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GAIA 14/2(2005): 113–118 |www.oekom.de/gaia
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Schwellenwerte der
Landschaftszerschneidung
Thresholds of Landscape Fragmentation
GAIA 14/2(2005): 113–118
Abstract
Landscape fragmentation adversely affects wildlife populations
by reducing the amount and quality of habitat, increasing the
number and strength of barriers to movement, enhancing morta-
lity due to collisions with vehicles, and breaking up the remaining
habitat into smaller pieces. All four mechanisms exhibit critical
thresholds, below which the population is prone to a much higher
risk of extinction. However, empirical determination of these
thresholds in real landscapes (e.g., by using molecular-genetic
methods) is very difficult due to long time lags in population
reactions (“extinction debt”), and due to many confounding
ecological variables. As a consequence, better policies, decision-
making procedures, and planning tools are needed that are based
on the precautionary principle and on prospective simulation
models, e.g., quantitative environmental standards limiting the
degree of landscape fragmentation and precautionary assessment
criteria.
Keywords
barrier effect, connectivity, demographic stochasticity,
extinction thresholds, gene flow, habitat fragmentation,
inbreeding, landscape fragmentation, minimum viable
population size, population persistence, population viability
analysis (PVA), roads, traffic mortality
Bei den Auswirkungen von Landschaftszerschneidung bestehen
Schwellenwerte. Wo sie genau liegen, ist jedoch kaum zu ermitteln.
Um dieser Unsicherheit zu begegnen, sind vorsorgeorientierte Methoden
zur Steuerung der Landschaftszerschneidung notwendig.
Jochen Jaeger, Rolf Holderegger
Kontakt: Dr. Jochen Jaeger |ETH Zürich |Departement
Umweltwissenschaften |Professur für Natur- und Landschafts-
schutz, ETH Zentrum, HG F 27.6 |CH-8092 Zürich |
Tel.: +41/1/632 0826 |Fax: +41/1/632 1380 |
E-Mail: jochen.jaeger@env.ethz.ch
Dr. Rolf Holderegger |Eidg. Forschungsanstalt für Wald,
Schnee und Landschaft WSL |CH-8903 Birmensdorf |
E-Mail: rolf.holderegger@wsl.ch
>
SCHWERPUNKT: LANDSCHAFTSZERSCHNEIDUNG
Kann man die Folgen von neuen Verkehrswegen und steigen-
dem Verkehrsaufkommen dadurch abschätzen, indem man
die bisher beobachteten Folgen linear extrapoliert? Oder muß ab
einem bestimmten Punkt mit überproportionalen Auswirkun-
gen gerechnet werden? Dieser Unterschied ist wichtig, weil im
zweiten Fall das Ausmaß der Auswirkungen kaum vorherzuse-
hen ist (Abbildung 1).
Dieser Beitrag trägt für das Beispiel von Wirkungen der
Landschaftszerschneidung auf Tierpopulationen Anzeichen für
die Existenz von Schwellenwerten zusammen; er diskutiert die
Schwierigkeiten bei der empirischen Identifikation von Schwel-
lenwerten in realen Landschaften und zeigt die Konsequenzen
der Existenz von Schwellenwerten sowie der Schwierigkeiten
ihrer Bestimmung für Verkehrsplanung und Naturschutz auf.
K
Funktionsprinzip von Schwellenwerten mit unterschiedlich
verlaufendem Hin- und Rückweg. Ausgehend von Zustand A reagiert das Sy-
stem, zum Beispiel eine intakte Tierpopulation, bei zunehmender Einwirkung
von außen, etwa durch Straßenbau, zunächst nur schwach. Sobald der Schwel-
lenwert („point of no return“) für das Verlassen von Zustand A überschritten
wird, kippt das System in den Zustand B: Die Tierpopulation ist stark reduziert
oder verschwunden. Eine Rückkehr zum vorherigen Zustand (gestrichelte Linie)
ist – wenn überhaupt – nur bei starker Reduktion der Einwirkungen und
weiteren unterstützenden Maßnahmen, wie Wiederansiedlungen, möglich.
