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Lebendiger Begriff - Begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G.W.F. Hegel

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Abstract

Die Arbeit „Lebendiger Begriff – Begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G.W.F. Hegel“ untersucht die Struktur und Erträge der Hegelschen Philosophie des Organischen. Sie gliedert sich in zwei Teile, einem ersten zum Status der Naturphilosophie in der Gegenwart und einem zweiten Teil, der der Untersuchung der Hegelschen Philosophie des Organischen gewidmet ist. Zunächst wird die Situation der heutigen Naturphilosophie skizziert. Ausgehend von der These, dass die Naturphilosophie eine in der Gegenwart zu Unrecht vernachlässigte Disziplin der Philosophie ist, werden die grundsätzlichen Optionen einer aktuellen Naturphilosophie diskutiert, wobei für eine synthetische Naturphilosophie argumentiert wird. Sodann wird Hegels Argumentation nachgezeichnet und auf ihre innere Kohärenz geprüft. Hegels Ausführungen zum Leben in der Phänomenologie, der Logik und der Naturphilosophie werden analysiert, um Argumentationslinien deutlich werden zu lassen, die auch für die aktuelle Auseinandersetzung der Philosophie mit den Ergebnissen der Biologie fruchtbar sein können
5
Inhalt
0.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I.
Naturwissenschaft, religiös-mythische Naturbetrachtung,
Naturphilosophie.
Einleitende Überlegungen
zum systematischen Ort der Naturphilosophie
0.
Naturphilosophie als umstrittene Disziplin . . . . . . . . . . . .
13
1.
Naturwissenschaft. Ihr Wesen und die szientistische Na-
turphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
1.1.
Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
1.2.
Szientistische Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2.
Religiös-mythische Naturdeutung und antiszientistische
Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2.1.
Ontologische Aspekte der antiszientistischen Naturbe-
trachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
2.2.
Ethische Aspekte der antiszientistischen Naturbetrach-
tung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
2.3.
Methodologische Aspekte der antiszientistischen Natur-
betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
3.
Naturphilosophie als Synthese aus Szientismus und Anti-
szientismus: Die Aktualität des hegelschen Ansatzes . . . . .
48
3.1.
Die Irreflexivität der szientistischen und der antiszien-
tistischen Natursicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
3.1.1.
Szientismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
3.1.2.
Antiszientismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
3.2.
Die Erweiterung des Vernunftkonzepts in der jüngeren
Philosophie und Möglichkeiten für die Naturphilosophie .
77
3.2.1.
Wissenschaftliche und reflexive Vernunft: Die Erweite-
rung des Rationalitätskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
3.2.2.
Programmatische Skizze der Anforderungen an eine zeit-
gemäße Naturphilosophie der Rückgriff auf Hegel . . . . .
84
6
II.
Hegels Philosophie des Lebendigen.
Die dialektische Deutung des Organischen als Begriff
1.
Die dialektische Naturphilosophie Hegels im Zusam-
menhang des Systems des absoluten Idealismus . . . . . .
89
1.1.
Der Vorrang des Logischen im objektiven Idealismus. .
91
1.2.
Die Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit als
paradigmatische Grundlegung des objektiv-idealisti-
schen Naturbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
2.
Hegels objektive idealistische Naturphilosophie . . . . . .
101
2.1.
Hegels Naturphilosophie als synthetische Naturphilo-
sophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
2.2.
Hegels Begriff der Natur: Die Bestimmung der Natur
als Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
112
2.2.1.
Die Natur im Verhältnis zur logischen Idee: die Ent-
äußerungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
112
2.2.2.
Die Aspekte des Naturseins bei Hegel . . . . . . . . . . . . .
116
3.
Das Organische in Hegels objektivem Idealismus . . . . .
123
3.1.
Die Grundlegung des Organismusbegriffs . . . . . . . . . .
123
3.1.1.
Das Organische in der Phänomenologie des Geistes:
Die Vernunft als Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124
3.1.1.1.
Der Ort des Organischen in der Phänomenologie . . . . .
125
3.1.1.2.
Selbstbewusstsein und Leben: Das Organische als Ver-
nunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
3.1.2.
Die Grundlegung der Philosophie des Organischen in
der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
3.1.2.1.
Der Begriff als höchste Bestimmung der Logik . . . . . .
136
I. Der Begriff als Abschlussbestimmung: der Auf-
bau der Logik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
II. Der Begriff als Wahrheit der Substanz . . . . . . . .
140
III. Die Aspekte des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
3.1.2.2.
Der Zweckbegriff der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
150
I. Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156
II. Chemismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
III. Der Zweck als Einheit von Mechanismus und
Chemismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
3.1.2.3.
Die Idee des Lebens als Einheit von Mechanismus und
Chemismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
7
3.2.
Der Ort der Organik in der Realphilosophie . . . . . . . . .
204
3.2.1.
Begreifende Betrachtung der Natur: Naturphilosophie
als angewandte Ontologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204
3.2.2.
Der Aufbau der Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
3.3.
Das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
3.3.1.
Der Aufbau der Organik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
3.3.2.
Pflanze und Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
236
3.3.2.1.
Die äußere subjektive Einheit der Pflanze . . . . . . . . . . .
243
3.3.2.2.
Die vollendete organische Subjektivität des Tieres . . . .
247
3.3.3.
Gattung und Ökosystem. der Abschluss der Natur-
philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
3.4.
Abschließende Betrachtung. Zusammenfassung der
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
0. Einleitung
8
0. Einleitung
9
0. Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht die Struktur und die Erträge der hegelschen
Philosophie des Organischen, die hierbei nicht nur historisch als überholter
Beitrag zur Philosophiegeschichte, sondern in ihrer möglichen systematischen
Aktualität diskutiert werden soll.1 Eine solche Annäherung an die hegelsche
Naturphilosophie basiert auf mehreren Voraussetzungen, die einer einleitenden
Rechtfertigung bedürfen.
