ArticlePDF Available

Lernen 2.0 - Projektlernen mit Lehrenden im digitalen Zeitalter

Authors:

Abstract and Figures

Über die Notwendigkeit einer Rekonzeptualisierung des Projektlern-Ansatzes unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters und den Folgen für die Lehrerbildung - gedruckt erschienen in: Christine Schumacher/Felix Rengstorf/Christina Thomas (Hg.), Projekt: Unterricht. Projektunterricht und Professionalisierung in Lehrerbildung und Schulpraxis, Göttingen 2013 (Vandenhoeck & Ruprecht), S. 245-269
No caption available
… 
Content may be subject to copyright.
Lisa Rosa
5
Lernen 2.0 Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter
von Social Media
In a world of nearly infinite infor-
mation, we must first address why,
facilitate how, and let the what gen-
erate naturally from there.
Michael Wesch
1
1 Einleitende Bemerkungen
Dass die Nutzung von Social Media (Web 2.0) aus dem individuellen
wie dem gesellschaftlichen Leben der Gegenwart nicht mehr wegzudenken
ist, sondern sich im Gegenteil rasant weiter ausbreitet, ist eine vielfach em-
pirisch belegte Tatsache, die hier nicht aufs Neue nachgewiesen zu werden
braucht. Und auch die in Deutschland lange gehegte Vorstellung, dass das
Bildungssystem sich dem neuen Leitmedium
2
Internet verschließen könne,
ja zur Rettung der Bildung geradezu verschließen müsse, ist seit der Erklä-
rung des Vereins „Schulen ans Netz e.V.“, sich nach 16 Jahren wegen Er-
reichung seines Ziels Ende des Jahres 2012 aufzulösen, kein Gegenstand
ernsthafter Diskussion mehr.
3
Ein aktueller Beschluss der KMK weist den
„Neuen Medien“ auch normativ einen prominenten Platz in der Bildung zu,
indem es sie nicht bloß als neue Bildungsmittel handelt, sondern sie aus-
drücklich selbst zum basalen Gegenstand von Bildung und mit dem Begriff
der „Kulturtechnik“ sogar zur Voraussetzung von zeitgenössischer Bildung
erklärt: „Medienbildung gehört zum Bildungsauftrag der Schule, denn Me-
1
Wesch, Michael, From Knowledgeable to Knowledge-able. Learning in New Media Envi-
ronments, 2009, http://www.academiccommons.org/commons/essay/knowledgable-knowledge-
able (Zugriff 21. 05. 2012)
2
Zum Begriff des Leitmediums und dem hier zugrundegelegten Medienbegriff sowie sei-
nen Implikationen für die Bildung vgl. z.B. Michael Giesecke, Auf der Suche nach posttypogra-
phischen Bildungsidealen, Zeitschrift für Pädagogik, 2005,1, 14-29 =
http://www.michaelgiesecke.de/giesecke/dokumente/250/Auf%20der%20Suche%20nach%20postt
ypographischen%20Bildungsidealen_Pub..pdf
3
Vgl. die Erklärung auf der Website des Vereins http://www.schulen-ans-netz.de/ueber-
uns.html (Zugriff: 18. 05. 2012)
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
6
dienkompetenz ist neben Lesen, Rechnen und Schreiben eine weitere wich-
tige Kulturtechnik geworden.“
4
Damit hat Deutschland endlich auch auf
nationaler Ebene eine Verpflichtung geschaffen, die in den OECD-
Schlüsselkompetenzen bereits eine Dekade zuvor prominent benannte Rolle
der Medien in allen Institutionen des Bildungssystems zu berücksichtigen.
5
Die Bildungsakteure könnten also die lähmende Diskussion um die Fra-
ge, ob oder wieviel Internet in der Bildung sein soll, verlassen und sich kon-
struktiv damit beschäftigen, wie Computer und Internet das Lernen verän-
dern, und welche Veränderungsaufgaben folglich das Bildungssystem zu
bewältigen hat.
Die Methodologie des Projektlernens muss sich dabei – wie alle anderen
lerntheoretischen oder didaktischen Modelle auch auf das neue Leitmedi-
um einstellen und einer Revision unterziehen. Geprüft werden muss, ob und
inwiefern die Projektdidaktik dem neuen Zeitalter in ihrer traditionellen
Form gewachsen ist und wie sie gegebenenfalls neu formuliert werden
müsste. Ich bin überzeugt, dass diese Rekonzeptualisierung darüber hinaus
der Projektmethodologie sogar eine wichtige Rolle bei der Ausrichtung der
Bildung auf die Anforderungen der digitalen Epoche zuweisen könnte.
In der ersten Hälfte des Aufsatzes wird dieser Argumentationszusam-
menhang skizziert. Der zweite Teil liefert Gedanken zu den Folgen eines so
rekonzeptualisierten Lernbegriffs für die Lehrerbildung und reflektierte
Praxis. Anhand zweier Beispiele aus der Lehreraus- und -fortbildung, in
denen auf unterschiedliche Weise sowohl Projektlernen als auch Lernen mit
Web 2.0 eine Rolle spielen, werden einige Aspekte beim Übergang in eine
neue Lernkultur
6
diskutiert.
2 Lernen im digitalen Zeitalter
Bislang wird in Bildungszusammenhängen, vor allem in der Schule, das
Internet mit seinen neuen Möglichkeiten für Informationsbeschaffung und
Kommunikation vorwiegend noch als Sammlung neuer Werkzeuge und
Mittel begriffen, die zu den schon bekannten Werkzeugen und Mitteln in
4
Medienbildung in der Schule (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. März
2012), S. 9 http://medien.bildung.hessen.de/service_medien/fb/Beschluss_KMK-Medienbildung-
08-03-2012.pdf (Zugriff: 18. 05. 2012),
5
Vgl. OECD, Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung
(deutsch 2005), S. 7. http://www.oecd.org/dataoecd/36/56/35693281.pdf (Zugriff: 18. 05. 2012)
6
Zum Begriff der Lernkultur vgl. J.W Erdmann/G. Rückriem, Lernkultur oder Lernkultu-
ren, in: H. Giest/G. Rückriem, (Hrsg.), Tätigkeitstheorie und (Wissens-)Gesellschaft. Fragen und
Antworten tätigkeitstheoretischer Forschung und Praxis, Berlin 2010, 15 – 52
Lisa Rosa
7
die „Kiste“ der Bildungshilfsmittel hinzugekommen sind. Wir schreiben
einen Text mit dem Computer und drucken ihn dann aus, um ihn zu verviel-
fältigen und zu verteilen oder in einer Mappe abzuheften. Oder die „Neuen
Medien“ bereichern den Unterricht (mit „alten Medien“) durch leicht zu-
gängliche Fotos, Videoclips und 3D-Grafiken. Ein solches Verständnis
drückt sich in gewisser Weise auch in der Formulierung des oben zitierten
KMK-Beschlusses aus, auch wenn hier nicht die einzelnen Werkzeuge und
Mittel gemeint sind, sondern vielleicht eher das, was anderswo als Literacy
7
bezeichnet wird. (Allerdings hat Rechnen wiederum mit Literacy nichts zu
tun).
Wie auch immer diese Art Konzepte versuchen, das Phänomen „Neue
Medien“ in den (Be-)Griff zu bekommen: Ihnen allen ist gemeinsam, dass
sie additive Denkmodelle sind, die neue Kulturerscheinungen phänomeno-
logisch zu bereits bestehenden hinzuzählen. In diesem Verständnis bleibt
die Kultur dieselbe wie vorher und wird nur ergänzt, bereichert oder „opti-
miert“. Dahinter verbirgt sich allerdings ein Medienverständnis, das nicht
zwischen Medium und Mittel unterscheidet.
8
Solche Konzepte greifen zu kurz. Denn ebenso wenig wie der Buchdruck
als bahnbrechendes Kulturereignis zur Handschrift bloß hinzugekommen
war, und ebenso wenig, wie zuvor die Erfindung der Schrift als zusätzliche
Technik zur gesprochenen Sprache in einer „Kiste“ von Techniken zu ver-
stehen ist, ist „das Digitale“ als bloße Ergänzung adäquat begriffen. So wie
die Schriftlichkeit die Sprache selbst und wie der Druck die gesellschaftli-
che Bedeutung der Schrift grundsätzlich verändert haben, so transformiert
auch die Digitalität alle vorhergehenden (Leit-)Medien: Sprache, Schrift-
lichkeit, die gesamte Kommunikation und alles, was damit zusammenhängt,
also auch das Denken.