ABBILDUNG 1:
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Schwellenwerte
Die vier Hauptwirkungen von Verkehrswegen auf Tierpopula-
tionen sind Habitatverlust, Verkehrsmortalität, Trennung von
(Teil-)Lebensräumen und die Zerteilung von Populationen (Ab-
bildung 2). Diese Wirkungen führen zu geringeren Populations-
dichten und schließlich zum Erlöschen von Populationen. Jede
zeigt bereits für sich allein einen Schwellenwert, wie die folgen-
den Ausführungen und Beispiele belegen.
Habitatverlust: Die Überlebenswahrscheinlichkeit von Tierpopu-
lationen als Funktion von Habitatfläche und -qualität weist einen
Schwellenwert auf (Fahrig 2002). Wenn die minimale Habitat-
größe unterschritten wird, werden die natürlicherweise auftre-
tenden Schwankungen der Individuenzahl im Verhältnis zur Po-
pulationsgröße so groß, daß die Überlebenswahrscheinlichkeit
schnell absinkt. Umweltschwankungen tragen zur Vergrößerung
dieser Schwankungen und des Aussterberisikos bei. Außerdem
kann Inzucht die Fitneß der Individuen verringern (siehe Zertei-
lung (c)).
Die minimale Populationsgröße für ein längerfristiges Über-
leben (MVP = minimum viable population size) kann mit Hilfe
von Computersimulationen geschätzt werden (Reed et al. 2003).
Vielfach wird in der Literatur artunabhängig eine effektive Popu-
lationsgröße Nevon 500 angegeben. Diese Kenngröße bei idea-
len Fortpflanzungsverhältnissen, wie idealer Beteiligung an der
Fortpflanzung oder idealer Fortpflanzungserfolg, entspricht ei-
ner realen Population mit etwa 5000 Adulten (Frankham 1995).
Verkehrsmortalität: Wenn die Gesamtsterblichkeit aufgrund von
Kollisionen mit Fahrzeugen die Geburtenrate übersteigt, ist die
Population nicht dauerhaft überlebensfähig. Hiervon betroffene
Arten sind unter anderem Dachse (Meles meles) (Van der Zee et
al. 1992), Fischotter (Lutra lutra) (Hauer et al. 2002) und verschie-
dene Arten von Schildkröten (Gibbs und Shriver 2002).
Trennwirkung: Viele Tiere benötigen Zugang zu verschiedenen
Ressourcen an jeweils verschiedenen Orten (zum Beispiel Am-
phibienwanderwege zwischen Sommer- und Winterhabitaten).
Wenn die Verbindung durch eine Barriere unterbrochen wird,
kann die Population nicht überleben.
Zerteilung:
(a) Die Zerteilung von Populationen in voneinander isolierte
Teilpopulationen führt zu erhöhter Aussterbewahrschein-
lichkeit, die auch durch die höhere Zahl der Teilpopulatio-
nen nicht ausgeglichen wird.
(b) Dieser Effekt kann durch Wiederbesiedlung der leergewor-
denen Habitate aus besetzten Nachbarhabitaten gemildert
werden, so daß die Gesamtpopulation (Metapopulation)
überlebensfähig ist, wenn die Besiedlungsrate groß genug
ist (Levins 1969). Abbildung 3 zeigt anhand von Simulations-
ergebnissen, wie sich der Schwellenwert der Wirkungen von
(a) und (b) theoretisch verhält.
(c) Steigende Zahl und zunehmende Stärke der Barrieren ver-
ringern den Genfluß (Box 1). Mit der Verkleinerung und zu-
nehmenden Isolation der Habitate steigt die Inzuchtwahr-
scheinlichkeit, was die Fitneß der Individuen schwächen kann.
Langfristig kann dies die Anpassungsfähigkeit einer Art ge-
genüber Störungen und Umweltveränderungen verringern.
Genetisch isolierte Populationen werden dementsprechend
von der International Union for Conservation of Nature and
Natural Resources (IUCN) dadurch definiert, daß zwischen
ihnen ein demographischer oder genetischer Austausch von
Form der Schwellenwerte für die Überlebenswahrscheinlich-
keit einer Tierpopulation in Abhängigkeit vom Grad der Landschaftszerschnei-
dung durch Straßen (Hinderniswirkung und Verkehrsmortalität). Resultate aus
einem artunabhängigen Simulationsmodell (Daten aus Jaeger et al. in Vorb.).
