Persönliches Autorenexemplar
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Annuaire suisse d’histoire économique et sociale
Band 27, 27. Jahrgang / Volume no 27, 27e année
Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Hg.)
Société suisse d’histoire économique et sociale (éd.)
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© 2012 Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1119-8 Persönliches Autorenexemplar
Thomas David, Jon Mathieu, Janick Marina Schaufelbuehl,
Tobias Straumann (Hg. / éd.)
Krisen
Ursachen, Deutungen und Folgen
Crises
Causes, interprétations et conséquences
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Informationen zum Verlagsprogramm:
www.chronos-verlag.ch
Umschlagbild: SMUV-Krisendemonstration in Biel zur Uhrenindustrie,
25. September 1982: Demonstrationsteilnehmer mit Transparenten,
Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich: Sozarch_F_5032-Fc-0753
© 2012 Chronos Verlag, Zürich
ISBN 978-3-0340-1119-8
ISSN 1664-6460
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© 2012 Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1119-8 Persönliches Autorenexemplar
Inhaltsverzeichnis
Table des matières
Thomas David, Jon Mathieu, Janick Marina Schaufelbuehl,
Tobias Straumann
Geschichte der Krisen: eine Einführung 9
Histoire des crises: une introduction 19
Teil 1 / Partie 1
Theoretische Perspektiven / Perspectives théoriques
Hansjörg Siegenthaler
Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Konjunkturgeschichte
als Gegenstand der Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte 31
Teil 2 / Partie 2
Krisen in der Vormoderne / Les crises au Moyen Age et
à la période moderne
Oliver Wetter
Hochwasser-«Katastrophen» in Basel vom 13. bis 21. Jahrhundert.
Rekonstruktion, Deutung und Lerneffekte 47
Chantal Camenisch
Kälte, Krieg und Hunger. Krisen im 15. Jahrhundert in den burgundischen
Niederlanden unter besonderer Berücksichtigung der Witterung 65
Monika Gisler
Tulip Mania? The Dutch Tulip Bulb Episode (1636-1637) Revisited 79
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6
Luca Mocarelli
Le crisi alimentari nello Stato di Milano tra metà Settecento e Restaurazione:
una realtà di eccezione? 97
Teil 3 / Partie 3
Krisen und Staat / Crises et Etat
Daniel Krämer
Der kartierte Hunger. Räumliche Kontraste der Verletzlichkeit
in der Schweiz während der Hungerkrise 1816/17 113
Juri Auderset, Peter Moser
Krisenerfahrungen, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien.
Die Ernährungskrise von 1917/18 als agrarpolitische «Lehrmeisterin» 133
Sébastien Guex
L’Etat fédéral et les crises économiques du début du XXe siècle à nos jours:
la Suisse, un bastion anti-keynésien 151
Gérard Duc, Olivier Perroux
Energie et crises économiques. Analyse à partir de l’exemple de Genève
(de 1850 à nos jours) 171
Philipp Müller
Die Schweiz in der Krise (1929–1936). Währungs-, Finanz-, Wirtschafts-
und Sozialpolitik der Schweizerischen Eidgenossenschaft 187
Daniele Ganser
Die Erdölkrise von 1973. Warum es damals in der Schweiz nicht an Erdöl
mangelte 207
Teil 4 / Partie 4
Krisen und Gesellschaft / Crises et société
Sandro Guzzi-Heeb
Sexualité, crise politique et sociale au XIXe siècle: une relation à repenser 231
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7
Drew Keeling
Return Migration from the United States to Europe during the Recession
of 1907-1908 245
Céline Schoeni
Genre et crise économique: histoire d’une redénition des inégalités
entre les sexes 261
Teil 5 / Partie 5
Unternehmenskrisen / Crises des entreprises
Pierre-Yves Donzé
Global Competition and Technological Innovation. A New Interpretation
of the Watch Crisis, 1970s-1980s 275
Autorinnen und Autoren / Auteures et auteurs 291
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Oliver Wetter
Hochwasser-«Katastrophen» in Basel
vom 13. bis 21. Jahrhundert
Rekonstruktion, Deutung und Lerneffekte
Flood “Catastrophes” in Basel, 13th to 21th Centuries: Reconstruction,
Interpretation, and Learning Effects
Magnitudes of peak discharges of 43 non-instrumentally measured Rhine river
oods at Basel were reconstructed. The methodology is based on a range of dif-
ferent historic sources, containing ood information (including traditional urban
inundation reference points from ood reports of medieval and early modern
period chroniclers as well as 19th century journalists, ood marks, paintings
and drawings, town maps, longitudinal and cross proles etc.). These traditional
pre-instrumental “ood information systems” still existed in the 19th century,
when in 1808 the rst instrumental hydrological measurements started. They
thus could be calibrated with instrumental measurements in the 19th century
overlapping period. The result is a 743 year long quantied Rhine river ood
series. Floods of both periods (pre-instrumental as well as instrumental) can thus
be directly compared for the very rst time. The long-range consequences of
rivers Kander and Aare deviations in 1714 and 1878 are reected in a distinct
change of magnitudes of peak discharges in Basel. A clear ood “disaster gap”
appears in the 20th century. The lack of any extreme oods for such a long time
is completely unique during the 743-year period of analysis. This result will
inuence the statistical assessment of once-in-a-century events, which might be
of great interest for insurance campanies.
«Im Jahr 1480 um Magdalena ereignete sich eine gewaltige Überschwemmung.
Der Rhein schwoll so stark an, dass er bis an die unteren Ziegel der Stadtmauer am
Ufer Kleinbasels stieg. Die Leute, welche auf der Brücke standen, konnten leicht
ihre Hände im Rhein waschen. Das habe ich selbst als zehnjähriger Jüngling bei der
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 27, S. 47–63.