Wenn diese Arbeit also nicht historisch, sondern systematisch angelegt ist,
wenn man nicht nur über Hegel, sondern von diesem zu lernen sich zum Ziel
setzt, so muss zunächst die Möglichkeit von Naturphilosophie überhaupt
angesichts des ‚Konkurrenzunternehmens‘ der Naturwissenschaft plausibel
gemacht werden. Hieraus ergibt sich, dass der erste Teil der Arbeit sich
ausführlicher mit der neueren Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen der
Naturphilosophie ausführlicher beschäftigt. Hierbei soll insbesondere unter-
sucht werden, inwiefern der Typus einer Hegelianischen Naturphilosophie, wie
er später im Kapitel II. 2 näher skizziert werden wird, heute aktualisiert werden
könnte. Dazu wird zunächst die Naturphilosophie von Naturwissenschaft
einerseits (Kaptitel I 1.), aber auch von einer mythisch-religiösen Einstellung
zur Natur andererseits (Kapitel I 2.) abgegrenzt. Im dritten Kapitel sollen
Konsequenzen für eine zeitgemäße Naturphilosophie gezogen werden, die dem
Grundgedanken der hegelschen Naturphilosophie nahe stehen. Das Plädoyer
für eine systematische Rekonstruktion dieses philosophischen Ansatzes ergibt
sich aus den vorangegangenen Überlegungen zum Wesen der Naturwissen-
1 Diese Arbeit ist also systematisch und nicht historisch-philologisch angelegt. Bezüge zum
Stand der Naturwissenschaft zu Hegels Zeit werden nur insoweit berücksichtigt, insofern sie
Kuriositäten in Hegels Organik aufhellen oder für das Verständnis einzelner Paragraphen not-
wendig sind. Da diese Arbeit auf den wissenschaftlichen Stand der Gegenwart bezogen ist und
da Hegels Philosophie vom Grundansatz her auf ‚überzeitliches‘ Wissen abzielt, ist es nicht nur
legitim, sondern gefordert, seine ‚Ableitungen aus dem Begriff‘ mit neuen Ergebnissen zu ver-
gleichen. Zum Verhältnis Hegels zu dem Stand der Wissenschaften seiner Zeit siehe die ein-
schlägige Literatur: i) Zur Naturphilosophie und -wissenschaft im Allgemeinen etwa: D. v.
Engelhardt (1972), (1986), M. Gies (1987), H. Schipperges (1974) ii) Zur Organik im Besonde-
ren etwa: O. Breidbach (1982), (1998), R. Löther (1972). Gegenüber diesen historischen
Vergleichen ist der von Hegels Philosophie her ebenso geforderte Vergleich der Naturphiloso-
phie zu Ansätzen der Gegenwart eher eine Ausnahme, vgl. i) zur Physik und zur Naturphiloso-
phie im Allgemeinen: B. Falkenburg (1987), W. Neuser (1995), D. Wandschneider (1982),
(1986), (1987b), (1999) ii) zur Organik und Biologie im Allgemeinen: V. Hösle (1987), D.
Wandschneider (1987a), (1999).
Im Allgemeinen kann von einer Renaissance der Bearbeitung der hegelschen Naturphiloso-
phie in Deutschland seit den 1980er Jahren gesprochen werden (so auch zusammenfassend D.
Wandschneider (2001), 142), vgl. die Sammelbände von R. -P. Horstmann und M. J. Petry
(1986) sowie M. J. Petry (1987) und jüngst zu Hegels Jenaer Naturphilosophie K. Vieweg
(1998). Zur Naturphilosophie des deutschen Idealismus im Allgemeinen siehe K. Gloy/ P.
Berger (1993).
0. Einleitung
1a
schaft und aus der Kritik am logischen Positivismus und Szientismus sowie aus
einer kritischen Betrachtung religiös-kontemplativer Zugangsweisen zur Natur.
Im zweiten Teil der Arbeit wird die systematische Kohärenz und Aktualität
der hegelschen Philosophie der Organik kritisch untersucht. Die Arbeit stellt
sich dabei auf den Standpunkt eines hypothetischen Sich-Einlassens auf die
Grundposition des hegelschen Systems, wie er im ersten Teil als Option ge-
rechtfertigt wurde, um die innere Kohärenz des hegelschen Ansatzes mit Blick
auf die Philosophie des Lebens zu untersuchen. Trotz einem in letzter Zeit
gestiegenen Interesse an der hegelschen Naturphilosophie liegt noch keine
umfassende Untersuchung zur systematischen Fundierung der hegelschen
Philosophie des Organischen, wie sie hier versucht wird, vor. Von Interesse ist
hierbei, welche logisch-apriorischen Überlegungen Hegels Fassung des Organi-
schen bestimmen und wie die logische Grundlegung in der Naturphilosophie
zum Tragen kommt, um zu erwägen, welche Momente des hegelschen An-
satzes auch für eine aktuelle Philosophie des Organischen fruchtbar gemacht
werden nnen.
Hierfür wird zunächst Hegels Option für den objektiven Idealismus an-
hand der hegelschen Ausführungen zum Begriffspaar des Endlichen und des
Unendlichen dargestellt (II 1.), wobei sodann Hegels Grundposition sich als
synthetische Naturphilosophie im Sinne der Darstellung des ersten Teils der
Arbeit erweisen lässt. Zugleich kann vorwegnehmend untersucht werden, wie
die Grundkontur der Fassung des Absolut-Ideellen, die zum ersten Mal im
Begriff des Wahrhaft-Unendlichen in Hegels Logik aufscheint, Hegels Natur-
bild insgesamt bestimmt. (II 2.) Die Momente des hegelschen Naturbegriffs
werden zum einen dargestellt, unter Rückgriff auf die Überlegungen des ersten
Teils wird zum anderen gezeigt, inwieweit dieser Naturbegriff sowohl den
wissenschaftlichen Ansprüchen als auch einigen der wichtigen Intuitionen der
Antiszientisten genüge leisten kann.