Die Lage des Schwellenwerts hängt von der Stärke der Barrierewirkung ab:
Wie stark meiden die Tiere die Straße, beziehungsweise wie oft unternehmen
sie einen Überquerungsversuch, und wie viele Individuen werden auf der
Straße getötet? Auch Zerteilung allein – ohne Verkehrsmortalität, zum Beispiel
aufgrund von Abzäunung – zeigt diesen Schwellenwert.
ABBILDUNG 3:
Die vier Hauptwirkungen von Verkehrswegen auf Tierpo-
pulationen (verändert nach Jaeger et al. 2005a). Verkehrsmortalität (2) und
Trennwirkung (3) tragen zur Zerteilung und Isolation (4) von Populationen
bei. Jede der vier Wirkungen weist bereits für sich alleine Schwellenwerte auf.
ABBILDUNG 2:
BOX 2: Effektive Maschenweite meff
Die effektive Maschenweite meff basiert auf der Wahrscheinlichkeit,
daß zwei zufällig ausgewählte Punkte in einem Gebiet nicht durch
Barrieren, beispielsweise durch Siedlungen oder Straßen, getrennt
sind. Diese Wahrscheinlichkeit wird durch Multiplikation mit der
Gesamtgröße des Gebiets in eine Flächengröße – die effektive
Maschenweite meff – umgerechnet (angegeben in Quadratkilome-
tern). Wenn ein Gebiet in lauter gleich große Flächen zerschnitten
wird, so entspricht meff der Größe dieser Flächen. Mit steigender
Landschaftszerschneidung sinkt meff . Der Wert von meff liegt zwi-
schen 0 (total zerschnitten oder überbaut) und der Gesamtgröße
des Gebiets (völlig unzerschnitten).
Die Berechnungsformel lautet (Jaeger 2000):
n= Zahl der Flächen; Ftotal = Gesamtfläche des Gebiets;
Fi= Größe der Fläche i(i= 1, …, n).
Der Zerschneidungsgrad kann auch mit der effektiven Maschen-
dichte s(Zahl der Maschen pro 100 Quadratkilometer) dargestellt
werden, die bei zunehmender Zerschneidung ansteigt (Jaeger 2002):
Beispiel: Ein 4km2großes Gebiet wird durch Verkehrswege
in drei Flächen von 2km2, 1 km2und 1 km2zerteilt:
s= 66,7 Maschen pro 100 km2
BOX 1: Empirische Untersuchungen zur
genetischen Isolation von Teilpopulationen
Grasfrösche: Autobahnen und Bahnstrecken erhöhen die geneti-
sche Distanz zwischen den Subpopulationen des Grasfrosches
(Rana temporaria) signifikant (Reh und Seitz 1990). Die erhöhte
Homozygotie (das heißt, es liegt jeweils ein Paar gleicher Erb-
anlagen vor) zeigt in von Straßen oder Bahnlinien umgebenen
Subpopulationen einen hohen Grad von Inzucht an.
Rötelmäuse: Populationen von Rötelmäusen (Clethrionomys
glareolus) werden nicht nur durch natürliche Barrieren, wie den
Rhein, voneinander genetisch isoliert. So zeigten durch eine
Autobahn getrennte Populationen in Baden-Württemberg bereits
nach wenigen Jahrzehnten genetische Unterschiede (Gerlach und
Musolf 2000).
Laufkäfer: Teilpopulationen des Violetten Laufkäfers (Carabus
violaceus) werden durch Straßen so stark voneinander isoliert,
daß sie bereits nach wenigen Jahrzehnten deutliche genetische
Unterschiede aufweisen. Die Stärke der Unterschiede spricht
dafür, daß Straßen unüberwindbare Barrieren für den Gen-
austausch dieser flugunfähigen Käferart darstellen (Keller und
Largiadèr 2003).
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SCHWERPUNKT: LANDSCHAFTSZERSCHNEIDUNG
nur einem oder weniger als einem Individuum pro Jahr statt-
findet (IUCN 2001). Die Isolation von Populationen ist bei
der Erstellung von Roten Listen ein wichtiges Entscheidungs-
und Einteilungskriterium.