9
Wie einst die Erfindung der Schrift die Bildung
staatlicher Organisation als Voraussetzung für den Pyramidenbau erst er-
möglichte und wie sich später mit der Erfindung des Buchdrucks die Mo-
derne“ mit der Entwicklung der Wissenschaften, Aufklärung und Industria-
lisierung herausbildete, so muss wohl auch die Digitalität als der Beginn
einer neuen Kulturepoche begriffen werden.
7
Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Literacy (Zugriff 18.05. 2012)
8
Ein zentraler Aufsatz zum Verständnis des Problems, das sich aus diesem kurzschlüssigen
Medienbegriff für die pädagogische Praxis einer wie auch immer gearteten „Medienintegration in
die Bildung“ ergibt, findet sich bei Georg Rückriem: Mittel, Vermittlung, Medium. Bemerkungen
zu einer wesentlichen Differenz, Vortrag am Seminar für Grundschulpädagogik der Universität
Potsdam, Golm 30. 10. 2010,
http://shiftingschool.files.wordpress.com/2010/11/ruckriem_medienbegriff.pdf (23. 05. 2012)
9
Michael Giesecke weist in vielen Einzelstudien zu die dramatischen Folgen dieser beiden
historischen Leitmedienwechsel für die jeweils vorige Medienkonstellation und das vorige Leit-
medium überzeugend nach: Giesecke, Michael, Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studi-
en zur vergleichenden Mediengeschichte, FfM 2007
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
8
Mit den digitalen Werkzeugen hat sich um im Bild zu bleiben – nach
diesem Verständnis gleichzeitig also auch die „Werkzeug-Kiste“ verändert.
Oder anders: Der kulturelle Rahmen, innerhalb dessen seither die Mensch-
heitsentwicklung stattfindet, hat sich verändert oder ist zumindest im Be-
griff sich zu verändern. Dieses Verständnis von einer epochemachenden
Tragweite der digitalen Technologie findet sich seit McLuhan bei den meis-
ten großen Medienhistorikern, Medientheoretikern, Medienphilosophen und
Mediensoziologen.
Ob wir diese neue Epoche mit Marshall McLuhan als Globales Dorf,
Third Wave (Alvin Toffler), Informationsgesellschaft (Norbert Wiener, Mi-
chael Giesecke), Wissensgesellschaft (Daniel Bell), Netzwerkgesellschaft
(Manuel Castells), Sinngesellschaft (Norbert Bolz), Lernkultur (Erd-
mann/Rückriem) oder einfach als Next Society (Dirk Baecker) bezeichnen,
ist dabei zweitrangig. Wichtig ist die allen diesen Begriffen gemeinsam zu-
grunde liegende Vorstellung eines Epochenwandels infolge eines Leitmedi-
enwechsels, der die gesamte Gesellschaft bzw. Kultur erfasst und weder
optional noch reversibel ist.
Kulturhistorisch orientierte Erziehungswissenschaftler
10
treffen sich mit
Medienphilosophen
11
in der Auffassung, dass der Begriff von Wissen und
folglich auch von dem, wodurch Wissen hervorgebracht wird (Lernen), in
jeder Kultur(stufe) etwas anderes bedeutet. Für die digitale Kultur werden
andere Aspekte des Wissens und andere Formen des Lernens als fundamen-
tal identifiziert: „Our new knowledge is not even a set of works. It is an in-
frastructure of connection. (…) Knowledge has become a network with the
characteristics (…) of the net.“
12
“I like to think that we are not teaching
subjects but subjectivities: ways of approaching, understanding, and inter-
acting with the world.“
13
Erdmann/Rückriem definieren mit “Sinnbildungs-
lernen”
14
die notwendige Antwort auf die Herausforderungen der neuen
Epoche.
Web 2.0 als Begriff für das Internet in seiner aktuellen interaktiven Ver-
sion mit den sogenannten Social-Media-Anwendungen kann als Vorlage
dienen zu einem Arbeitsbegriff für dieses neu verstandene Lernen als Ler-
nen 2.0. Was Wissensschöpfung und Lernen verändert, verändert zugleich
10
Vgl. z.B. Bernd Fichtner, Lernen und Lerntätigkeit. Ontogenetische, Phylogenetische
und epistemologische Studien, Berlin 2008
11
Vgl. z.B. David Weinberger, Too Big to Know: Rethinking Knowledge Now That the
Facts Aren’t the Facts, Experts Are Everywhere, and the Smartest Person in the Room Is the
Room, NY 2012
12
Weinberger, David, a.a.O, S. 196
13
Wesch, M., a.a.O
14
Vgl. Lisa Rosa, Sinnbildung lernen. Interview mit Georg Rückriem und Johannes Werner
Erdmann, in: Hamburg macht Schule. Zeitschrift für Hamburger Lehrkräfte und Elternräte, H.
4/09, S. 28-29
Lisa Rosa
9
auch das Denken. In einer Gegenüberstellung der Kultur des Industriezeital-
ters mit der der Wissensgesellschaft werden die Unterschiede deutlich (vgl.
Abb. 1):
Abb. 1 Gegenüberstellung: Denken und Lernen im Industriezeitalter und in der
digitalen Kultur
Lernen im digitalen Zeitalter kann also nicht heißen, dass wir mit den
neuen Technologien das Alte mit neuen Methoden und Instrumenten lernen
– nur eben schneller, leichter und vielleicht vergnüglicher –, was einem Op-
timierungsvorgang entspräche. Lernen 2.0 heißt stattdessen, dass sich vor
allem die Art und Weise des Lernens in der Gesellschaft, aber auch der Ge-
sellschaft verändert ein kultureller Transformationsvorgang. Dabei spie-
len jetzt die aus dem Netz bekannten Merkmale wie Freiwilligkeit, Selbst-
steuerung, Offenheit, Personalisierung und Zusammenarbeit eine prominen-
te Rolle, während sie vordem nicht nur kaum Bedeutung hatten, sondern
von dem, was im instruktionistischen Lernen als notwendig gelten durfte,
sogar ausdrücklich ausgeschlossen worden waren. Und statt wie im In-
dustriezeitalter – des systematischen Buchlernens, des standardisierten Ler-
nens (im Unterrichtetwerden) in bestimmten kurzen Taktungen (Unter-
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
10
richtsstunde) und an bestimmten Orten (Klassenraum), tritt jetzt zunehmend
situiertes, informelles, non-formales, immersives Lernen und Lernen nach
Bedarf in den Vordergrund.
15
Für die allgemeinbildende staatliche Schule darf sich dieses Lernen auch
heute noch allenfalls als Ausnahme in der Nische zeigen im Lernen au-
ßerhalb von Schule und Hochschule, nämlich in der Arbeitswelt und in der
privaten Lebenswelt. Dagegen werden – provoziert und befördert durch das
Web 2.0 – die selbstorganisierenden Aspekte des Lernens immer deutlicher
sichtbar. Kein Unternehmen des 21. Jh. kommt mehr ohne informelles und
selbstbeauftragtes Lernen seiner Mitarbeiter aus, denn hier liegen wesentli-
che Potenziale für das notwendige organisationale Lernen.
16
Daher fangen
mehr und mehr Betriebe und Institutionen an, dieses informelle Lernen
nicht nur zuzulassen, sondern sogar zu organisieren. Die adidas Group hat
erst vor wenigen Tagen zu einem öffentlichen „Blog Carnival“ aufgerufen,
um nützliche Anregungen für ihre Entwicklung als lernende Organisation
einzusammeln.
17
In den sofort einsetzenden Kommentaren ist auch ein Vi-
deobeitrag von David Weinberger enthalten, in dem er das „Öffentliche
Lernen“ als die Lernform des 21. Jahrhunderts bezeichnet.
18
Zu allem und jedem kann man sich auch in seiner Freizeit im Netz auf
Expertenhöhe informieren und sich in stetiger vernetzter Kommunikation
autodidaktisch selbst zum Experten entwickeln.
Und selbst die Lernaufgaben, die die Institutionen der formalen Bildung
an ihre Teilnehmer stellen, werden zunehmend außerhalb und mithilfe der
Social Media erledigt. Heute sind die Schüler gewohnt, nichtverstandenen
Unterricht mit Erklär-Videos aus dem Netz (z.B. mit den berühmten Khan-
Videos) zu ergänzen oder gar durch sie zu ersetzen und im Facebook-Chat
die Hausarbeiten grundsätzlich gemeinsam zu erledigen. Bevor man Effi
Briest wie angeordnet liest, schaut man sich einen der Kino-Filme mit
dem Computer an, damit man weiß, um was es überhaupt geht. Und die im
Netz ebenfalls gefundenen professionellen Interpretationen können zur ge-
meinsamen Vorbereitung der Klausur im Chat geteilt und diskutiert werden.