Sodann wird Hegels Betrachtung des Organischen in der Phänomenologie
des Geistes kurz skizziert (II 3.1.1.). Diese Ausführungen Hegels sind noch
nicht wie die spätere Naturphilosophie in einer Wissenschaft der Logik fundiert
und weisen bei aller herausgestellten Ähnlichkeit in der Fassung des Lebens
einige Mängel auf. Zwischen der Betrachtung der anorganischen Natur und der
Darstellung des Lebens werden hier von Hegel Überlegungen zum Selbstbe-
wusstsein eingeschoben, die zwar Hegels Identifikation des Lebens mit der
Struktur der Subjektivität plausibilisieren, die zugleich aber den Gang von der
anorganischen Natur zum Leben unterbrechen.
Anschließend werden diejenigen Konzepte untersucht (II 3.1.2.), die im
ausgearbeiteten System Hegels die Philosophie des Organischen fundieren.
Der Begriff, der Zweckbegriff und die Idee des Lebens werden systematisch
analysiert. Vor allem in der Objektivitätslogik werden einige systematische
Veränderungen vorgeschlagen, die zum einen die logische Stringenz der hegel-
schen Überlegungen erhöhen, sich zum andern unabhängig hiervon auch als
sinnvoll mit Blick auf die Philosophie des Organischen erweisen. Insbesondere
0. Einleitung
11
wird die Doppelung bemängelt, die darin besteht, dass die Logik zum einen ein
Teleologiekapitel enthält, zum anderen zusätzlich ein Kapitel zur Idee des
Lebens umfasst.
Schließlich werden die im Kapitel zur Logik dargestellten Veränderungen
auf die Philosophie der Organik angewendet (II 3.2. und 3.3.), wobei sich vor
allem die Umstellung des Kapitels „Erde“ von dem Anfang der Organik an das
Ende als intern systematisch zwingend erweist. Gleichzeitig bietet der so
veränderte Aufbau der hegelschen Organik die Möglichkeit, einige der zen-
tralen Einsichten der evolutionären Biologie in das hegelsche Modell zu in-
tegrieren und sie um das Konzept des Ökologischen Systems zu erweitern.
Die Darstellung der Philosophie der Organik in ihrem engen Zusammen-
hang mit ihrer logischen Fundierung bei Hegel vermag plausibel zu machen,
dass einige der wichtigsten Einsichten Hegels der Philosophie der Organik sich
gerade dieser logischen Fundierung verdanken, womit Hegels Typ der Natur-
philosophie auch für die Herausforderungen der philosophischen Aufarbeitung
der zeitgenössischen Biologie einen attraktiven Ansatz darstellt.
Die vorliegende Untersuchung wurde 2006 von der Philosophischen Fakultät
der RWTH Aachen als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt
Herrn Professor Dr. Dieter Wandschneider für die vorbildliche Betreuung der
Arbeit. Darüber hinaus danke ich allen, die mir im Studium und bei der Promo-
tion mit Rat und Tat, Anregung und Kritik zur Seite standen, erwähnt seien
insbesondere meine Essener Lehrer Professor Dr. Vittorio Hösle und Profes-
sor Dr. Christian Illies sowie alle philosophischen Freunde und Diskussions-
partner der Essener Ellipse (hierbei habe ich besonders Herrn Dr. Dipl.-Ing.
Ulrich Dorstewitz für die lange Gastfreundschaft und philosophische Freund-
schaft zu danken). Der Studienstiftung des deutschen Volkes gilt mein Dank für
die großzügige Gewährung eines Stipendiums für diese Arbeit. Für die kriti-
sche Durchsicht des Manuskripts sei Nadine Overkamp herzlich gedankt.
Schließlich danke ich meiner Familie, und hierbei nicht zuletzt meinem
Bruder Andreas, für wahrhaft unendliche Diskussionen, Anregungen und
Aufmunterungen.
Jena, März 2007
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
12
0. Naturphilosophie als umstrittene Disziplin
13
I.
Naturwissenschaft, religiös-mythische Naturbetrachtung,
Naturphilosophie.
Einleitende Überlegungen zum
systematischen Ort der Naturphilosophie
0. Naturphilosophie als umstrittene Disziplin
„Die Bücher der Naturphilosophie sind geschlossen“ schreibt zu Beginn der
80er Jahre Jürgen Mittelstraß in seinem Aufsatz ‚Das Wirken der Natur.
Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs‘2 und bringt damit eine damals
durchaus weit verbreitete und auf den ersten Blick auch berechtigte Ansicht
über diese Disziplin zum Ausdruck, die bis heute nachwirkt. Auch wenn es,
vornehmlich getragen durch das Bewusstsein der ökologischen Krise, in letzter
Zeit Ansätze zu einer Renaissance der Naturphilosophie gibt,3 so wäre es über-
trieben zu behaupten, dass sie auch heute noch unumstritten zum Kanon der
gegenwärtigen Philosophie gehöre und dass ein zeitgenössischer Philosoph
ohne eine solche zu besitzen nicht auskäme.
4
Mehrere Gründe haben zum Schließen der Bücher der Naturphilosophie
beigetragen, von denen der wichtigste zweifelsohne der ungeheure Erfolg der
Naturwissenschaften ist. Mehr noch, spätestens mit dem logischen Positivis-
mus entsteht das auch heute noch gängige (und nicht ganz unzutreffende)
Bild, dass Naturwissenschaft sich aus dem Kampf gegen Metaphysik, gegen
Religion und durch sie inspirierte ‚idealistische Naturphilosophie‘ entwickelt
habe, dass sie diese überwinden und hinter sich lassen musste, sich auf einen
reinen Materialismus und Immanentismus beschränken musste, um wirklich
wissenschaftlich und erfolgreich zu werden. Die meisten heutigen Geschichts-
schreibungen der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie zeichnen den