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Latrine nahe der grossen Stadt gemacht.»1 Dieser Augenzeugenbericht beschreibt das
vermutlich extremste Rheinhochwasser der letzten 744 Jahre bei Basel. Bezogen auf
den hoch- und wohl auch oberrheinischen Spitzenabuss steht es der als Jahrtausend-
ereignis bekannten «Magdalenenut» von 1342, welche im Falle des Mains sogar
als 10 000-jähriges Ereignis eingestuft wird,2 in keiner Weise nach. Dies zumindest
geht deutlich aus der rekonstruierten 744-jährigen quantizierten Rheinhochwas-
serreihe bei Basel hervor, welche auf instrumentellen Abussmessungen der letzten
204 Jahre, sowie einer grossen Palette unterschiedlicher historischer Quellen beruht.
Bis zur Etablierung des modernen Zeitungswesens im 19. Jahrhundert ist kaum ein
anderes Rheinhochwasser durch so viele zeitgenössische Quellen belegt. Berück-
sichtigte man die «Ungleichheit der Chance auf Publizität», so müsste das 1480er
Hochwasser wohl auch diesbezüglich als ein «Spitzenereignis» eingestuft werden.
Wesentliche Prinzipien der Rekonstruktion vorinstrumenteller Hochwasser3 lassen
sich an diesem hervorragend dokumentierten Beispiel daher genauso gut aufzeigen
wie die vielschichtigen gesellschaftlichen Reaktionen darauf.
In den folgenden Abschnitten sollen die speziell für die Gegebenheiten in Basel
entwickelte Hochwasserrekonstruktionsmethodik sowie die zugrunde liegende (his-
torische) Datenlage anhand erläuternder Beispiele diskutiert werden. Anschliessend
werden die neuen Erkenntnisse, welche auf der über 740-jährigen quantizierten
Rheinhochwasserreihe beruhen, vorgestellt. Gesellschaftliche Reaktionen auf solch
extreme Ereignisse wie das einleitend erwähnte Hochwasser von 1480 oder die beiden
verheerenden Birsighochwasser4 von 1529 und 1530 werden zum Schluss mitein-
ander verglichen und bezüglich ihrer Deutungsmuster sowie ihrer unterschiedlichen
gesellschaftlichen Lerneffekte analysiert.
1 Die Aufzeichnungen des Kaplans Hieronymus Brillinger. 1447–1525, in: Historische Gesellschaft
Basel (Hg.): Basler Chroniken, Bd. 7, Leipzig 1915, S. 210. Im lateinischen Original: «Anno 1480
circa Magdalenae ingens fuit aquarum inundatio. Rhenus in tantum crevit, quod ad lateres usque
inferioris muri Minoris Basileae circa litus ascendit. Etiam homines in ponte stantes facile in Reno
manus lavare poterant. Quod ego ipse feci in latrina pontis juxta Maiorem Civitatem, tunc decennis
adulescentulus.»
2 Gerd Tetzlaff, Michael Börngen, Manfred Mudelsee, Armin Raabe, Das Jahrtausendhochwasser
von 1342 am Main aus meteorologisch-hydrologischer Sicht, in: Wasser & Boden. Zeitschrift für
Wasserwirtschaft, Bodenschutz und Abfallwirtschaft 54 (2002), S. 41–49.
3 Als «vorinstrumentelle Hochwasser» bezeichnet man all jene Hochwasser, die sich noch vor der
Einrichtung regelmässiger instrumenteller hydrologischer Messstationen ereigneten.
4 Bei der Birsig handelt es sich um einen teilweise unterirdisch verlaufenden kleinen Bach, welcher
die Altstadt in Grossbasel in einer Kurvenbewegung von Südosten nach Norden durchquert und
leicht unterhalb der Schifände in den Rhein mündet.
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Datenlage und Referenzpunkte
Der eingangs zitierte Auszug aus den Aufzeichnungen Hieronymus Brillingers
(1469–1537?)5 – ein humanistischer Gelehrter mit geistlichen Wurzeln – widerspie-
gelt nicht nur den üblichen nüchternen Beschreibungsstil seiner Zeitgenossen, sondern
ist selbst für hoch- und spätmittelalterliche Texte, wo man vergeltungstheologische
Argumentationen noch eher erwarten würde, ausgesprochen repräsentativ. Diese
Beobachtung stimmt im Übrigen auch mit jener von Christian Rohr überein, der
bei der Untersuchung mittelalterlicher Hochwasser im Ostalpenraum ebenfalls nur
sehr selten auf religiöse Deutungsmuster stiess, was Rohr mit der schieren Häug-
keit solcher Ereignisse erklärt.6 Wie noch zu zeigen sein wird, besteht jedoch ein
gewisser Zusammenhang zwischen religiösen Deutungsmustern und konfessionellen
Konikten.
Im Falle Basels scheinen die Chronisten Wert auf eine Trennung zwischen Hoch-
wasserbeschreibungen und möglichen Deutungen gelegt zu haben. Denn die Hoch-
wasserberichte sind auffallend unabhängig von Ursachenzuschreibungen und
Deutungsmustern und beziehen sich stattdessen auf «objektive» Referenzpunkte in
den innerstädtischen Überutungszonen. Die Intention der Chronisten, den Sachver-
halt «Hochwasser» möglichst exakt zu beschreiben, ist sehr deutlich zu erkennen, was
die These Psters stützt, dass Chroniken die Funktion intergenerationeller Risiko-
kommunikation zugeschrieben wurden.7 Möglichst objektive und auch für spätere
Generationen nachvollziehbare Beschreibungen waren deshalb gefragt und wurden
angestrebt. Decken Chroniken eine lange Zeitspanne ab, so handelt es sich nur gerade
beim jüngsten Teil um vom Chronisten selbst verfasste Berichte, wohingegen es Usus
war, Berichte über Ereignisse früherer Zeiten aus anderen Chroniken zu kopieren.
Aufgrund dieser eissigen Kopiertätigkeiten waren den Chronisten die Hochwas-
serreferenzpunkte früherer Beschreibungen bekannt und es ist augenfällig, dass sie
sich bei ihren eigenen Beschreibungen auf dieselben Punkte bezogen, die notabene
sowohl aus topographischer als auch aus hydrologischer Sicht nachvollziehbar und
sinnvoll sind. Im Verlauf der Jahrhunderte bildete sich auf diese Weise eine basle-
rische Hochwasserbeschreibungstradition heraus, die noch von den Journalisten des
19. Jahrhunderts fortgesetzt wurde. Erst als die innerstädtischen Überutungszonen
ihr mittelalterliches Bild sowie die dazu gehörenden Referenzpunkte zu verlieren
begannen und sich aus noch zu erläuternden Gründen zeitgleich das Hochwasser-
5 Historisches Lexikon der Schweiz, www.hls-dhs-dss.ch (26. August 2004).
6 Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter
und am Beginn der Neuzeit (Umwelthistorische Forschungen, Bd. 4), Köln, Weimar, Wien 2007,
S. 63.
7 Christian Pster, «The Monster Swallows You». Disaster Memory and Risk Culture in Western
Europe, 1500–2000, Rachel Carson Center, München (in Vorbereitung).