Dies alles findet meistens ohne Wissen des Lehrers statt, denn dass Haus-
aufgaben alleine (was in der traditionellen Schule unter „selbstständig“ ver-
15
Zu den neuen Lernformen vgl. auch Lisa Rosa, Ein Bildungskanon für die glokale Welt?,
in: Ute Erdsieck-Rave und Marei John-Ohnesorg, (Hrsg.), Bildungskanon heute, Berlin 2012, S.
73-79 = http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/08990.pdf
16
Vgl. dazu die schon lange international vorliegenden Theorien des organisationalen Ler-
nens.
17
Blogpost der adidas Group: “Help us find the new way of working and learning”, Zugriff
29. 05. 2012, http://blog.adidas-group.com/2012/05/help-us-find-the-new-way-of-working-and-
learning/ .
18
David Weinberger, Public Learning, 30. 05. 2012
http://www.youtube.com/watch?v=irlZm-tsJRc&feature=youtu.be
Lisa Rosa
11
standen wird) zu machen sind, ist noch immer die Regel. Unterricht ist da-
bei nicht selten de facto nur noch die Informationsveranstaltung darüber,
was der Lehrer am Ende in Tests und Klausuren lesen möchte. Seit 2007
steigen Schüler nicht selten sogar ganz aus der Schule aus und organisieren
sich mittels Web 2.0, um sich in Gruppen extern auf die Abiturprüfung vor-
zubereiten.
19
Die Bedeutung des Unterrichts, wie wir ihn kennen, als Voraussetzung
und Bedingung für Lernen ist kulturell auf dem Wege zweitrangig zu wer-
den, denn gelernt wird immer öfter anderswo und zugleich ganz anders als
in der Schule. „Lernen und Bildung sind ins Alltagsleben eingebettet; ihr
primärer Ort sind die Netzwerke des Social Web“ findet der Journalist und
Manager Rolf Schmidt-Holtz.
20
Selbstorganisierendes, autodidaktisches
Lernen ist dabei nicht nur eine praktische Notlösung zum Ausgleich der
Unzulänglichkeiten der institutionellen Bildung. Die Fähigkeit zum „Selbst-
lernen“ wird längst ausdrücklich gefordert und sie zu bilden als eine der
Hauptaufgaben der Bildungsinstitutionen schon lange genannt, wie ein
prominentes Beispiel von 1971 zeigt:
The new education must teach the individual how to classify and reclassify infor-
mation, how to evaluate its veracity, how to change categories when necessary, how
to move from the concrete to the abstract and back, how to look at problems from a
new direction – how to teach himself. Tomorrow’s illiterate will not be the man who
can’t read; he will be the man who has not learned how to learn.
21
3 Projektlernen als Hauptlernform im digitalen Zeitalter
Selbstorganisierende Momente von Lernprozessen sind jedoch für Projekt-
didaktiker nichts Unbekanntes. Auch die Prinzipien des Netzes, wie sie
oben mit Selbststeuerung, Offenheit, Personalisierung und Zusammenarbeit
benannt wurden, lassen sich in Projekten, die Deweys Philosophie und Me-
thodologie folgen, unschwer wiedererkennen. Dabei ist ein Wiedererkennen
im Sinne einer neuen Sicht des Erkannten gemeint, nicht im Sinne einer
Instrumentalisierung. Den eigenen Fragen beim Lernen nachgehen zu dür-
19
Vgl. Freies Abiturprojekt Methodos http://methodos-ev.org/
20
Rolf Schmidt-Holz in seinem Vortrag „ Ist eLearning tot? Zukunft Bildung und Lernen in
der Wissensgesellschaft“ auf der CeBIT 2009, zit. nach Jochen Robes, Weiterbildungsblog
http://www.weiterbildungsblog.de/2009/03/13/cebit-forum-learning-knowledge-solutions-2/ (24.
05. 2012)
21
Herbert Gerjuoy, zit. nach Toffler, Alvin, Future shock, London 1971, 375, vgl.
http://www.alia.org.au/groups/topend/2003.symposium/learn.unlearn.html. Dabei ist aber nicht
etwa nur das Humboldtsche Bildungsverständnis gemeint, sondern das Lernenlernen unter den
Bedingungen des neuen Leitmediums.
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
12
fen, wie das entscheidende Prinzip im Projektbegriff Deweys lautet, lässt
sich nicht nur besonders gut mit den Mitteln des Internet realisieren. Das
Internet fordert und fördert zugleich diejenigen Kompetenzen, die mit Ei-
gensinn, Selbststeuerung, Teamentwicklung und Netzwerken zu tun haben.
Und auch im Meistern der „Gefahren“ (Cyber Mobbing, information
overload, Sucht“) erzwingt es die Herausbildung von Selbststeuerungsfä-
higkeit und Kommunikationsfähigkeit um es mit den OECD-
Schlüsselkompetenzen zu benennen (1) „Autonome Handlungsfähigkeit“,
(2) „Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln“ und (3) „Interagieren
in heterogenen Gruppen“.
22
Was jetzt noch als „soft skills“ im Schulunter-
richt belächelt wird, könnte sich bald als die „hard skills“ des 21. Jh. ent-
puppen, deren Entwicklung die entscheidende Antwort auf die „Krise der
Arbeit“ sein wird.
23
„Netz“ und Projekt“ (im neuen, noch zu beschreibenden Verständnis)
treffen sich dabei nicht nur in der Übereinstimmung einzelner Prinzipien.
Sie können sich der Möglichkeit nach auch darin treffen, dass sie die Über-
windung dualistischer Vorstellungen nahelegen und ermöglichen: Die Wi-
dersprüche zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Eigensinn und
Gemeinsinn und zwischen Lokalem und Globalem werden auf einer neuen
Stufe behandelt, indem ihre (tendenzielle) Aufhebung eingefordert wird. In
diesem Verständnis sind z.B. individuelle Interessen und Gemeinschaftsin-
teressen, aber auch die Arten der Tätigkeit nicht nur nicht mehr streng von-
einander geschieden und einander entgegengesetzt ‚erst die Pflicht, dann
die Kür‘, ‚erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘ oder bezogen auf schuli-
sches Lernen ‚erst die Hausaufgaben, dann darfst du spielen‘. Persönlicher
Sinn, Individualität und Eigeninteresse realisieren sich dieser Vorstellung
nach vielmehr überhaupt erst durch die Beachtung von überindividuellen
(Gattungs-) Interessen einerseits; und das, was sich Gemeinwohl nennen
möchte, enthält die Interessen aller Einzelnen andererseits. Utopien und
Visionen in diese Richtung sind natürlich nicht neu. Der marxistisch ge-
schulte Zeitgenosse beobachtet jedoch heute: Dasselbe alte (Vereinbarkeits-
) Problem wird aktuell auf einer neuen Stufe prozessiert.
Der Begriff Deweys vom „natürlichen Lernen“ hält zwar Einwänden
nicht Stand, in deren Verständnis die Natur auch seine eigene dem
Menschen nur unter den Bedingungen von Gesellschaft entgegentritt und
Lernen immer sowohl ein gesellschaftlicher als auch ein individueller Vor-
22
OECD, a.a.O
, S. 7
23
vgl. die neuesten Zahlen der ILO für die Jugendarbeitslosigkeit, nach denen 22,1 % aller
15 bis 24-Jährigen Europas arbeitslos sind und sich auch nicht in einer Bildungsmaßnahme befin-
den, (Taz vom 24. 05.2012 http://www.taz.de/Hohe-Arbeitslosigkeit-bei-Jugendlichen-/!93875/ )
sowie Andreas Schleichers aufschlussreiche Präsentation der OECD Skills Strategy als Antwort
(18. 05. 2012) http://prezi.com/cll3ajcdjmqs/skills-strategy-us/
Lisa Rosa
13
gang ist. Wenn wir Dewey jedoch historisieren, dann können wir seinen
Begriff des „natürlichen Lernens“ als ein Gegengewicht zum Lernbegriff
der Moderne verstehen, die zum Zwecke der notwendig gewordenen Mas-
senalphabetisierung das Lernen (und seinen Begriff) auf systematisches
Buchlernen und Belehrungslernen der Paukschule reduzierte. Die Lernfor-
men der Vormoderne, die im „Learning by doing“ und auch im erweiterten
„Learning by reflecting what we are doing“ auf dem Acker wie in der
Werkstatt der Feudalgesellschaft angemessen waren, taugten wenig für das
Literacy-Projekt in der Massenbildung der Industriekultur und wurden in
der offiziellen Bildungspolitik daher ausgemustert. In Deweys Projektler-
nen (und auch anderen „reformpädagogischen“ Konzepten) wurde das, was
wir heute situiertes, immersives, experimentelles und informelles Lernen
nennen, jedoch nicht nur als ehemalige Formen archiviert, sondern prak-
tisch gepflegt, beforscht und, so gut es ging, an die Moderne angepasst.