Nach neueren Berechnungen von Reed et al. (2003) umfaßt die
MVP für eine Luchspopulation (Lynx lynx) 6563 Adulte für eine
Überlebenswahrscheinlichkeit von 99 Prozent über 40 Genera-
tionen. Da es in Mitteleuropa den dafür benötigten Raum nicht
als zusammenhängende Fläche gibt, kann nur eine Metapopula-
tion über Ländergrenzen hinweg diese Größe erreichen (siehe
Frank et al. 2005, in diesem Heft). Die Straßenmortalität ist der
wichtigste Isolationsmechanismus für Luchse in Mitteleuropa,
schwerwiegender als die begrenzte Verfügbarkeit von geeigne-
ten Habitaten (Kramer-Schadt et al. 2004).
Feldhasen (Lepus europaeus), einst eine der häufigsten Wild-
tierarten Mitteleuropas, meiden in aller Regel die Nähe von Sied-
lungen und verkehrsreichen Straßen. In fragmentierten Land-
schaften mit kleinen, isolierten Lebensräumen sind kaum noch
Feldhasen anzutreffen (Pfister et al. 2002). Heute steht der Hase
in der Schweiz bereits auf der Roten Liste. In Deutschland wur-
de er in mehreren Bundesländern auf die Vorwarnliste gesetzt
oder als gefährdet eingestuft.
Für Wölfe (Canis lupus) in Wisconsin sinkt die Vorkommens-
wahrscheinlichkeit bei einer Straßendichte von 0,45km/km2
auf 50 Prozent; spätestens ab einer Dichte von 1,0km/km2kom-
men keine Wölfe mehr vor (Mladenoff et al. 1999).
Übertragung auf reale Landschaften
Um Schwellenwerte der Landschaftszerschneidung zu erfassen,
muß der Grad der Zerschneidung in realen Landschaften quan-
titativ gemessen werden. Dabei bestehen zwei Schwierigkeiten:
Zunächst ist zu klären, in welcher Weise Siedlungsflächen zur
Landschaftszerschneidung beitragen. Sie stellen ebenfalls Bar-
rieren dar, doch die meisten älteren Vorschläge zur Messung der
Landschaftszerschneidung, wie die Straßendichte (Länge der
Straßen pro Quadratkilometer), berücksichtigen die Siedlungs-
flächen nicht.
Zweitens sind die Wirkungen technischer Infrastrukturanla-
gen für verschiedene Arten unterschiedlich stark. Daher sollten
möglichst viele unterschiedliche Typen des Reaktionsverhaltens
einbezogen werden. Landschaftszerschneidung sollte aber gleich-
zeitig in einer möglichst allgemeinen Form als Umweltindikator
einsetzbar sein, um eine unüberschaubare Vielzahl unterschied-
licher, artspezifischer Definitionen zu vermeiden.
Die effektive Maschenweite meff liefert einen einfachen, nach-
vollziehbaren und praktikablen Lösungsvorschlag für diese
Schwierigkeiten (Box 2), basierend auf zwei vereinfachenden
Annahmen: Alle Verkehrswege und Siedlungsflächen beeinträch-
tigen die ökologischen Beziehungen zwischen den von ihnen
zerschnittenen Lebensräumen, und innerhalb der verbleibenden
Flächen sind die ökologischen Verbindungen ungestört.
Es gibt drei Haupthindernisse, um die Schwellenwerte empi-
risch zu bestimmen:
Erstens beeinflussen zahlreiche ökologische Faktoren, zum
Beispiel die Größe und räumliche Verteilung der Habitate,
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die Habitatqualität, die Mortalitäts- und Geburtenrate oder die
Immigrations- und Emigrationsrate, die Lage der Schwellen-
werte. Die verschiedenen Einflüsse können sich zudem gegen-
seitig verstärken oder abschwächen. Um diese Faktoren stati-
stisch voneinander zu trennen, sind große Datenmengen für
viele unterschiedliche Landschaften und über lange Zeiträu-
me erforderlich, die aber nur in seltenen Fällen empirisch er-
hoben werden können.