2 J. Mittelstraß (1980), 36.
3 Zu denken ist im deutschen Sprachraum etwa an die Debatte um die Evolutionäre
Erkenntnistheorie und die Evolutionäre Ethik [vgl. die Diskussionen bei K. Bayertz (1993), E.-
M. Engels (1999). Siehe auch die Schriften von F. M. Wuketits (1993),(1999)], aber auch an die
naturphilosophischen Ansätze von C. F. von Weizsäcker (1972) und die Ansätze vor dem
Hintergrund der ökologischen Krise von K.-M. Meyer-Abich (1979),(1988),(1990),(1997b)
sowie an die bedeutenden Arbeiten zur Naturethik und zur Philosophie des Organischen von
Hans Jonas (1984), (1994). Während die erste Phase der nach-idealistischen Beschäftigung mit
Fragen der Naturphilosophie inspiriert wurde durch die Revolutionen in der Physik, steht die
jüngere Renaissance fast ausschließlich (von Überlegungen zur Quantentheorie abgesehen) im
Zeichen der Biologie (und im Bereich des Leib-Seele-Problems im Zeichen der Neurobiologie).
4 Eine moderne Naturphilosophie oder ausführlichere Bemerkungen zu dieser sucht man bei
den zurzeit bekanntesten deutschen Philosophen, Gadamer, Habermas und Apel, vergeblich.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
14
Weg der Naturwissenschaft nach als Sieg des Empirismus gegen idealistische
Fiktionen, als Sieg einer metaphysik- und damit vorurteilsfreien Weltsicht
gegen religiös oder metaphysisch inspiriertes Wunschdenken.5
So musste etwa seit Galilei, an dessen Auseinandersetzung mit der Kirche
erinnert sei, die Naturwissenschaft oft schmerzlich gegen ein wirkmächtiges
religiös-metaphysisches Weltbild kämpfen. Der vorkritische Kant etwa musste
sich bei der Darlegung seines mechanistisch-newtonischen Weltbildes gegen
den Atheismusvorwurf wehren,6 und die Auseinandersetzung etwa der Evoluti-
onstheorie gegen die Schöpfungsvorstellung und gegen die alte aristotelisch-
platonische (also ‚metaphysische‘) Idee der Konstanz der Arten7 sind bekannt
5 So etwa F. M. Wuketits in seinen Einführungen, vgl. (1982), 13f., 23. Paradigmatisch für die
Frage der Stellung der Metaphysik zu den Wissenschaften ist m. E. der Streit um Platons
idealistische Philosophie, die entweder als großer Feind der Wissenschaftlichkeit oder als großer
rderer derselben betrachtet wird, womit eine unterschiedliche Bewertung des Verhältnisses
von Metaphysik und Wissenschaft ausgesprochen ist. Vehement im Sinne des Platonismus als
Grundlage der Wissenschaftlichkeit äußern sich Gaiser (vgl. das einleitende Unterkapitel
„Philosophie und Einzelwissenschaften bei Platon“, K. Gaiser (1968), 32ff., in dem für diese
Sichtweise Jaeger, Schadewalt, Friedländer und Natorp genannt werden, und den gesamten
dritten Teil „Platons Stellung in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, 291ff.) und
grundlegend P. Natorp (1903), der in Platons Idealismus die Begründung von Wissenschaftlich-
keit sieht. In einer aber für das hier skizzierte gängigere Bild typischen Abhandlung zur Ge-
schichte der Naturphilosophie heißt es: „Die beiden großen Systeme [….], das heißt die Philo -
sophie Platons […] und die Universalphilosophie des Aristoteles […] sind, was aber nicht un-
bestritten ist, für die Ausbildung der eigentlichen Grundlagen unserer heutigen Physik und
damit auch Naturphilosophie nicht von besonderer Bedeutung gewesen.“, G. Hennemann
(1975), 24. Dementsprechend wird etwa der Darstellung Platons kaum eine Zeile gewidmet,
wohingegen ausführlich die einzelnen empirischen Einsichten der griechischen Naturphiloso-
phen und der Atomisten gewürdigt werden. (Immerhin wird eingeräumt, dass es Stimmen gibt,
die Platons Raumbegriff der modernen Physik für näher erachten als den Atombegriff der Ato-
misten, G. Hennemann (1975), 25.)
6 So verteidigt der junge Kant seine ,Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels‘ [I.
Kant, Werke, Band 1, 255-396], die auf einer mechanistischen Sicht der Welt basiert, schon in
der Vorrede (A XII, ff.) und im achten Hauptstück (‚Verteidigung gegen den Vorwurf des
Naturalismus‘ [A 144-149]) gegen den Verdacht atheistischer Implikationen: Den Vorwurf,
dass eine allein durch natürliche Gesetze verfasste Welt Gott nicht nötig habe und ihm kein
Platz zum Eingreifen lasse, weist er zurück, indem er Gott die Urheberschaft für die Gesetze
zuschreibt und sich somit gegen naive teleologische Gottesbeweise wendet. Für ihn ist also auch
der Mechanismus Ausdruck einer göttlichen Welt: „[] und es ist ein Gott eben deswegen, weil
die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.“, (A
XXIXf.). Mit der späteren kritischen Wende werden die Ordnungsprinzipien der empirischen
Erfahrung allerdings in das Subjekt verlegt, so dass Gott als Postulat nur noch für die Be-
dingungen der Realisierung moralischer Handlungen in der Welt benötigt wird.
7 Vgl. Aristoteles, De Anima, 415a29 f., wo Aristoteles beschreibt, dass die Tiere und Pflanzen
durch die Zeugung artgleicher Individuen an der Ewigkeit teilhaben. (In Platons Timaios ist
interessanterweise die Idee der Konstanz der Arten nicht zu finden, im Gegenteil lassen sich die
mythischen Überlegungen am Ende des Timaios wohlwollend so deuten, dass auch Platon (wie
Empedokles) offen gegenüber der Idee einer Evolution sei (so V. Hösle (2001), 5f.). Auf
Hegels Ablehnung des Evolutionsgedankens wird noch einzugehen sein.