Heute, am Übergang in ein neues Zeitalter, muss der verengende Lern-
begriff der Moderne seinerseits historisiert und ein neues Verständnis des
Lernens entwickelt werden. An Deweys Projektlernen kann dabei besser als
an anderen reformpädagogischen Konzepten angeknüpft werden, weil er
nicht romantisierend antimodern und schon gar nicht antidemokratisch ist,
wie etwa viele der zeitgenössischen deutschen Reform-Konzepte. Im
‚projet‘ der Arbeit der „Kreativen“ der Moderne (Architekten) haben sich
die Arbeits- und Lernformen der Werkstatt nicht nur erhalten, sondern an
die Moderne angepasst. Die „Kreativen“ der Bauhauszeit sind eher moder-
ne Teamplayer als Handwerksmeister und Lehrlinge in feudaler Zunftord-
nung. In Wirtschaftsunternehmen, die sich heute aus der Industriekultur
verabschieden, stehen – wenig überraschend Projekte und selbstgesteu-
erte Teams als produktive Unternehmenseinheiten im Zentrum.
Auch der Kommunikations- und Medientheoretiker Michael Giesecke
beschreibt die Projektform als „Gegenbewegung“ gegen das „Typographi-
sche Wissenschafts- und Wissensschöpfungsideal“: Anstelle hierarchischer
Institutionen treten „Projektgruppe und Interdisziplinäre Netzwerke“; Ziel
sei nicht mehr, „allgemeingültiges Wissen für alle, jederzeit an jedem Ort“
zu schaffen, sondern „fallbezogenes Wissen, individualisierte, maßge-
schneiderte Lösungen, Aktionsforschung. (…) Neues Wissen emergiert als
Ergebnis der Vernetzung von Projekten“ und verweist damit auch auf die
Entwicklung „vom individuellen Lernen zur lernenden Organisation und
Gruppe.“
24
Keine Frage: Projekt ist eine Organisationsform, die im 21. Jahrhundert
eine große Rolle spielt. Zunehmend werden private und öffentliche Vorha-
ben als Projekte begriffen, deren Komplexitätsanforderungen nach einer
24
Giesecke, a.a.O., S. 11f
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
14
funktionsfähigen Methodologie verlangen. Lernen gleichgültig welcher
Gegenstände kann immer auch als Projekt verstanden werden, wenn wir
es nicht auf das systematische kognitive Buchlernen verengen, sondern un-
ter Lernen ganz allgemein diejenige Tätigkeit verstehen, die zu Verhaltens-
änderungen führt.
„Von null auf 42“
25
hieß 2004 ein bekanntes Projekt, in dem sich 7 un-
trainierte Menschen unterschiedlichen Alters und Konstitution innerhalb
eines Jahres auf die Teilnahme am New York City-Marathon vorbereiteten.
Zunächst war es ein Projekt des Südwestdeutschen Rundfunks (ARD), aber
mit der Auswahl der 7 aus 17.000 Bewerbern wurde es gleichzeitig zum
persönlichen Lernprojekt eines jeden Teilnehmers.
Nur, weil es für jeden einzelnen Teilnehmer einen eigenen persönlichen
Sinn ergab, war das Projekt erfolgreich. Die Möglichkeit, Persönlichen
Sinn
26
zu realisieren ist die Voraussetzung für Lernen überhaupt, und die
Projektform ist womöglich als einziges formales Lernsetting offen genug
dafür, die Vielfalt und Eigenartigkeit persönlicher Sinnbildung in Lern-
gruppen zu berücksichtigen.
Wie das Marathon-Projekt zeigt, muss man dabei die Projektform weiter
verstehen als etwa Klafki oder Hilbert Meyer
27
, die sie mit Fokus auf
Schule zur Unterrichtsform bzw. Unterrichtsmethode reduziert neben
Training und Lehrgang stellen. Lernprojekte wie das Marathonprojekt sind
besser zu verstehen, wenn im Projekt der übergeordnete Rahmen gesehen
wird. Dieser gibt dem Lernen nicht bloß die Methodologie nämlich die
Vorgehensweise z.B. in 7 Projektphasen und je nach Phase und Erfordernis
verschiedenste Methoden und Instrumente –, sondern er enthält zugleich
auch Sinn und sinngebendes Motiv des Lernens.
Erfolgreich am Marathon teilnehmen zu können, lautet das Projekt. Um
es zu erfüllen, sind hunderte Lauftrainings als zentrale Lernhandlungen,
aber auch Lehrgänge mit kognitiven Inhalten (zum richtigen Laufen, zur
gesunden Ernährung usw.) enthalten. Die Formen Training und Lehrgang
ordnen sich also auf der Handlungs- und Zielebene dem Projektrahmen un-
ter. Ebenso kann man jedes Erkundungsprojekt oder Produktprojekt als
übergeordnete Form verstehen, in denen nach Bedarf Episoden von Lehr-
gangs- und Trainingslernen vorkommen. Dabei können diese dem Sinn un-
tergeordneten Lernformen für die verschiedenen Teilnehmer eines Projekts
in verschiedenen Projektphasen auftreten und auch unterschiedliche Inhalte
haben, nämlich je nach den eigenen Fragen, die die Teilnehmer zum Ge-
25
http://de.wikipedia.org/wiki/Von_Null_auf_42
26
zum Begriff vgl. A. N. Leont’ev, Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit, Köln 1982 (ver-
griffen), neu übersetzt und herausgegeben von Georg Rückriem, Berlin 2012 (in Druck)
27
Vgl. die Darstellung in Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Unterrichtsform
Lisa Rosa
15
genstand der Projektgruppe bearbeiten, und je nach den Voraussetzungen,
die sie sich dazu jeweils erst noch erarbeiten müssen.
Für diese episodischen Lehrgänge und Trainings „on demand“ ist aller-
dings kein für alle organisierter „Unterricht“ mehr nötig und auch nicht
möglich. Dies ist auch die Voraussetzung für eine wirkliche Individualisie-
rung. Alles, was in Lehrgängen gelernt werden kann, kann man sich heute
aus dem Netz holen. Und für individuelles Training braucht es einen per-
sönlichen Trainer oder Coach, aber keinen Lehrer“, der „Stoff didaktisch
aufbereitet“ und für alle auf die gleiche Art „serviert“. Eine Projektanlage,
die Peer-to-peer-Lernen und individuelle wie Gruppen-Beratung enthält,
kann auch die potenziellen Netzwerkeigenschaften der Lerngruppe nutzen,
um fehlende Kompetenzen einzelner Teilnehmer zu entwickeln oder auszu-
gleichen. Der Lehrer „unterrichtet“ in einem solchen Projekt nicht mehr,
auch nicht in Trainings- und Lehrgangsepisoden. Er moderiert stattdessen
den Projektprozess der Gruppe, ist Einzel- und Gruppencoach und stellt
Ressourcen (Medien, Material, Mittel, Experten, Präsentationsorte) bereit,
soweit die Gruppe das nicht selbst kann.
Diese Art Lehrtätigkeit als „Unterricht“ zu bezeichnen, scheint mir nicht
mehr angemessen zu sein, wenn nichts mehr so ist, wie in Schule üblich:
Wenn der Klassenraum zum Basislager der Lerngruppe wird, der Lehrer
zum „Ältesten Teilnehmer“ (Wolfgang Steiner) einer Expedition mutiert,
die Lernorte über die ganze Stadt verteilt sind und die Projektteilnehmer
ihre eigenen Taschencomputer mitbringen („mobile learning“), die die
ständige Vernetzung der Gruppe garantieren, und um damit ihr persönliches
Lernmaterial zu finden, zu generieren, zu sammeln, zu kommunizieren und
zu verarbeiten, dann ist der traditionelle Begriff „Projektunterrichtgerade-
zu irreführend. Er soll vielleicht darauf verweisen, dass die ganze Veran-
staltung gerade nicht in non-formellen außerschulischen privaten Zusam-
menhängen stattfindet, sondern in der allgemeinbildenden öffentlichen
Schule. Aber erstens verführt er dazu, mit dem Begriff auch das Projekt
selbst vom Lehrer und seinen Lehrabsichten aus zu organisieren, insofern
als die Lehrertätigkeit und nicht die Schülertätigkeit im Begriff enthalten
ist. Zweitens besteht die Gefahr, dass auf die Erfahrungen außerschulischen
Lernens sei es in der offenen Jugendarbeit, in der Erwachsenen-
Weiterbildung oder im privaten „wilden Lernen“ (Sturzenhecker) der Auto-
didaktik – ungeprüft und leichtfertig verzichtet wird, weil das für alle gleich
geltende Curriculum und die Schulorganisation „oben“ und der Lehrende
„vorne“ bleibt.