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verhalten veränderte, fand diese Tradition ihr allmähliches und vielleicht mit dem
Neubau der Brücke8 von 1903 bis 1905 ihr denitives Ende. Insgesamt konnten mehr
als zwölf Referenzpunkte gefunden werden, die traditionell zur Beschreibung von
Hochwassern herangezogen wurden. Es handelt sich hierbei um überschwemmte
Plätze und Strassen oder einzelne markante Gebäude und Hausecken. Bei grösseren
Ereignissen dienten vor allem die Brücke, das Schifeuten-Zunfthaus sowie das Salz-
haus und die am Rhein anliegende Kleinbasler Stadtmauer als Bezugspunkte. Brunnen
wurden gerne zu Marksteinen umfunktioniert, mit denen sowohl die Ausdehnung
der Überutungszone9 als auch die Überutungstiefen beschrieben wurden.10 Diese
traditionellen Referenzpunkte wurden keineswegs stereotyp verwendet, sondern
dienten lediglich als Anhaltspunkte, um davon ausgehend exaktere Beschreibungen
vorzunehmen. Dies lässt sich sehr gut an der Hausecke des Kronengasthauses, des
sogenannten Kronenecks, welches sich gleich gegenüber der Schifände befand
und über Jahrhunderte ein häug erwähnter Referenzpunkt war, demonstrieren. So
präzisiert etwa Johann Heinrich Bieler, dass die Überschwemmung von 1764 «nur»
«bis nache an dem Chronen Eck»11 reichte, während sich laut Johann Heinrich
Philibert das Hochwasser von 1664 immerhin bis «an die vordere Thür zur Kronen
[…] ergoss».12 Ludwig Kilchmann berichtet hingegen, dass anno 1506 «der Rin zü
der Kronen in das hus»13 oss.
Um diese feinen Unterscheidungen besser einordnen zu können, lohnt sich ein Blick
auf das Bild des Künstlers Louis Dubois, welcher das Hochwasser von 1852 auf
Leinwand festhielt (Abb. 1). Hierbei wird deutlich, dass es sich beim Hochwasser
von 1764, welches «nicht ganz an die Hausecke des Kronengasthauses heranreichte»,
um das kleinste der erwähnten Ereignisse handelte. Das nächstgrössere dürfte jenes
von 1664 gewesen sein, welches von jenem von 1506 dicht gefolgt wurde. Denn
8 Seit dem Neubau der Brücke spricht man von der «mittleren Brücke». Diese wurde 1903–1905
erbaut und ersetzte an exakt der gleichen Stelle die alte, bis ins 19. Jahrhundert einzige Rheinbrücke
in Basel. Wenn im Folgenden von «der Brücke» die Rede ist, so ist immer die alte Rheinbrücke
gemeint, die sich gleich oberhalb der Schifände befand.
9 «1570 […] In der grossen stadt osz er [der Rhein] nochin dem stöcklinbrunnen uf dem Fisch-
merct». Chronik des Fridolin Ryff 1514–1541, mit der Fortsetzung des Peter Ryff 1543–1585, in:
Historische Gesellschaft Basel (Hg.): Basler Chroniken, Bd. 1, Leipzig 1872, S. 210. Es handelt
sich hier nicht um den heute noch vorhandenen Brunnen am Fischmarkt.
10 «1480 […] Und gieng das wasser uber den brunntrog [heutiger Fischmarktbrunnen] am Fisch-
merckt». Die Anonyme Chronik der Burgunderkriege 1473–1479, in: Historische Gesellschaft
Basel (Hg.): Basler Chroniken, Bd. 5, Leipzig 1895, S. 435.
11 Johann Heinrich Bieler, Im Schatten unseres gnädigen Herren. Aufzeichnungen eines Basler
Überreiters. 1720–1772, hg. von Paul Kölner, Basel 1930, S. 148.
12 Albert Riggenbach, Basler historische Chronik von Joh. Heinrich Philipert. 1545–1743, in:
Collectanea zur Basler Witterungsgeschichte. Wissenschaftliche Beilage zum Bericht über das
Gymnasium, Basel 1891, S. 19.
13 Die Chronik in Ludwig Kilchmanns Schuldbuch. 1468–1518, in: Historische Gesellschaft Basel
(Hg.): Basler Chroniken, Bd. 6, Leipzig 1902, S. 44.
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während das Gasthaus beim Hochwasser von 1664 knapp einer Überschwemmung
entging (das Wasser reichte «bis zur vorderen Tür»), ist eine solche bei jenem von
1506 bereits eingetreten («bis in das Gasthaus»). Das Hochwasser von 1852 über-
traf, wie anhand des Bildes leicht nachvollzogen werden kann, hingegen alle zuvor
erwähnten Ereignisse, was im Übrigen auch aus dem Hochwasserbericht des All-
gemeinen Intelligenzblattes hervorgeht. Der Journalist berichtete nämlich, dass man
«vom Gasthof zum Kopf […] an den Blumenrain nur zu Nachen [Boot; siehe Abb. 1]
gelangen konnte»,14 und erwähnte das Gasthaus zur Krone im Weiteren mit keiner
Silbe, da es bei der Grössenordnung dieses Ereignisses offensichtlich seinen Nutzen
als Referenzpunkt verlor. Beim Gasthaus Kopf (III) handelt es sich hin gegen um ein
Gebäude, welches zwei Häuser oberhalb an das Gasthaus zur Krone (I) anschliesst,
weshalb es bei Ereignissen dieser Grössenordnung immer wieder als Referenzpunkt
Verwendung fand.