0. Naturphilosophie als umstrittene Disziplin
15
(und in einigen Teilen Amerikas noch nicht überstanden).8 Aus dieser Her-
kunftsgeschichte der modernen Wissenschaften entsteht das heute weit ver-
breitete Bild einer Frontstellung zwischen religiösem oder metaphysischem
und unwissenschaftlich-naivem Wunschdenken auf der einen Seite und harten
wissenschaftlich-nüchternen Fakten auf der anderen Seite. Zwischen diesen
Fronten steht die heutige Naturphilosophie.
Will man diese mit Rückgriff auf einen ‚idealistischen Denker‘ wie Hegel
befruchten, so muss dieses Bild präzisiert und in Teilen auch korrigiert werden.
Der systematische Ort der Naturphilosophie muss näher beleuchtet werden.
Dies geschieht am besten, indem man sie von einer naturwissenschaftlichen
Herangehensweise einerseits und von einer religiösen Deutung der Natur
andererseits abgrenzt. Dabei sollen das Wesen der Naturwissenschaft im Sinne
eines materialistischen Szientismus und eine mythisch-religiöse anti- oder a-
wissenschaftliche Einstellung zur Natur als zwei extreme Antipoden skizziert
werden.9
8 Womit sich die oftmals antireligiöse Haltung vieler amerikanischer Verteidiger der Evolutions-
theorie erklärt, die sich immer wieder wie etwa Dennett in seinen populären Büchern gegen
‚Himmelshaken‘ und Ähnliches wenden, vgl. etwa D. Dennett (1995), insbes. 73ff.
9 Hegels Verständnis der Aufgaben der Naturphilosophie wird in den Kapiteln II 1. und II 2.
näher analysiert werden. Systematisch orientieren sich die folgenden einleitenden Überlegungen
allerdings bereits insofern an Hegel, als dass versucht wird, die wissenschaftlich-begriffliche Me-
thode in den Wissenschaften darzustellen, denen aber in Hegels Terminologie bei adäquater
Form der ,absolute‘ Inhalt fehlt, wohingegen die mythisch-religiöse Sichtweise in der Form der
Anschauung und der Vorstellung operiert, dabei aber versucht, den Bereich des ‚endlichen‘
Wissens hinter sich zu lassen, um zum philosophischen Inhalt zu gelangen, vgl. Hegels Bestim-
mung der Philosophie als Synthese aus Wissenschaft (Übernahme der Methode) und Religion
(Übernahme des Inhalts) in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 18.76-
113, insbes. 76f., 81f. (Diese Bestimmung weicht ab von der Philosophie als Synthese aus Kunst
und Religion in Hegels System, vgl. Enzyklopädie 10.379 sowie das Kapitel II 2. dieser Arbeit.)
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
16
1. Naturwissenschaft. Ihr Wesen und die szientistische Naturphi-
losophie
Die Naturphilosophie von Hegel ist bereits vor dem Hintergrund der empiri-
schen Naturwissenschaft geschrieben. Sie ist daher in diesem Sinne nicht ‚vor-
wissenschaftlich‘ und muss sich also mit der Existenz der Naturwissenschaften
auseinandersetzen. Es handelt sich somit nicht mehr um eine ‚konkurrenzlose‘
und umfassende Naturphilosophie im mittelalterlichen oder antiken Sinne des
Wortes, für die der Unterschied zwischen Naturphilosophie und Naturwissen-
schaft nicht in gleicher Schärfe relevant war.10 Das Wesen dieser neu auf-
getretenen Wissenschaft soll im Folgenden kurz idealtypisch skizziert werden
(I 1.1.), um danach die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen zu be-
nennen, die vom Erfolg der Naturwissenschaften ausgehend gezogen wurden
und die bei Idealisierung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisweges zur
Frontstellung zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie geführt
haben (I 1.2.).
1.1. Naturwissenschaft
Das spezifische Novum der modernen Wissenschaften besteht in ihrem kausal-
monistischen Programm, d.h. in der Rückführung der Naturereignisse auf
kausale Naturgesetze, die im Idealfall in mathematischen Relationen quantifizier-
10 Der Begriff der Naturwissenschaft wird erst spät formuliert [nach F. Kluge (1975), 505, erst-
mals benutzt und populär gemacht durch Christian Wolf (1720), nach G. König (1984) gegen
Kluge schon etwas früher bei J. J. Schleuchzer 1703 verwendet. In der neuen Auflage von Kluge
(1999) findet sich der Eintrag zur Naturwissenschaft nicht mehr]: Noch Newton gibt seinem
Hauptwerk den Titel ‚Philosophiae naturalis principia mathematica‘ (1687). Allerdings ist der
Unterschied der Betrachtungsweisen der Natur, der oben im Folgenden herausgearbeitet wer-
den soll, der Sache nach natürlich schon der Antike bekannt, wenn auch diese Differenz nicht
zu einer derartigen Frontstellung zwischen den Disziplinen geführt hat, wie wir sie heute erl e-
ben: Aristoteles unterscheidet in De Anima den Physiker vom Philosophen der Prima Philo-
sophia: Der eine betrachtet die immanenten Wirkursachen und die Stoffursache, der andere die
Formursache, wenn es sie gibt; wenn sie nur als Abstraktion existiert, nennt Aristoteles ihn
nicht Prima Philosophen, sondern Mathematiker [vgl. etwa im ersten Buch von De Anima
(403a27-403b16)]. Die Idee einer Anwendung der Mathematik als Grundlage für die Natur-
philosophie, wie sie Newtons Titel ausdrückt, ist Aristoteles aber fremd. Platon nimmt in seiner
Naturphilosophie im Timaios beide Betrachtungsweisen, eine immanent kausale Erklärung und
eine Erklärung durch ‚Vernunft‘, d.h. auf Sinn und Zweck hin, zusammen und kommt damit
Hegel nahe [siehe hierzu den konstruktiven Vergleich von Platons und Hegels Naturphiloso-
phie bei V. Hösle (1984a)]. Diese beiden Betrachtungsweisen lassen sich in Beziehung setzen zu
der Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen, auf die weiter unten eingegangen werden
wird.