Wenn wir die Projektform stattdessen als Lernform verstehen, können
wir viel offensiver fragen, wie dieses selbstbestimmte, personalisierte, offe-
ne, kollaborativ vernetzte Lernen (Subjekt), das es ja bereits gibt, auch die
Schule (Objekt) für sich nutzen und verwandeln kann. Die umgekehrte
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
16
Herangehensweise, nämlich zu fragen, wie projekt(artiges) Lernen in den
Unterricht der Schule integriert werden könnte, führte bisher fast immer
dazu, dass Projektlernen entweder ganz außerhalb des „Kerngeschäfts“
bleibt und damit immer zur sekundären Lernform entwertet wird, oder ihr
so die Flügel gestutzt werden, dass weder echte Personalisierung noch Er-
gebnisoffenheit übrig bleibt. Bei solchem „Projektunterricht“ wählen die
Schüler dann aus einer geschlossenen Themen- oder Fragenliste des Leh-
rers, damit heraus kommet, was als Ergebnis bereits feststeht. Für den Leh-
rer zeigen sich dabei die Widersprüche im System zunächst entspannt. Für
die Schüler sind solche „Projekte“ nicht attraktiv, weil sie sich plötzlich
„selbstständig“ und „selbstverantwortet“ dasselbe aneignen sollen, was
ihnen früher wenigstens einigermaßen bequem „serviert“ wurde. Schüler,
die solchen „Projektunterricht“ genossen haben, bitten oft darum, wieder
„normal“ unterrichtet zu werden. Und nicht zufällig wird in Lehrerbil-
dungs-Seminaren zur Projektkompetenz immer sehr früh und sehr promi-
nent einerseits die Frage der Bewertung von Projektlernen angesprochen
und andererseits als Befürchtung formuliert, dass die Schüler nicht lernen,
was sie lernen sollen, wenn sie lernen dürfen, was und wie sie lernen wol-
len. Hier wird sowohl der Widerspruch zwischen den Kulturen deutlich als
auch das wichtigste Merkmal des neuen Projektlernbegriffs.
4 Folgen für die Lehreraus- und -Fortbildung
Tatsächlich macht Projektlernen als Unterrichtsmethode“ keinen Sinn,
wenn sich außer der „Methode“ nichts weiter an den Parametern der tradi-
tionellen Lernorganisation verändern darf. Damit geht es der Projektmetho-
de genauso wie den „Neuen Medien“ bei dem Versuch, sie in den alten Un-
terricht „einzuführen“. Denn weder Projekt noch Web 2.0 sind geeignet, die
Ergebnisse des traditionellen Unterrichts zu optimieren.
Auch als Methode oder Mittel, Schüler im Unterricht dazu zu „motivie-
ren“, mehr „mitzuarbeiten“, also als Schüler-Aktivierungs-Methode inmit-
ten einer Bevormundungs- und Belehrungskultur ist Projektlernen wenig
geeignet. Ganz abgesehen davon, dass ein transitives „Motivieren“ nicht
möglich ist, denn Lernmotive muss jeder Lernende selbst bilden: Bei die-
sem Verständnis wird Projektlernen nicht als das dem menschlichen Lernen
eigene Betriebssystem (Deweys „natürliches“ Lernen!) gedacht, sondern als
Mittel in der Hand des Lehrers, seine Lehrziele besser zu erreichen als vor-
her. Begriffe wie „Projektunterricht“ und „Projektmethode“ scheinen mir
einem solchen Misskonzept Vorschub zu leisten. Stattdessen muss klar
werden, dass nur derjenige, der sein eigenes Lernen in Projektform zu ver-
Lisa Rosa
17
stehen und zu organisieren in der Lage ist, auch anderen dabei behilflich
sein kann.
Für die Lehrerbildung bedeutet dies, dass mit dem Erwerb von Projekt-
kompetenz ein neuer Lernbegriff erworben wird, der sich von der eigenen
Lernerfahrung in formellen Kontexten abhebt und stattdessen an eigenen
Lebenserfahrungen anknüpfen muss, in denen zwar gelernt, aber das Lernen
nicht als solches erkannt wurde, weil es nicht in institutionalisierten Lern-
kontexten stattfand.
Referendare und Junglehrer unterrichten so, wie sie selbst unterrichtet
wurden, und zwar unabhängig davon, was sie in ihrer Ausbildung gelernt
haben. Das ist das Ergebnis verschiedener empirischen Untersuchungen.
28
Es ist aber kein Wunder, dass man in unsicheren und Stress-Situationen auf
seine eigenen Lernerfahrungen zurückgreift, wenn professionelles Lernen
in der Ausbildung nur bedeutet hat, dass etwas (anderes) gesagt, aber nicht
erfahren worden ist. Die eigene Erfahrung sticht immer die kognitive Ansa-
ge aus. Aber schon diese, dem Projektdidaktiker bekannte Tatsache ist ja
gerade nicht Bestandteil des schulischen Lernbegriffs, der Erfahrungslernen
nicht explizit enthält. Es braucht also einen anderen Begriff vom Lernen.
Neue Begriffe als Konzeptualisierungen nachträglich begriffener neuer Pra-
xis bilden zu können, erfordert natürlich in gleicher Weise nicht so sehr
neue Ansage, als vielmehr neue eigene reflektierte Erfahrung.
29
Diese muss
in der Lehrerbildung organisiert werden.
Selbst in einem Projekt den eigenen Fragen zu einem Gegenstand nach-
zugehen und die Ergebnisse mit anderen zu teilen und zu diskutieren, muss
der Ausgangspunkt für eine Reflexion über das eigene Lernen sein, in der
Lernen neu „begriffen“ werden kann. Erst danach kann geklärt werden, was
diese Lernerfahrung und der Begriff davon für die eigene Praxis als Leh-
render bedeutet. Denn die Projektmethodologie zu lernen ist nur unter Pro-
jektbedingungen möglich. Die Lehrerbildung zur Projektkompetenz muss
also selbst als Projekt organisiert werden.
Ein solches Projekt muss reflektierte Erfahrung auf verschiedenen Ebe-
nen organisieren:
Erstens auf der Ebene des Lerngegenstands 1. Ordnung (z.B. „National-
sozialismus“). Hier wird der Gegenstand als Projekt gelernt. Der Gegen-
stand 1. Ordnung ist dabei explizit Gegenstand des Lernens, während der
28
Vgl. z.B. die das international beobachtete Phänomen in Deutschland bezeichnende
„Konstanzer Wanne“, beschrieben bei Terhart, Ewald, Lehrerberuf und Lehrerbildung: For-
schungsbefunde, Problemanalysen, Reformkonzepte, Weinheim 2001, 20ff
29
Auch hier decken sich übrigens Einsichten Deweys mit denen der kulturhistorischen
Schule, wenn Deweys „vorauslaufende Praxis“ auf die „immer der Praxis hinterherhinkende Theo-
rie“ Leont’evs trifft. Ebenso besteht Anschlussfähigkeit zwischen „learning by reflecting about
what we are doing“ (Dewey) und „Lernen als Tätigkeit in der Tätigkeit“ bei Leont’ev.
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
18
Gegenstand 2. Ordnung (das Projektlernen) implizit mitgelernt wird. Sach-
kompetenz (das Was) wird neu erworben. Auch eine vermeintlich alt-
bekannte Sache wird dabei auf neue Weise im Projektlernen neu erlebt und
betrachtet. Häufig hat dieses Neue damit zu tun, dass zum ersten Mal wirk-
lich die eigenen Fragen, der persönliche Sinn, die eigene Perspektive eine
zentrale und explizite Rolle spielen und objektivierende Bedeutungen (‚was
man wissen muss‘ und ‚wie etwas zu interpretieren ist‘) zunächst in die
zweite Reihe treten, dann aber selbst zum Gegenstand von Re- und De-
konstruktion werden.
Zweitens muss danach der Gegenstand 2. Ordnung den Platz des Gegen-
stands 1. Ordnung als expliziten Lerngegenstand einnehmen. Jetzt wird Pro-
jektlernen explizit thematisiert, allerdings immer noch bezogen auf das ei-
gene Lernen. Aus der geteilten und gemeinsam reflektierten Erfahrung, wie
ich den Gegenstand der ersten Ebene anders und neu gelernt habe, entsteht
Projektkompetenz mit den auf der Hand liegenden Fragen ‚wo habe ich
ähnliche Lernerfahrungen gemacht?‘ und ‚kann ich andere, vielleicht alle
Gegenstände auf diese Weise lernen?‘.