Anhand dieser Beispiele dürfte ersichtlich geworden sein, dass mit diesen auf
Referenzpunkte basierenden Berichten Grösseneinteilungen vorinstrumenteller
Hochwasser relativ leicht zu bewerkstelligen sind. Hochwasserberichte solcher Art
sind in Basel seit dem 12. Jahrhundert überliefert. Bezüge auf die typischen Refe-
renzpunkte lassen sich allerdings erst ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts
(1268) nachweisen, so dass Rückschlüsse auf Scheitelstände erst ab diesem Zeit-
14 Allgemeines Intelligenzblatt der Stadt Basel, 20. September 1852.
Abb. 1: «Der grosse Rhein vom 18. September 1852», Gemälde von Louis Dubois, Staats-
archiv Basel-Stadt (StABS), Bild 13, 323. I: Gasthaus Krone, II: Hotel de la tète d’or, III:
Gasthaus Kopf.
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punkt möglich sind. Eine massgebliche Erleichterung bieten in dieser Hinsicht jene
Berichterstatter, welche per Vergleich zu anderen Hochwassern gleich selbst eine
Grösseneinteilung vornahmen: «Darauf den 15. dito [Dezember 1662] der Rhein sich
so hoch ergossen, dass man auf der Rheinbrucken mit einer Schufe beinahe Wasser
schöpfen konnte, jedoch waren beide, der Rhein und Birsig bei drei Werkschuhen
nicht so hoch, wie anno 1651 und 1652 der Rhein und Birsig gestiegen sind.»15
Solche Berichte sind allerdings relativ selten. Sie lassen aber das Streben nach
einem «messbaren» Vergleichssystem erkennen und nehmen damit vielleicht eine
eigentlich erst im frühen 17. Jahrhundert aufkommende Entwicklung, nämlich das
Führen von Hochwassermarken, vorweg. Hochwassermarken (ab dem 17. Jahrhun-
dert) waren Teil der Lokaltradition, die im kollektiven Gedächtnis präsent und als
Vergleichsmassstab abrufbar waren.16 Sie vermittelten einen Eindruck von Grösse
und Häugkeit der zu erwartenden Hochwasser und gehörten deshalb genauso zur
traditionalen (intergenerationellen) Risikokommunikation wie Hochwasserberichte.
Dies sind im Übrigen dieselben Massstäbe, die von der Versicherungswirtschaft zur
Risikoabschätzung herangezogen werden.
Kalibrierung im 19. Jahrhundert
Im Falle Basels wurde diese Art der Risikokommunikation bis ins späte 19. Jahr-
hundert fortgeführt, so dass immerhin für vier Hochwassermarken (1817, 1852,
1876 und 1881) auch instrumentell gemessene Pegelstände verfügbar sind. Eine
Kalibrierung («Gleichsetzung») dieser Marken mit ihren jeweiligen (gemessenen)
Pegelpendants ist deswegen problemlos möglich. Die Hochwassermarken, welche aus
der Zeit stammen, bevor instrumentelle Messungen durchgeführt wurden (vor 1808),
verfügen allerdings über keine gemessenen Pegelpendants. Sie lassen sich jedoch,
aufgrund der Tatsache, dass alle Hochwassermarken am selben Ort17 angebracht wur-
den, leicht anhand der Differenzen zu den kalibrierten Hochwassermarken aus dem
19. Jahrhundert errechnen. Ganz ähnlich funktioniert im Übrigen die Kalibrierung
der narrativen Hochwasserberichte. Denn den Hochwasserberichten aus der instru-
mentellen Periode stehen ebenfalls instrumentell gemessene Pegel zur Verfügung, so
dass die in den Berichten enthaltenen Referenzpunkte jeweils mit den instrumentell
gemessenen Pegeln gleichgesetzt beziehungsweise kalibriert werden können. Dem
Gasthaus Kopf, welches im bereits bekannten Hochwasserbericht des Allgemeinen
15 Riggenbach (wie Anm. 12), S. 19.
16 Christian Pster, Die «Katastrophenlücke» des 20. Jahrhunderts und der Verlust traditionalen
Risikobewusstseins, in: GAIA 18/3 (2009), S. 239–246.
17 Am Schönbeinhaus am Oberen Rheinweg 93 auf Kleinbasler Seite. Mit dem Abriss des Rheintores
von 1839 gingen die dort angebrachten Hochwassermarken leider verloren.
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Intelligenzblattes als Referenzpunkt für das 1852er Hochwasser erwähnt wird, wird
also der entsprechende instrumentell gemessene Pegel zugeordnet. Ähnliche Hoch-
wasserbeschreibungen aus der Zeit, bevor instrumentelle Messungen durchgeführt
wurden, lassen sich dann entweder direkt mit dem Pegel von 1852 oder aber mit
einer an die spezischen Beschreibungen leicht angepassten Version des 1852er
Pegels kalibrieren. Mit dieser Methode konnten die meisten Referenzpunkte kalibriert
werden. Für die Referenzpunkte von Hochwassern der extremsten Kategorie stehen
jedoch keine gemessenen Pegel zur Verfügung, da solche Ereignisse während der
gesamten instrumentellen Periode nicht mehr eintraten. Die Pegelpendants zu diesen
Referenzpunkten mussten deshalb auf andere Weise rekonstruiert werden.
Rekonstruktion von Hochwasserscheiteln
der höchsten Kategorie
Wie bereits aus dem eingangs erwähnten Bericht des Hieronymus Brillinger hervor-
geht, stellte die Höhe der Brücke einen bei solchen Extremereignissen häug ver-
wendeten Referenzpunkt dar. Die Aussage, dass man von der Brücke aus die Hände
im Rhein waschen konnte («homines in ponte stantes facile in Reno manus lavare
poterant»), zeigt, dass der Wasserspiegel beim Hochwasser von 1480 in etwa die
Höhe der Brücke egalisiert haben muss. Dieser Verweis taucht im Übrigen bereits in
einem Hochwasserbericht von 1424 auf: «Anno domini 1424 vigilia sancti Jacobi was
der Rin so grosz, das es dru joch enweg truog, und man die hende im Rine wuosch,
das man in der Schifutten stuben in den venstren zuo schiff gieng; fuorend in die
cleine stat; gieng der Rin zuo der muren in in die stat.»18
Vergleichen wir die weiteren Referenzpunkte, wie etwa die Überutung der am Rhein
anliegenden Kleinbasler Stadtmauer («gieng der Rin zuo der muren in in die stat»), so
taucht derselbe Bezugspunkt bei der Beschreibung des 1480er Hochwassers wieder
auf («Rhenus in tantum crevit, quod ad lateres usque inferioris muri Minoris Basileae
circa litus ascendit»). Anhand einer Zeichnung von Emanuel Büchel aus dem Jahr
1767 lässt sich zeigen, dass bei einem Wasserspiegel, der in etwa das Niveau der
Brücke erreichte, der Rhein in Kleinbasel tatsächlich bis an die Stadtmauer reichte
(Abb. 2; gepunktete Linie), was die Plausibilität der unabhängigen Hochwasser-
beschreibungen von 1424 und 1480 belegt.