Zweitens reagieren Populationen oft mit großer Zeitverzöge-
rung auf eine Zunahme der Landschaftszerschneidung (sie-
he Jaeger et al. 2005b, in diesem Heft). Die Schwellenwerte
sind möglicherweise längst überschritten, doch die Konsequen-
zen sind erst Jahrzehnte später sichtbar. Eine lineare Extra-
polation der bisher beobachteten Folgen für die Tierwelt ist
deshalb unzureichend oder sogar irreführend. Um Tierpopu-
lationen auf dem heutigen Stand halten zu können, ist daher
sehr wahrscheinlich der Rückbau mancher bestehender Stra-
ßen erforderlich. Um genauere Aussagen zu gewinnen, ist der
Einsatz von Computermodellen unumgänglich. Die ökologi-
sche Modellierung hat jedoch bisher im deutschen Sprach-
raum erst relativ geringe Verbreitung gefunden.
Drittens: Die oben genannte Definition der IUCN, ab wann
eine Population als isoliert gilt (IUCN 2001), basiert auf der
Genflußformel von Sewall Wright, FST = 1/(4 Nm + 1) (Frank-
ham et al. 2004). FST bezeichnet die genetische Differenzie-
rung von Populationen und Nm den Genfluß oder die Migra-
tion (N= Populationsgröße, m= Anteil der immigrierten
Individuen). Wenn der Genfluß eingeschränkt wird, nimmt
die genetische Differenzierung zu. Wright zeigte, daß die
unabhängige Evolution einer Population einen Genfluß Nm
≤1 Migrant pro Generation voraussetzt. Die Anwendbarkeit
der Genflußformel wird jedoch durch mehrere, unter natür-
lichen Verhältnissen unwahrscheinliche Annahmen einge-
schränkt, zum Beispiel durch die nicht distanzabhängige Mi-
grationswahrscheinlichkeit. Die praktische Bedeutung dieses
theoretischen Maßes wurde deshalb während der letzten Jah-
re kontrovers diskutiert (Whitlock und McCauley 1999). Po-
pulationen differenzieren sich über viele Generationen und
längere Zeiträume hinweg. Wrights Formel zeichnet also ein
historisches Bild. Zwei Populationen einer langlebigen Säuge-
tierart, die kürzlich durch Landschaftszerschneidung vonein-
ander isoliert wurden, können noch immer einen Nm-Wert
> 1 aufweisen, was aber nicht mehr dem aktuellen Genfluß
entsprechen muß. Empirische Studien haben gezeigt, daß
selbst Nm-Werte ≈10 kaum ausreichen, um Populationen hin-
länglich miteinander zu verbinden (Frankham et al. 2004).
Die Verwendung des Schwellenwerts Nm = 1 in der Praxis ist
daher umstritten.
Aus diesen Gründen wird es – wenn überhaupt – nur für ein-
zelne Arten in bestimmten Landschaftstypen möglich sein,
Schwellenwerte zu ermitteln. Deshalb ist ein vorsorgeorientier-
ter Ansatz nötig (siehe unten), um Landschaftszerschneidung
in eine wünschenswerte Entwicklungsrichtung zu lenken.
Validierung von Landschaftsstrukturmaßen
Für viele Landschaftsstrukturmaße ist heute noch nicht aufgeklärt,
welche biologische Relevanz sie haben (Li und Wu 2004). Nötig
wäre deren exemplarische Validierung mittels empirisch erhobe-
ner Daten, zum Beispiel in einem typischen Landschaftsausschnitt
des Schweizer Mittellandes. Hier kann die Populations- und Na-
turschutzgenetik Wesentliches beitragen. Die Molekulargenetik
kann Daten zur Isolierung oder Fragmentierung über verschie-
dene geographische und zeitliche Räume liefern (Holderegger
et al. im Druck). Mit den herkömmlichen Methoden indirekter
oder direkter Beobachtung lassen sich ähnliche Aussagen kaum
gewinnen. Genetische Resultate können darüber Aufschluß ge-
ben, ob sich die aktuellen Migrationsverhältnisse von Rehen
(Capreolus capreolus) aufgrund eines Autobahnbaus ändern, ob
und wie sich der Zerschneidungseffekt mit der Zeit verstärkt,
welche Auswirkungen der Gen- oder Individuenaustausch mit
Populationen im Hinterland fernab der Autobahn hat oder wie
effektiv Grünbrücken längerfristig sind. Referenzräume, wie eine
ähnliche Landschaft ohne Autobahn, dienen dabei zur quasi ex-
perimentellen Kontrolle.