Drittens schließlich stellt sich für professionell Lehrende dann die Frage,
was diese Erfahrungen und Einsichten für die eigene Lehrtätigkeit zu be-
deuten haben. Aber vorher müssen diese Erfahrungen eben gemacht und
reflektiert worden sein.
Diese drei Ebenen müssen voneinander als Denkebenen unterschieden
werden. Das muss sich auch in der Projektorganisation des Aus- oder Fort-
bildungsseminars widerspiegeln. Das bedeutet nicht, dass sich die Ebenen
nicht zuweilen auch schnell abwechseln können. Für einen Lehrenden
drängen sich ständig Fragen aus seinem tigkeitsfeld auf. Sie rfen auf
keinen Fall missachtet werden. Wichtig ist jedoch zu verstehen, auf welcher
Ebene man sich gerade befindet. Diese Ebenen überhaupt zu unterscheiden
ist in vielen Projektseminaren eine neue Erkenntnis für sich. Viel zu schnell
ist man in Lehrerbildungskontexten auf der letzten Ebene. Das geht soweit,
dass auch schon Lehreranwärter Gegenstände überhaupt nur noch unter
dem Aspekt des Unterrichtens wahrnehmen. Leider wird dies auch durch
eine falsch verstandene Praxisorientierung in der Lehrerbildung gefördert,
die auf Unterrichten anstatt auf Lernen fokussiert.
Lehrerbildungsveranstaltungen, die anbieten, das Lernen neu zu erleben
und zu konzeptualisieren, um daraus neue Impulse für die eigene Praxis zu
gewinnen, sind ungewöhnlich. Da die Teilnehmer an Lehrerbildungssemi-
naren entweder erwarten, eine neue Unterrichtsmethode („fachkompetent
bin ich selber“) oder aber einen neuen Unterrichtsgegenstand („ich weiß
schon, wie man unterrichtet“) zu lernen, muss man sich als Lehrerbildner
für Projektkompetenz auf diese notwendigen Missverständnisse einstellen.
Lisa Rosa
19
Ein weiteres Missverständnis liegt im üblichen Konzept des Lernens in
verschiedenen Lebensaltern verborgen: Kinder lernen demnach angeblich
nur unter Druck, weil sie „noch nicht einsichtsfähig“ seien, nur Erwachsene
könnten selbstgesteuert lernen, weil sie wüssten, was sie lernen müssen.
Dieses der Schule systemeigene Lernverständnis führt oft dazu, dass Pro-
jektlernen allenfalls für die gymnasiale Oberstufe vorstellbar ist. Das hat
auch damit zu tun, dass Fragen in der Schule eine andere Rolle spielen als
im Alltag. Sie kommen als Prüfungsfragen oder als steuernde Lehrerfragen
(im „fragend entwickelnden Unterricht“ und als vorgegebene „Leitfragen“
auf Arbeitsblättern) vor. Und wenn wir von „eigenen Fragen“ oder gar von
„Forschungsfragen“ der Schüler sprechen, die der Ausgangspunkt des Pro-
jektlernens sind, dann werden von Lehrerseite die Voraussetzungen dafür,
bearbeitbare Fragen stellen zu können, bei den Schülern vermisst und an-
gemahnt („Schüler müssen erst mal richtig fragen lernen“) anstatt in der
Projektkompetenzvermittlungskompetenz des Lehrers gesehen. Eine nützli-
che Vorstellung davon, welche Bedeutung und welche Probleme die eige-
nen Fragen fürs Lernen haben, findet man bei Gallin und Ruf:
Das Problem beim Lernen sind die Fragen. Mit den Fragen beginnt das Verstehen.
Fragen kann man nicht vermitteln, man kann sie weder lehren noch lernen. Fragen
kann man sich, genau genommen, nicht einmal stellen: Sie stellen sich ein. Erst wenn
sich einem eine Frage wirklich stellt, versteht man sie.
30
In den oben beschriebenen Missverständnissen bzw. Misskonzepten
willkommene Lerngelegenheiten in der Lehrerbildung zu sehen, gehört zur
„Projektkompetenzvermittlungskompetenz“ des Lehrerbildners.
Die vermeintlich „projektungeeigneten“ Schüler sind nicht das einzige
Problem, das dem Projektlernen als „Kerngeschäft“ in der Schule entgegen-
steht. Gerade wenn verstanden wird, dass sich im Projektlernen auch die
Lehrerrolle fundamental verändert, werden die Systemgrenzen deutlich, die
notwendigerweise interne Widersprüche erzeugen und als Spannungen an
neuen Stellen erlebt werden. Wie kann man eine neue Lernen 2.0-Haltung
im alten Unterrichten 1.0-System entwickeln?
Viel Richtiges im Falschen erleben zu können ist nur möglich mit einer
experimentellen (also Projektlern-)Haltung in einem bewusst gestalteten
kollaborativen Lernprozess in der gemeinsamen Tätigkeit. Und wo nicht
genügend Gleichgesinnte an der eigenen Schule zu finden sind, da finden
sie sich auf jeden Fall an anderen Schulen, in anderen Bundesländern, in
anderen Ländern irgendwo auf der Welt. Solche Praxisgemeinschaften und
globale und zugleich persönliche Lernnetzwerke bauen zu können (als
30
Gallin, Peter und Ruf, Urs, Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik, Seelze-
Velber 1999, S. 37
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
20
Möglichkeit und als Fähigkeit), ist eine Errungenschaft der Web 2.0-Kultur
und ist für die Lehrerbildung schon jetzt unverzichtbar.
Klar ist: Eine Ausbildung und Fortbildung, die solches leisten möchte,
verlangt nach großen Formaten, in denen Projekt im Projekt und Web 2.0 in
Web 2.0 gelernt werden kann. Es sind mehrtägige Projektseminare, Werk-
stattformate oder Jahresseminare. Die üblichen Informationsveranstaltun-
gen in erratischen 2-stündigen Seminaren machen hingegen nur dann Sinn,
wenn sie als Auftakt und Einladungen zu den eigentlichen Veranstaltungen
gedacht sind.
4 Erfahrungen aus der Lehrerbildung
Seit 2009 biete ich in der modularisierten Referendarausbildung am Lan-
desinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung fächer-, schulstufen-
und schulartenübergreifend ein Wahlmodul mit dem Titel „Individualisier-
tes Unterrichten mit Weblogs“ an. Die bisher sechs Durchführungen dieses
Moduls haben ihre Spuren auf dem begleitenden Weblog „Blogwerkstatt“
31
hinterlassen. Die „Blogwerkstatt“ ist offen zugängliches Materiallager und
Dokumentation der Module, gleichzeitig ein Medium, in dem vor und nach
dem Modul der Gegenstand öffentlich kommuniziert werden kann. In je-
dem Moduldurchgang gibt es Referendare, die diese Möglichkeit nutzen,
die meisten beschäftigen sich jedoch ausschließlich in der Modulzeit mit
dem Gegenstand des Moduls. Einige Unterrichtsexperimente und Exa-
mensarbeiten zum Gegenstand sind im Laufe der Zeit entstanden. In zwei
Durchführung konnten zwei frühere Teilnehmer ihre Erfahrungen aus eige-
nem Unterrichten mit Weblogs als Fallbeispiele zur Diskussion stellen und
gleichzeitig als Referenten fungieren. Diese Teile wurden als besonders
interessant und nützlich im Feedback der Teilnehmer bewertet. Die meisten
Referendare begnügen sich jedoch damit, das Bloggen als Selbsterfahrung
oder/und als „Unterrichtsmethode“ kennen zu lernen, denn ein Einsatz im
Referendariat ist voraussetzungsvoll. Inzwischen wird die „Blogwerkstatt“
in Lehrerseminaren verschiedener Universitäten und in Fortbildungsveran-
staltungen in verschiedenen Bundesländern von Medienpädagogen genutzt.