Im Unterschied zum Hochwasserbericht von 1480 enthält jener von 1424 die
zusätzliche Information, dass man aufgrund des erhöhten Wasserspiegels die Boote
durch die Fenster des Zunfthauses der Schifeute besteigen musste («das man in
18 Anonyme Zusätze und Fortsetzungen zu Königshofen, nach der Abschrift Erhards von Appen wiler
1120–1454, in: Historische Gesellschaft Basel (Hg.): Basler Chroniken, Bd. 4, Leipzig 1890, S. 435.
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Abb. 2: Blick vom Rheinsprung auf die Rheinbrücke und Kleinbasel mit Hinterland, 1767,
Zeichnung von Emanuel Büchel, StABS, Collection Weber-Oeri, Topo 2.
Abb. 3: Blick auf das linke Rheinufer, 1759, Zeichnung von Emanuel Büchel, StABS,
Collection Weber-Oeri, Topo 2.
Schiffleuten-Zunfthaus
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der Schifutten stuben in den venstren zuo schiff gieng»). Auch diese Aussage ist
überprüfbar. Unter der Annahme eines Rheinniveaus von ungefähr der Höhe der
Brücke zeigt sich, wiederum anhand eines Bildes von Büchel, dass sich die Fenster
des Schifeuten-Zunfthauses ungefähr auf gleicher Höhe wie die Brücke befanden
(Abb. 3, gestrichelte Linie).
Die Höhe dieses Fensters kann anhand eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden
Querprols des Rheins sowie der Kombination aus den vorhin angesprochenen
Informationen rekonstruiert werden (Abb. 4). Dem Querprol aus dem Jahr 1819,
welches bei der Schifände – genau auf der Höhe des Standortes des einstigen
Abb. 4: Rekonstruktion der Höhe der alten Rheinbrücke: Fensterhöhe (3,10 Meter) +
Schifände über Pegelnullpunkt (4,10 Meter) = Höhe der Brücke (7,20 Meter). Links oben:
Blick auf das linke Rheinufer, 1759, Zeichnung von Emanuel Büchel, StABS, Collection
Weber-Oeri, Topo 2. Rechts oben: Blick von der Rheinbrücke auf das Schifeuten-Zunft-
haus, vor 1839, Aquarell von einem unbekannten Künstler, StABS, I 537. Unten: VIII Quer-
prole des Rheines innerhalb der Stadt Basel. Aufgenommen den 12. & 13. Februar
1819, StABS, Planarchiv A 6, 8. Zitat 1*: «Die Aufzeichnungen des Kaplans Hieronymus
Brillinger. 1447–1525», in: Basler Chroniken, Bd. 7, Leipzig 1915. Zitat 2*: «Anonyme
Zusätze und Fortsetzungen zu Königshofen, nach der Abschrift Erhards von Appenwiler
1120–1454», in: Basler Chroniken, Bd. 4, Leipzig 1890.
«homines in ponte stantes facile in
Reno manus lavare poterant»1*
«in der Schifflutten stuben in den venstren zuo
schiff gieng»2*
Schiffleuten-Zunfthaus
Pegelnullpunkt
243,93 m ü. M.
1,50 m
4,10 m
1,50 m
3,10 m
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Schifeuten-Zunfthauses – aufgenommen wurde, kann die Information entnommen
werden, dass der Unterschied zwischen den beiden Gehniveaus genau 1,50 Meter
betrug (Querprol, unten). Wenden wir nun diese Information beim rechten Bild,
welches das Schifeuten-Zunfthaus und die beiden Gehniveaus an der Schifände
abbildet, an, so kann mittels einer einfachen trigonometrischen Berechnung die Höhe
des Fensters über Gehniveau errechnet werden (rechtes Bild). Sie beträgt 3,10 Meter.
Es wurde bereits gezeigt, dass die Höhe der Fenster ungefähr mit der Höhe der Brücke
übereinstimmt (linkes Bild), so dass für die Brücke also dieselbe Höhe angenommen
werden darf. Die Höhe der Brücke ergibt sich folglich aus der Addition der Höhe des
Niveaus der Schifände über dem Pegelnullpunkt (4,10 Meter) (Querprol, unten)
und der errechneten Höhe des Fensters über Gehniveau (3,10 Meter), so dass eine
approximative Höhe von 7,20 Meter angenommen werden kann (linkes Bild).
Rekonstruktion von Spitzenabflüssen
Hochwasserberichte, die sich auf die bereits erwähnten Referenzpunkte beziehen oder
auf andere Weise deutlich zu erkennen geben, dass der Rhein die Höhe der Brücke
erreichte,19 wurden in der Folge mit dem rekonstruierten «Brückenpegel», also mit
7,20 Meter über Pegelnull, kalibriert (251,13 Meter über Meer). Auf diese Weise
konnten, sei es durch einfache Kalibrierung im 19. Jahrhundert oder durch Kalibrie-
rung mit dem rekonstruierten «Brückenpegel», insgesamt 43 Hochwasserscheitel der
vorinstrumentellen Periode rekonstruiert werden. Diese Pegel wurden schliesslich
mit einem eindimensionalen hydraulischen Modell, welches auf insgesamt acht im
Jahr 1819 im Gebiet der Stadt aufgenommenen Querprolen sowie einem Längen-
prol basiert, in Spitzenabüsse (in Kubikmetern pro Sekunde) umgerechnet. Das
Resultat ist eine über 740-jährige Rheinhochwasserreihe, mit welcher es zum ersten
Mal möglich wird, vorinstrumentelle Ereignisse mit Hochwassern zu vergleichen,
die instrumentell gemessen wurden (Grak 1).