1. Naturwissenschaft
17
bar sind.11 Das bekannte Hempel-Oppenheim-Schema einer deduktiv-nomo-
logischen Erklärung12 legt für eine naturwissenschaftliche Erklärung fest, dass
ein Ereignis in der Zeit auf frühere Ereignisse (die Antecedenz-Bedingungen)
und das Wirken eines oder mehrerer Naturgesetze(s) zurückzuführen ist. Die
Hypothesen über diese allgemeingültigen Gesetze, die aus (experimentellen)13
Beobachtungen induziert sind, können wiederholt empirisch nachgeprüft
werden. Hieraus resultiert der Vorhersagecharakter der modernen Wissen-
schaft. Aus der Mathematisierbarkeit ergibt sich das Diktum von den exakten
Wissenschaften, aus dem Experiment als Methode ergibt sich die für die
Moderne typische Verbindung von Naturwissenschaft und Technik. Moderne
Wissenschaft ist nicht Naturbetrachtung, sondern schon in der Erforschung
‚Naturpraxis‘. Die technische Anwendbarkeit der Ergebnisse der Naturwissen -
schaft wird zunehmend die Rechtfertigung, ja, man kann sogar ohne Übertrei-
bung sagen: das Ziel der Naturerfassung. Die antike Vorstellung der Welterfas -
sung als Selbstzweck im Sinne einer vita contemplativa ist sicher nicht mehr
charakteristisch für die moderne institutionalisierte Naturwissenschaft.14
Analysiert man das skizzierte Programm der modernen Wissenschaft
her, so ist zunächst kennzeichnend, dass von den vier Ursachen des Aristo-
teles die Naturwissenschaften nur die causa efficiens anerkennen: Der gängige
Kausalbegriff bezeichnet eine Wirkung, dessen Ursache früher in der Zeit ist,
so dass Späteres aus Früherem zu erklären ist, damit auch Komplexeres aus
Einfachem, wenn dies zeitlich aus jenem entstanden ist, oder sich aus jenem als
Teilchen oder Kräften zusammensetzt.15 So lässt sich sagen, dass die Biologie
11 Es sei an Galileis berühmten Ausspruch erinnert, nach dem das Buch der Na tur in der Sprache
der Mathematik geschrieben sei. Der Beginn der Mechanik bei Galilei sowie Newtons Physik
können als paradigmatisch für das neue wissenschaftliche Weltverständnis angesehen werden.
Ebenso lässt sich natürlich F. Bacons ‚Novum Organum‘ als früher Vorläufer der empiristischen
Ideen der logischen Positivisten betrachten.
12 Vgl. C. G. Hempel (1948), (jetzt in Ders. (1965), 231-244 bzw. 245-290, insbesondere 249f.;
siehe dort auch das gesamte vierte Kapitel ‚Scientific Explanation‘, 229ff.) und K. Popper
(1973), 31ff. Eine gute Übersicht der Diskussion der Probleme und der Einwände gegen die
DN-Erklärung findet sich bei W. Stegmüller (1973), 75ff., 86ff.,143ff.
13 Dies gilt natürlich nicht für die Astronomie. Auch die Biologie ist erst durch die moderne
Genetik eine experimentelle Wissenschaft geworden. Doch der Verlauf der Evolution lässt sich
natürlich ebenso wenig experimentell wiederholen wie die Genese des Kosmos.
14 So wurde mir jüngst von Naturwissenschaftlern einer deutschen Universität versichert, dass
zur Beantragung von Geldern zur Grundlagenforschung, die nicht unmittelbar technische An-
wendbarkeit in Aussicht stellt, weit mehr Formulare auszufüllen und Begründungen (am besten
über die Hoffnung auf zukünftige Anwendbarkeit) zu leisten seien, als im Fall direkt praxisrele-
vanter Forschung. Dass man ‚dem Wesen der Natur auf den Grund kommen will‘, um zu ver-
stehen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, kann nicht als Motiv jeglicher (naturwissen-
schaftlicher) zeitgenössischer Forschung unterstellt werden und findet wohl auch auf Antrags-
formularen keine passende Stelle zum Ankreuzen oder Ausfüllen.
15 Der Kausalitätsbegriff ist notorisch schwierig zu definieren. Unter Kausalität im naturwissen-
schaftlichen Sinne wird zumeist ein Energieübertrag in der Zeit verstanden. Bei allen Schwierig-
keiten, die jener Begriff hat, so kann er doch im Wesentlichen mit der ‚causa efficiens‘ des
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
18
erst mit der Rückführung teleologischer Verhältnisse auf ein kausales Gesche-
hen, d.h. also mit Einführung des kausalen Selektionsmechanismus als Prinzip
der Evolution, zur Wissenschaft im eigentlichen Sinne wurde, wohingegen sie
vordem ohne dieses gesetzliche Prinzip idiographisch, d.h. Naturkunde bzw. -
geschichte war.16
Betrachten wir nach der Kausalität das weitere Merkmal einer naturwissen-
schaftlichen Weltdeutung: den Monismus (oder Immanentismus). Die Gesetze
der Physik betreffen Kräfte, die der Natur immanent sind: Aussagen über
eingreifende Engel, Dämonen oder andere ,transzendente‘ Wesen gehören,
auch wenn sie in Gesetzesform gebracht sind, nicht in das Repertoire der
Wissenschaft, und die Parapsychologie etwa kann nur dann als Wissenschaft
ernst genommen werden, wenn sie für gewisse Phänomene behauptet, sie
ließen sich unter dem jetzigen Stand der Wissenschaft nicht erklären, seien aber
prinzipiell naturwissenschaftlich, d.h. immanent-gesetzlich erklärbar. Ziel der
modernen Naturwissenschaft ist es also, die naturimmanenten Kräfte und
Elemente aufzuspüren und ihre Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Hierbei
versucht man, die Komplexität der Naturerscheinung zunächst auf Erschei-
nungsform zweier Grundtypen, ‚Kraft‘ und ‚Stoff‘, d.h. Materie und Energie,
zurückzuführen:17 Historisch betrachtet beruft man sich zu Beginn der moder-
Aristoteles identifiziert werden, die bei Aristoteles allerdings nicht diese dominante und aus-
schließliche Rolle spielt, sondern eine unter vier Ursachen ist (So ist es umgekehrt ebenfalls ab-
wegig davon auszugehen, dass bei ihm die ‚causa finalis‘ die ‚causa efficiens‘ ersetze, da es bei ihm
alle vier Ursachentypen gibt. Allerdings ist für Aristoteles die Regelmäßigkeit und Bestimmtheit
einer Wirkung definitorisch mit der causa finalis verbunden, wobei diese Funktion heute zur
causa efficiens geschlagen wird. Das ‚finale‘ ‚Woraufhin‘ einer Veränderung muss als im ‚Woher‘
schon enthalten gedacht sein, soll die Ursache Ursache einer bestimmten Wirkung sein.) Ob
allerdings mit den grundsätzlichen chemischen und physikalischen Materieeigenschaften auch
Aspekte der causa materialis anerkannt werden, wäre zu diskutieren, doch ändert dies nichts an
der vorherrschenden Rolle der Kausalursache.