In den Feedbacks der Referendare zeigt sich meistens eine interessante
Kluft: Viele, oft die meisten Teilnehmer fanden es sehr schön, dass sie in
einem ersten Selbsterkundungs-Teil ihren eigenen Fragen zum Bloggen
anhand der Blogwerkstatt und den dort verlinkten zahlreichen Beispielen
von Lehrerblogs, Unterrichts- und Schulblogs nachgehen, anschließend ihre
Ergebnisse in der Gruppe auswerten und am zweiten Tag eigene Blogs für
31
http://lisarosa.wordpress.com
Lisa Rosa
21
ihre Zwecke einrichten und erproben konnten. Ein kleinerer Teil der Teil-
nehmer, manchmal nur eine Person zeigte sich jedoch gerade von dieser
Offenheit und Selbststeuerung enttäuscht. „Die Modulzeit wurde effektiv
genutzt“ und „Die im Modul vermittelten Methoden sind für den Berufsall-
tag bedeutsam“ zwei Feedbackfragen im obligatorischen, standardisierten
Fragebogen wurden schlecht bewertet. Diese Teilnehmer hatten auch im
Modul vor allem nach klaren Vorgaben und Rezepten gefragt und früh die
Bewertungsfrage und die Frage nach dem „Output“ der Schüler in den Vor-
dergrund gerückt. Ausdrücklich wussten diese Teilnehmer schon von vor-
neherein, dass sie Blogs nicht für ihr eigenes Lernen verwenden würden,
sondern ausschließlich für den Unterricht.
Ihre Enttäuschung hatte sowohl mit ihrem Medien- als auch mit ihrem
Lernverständnis zu tun. Denn ein Weblog als geschlossene Steuerungsplatt-
form von „Lernleistungen“ der Schüler (Aufgaben abholen, Stundenproto-
kolle und Hausaufgaben abliefern) zu nutzen, lohnt den Aufwand nicht,
oder wie angehende Lehrer heute sagen – bringt keinen Mehrwert, da es
die Netzeigenschaften des Mediums ignoriert. Keiner der angehenden Leh-
rer traute sich, von Anfang an ein offenes Blog mit weitgehenden Autoren-
rechten der Schüler zu führen. Die Angst, Schüler könnten in der Öffent-
lichkeit etwas Falsches“ schreiben, würden sich gegenseitig mobben, und
das Ganze würde für den Lehrer viel Arbeit bedeuten, wobei die Effekte
nicht zu kontrollieren wären, ist ein komplexes Gemisch und eine große
Hürde. Gleichzeitig kann sie zur Sprache gebracht der Ausgangspunkt
neuer Lern- und Lehrerfahrungen werden:
Dies zeigen z.B. die Erfahrungen der beiden Referendare, die beim Ex-
perimentieren feststellten, dass ihre Befürchtungen gar nicht eintrafen, und
die jeder auf seine Weise den Weg der Öffnung und des Vertrauens in
die Selbststeuerungskräfte ihrer Schüler gingen. Eine Deutsch-Referendarin
stellte anfangs anstelle ihrer Schüler deren Balladentexte korrigiert in ihr
Blog „Sprachspielerei“ ein. Später wurde sie mutiger, und schließlich luden
die Schüler ihr eigenes Material, eigene Texte, interessante Videos im offe-
nen Blog hoch und kommentierten sie gegenseitig.
32
Dabei folgte die Lehre-
rin ihren eigenen reflektierten Praxis-Erfahrungen, und gleichzeitig wurde
durch Kommunikation im Modul von einem anderen Teilnehmer aus diesen
Erfahrungen das Stufenmodell zunehmender Schülerpartizipation kreiert,
das daraufhin in der „Blogwerkstatt“ als Seminarmaterial für nachfolgende
Module seinen Platz erhielt.
33
32
Vgl. http://sprachspielerei.wordpress.com/ (Zugriff vom 28.05.2012)
33
Vgl. http://lisarosa.wordpress.com/seminarmaterial/stufenmodell-zur-
schulerpartizipation-in-weblogs/
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
22
Ein Grundschullehrer scheiterte zunächst mit seiner „Lerninsel“ einer
Plattform für Unterrichtsmaterial und Hausaufgaben – an der ausbleibenden
Schüler-Beteiligung. Aus seiner reflektierten Enttäuschungserfahrung kam
er mit dem neuem Konzept eines Projektblogs heraus, das er gleichlautend
mit dem Lerngegenstand „Lebensraum Wald“ nannte, und wo die Schüler
nicht nur eine lle an Anregungen zum Gegenstand des Sachunterrichts
fanden, sondern auch die Erlaubnis und den Raum, miteinander ihre Fragen
und Ergebnisse ihrer Waldexkursionen zu teilen und zu diskutieren. Pilze
wurden (für den Lehrer nicht vorhersehbar) zum Hit des Schülerinteresses
und -engagements. Schließlich schaltete sich in das offene Blog sogar die
„Deutsche Gesellschaft für Mykologie“ ein, denn die Schüler der Klasse 4a
hatten sich mit ihrem Weblog im Netz einen Namen als Pilzforscher ge-
macht.
34
Erfolgreich hatte der Lehrer die Lernwünsche seiner Schüler unter-
stützt und gefördert.
In einem anderen Beispiel steht ein Erkundungsprojekt an einem ge-
meinsamen Gegenstand im Vordergrund eines phasenübergreifenden Pro-
jektseminars der Lehrerbildung. „Die Gegenwart der Vergangenheit: Rich-
tiges Erinnern? NS und Holocaust im kompetenzorientierten Geschichtsun-
terricht“ heißt die zweiteilige, insgesamt 28 Stunden umfassende
Veranstaltung mit Lehramtsstudenten, Referendaren und Lehrern, die ich
seit 2009 an der KZ-Gedenkstätte in Hamburg-Neuengamme zusammen
mit dem Geschichtsdidaktiker Andreas Körber und dem Leiter des Studien-
zentrums der KZ-Gedenkstätte, Oliver v. Wrochem, durchführe. Die erste
zweitägige Veranstaltung widmet sich der Selbsterkundung der Gedenkstät-
te, nachdem am Vorabend die eigenen Erfahrungen und Unterrichtserfah-
rungen mit dem Gegenstand erinnert und kommuniziert wurden. Die Teil-
nehmer erkunden dabei in selbst organisierten Gruppen Gelände, Ausstel-
lungen und Gedenkorte der komplexen Anlage, wobei ihnen nach Bedarf
Guides (bzw. die Projektleiter selbst) für Fragen zur Verfügung stehen. Die
Aufgabe besteht darin, eigene echte Fragen zu sammeln, und die Orte, an
denen diese Fragen auftauchten, zu fotografieren. Später werden im Plenum
die Fotos zusammen mit den Fragen bzw. Kommentaren kommuniziert.
Auch wenn dabei zuweilen von Schülern die Rede ist (häufig von ihrem
Verhalten), und auch wenn Einzelne nicht zum ersten Mal die Gedenkstätte
besuchen, ist durch diesen Beginn ein neuer Erfahrungshorizont eröffnet,
denn meist fragen sich Lehrende dabei nach langer Zeit wieder oder über-
haupt zum ersten Mal: „Was hat der Gegenstand mit mir zu tun?“ Und für
viele ist es eine neue Erfahrung, ihre Erlebnisse und Gedanken in der Grup-
pe zu teilen.
34
Vgl. den letzten Eintrag des Lehrers vom 16. 2. 2010 auf der Startseite
http://lebensraumwald.wordpress.com/ (Zugriff vom 28.05.2012)
Lisa Rosa
23
Anschließend werden individuelle und Gruppen-Forschungsfragen ge-
bildet und mit dem Material, das die Gedenkstätte bietet, bearbeitet. Die
Ergebnisse werden im Plenum präsentiert. Manchmal bereitet es einige
Mühe, an dieser Stelle den Gegenstand 1. Ordnung („was“) zu verlassen
und den Gegenstand 2. Ordnung („wie“) in den Blick zu nehmen. Beson-
ders schwierig war dies in der Projektgruppe 2010, die sich entgegen dem
Projektplan mehr Zeit dafür nahm, alle ihre Ergebnisse ausführlich zu prä-
sentieren und zu diskutieren. Eine Lehrerin äußerte auf den Hinweis, dass
man auch zur Reflexion der Lernform kommen müsse, dass sie hier endlich
mal wieder selbst lernen dürfe, und das wolle sie auskosten. Am Ende des
Reflexionsteils steht oft die in der Gruppe übereinstimmend geäußerte Be-
friedigung, dass das, was man die letzten beiden Tage gemacht habe, „rich-
tig gutes“ Lernen sei. Gerne würde man so mit Schülern lernen. Aber in der
Schule sei das ja nicht möglich. Auch hier wieder muss man diese Beden-
ken gerade zum Diskussionspunkt machen. Denn die empfundenen Wider-
sprüche sind Ansatzpunkte zur Analyse der Verhältnisse und zur Strategie-
Entwicklung, in der Zeit des Übergangs diese Widersprüche auf neue Weise
verstehen und prozessieren zu können.