Die Grak zeigt, dass sich das Hochwasserverhalten in Basel in zwei Stufen einschnei-
dend veränderte. Während Extremereignisse in der Grössenordnung von 1480 wäh-
rend fünf Jahrhunderten in regelmässigen Abständen vorkamen, tauchten solche nach
dem frühen 18. Jahrhundert nie mehr auf. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich gegen
Ende des 19. Jahrhunderts. Dieser zweistuge Trend zur Abnahme der Spitzenabüsse
in Basel korreliert auffällig mit den Gewässerkorrektionen von 1714 und 1878, als
die Kander in den Thuner- beziehungsweise die Aare in den Bielersee umgeleitet
19 «und die Brucken einem Holz-oß auff dem Wasser gleich gesehen». Kurtze Bassler Chronick oder
summarischer Begrieff aller denckwürdigen Sachen und Händeln, so sich von vierzehenhundert
Jahren biss auff das MDCXXIV Jahr … zugetragen …, zusammen getragen durch Johann Gross,
Basel 1624, S. 210.
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wurden. Dieser mögliche Zusammenhang wurde mit einem hydraulischen Modell
anhand des grössten (1999) und des drittgrössten (2007) Hochwasserereignisses der
letzten 112 Jahre überprüft. Die Berechnungen ergaben, dass die Spitzen abüsse der
genannten Hochwasser in Basel unter den Bedingungen eines unkorrigierten Gewäs-
sersystems und somit ohne die Retentionswirkungen des Thuner- und des Bielersees
um 600–900 Kubikmeter pro Sekunde höher ausgefallen wären (Grak 1, gepunktete
vertikale Linien am äussersten rechten Rand).20 Hätten diese Hochwasser also unter
den Bedingungen eines unkorrigierten Gewässersystems stattgefunden, so hätten
sie die Grössenordnungen, die noch vor der ersten Jura gewässerkorrektion üblich
waren, eindeutig erreicht. Das zweitgrösste je instrumentell gemessene Hochwasser,
dasjenige von 1852, wäre unter diesen Bedingungen in die Grössenkategorie eines
1480er Ereignisses vorgestossen (Grak 1, dick gestrichelte vertikale Linie). Der
Einuss der erwähnten Gewässerkorrektionen im Einzugsgebiet des Hochrheins
kann somit klar nachgewiesen werden. Dennoch sind auch klimatische Ursachen für
die Veränderungen des hochrheinischen Abussverhaltens nicht auszuschliessen.
Denn das 20. Jahrhundert zeichnet sich vor allem durch die Abwesenheit extremer
Hochwasser aus. Dieser Unterbruch an Extremereignissen setzte bereits im späten
19. Jahrhundert (1882) ein und dauerte beinahe das gesamte 20. Jahrhundert (bis 1993)
fort, was, bezogen auf die gesamte Untersuchungsperiode, einzigartig ist. Nie zuvor
trat während einer so langen Zeit kein einziges extremes Hochwasser ein, weswegen
man diese Phase durchaus auch mit «Hochwasserkatastrophenlücke» betiteln darf. In
den frühen 1990er Jahren wurde deshalb der Spitzenabuss eines Jahrhunderthoch-
wassers in Basel auf circa 4500 Kubikmeter pro Sekunde geschätzt,21 ein deutlich zu
tiefer Wert, wie sich bereits kurze Zeit später angesichts der Hochwasser von 1994
(4900 Kubikmeter pro Sekunde), 1999 (5100 Kubikmeter pro Sekunde) und 2007
(4800 Kubikmeter pro Sekunde) herausstellte. Eine nicht nur auf den instrumentell
gemessenen Erfahrungswerten des 20. Jahrhunderts beruhende Analyse hätte diese
Fehleinschätzung mit Sicherheit verhindert.
Lerneffekte
«Von einem grossen Ryn. Im 1511 jaur uff sant Marien Magdalenen tag was der
Ryn zu Basel so grosz worden, das man von den zünfften knecht nam und ynen bot
by dem eyd, das saltz im saltzhus usz den underen kasten inn die oberen zu tragen.
20 Oliver Wetter, Christian Pster, Rolf Weingartner, Tom Reist, Jürg Luterbacher, The largest
oods in the high Rhine basin since 1268 assessed from documentary and instrumental evidence,
in: Hydrological Sciences Journal 56/5 (2011) (im Druck).
21 Simon Scherrer, Armin Petrascheck, Hanspeter Hodel, Extreme Hochwasser des Rheins bei Basel
– Herleitung von Szenarien, in: Wasser, Energie, Luft 98/1 (2006), S. 1.