Entsprechende Studien sind in den USA und in Europa kürz-
lich angelaufen. Erste Resultate zeigen, daß der Individuen- oder
Genaustausch oft größer ist, als es die Landschaftsstruktur ver-
muten läßt. Allerdings scheint sich der Isolationsgrad nach ge-
netischen Untersuchungen und traditionellen Beobachtungs-
methoden oft erheblich – aber nicht in systematischer Weise – zu
unterscheiden. Zahlreiche empirische Studien erfassen jedoch
nur die Migration, obwohl Individuenaustausch ohne Genaus-
tausch aus biologischer Sicht letztlich bedeutungslos ist (Frank-
ham et al. 2004).
Die Populations- und Naturschutzgenetik kann kein absolu-
tes, einfach zu handhabendes Maß zur Verfügung stellen, um zu
entscheiden, wann Landschaftszerschneidung in Populations-
isolation mündet. Praktisch wird die Genetik deshalb nur in
Einzelfällen direkt für die Erfassung von Fragmentierung und
Isolation herangezogen werden, wobei der Vergleich mit Referenz-
räumen nötig ist. Molekulargenetische Methoden eignen sich
hingegen zur Validierung der biologischen Bedeutung einfach
zu errechnender struktureller Maße der Landschaftszerschnei-
dung, die dann flächendeckend eingesetzt werden können.
Vorsorgeorientierte Grenz- oder Zielwerte
Auch ohne vollständiges Wissen müssen heute geeignete Bewer-
tungskriterien entwickelt und Grenz- oder Zielwerte für die Land-
schaftszerschneidung festgelegt werden (Abbildung 4). Wirkungs-
orientierte Bewertungskriterien, wie die Verkehrsmortalität, sollten
durch gefährdungsorientierte Kriterien, wie den Grad der Land-
schaftszerschneidung, ergänzt werden. Gefährdungsorientierte
Kriterien liegen in der Kausalkette näher am Eingriff. Sie können
dadurch einzelnen Landschaftseingriffen leichter zugeordnet
werden als direkte Wirkungskriterien, bei denen der Einfluß der
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SCHWERPUNKT: LANDSCHAFTSZERSCHNEIDUNG
Landschaftszerschneidung durch andere Einwirkungen über-
lagert ist, zum Beispiel durch Wirkungen aus der Landwirtschaft
auf die Populationsdichte von Feldhasen. Hier ist der Grad der
Landschaftszerschneidung von zentraler Bedeutung. Für ihn las-
sen sich Istwerte ermitteln, die mit Sollwerten vergleichbar sind.
Solche Vorgaben werden von Verwaltungen auf allen politi-
schen Ebenen dringend benötigt (Jaeger 2001a, Penn-Bressel
2005, in diesem Heft), denn Maßnahmen müssen eindeutig be-
gründbar sein. Es gibt zur Festlegung von Grenz- und Zielwer-
ten zahlreiche Pro- und Kontra-Argumente (Jaeger 2002), die
genauer aufgearbeitet werden sollten. Für den Grenzwertansatz
spricht, daß auch in anderen umweltrelevanten Bereichen ähnli-
che Schwierigkeiten bei der Festlegung von Grenzwerten erfolg-
reich überwunden worden sind.
Folgerungen
Die bisherigen Forschungsresultate zeigen, daß bei den Auswir-
kungen der Landschaftszerschneidung Schwellenwerte bestehen.
Es ist jedoch nicht bekannt, wo sie liegen; und sie differieren je
nach Landschaft. Daher können die Folgen zunehmender Land-
schaftszerschneidung, die in ihrem vollen Umfang erst nach Jahr-
zehnten sichtbar werden, nicht durch lineare Extrapolation der
bisher beobachteten Folgen abgeschätzt werden. Vielmehr müs-
sen neue, vorsorgeorientierte Methoden für den Umgang mit
dieser Unsicherheit entwickelt werden (Young 2001). Politik und
Gesetzgeber benötigen von der Wissenschaft geeignete Bewer-
tungskriterien, die auch bei unvollständiger Kenntnis der Aus-
wirkungen der Landschaftszerschneidung anwendbar sind.