Nicht eingegangen werden kann hier auf die Frage des Indeterminismus, der in der modernen
Quantenphysik diskutiert wird, d.h. auf die Frage, ob auch nichtkausale Aussagen (die aber
ebenfalls in (statistische) Gesetzesform zu fassen sind) zu dem beschriebenen Bild der Natur-
wissenschaften passen. Jener Indeterminismus ist allerdings zweifelsohne eine Ausnahme inner-
halb des naturwissenschaftlichen Programms und wird sicher auch deswegen so leidenschaftlich
diskutiert. Er hat jedoch nicht dazu geführt, dass man sich von dem Konzept der gesetzmäßigen
Kausalität als Grundlage der Wissenschaft im Allgemeinen verabschiedet hätte.
16 So schreibt Engels in ihrem Buch über die Teleologie, dass der Darwinismus die zweckmäßige
Harmonie im Tierreich erklärt, und zwar als ‚poststabilisierte Harmonie‘ (der Begriff geht auf F.
M. Wuketits zurück), während die Genetik die Formvollendung, d.h. die Morphogenese erklärt.
Für beide Bereiche ist somit eine eigene ‚causa finalis‘ nicht mehr notwendig, vgl. E. M. Engels
(1982), 29f. Dieses Zurückdrängen der Teleologie wird uns im Verlauf der Arbeit noch weiter
beschäftigen.
17 Wenn Natur in ihrem Wesen raumzeitliches Geschehen ist, so sind damit die beiden basalsten
‚Grundentitäten‘ gegeben: ‚Stoff‘ bzw. Materie als das Raumausfüllende und in der Zeit Behar-
rende, ‚Kraft‘ bzw. ‚Energie‘ (oder ‚Strahlung‘) als die Fähigkeit zur (räumlichen) Veränderung
in der Zeit. Dies sind die logisch primären und fundamentalen natürlichen Eigenschaften, auf
die sich idealiter alle anderen Qualitäten und Phänomene zurückführen lassen müssen.
1. Naturwissenschaft
19
nen Naturwissenschaft im Mechanismus zunächst etwa auf Attraktion und
Repulsion als Grundkräfte undurchlässiger Körper, schließlich entsteht die
überaus erfolgreiche moderne naturwissenschaftliche Atomtheorie, deren Ziel
es ist, die ‚Materialien‘ der Natur auf einige wenige Grundbausteine in unter-
schiedlicher Zusammensetzung zurückzuführen, und es gelingt, was die ,Kräf-
te‘ angeht, diese immer mehr ineinander zu überführen. Das Kriterium natur-
wissenschaftlichen Fortschritts besteht in der gelungenen Rückführung ehe-
mals separat erklärter Phänomene als Ausdruck einer beiden gemeinsamen
Gesetzmäßigkeit. Ohne hier auf den konkreten heutigen Status der Energie-
oder Materietheorien einzugehen, oder zu diskutieren, inwieweit das Endziel
einer ‚Grand unified theory‘ oder gar der ‚Theory of Everything‘ illusorisch
oder erreichbar ist, inwieweit also das Programm der modernen Wissenschaften
abschließbar ist,18 so ist doch hinreichend deutlich, dass eine Erklärungsrich-
tung vorliegt, nach der die Vielfältigkeit der Naturerscheinungen als Ausdruck
einfachster Grundkräfte und Gesetzte zu erklären ist.
Hiermit ist also betont, dass es der Wissenschaft um Reduktion von
Komplexität gehen muss. Eine wissenschaftliche Erklärung ist nicht eine An-
sammlung idiographischer Sätze, und Physik betreibt man nicht, wenn man
etwa sollte dies möglich sein eine Landkarte aller Atome zu einem Zeit-
punkt t anlegt, also wenn man Wirklichkeit ‚abbildet‘, sondern wenn man das
Verhalten der Atome oder Körper im Allgemeinen gesetzmäßig erklären kann.
Auch wenn selbstverständlich keine wissenschaftliche Theorie ohne idiographi-
sche Sätze auskommt, so ist das Ziel die Formulierung von nomologischen
Sätzen. Wissenschaftliche Wahrheit besteht also in einer allgemeinen kausalge-
setzlichen Rekonstruktion, nicht in auflistender Vollständigkeit.