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Grak 1: Quantizierte Rheinhochwasserreihe bei Basel, 1268–2011
4000
4300
4600
4900
5200
5500
5800
6100
6400
6700
7000
1350 1450 1550 1650 1750 1850 1950
alte Höhe der Schifflände
Kanderumleitung
in Thunersee 1714
Aareumleitung
in Bielersee
(1. JGK) 1878
m3/s
1250
Rekonstruktion basierend auf vager narrativer Information
Rekonstruktion basierend auf sehr guter narrativer Information
Rekonstruktion basierend auf Hochwassermarken
instrumentell gemessene Hochwasser
Unsicherheit der rekonstruierten Spitzenabflüsse
vorinstrumentelle Periode
(1268–1807)
instrumentelle Periode
(1808–2011)
KLE1–KLE2: kleinere Ereignisse
GE1–GE2: grössere Ereignisse
KE1–KE2: katastrophale Ereignisse
KLE1–KLE2GE1–GE2KE1–KE2
Hochwasser-
katastrophen-
lücke
Ereigniszeitpunkt Frühling
Ereigniszeitpunkt Sommer
Ereigniszeitpunkt Herbst
Ereigniszeitpunkt Winter
HQ 100 (1990)
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alte Höhe der Schifflände
Kanderumleitung
in Thunersee 1714
Aareumleitung
in Bielersee
(1. JGK) 1878
m3/s
1250
Rekonstruktion basierend auf vager narrativer Information
Rekonstruktion basierend auf sehr guter narrativer Information
Rekonstruktion basierend auf Hochwassermarken
instrumentell gemessene Hochwasser
Unsicherheit der rekonstruierten Spitzenabflüsse
vorinstrumentelle Periode
(1268–1807)
instrumentelle Periode
(1808–2011)
KLE1–KLE2: kleinere Ereignisse
GE1–GE2: grössere Ereignisse
KE1–KE2: katastrophale Ereignisse
KLE1–KLE2GE1–GE2KE1–KE2
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Dann der Ryn wuchs so hefftig, das man besorgte, es wurde geschechen, wie 31 jaur
darvor in der wassergroessi ouch beschach.»22
Obenstehender Auszug aus einem Bericht über das Hochwasser von 1511 belegt,
dass das Grossereignis von 1480 bei den Verantwortlichen einen grossen Eindruck
hinterliess. Die ungeheuren Schäden, welche die weiträumige Überschwemmung
damals an der einzigen Brücke und den wertvollen Salzvorräten verursachte, waren
selbst 31 Jahre später noch immer präsent, so dass beim zwar durchaus grossen, aber
diesbezüglich keineswegs mit dem 1480er Ereignis vergleichbaren 1511er Hoch-
wasser bereits frühzeitig die Anweisung gegeben wurde, die Vorräte vorsorglich in
die oberen Stockwerke des Salzhauses umzulagern (Abb. 3; beim Salzhaus handelt
es sich um das Gebäude links vom Turm am rechten Bildrand). 1480 war der Was-
serspiegel nämlich so stark angestiegen, dass der Rhein «am salzhusz hinden zu den
fenstern yn»23 oss und die wertvollen Lagerbestände in Wasser auöste. Es sei an
dieser Stelle erwähnt, dass diese Aussage («zu den fenstern yn») mit den anderen
bereits bekannten Referenzpunkten, die im Zusammenhang mit der Rekonstruktion
der Brückenhöhe besprochen wurden, übereinstimmt (zieht man in Gedanken die
gestrichelte Linie in Abb. 3 bis zum Salzhaus weiter, so zeigt sich, dass der Was-
serspiegel tatsächlich die Fenster im ersten Stock des Salzhauses erreichte), was die
Zuverlässigkeit der verschiedenen unabhängig voneinander entstandenen Berichte
bestätigt. Wie gross der Eindruck gewesen sein muss, den dieses Ereignis hinterliess,
zeigt sich aber auch daran, dass der Brückenmeister nach 1480 während mehr als
eines Jahrzehnts vermutlich schon bei jedem erhöhten Wasserstand des Rheines eine
mit langen Haken ausgerüstete Schutzmannschaft auf die Brücke beorderte, die den
Auftrag hatte, andriftendes Schwemmholz von den besonders empndlichen hölzer-
nen Pfeilern fernzuhalten (Abb. 2; die hölzernen Pfeiler befanden sich auf der linken
Flussseite). Eine solche Häufung konnte anhand der in den Basler Wochenausgaben-
büchern verbuchten Entlöhnungs- und Verpegungskosten24 der Schutzmannschaften
weder vor 1480 noch nach 1492/93 jemals wieder festgestellt werden! Da Chronisten
für den entsprechenden Zeitraum (1481–1493) kein Hochwasser erwähnen, liegt die
Vermutung nahe, dass es sich hierbei um Vorsichtsmassnahmen handelte, die direkt
auf die Erfahrungen mit der 1480er Katastrophe zurückzuführen sind. Ähnliche
(institutionelle) Lerneffekte stellten sich nach den beiden verheerenden Birsigüber-
schwemmungen von 1529 und 1530 ein, als das eigentlich beschauliche Bächlein
22 Die anonyme Chronik der Mailänderkriege. 1507–1516, in: Historische Gesellschaft Basel (Hg.):
Basler Chroniken, Bd. 6, Leipzig 1902, S. 33.
23 Die anonyme Chronik der Burgunderkriege. 1473–1479, in: Historische Gesellschaft Basel (Hg.):
Basler Chroniken, Bd. 5, Leipzig 1895, S. 531–533.
24 «Item geben uff der Rinbrugk ze hueten by dem grossen Rin XIX lb IIII B VIII d». Der Stadthaushalt
Basels im ausgehenden Mittelalter, in: Bernhard Harms (Hg.), Quellen und Studien zur Basler
Finanzgeschichte. Die Ausgaben, Bd. 1: 1360–1490, Tübingen 1910, S. 496.
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gleich zweimal hintereinander enorme Verwüstungen verursachte und zahlreiche
Tote forderte. 1531 wurde deshalb die erste Basler Wasserordnung erlassen. Sie
sah vor, dass das «grien» und andere Stau verursachende Elemente aus dem Bett
zu entfernen seien, was in der Praxis jedoch schon nach einigen Jahren kaum mehr
befolgt wurde, so dass das kleine Gerinne weiterhin als teils offene, teils verdeckte
Abwasserkanalisation diente, die den Unrat des anliegenden Gewerbes sowie der
Wohnhäuser und Märkte zu entsorgen hatte. 1531 jedoch war die Angst vor einer
erneuten Katastrophe immer noch gross, so dass, als nach einem Gewitter von of-
zieller Seite Alarm geschlagen wurde, die Bürger Evakuierungen vornahmen. Ein
wesentlicher Grund für die unterschiedliche «Nachhaltigkeit» der eben beschriebenen
Lerneffekte ist wohl der Tatsache zuzuschreiben, dass die Brücke und das Salzhaus
in den alleinigen Verantwortungsbereich der Stadt elen, während es bei der Birsig
zahlreiche Nutzungs-, Anwohner- und Gewohnheitsrechte zu berücksichtigen galt,
die eine rigorose Umsetzung der Wasserordnung deutlich erschwerten.