Der Zerschneidungsgrad darf nicht weiter zunehmen. Entspre-
chende Umweltqualitätsziele müssen eingeführt werden (siehe
Penn-Bressel 2005, in diesem Heft), zum Beispiel in Form eines
Moratoriums für weitere Zerschneidungen, um die langfristigen
Folgen und Summenwirkungen der bereits erfolgten Zerschnei-
dungen identifizieren zu können und weitere Artenverluste und
Lebensraumentwertungen zu vermeiden. Insbesondere gilt es,
die zeitlichen Verzögerungen der Auswirkungen genauer zu er-
mitteln. Sollen Wildtierpopulationen bis 2050 – und darüber hin-
aus – zumindest auf dem heutigen Stand gehalten werden, so ist
hierzu der nötige Rückbau von Verkehrswegen wissenschaftlich
abzuschätzen und in die Praxis umzusetzen (für weitere Maßnah-
men siehe Jaeger 2004).
Die größten Schwierigkeiten, eine Trendwende in der Land-
schaftszerschneidung zu erreichen, liegen zum einen im man-
gelhaften Beitrag der Wissenschaft, den Bedarf von Entschei-
dungsträgern nach vorsorgeorientierten Bewertungskriterien
und -verfahren unter Unsicherheit zu decken; zum anderen wer-
den durch das politische System, durch heutige Planungsverfah-
ren und durch die Öffentlichkeit die schleichenden, kumulativen,
nichtlinearen ökologischen Prozesse, deren Folgen erst mit gro-
ßen Zeitverzögerungen sichtbar werden, völlig unzureichend
berücksichtigt (siehe Schupp 2005, in diesem Heft).
Wir danken Diplom-Biologin Cristina Boschi für die Zeichnungen in Abbildung 3.
Die diesem Aufsatz zugrunde liegenden Forschungsprojekte werden von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft durch ein DFG-Forschungsstipendium
an J. J. (Förderkennzeichen JA 1105/1-1) und dem Programm Landschaft im
Ballungsraum der WSL (R. H.) gefördert.
Schematische Darstellung der Kausalkette für landschaftszerschneidende Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Tierpopulationen (in vier
Stufen). Die Disposition bezeichnet das Ausmaß, wie stark eine Einwirkung zur Veränderung der räumlichen und zeitlichen Bezüge in einer Landschaft führt
(Jaeger 2001b). Für eine vorsorgeorientierte Bewertung von Landschaftseingriffen und zur Formulierung von Umweltstandards ist es sinnvoll, die wirkungs-
orientierten Kriterien durch gefährdungsorientierte Kriterien zu ergänzen, die in der Kausalkette den Auswirkungen vorgelagert sind.
ABBILDUNG 4:
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Whitlock, M.C., D.E. McCauley. 1999. Indirect measures of gene flow and
migration. FST = 1/(4Nm + 1). Heredity 82: 117–125.
Young, R.A. 2001. Uncertainty and the environment: Implications for decision
making and environmental policy. Cheltenham, UK: Edward Elgar.
Eingegangen am 4. November 2004; überarbeitete Fassung
angenommen am 26. April 2005.
Rolf Holderegger
Geboren 1965 in Männedorf, Zürich. Biologiestudium,
Promotion in Naturschutzbiologie in Zürich.
Stellvertretender Abteilungsleiter an der
Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL.
Forschungsschwerpunkte: Mikroevolution,
Populationsgenetik, Naturschutzbiologie, Biodiversität.
Jochen Jaeger
Geboren 1966 in Eutin, Schleswig-Holstein.
Physikstudium, Promotion im Fach Umweltnaturwissen-
schaften in Zürich. Nach Aufenthalten in Stuttgart
und Ottawa seit 2003 wieder an der ETH Zürich.
Arbeitsschwerpunkte: Landschaftsökologie,
Landschaftszerschneidung und -zersiedelung.