Im zweiten Teil einige Monate später werden die Lernerfahrungen
mit Gegenstand, Lernort und Projektmethodologie aktualisiert und mit dem
Kompetenzstrukturmodell Geschichte
35
konfrontiert. Anschließend entwer-
fen die Teilnehmer Projektskizzen für ihre eigenen Lerngruppen. Sowohl
im ersten Teil (der Selbsterkundung) als auch hier stellt es sich immer wie-
der heraus, dass vor allem die eigenen Fragen der Lernenden im Zentrum
stehen müssen. Das ist ungewohnt und schwierig, sowohl für die Lehrer als
auch für die Schüler, denn die erforderlichen Kompetenzen, die Entwick-
lung – man möchte beinahe sagen Entbindung – und Bearbeitung von For-
schungsfragen zu begleiten, die die eigenen Fragen enthalten, müssen erst
entwickelt werden.
Für die Projektgruppe 2011 hatte ich ein Weblog
36
zur Begleitung ange-
legt, vor allem als kommunikative Brücke zwischen den beiden Veranstal-
tungsteilen, die mehr als ein halbes Jahr auseinander lagen. Obwohl nur
einzelne Teilnehmer das Blog aktiv nutzten, indem sie eigene Beiträge ein-
stellten, war es in vielerlei Hinsicht nicht nur eine Bereicherung sondern für
den Fortgang entscheidend. So äußerten viele Teilnehmer, dass sie sich
schon beim ersten Treffen „wie vertraut“ waren, nachdem sie die zusam-
mengefasste Vorabfrage
37
gelesen hatten, und dass sie in der Auftaktveran-
35
Waltraud Schreiber, Andreas Körber, u.a., Historisches Denken. Ein Kompetenz-
Strukturmodell (2006) Schreiber_Körber_2006
36
Projektseminar an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
http://gegenwartdervergangenheit.wordpress.com/
37
http://gegenwartdervergangenheit.wordpress.com/ergebnisse/ergebnisse-der-vorabfrage/
Lernen 2.0 – Projektlernen mit Lehrenden im Zeitalter von Social Media
24
staltung besser diskutieren konnten, nachdem sie schon vorab die einfüh-
rende Präsentation
38
angeschaut hatten. Neben der Sammlung von Semi-
narmaterialien und der Dokumentation der Projektgruppenergebnisse ent-
puppte sich die Kommunikationsfunktion des Weblogs als Projektsteue-
rungsmöglichkeit durch die Teilnehmer: Eine Studentin postete zwischen
den Veranstaltungsteilen ihr aktuelles Praxisproblem mit einer Schüler-
gruppe im Praktikum und bekam diverse Antworten u.a. auch von einem
Guide der Gedenkstätte, der nicht Teilnehmer der Projektgruppe war.
39
Der
Guide wurde daraufhin zum zweiten Teil der Veranstaltung eingeladen und
schilderte zusammen mit der Studentin den Fall. Anschließend führte er die
Projektgruppe übers Gelände, um an verschiedenen Orten zu erläutern, wie
er als außerschulischer Pädagoge Schüler, Lehrer und den schulischen Um-
gang mit Gedenkstätten wahrnimmt. Dieser Programmpunkt, der nicht zu-
fällig, aber den Zufall organisierend, nur mittels des Projektblogs möglich
geworden war, erwies sich als Highlight des zweiten Veranstaltungsteils.
5 Schlussbemerkung
Lernen als öffentlicher Prozess, Lernen in konstantem Kontakt und Aus-
tausch mit anderen, an allen möglichen Orten, in kleinen Teams und gleich-
zeitig in großen Netzwerken, selbststeuernd und mit offenem Ausgang den
eigenen Fragen nachgehend, experimentierend und mit ständigem Zugang
zur unendlichen Informationsressource des Internet – das könnte man „Pro-
jektlernen 2.0“ nennen, oder wenn man alles Lernen als Projektlernen
versteht – „Lernen 2.0“.
Wie hier auch in den Beispielen der Lehrerbildung deutlich wurde,
sprengt dieses Lernen nicht nur die traditionelle Lernorganisation im Unter-
richt der öffentlichen Schule sondern auch den Begriff von dem, was bisher
unter Lernen verstanden wurde. Wenn Lernen unter den Bedingungen der
Digitalität im 21. Jahrhundert sich derart radikal vom gewohnten unter-
scheidet, dann reicht es nicht, die Lehrerbildung ein wenig zu reformieren.
Vielmehr geht es darum dass angehende und bereits praktizierende Lehrer
die Notwendigkeit verstehen und die Gelegenheit erhalten, das Lernen
selbst neu zu lernen miteinander in professionellen Lernnetzwerken und
auch mit ihren Schülern zusammen.
38
http://gegenwartdervergangenheit.wordpress.com/einfuhrung/
39
Vgl. http://gegenwartdervergangenheit.wordpress.com/2011/09/09/ich-habe-kein-mitleid-
mit-den-juden-die-machen-das-doch-heute-mit-meinem-volk/
... In our project, the three-step approach from Rosa (2013) was helpful in preparing PSTs for implementing inquirybased learning (level 1 according to Blanchard et al. 2010) with Arduino: PSTs experienced inquiry-based learning with Arduino as learners, explored its didactic features and reflected on its implementation in the classroom using teaching vignettes (Bernsteiner 2023). Reflection journals and survey results revealed that taking only the learner's perspective was insufficient to build confidence for classroom implementation ). ...
Article
Full-text available
In response to the essential need for digital competences in education, a 3-year Design-Based Research project was conducted to prepare pre-service mathematics and science teachers for the demands of teaching in the digital age. Over three design cycles, an evidence-based course design for teaching and learning with and about digital media was developed. The interactions of 37 pre-service teachers with the course design were examined using a mixed-methods approach. Acceptance surveys, pre-, mid-, post-surveys and reflection journals informed iterative phases of refinement. This article presents global project findings and derives contributions to context-specific theories about teaching and learning with and about digital media. From this, key implications for higher (teacher) education are discussed, such as the use of scaffolds and teaching vignettes to promote self-efficacy expectations for implementing digital data acquisition and the use of the SAMR model as a scaffold for planning digitally transformed lessons.
... Nur kurz sollen hier zum Abschluss die wichtigsten Konsequenzen für die Lehrerbildung angedeutet werden (Rosa, 2013b;Rosa 2013c). Es ergibt sich fast unübersehbar aus den Erkenntnissen der vorigen Kapitel, dass das Lernen der Lehrerinnen und Lehrer selbst ebenso dem gewandelten Lernbegriff angepasst werden muss wie das der Schülerinnen und Schüler. ...
Book
Heterogenität ist ein schulpädagogischer Dauerbrenner: Sie wird einerseits schulisch erzeugt, andererseits werden Strategien zum Umgang mit Heterogenität für Individuelle Förderung genutzt. Hinzu treten Konzepte wie Inklusion und Diversität, die für Herausforderungen und Reformprozesse stehen. Bildungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven werden gebündelt, die vielseitige Einblicke in aktuelle Diskurse eröffnen. Zentrale Begriffe werden erarbeitet und vielfältige Betrachtungsweisen des Feldes diskutiert.
Article
Full-text available
In order to meet the challenges in a globalised world, appropriate competencies should be initiated among pupils in the sense of education for sustainable development. In Germany, the focus in this context is on systems thinking and evaluation competence. At the same time, the importance of digital media in the everyday lives of children and at school is increasing more and more. Both the promotion of ESD skills and the use of digital media in teaching are based on a constructivist approach to learning. The question therefore arose, how can ESD competences be promoted with digital media? With the help of a design-based-research approach online learning arrangements (so-called reflectories) were developed. The word “reflectory” is composed of the terms “reflect” and “(s)tory”. In concrete terms, the learners are integrated into a “story” within which they are invited to make reflective decisions. Then they are immediately confronted with possible consequences of their decisions, which in turn are starting points for further necessary decisions. On the basis of audio contributions, images and text materials, learners have to weigh up and finally make and reflect on complex and uncertain decisions. The content of the reflectories is based on the Sustainable Development Goals (SDGs). In a first step, content-related aspects and interactions were worked up on selected SDGs and reviewed by expert scientists. Subsequently, reflectories were developed with the involvement of teachers. The reflectories are beeing tested with teachers and students. In the paper, the criteria for the promotion of competences will be discussed based on the corresponding research results. Students were very motivated by the fact that they could make their own decisions on the basis of which they could continue to work. It was particularly emphasized that they learned that decisions can often not be right or wrong, but that these decisions can also have many consequences.
ResearchGate has not been able to resolve any references for this publication.