Deutungen
Wie eingangs gesagt und im weiteren Verlauf durch zahlreiche Quellenbeispiele
belegt, zeichnen sich Hochwasserberichte in aller Regel durch grosse Nüchternheit
im Stil und Streben nach Objektivität aus. Diese Attribute treffen für den folgenden
Bericht eines Basler Kartäusers mit Sicherheit nicht zu, welcher solche Unglücks-
fälle wie die beiden Birsighochwasser von 1529/30 nicht nur in christlicher Erklä-
rungstradition als Zornzeichen Gottes deutet, sondern diese auch gleich gegen die
Reformation instrumentalisiert. Hierzu muss angefügt werden, dass es sich beim
folgenden «Bericht» um einen Ausschnitt aus einer langen Anklageschrift gegen die
Stadt handelt, mit welcher sich der Kartäuser schon jahrelang in einem Streit über
den rechtmässigen Besitz des Klosters befand, welches im Zuge der Reformation von
1529 in städtischen Besitz überführt wurde: «Volgt wyter, was glucks ein stat Basel
hat gehebt, nachdem dasz lutherisch wesen annge uberhant ze nemmen. Zum erste,
da die heilige mesz durch Oecolampadium in der pfarr zu sant Martin ward abgethon
im jar 1525, nit lang darnach im selben jar uff Mathei obent schlug der tonner in den
buchsenpulverthurn und zerrysz in gantz und gar, und die stein zerspeyt er wyt unnd
breyt und erschlug ouch vil menschen, etliche fast geschediget und thet merglichen
schaden an den huszern in beden stäten, namlich an den fenster. Item im meyen des
jars, do man die byld gesturmet het, kam ein wasser, dasz man sturmet in alle macht,
und zerrysz die gewölb am Korn- und Fischmarck, thet ouch merglichen schaden
ann den huszern, in den kellern am win, in den laden am thuoch und gewurtz etc.,
das man meynt, sölcher schad möchte mit hundertmal tusent guldin nit widerleyt
werden, jo man möchte solchen groszen unglaubigen schaden nit gnuogsam achten
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und schetzen. Item im nechsten jar darnach, aber im meyen, kam so grosz wasser,
dasz man aber sturmet in alle macht. Doch thet es nit so groszen schaden als vor.
Dasmal hett man vor dem thor ein hubsche kilch, mit quadersteinen gebuwet, abge-
brochen und mit denselben steynen das gewölb und bruck by den Barfuszern wider
gemacht, wölches das wasser im nechsten jar davor het zerryszen, und am obent,
da man daszselb gewelb het uszgemacht, in der selben nacht kam dasz wasser und
zerrysz grund und boden und furt die stein in den Ryn.»25
Dieser eindeutigen Ausnahme von der Regel stehen mindestens fünf weitere Hoch-
wasserberichte gegenüber, die über die Sachverhalte im Zusammenhang mit den
Hochwassern von 1529/30 in gewohnt nüchterner und objektiver Manier und ohne
jegliche (religiöse) Deutung berichten, wenn auch nicht alle ganz so ausführlich wie
der folgende: «Von einem grossen Birszeck. Mentags den 14. tag brauchmonats anno
1529 uff die 9. stund vor Mittag, ward der Birszeck das wasser an Steinen so grosz,
das alle hüser an Steinen, am Birszeck gelegen und dargegenüber, ouch das closter
an Steinen, alle im wasser stunden. Das selbig wasser lüff zum Eselthürnlin harin,
ouch durch das Barfuoszercloster, und lüff die Gerwergassen für den Schnabel ab,
gegen dem Kornmercktbrunnen zu, und hinder der Schaul durch die hüser, und bim
Imbergaeszlin die gassen durch, den Fischmerckt durchnider, bim Blumen und by der
Cronen abhin in Ryn. Und was von hüseren was zu beiden sitten, vom Eselthürnlin
durchnider, am Kornmerckt und am Fischmerckt, bisz in Ryn, was alles garnauch
manshoch vol wasser.»26
In diesem Stil geht der mindestens dreimal so lange Bericht weiter. Das Einzige,
was man vielleicht noch als «Deutungselement» bezeichnen könnte, kommt erst
ganz am Schluss in Form der Bemerkung «Was ein erschrockenlich wasser». Das
Verhältnis der deutenden zu den berichtenden Darstellungen von eins zu fünf – oder
zwei zu fünf, wenn man die Wasserordnung von 1531 noch hinzuzählen möchte,
die die Ereignisse von 1529/30 ausführlich und exakt schildert, jedoch eingangs den
Passus «umb straff willen unserer sünden»27 enthält –, ist im Übrigen keineswegs
repräsentativ. Denn bezogen auf den gesamten Untersuchungszeitraum machen «deu-
tungsorientierte Berichte» vermutlich nicht einmal fünf Prozent aller überlieferten
Hochwasserbeschreibungen aus. Dies hängt hauptsächlich damit zusammen, dass
– genau wie Rohr in seiner Untersuchung für den Ostalpenraum feststellen konnte –
auch hier Überschwemmungen erst mit dem Einsetzen der Reformation mitunter als
von Gott gesandte Strafen interpretiert wurden, und dies vor allem dann, wenn gerade
25 Aufzeichnungen eines Basler Karthäusers aus der Reformationszeit 1522–1532, in: Historische
Gesellschaft Basel (Hg.), Basler Chroniken, Bd. 1, Leipzig 1872, S. 484 f.
26 Die Chronik Konrad Schnitts 1518–1533 sammt Fortsetzung bis 1537, in: Historische Gesellschaft
Basel (Hg.): Basler Chroniken, Bd. 6, Leipzig 1902, S. 132–134.
27 Ebd., S. 177.
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konfessionelle Konikte im Gang waren.28 In Basel setzte sich die Reformation 1529
durch, also genau zu jenem Zeitpunkt, als sich das erste der beiden verheerenden
Birsighochwasser ereignete. Dass unter diesen speziellen Gegebenheiten die beiden
wirklich katastrophalen Hochwasser von 1529/30 nicht öfter religiös gedeutet wurden,
ist daher ziemlich erstaunlich und bestätigt noch einmal, dass Chronisten in aller
Regel sehr darauf bedacht waren, Hochwasserereignisse möglichst «objektiv» und
– im Sinne einer intergenerationellen Gefahrenkommunikation – auch für künftige
Generationen nachvollziehbar zu beschreiben. Wie dieser Artikel gezeigt haben
dürfte, ist es ihnen in den allermeisten Fällen durchaus gelungen.
28 Rohr (wie Anm. 6), S. 391.
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