Hieraus ergibt sich ein weiteres Merkmal des (natur-)wissenschaftlichen
Ansatzes: er ist ‚axiomatisch‘. Die Reduktion der Einzelereignisse als Ausdruck
eines Gesetzes bzw. einer Grundkraft impliziert, dass, selbst wenn das Ideal
einer ‚naturwissenschaftlichen Weltformel‘ je erreichbar sein sollte, jeweils
unerklärte Grundkräfte und Gesetze übrig bleiben müssen, die als Rahmen der
Erklärung dienen. Reduktion von Komplexität setzt etwas voraus, auf das die
Komplexität reduziert werden kann, das aber selbst nicht wieder reduziert
werden kann, will man nicht dem infiniten Regress verfallen. Dieses
Wesensmerkmal einer jeden (natur-)wissenschaftlichen Erklärung wird weiter
unten, wenn wir uns den Grundargumenten für die Rolle der Naturphilosophie
zuwenden, noch eine entscheidende Rolle spielen: es wird zu fragen sein, inwie-
fern durch den unten zu skizzierenden Verzicht auf eine Naturontologie in der
Nachfolge des logischen Empirismus die philosophischen Fragen über die
18 Der jüngste Versuch, sowohl den ‚Zoo‘ der heute bekannten Elementarteilchen vernünftig zu
reduzieren, als auch eine Brücke zwischen Quantentheorie und Relativitätstheorie zu schlagen,
um diese Theorien zu versöhnen, stellt die kontrovers diskutierte Superstringtheorie dar, die,
wenn auch populärwissenschaftlich, so doch eindrucksvoll in dem Buch von Brian Greene dar-
gestellt wird, vgl. B. Greene (2004).
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
2a
Grundverfasstheit des Naturseienden nicht eher verdunkelt als erklärt wer-
den.19
Als letzte kennzeichnende Eigenschaft des wissenschaftlichen Weltbildes
sei eine Trivialität erwähnt, die trotz ihrer Selbstverständlichkeit von besonde-
rer Bedeutung ist. Naturwissenschaften sind ihrem Selbstverständnis nach
natürlich ‚realistisch‘, d.h. sie gehen davon aus, dass sie mit ihren Methoden
mehr oder minder die Welt so erfassen, wie sie tatsächlich ist. Zwar wird der
Modellcharakter wissenschaftlicher Erklärung vor allem in der jüngeren
Wissenschaftstheorie immer wieder betont, dennoch gehört es zur typischen
naturwissenschaftlichen Weltsicht, dass die Theorien monistisch-kausal sind,
weil die Welt bzw. die Natur ihrem Wesen nach einheitliches kausales Geschehen
ist, das nicht nur ohne Eingreifen von Wundern, geheimen Kräften usf. erklärt
werden kann, sondern auch ohne dergleichen abläuft. Der Monismus der
Naturwissenschaften ist nicht nur methodisch, sondern ontologisch zu verste-
hen. Hierin drückt sich der Objektivitätsanspruch der modernen Wissenschaf-
ten aus, und zumindest auf den ersten Blick kann der empirische Realismus als
paradigmatische Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft angegeben werden.
Ein weiteres Merkmal dieses Objektivismus ist die Tendenz zu einem eher
materialistischen Weltbild, das durch die Naturwissenschaft gefördert wird und
das dem objektiv-idealistischen Ansatz von Hegel diametral entgegengesetzt zu
sein scheint. Die Natur soll, wie gesagt, aus sich selbst heraus erklärt werden,
d.h. aber aus ihren ‚Bausteinen‘ Materie, Kräfte und Gesetze. So sind subjektive
Deutungen, sekundäre Qualitäten, die Aufladung des Geschehens mit ‚Bedeu-
tung‘, ‚Aberglauben‘, ‚geistigen Kräften‘, ‚Wundern‘, ‚Werten‘ etc. aus dem
naturwissenschaftlichen Weltbild zu beseitigen. Subjektive Zutaten sollen aus
einer objektiven Weltdeutung verschwinden.
Fassen wir die skizzierten Wesensmerkmale zusammen, so lassen sich also
empirische experimentelle Nachprüfbarkeit, mathematische Exaktheit und
Immanenz der Welterklärung (kausaler Monismus im Sinne der causa effi-
ciens), ‚axiomatischer Aufbau‘ sowie Objektivität und Wertfreiheit, d.h. Ab-
straktion von allem ‚Subjektiven‘ wie Sinn, Zweck und Wunschdenken, als
Merkmale aufzählen. Diesen Merkmalen liegt erkenntnistheoretisch zumeist
19 Ebenso wird zu fragen sein, inwieweit die Naturgesetze tatsächlich als rein ‚naturimmanent‘ zu
betrachten sind, oder ob sie eine andere Seinsweise als die der faktischen Naturdinge haben, und
inwieweit der klassische Atomismus philosophisch und naturwissenschaftlich überzeugend ist,
d.h. also ob der naturwissenschaftliche Immanentismus, wie er in der szientistischen Philoso-
phie vorausgesetzt wird, zu halten ist. Vgl. zum Materiebegriff das Buch von D. J. Schulz (1966)
und den bemerkenswerten Aufsatz zu den ontologischen Voraussetzungen der Naturwissen-
schaft von D. Wandschneider (1985a). Zu dem axiomatischen Aufbau einer jeden Wissenschaft
und zur Notwendigkeit der Zusammenführung der verschiedenen Wissenschaften mit ihren
Grundsätzen in einer umfassenden ‚Wissenschaftslehre‘ siehe Fichtes Programmschrift Über
den Begriff der Wissenschaftslehre. V. Hösle bezeichnet in seinem Hegel-Buch (1988) jene Schrift
als programmatische Grundschrift auch für die Philosophie des objektiven Idealismus von
Hegel und Schelling, siehe dort 22ff.
1. Naturwissenschaft
21
ein empirisches Wahrheitsverständnis zugrunde, d.h. ein mehr oder minder
starker Realismus, der also von der Anwendbarkeit und Adäquatheit der
Methoden aufgrund objektiver Wesensmerkmale der Natur ausgeht.
In der jüngeren Erklären-Verstehen-Debatte hat diese naturwissenschaftli-
che Deutung der Welt die Bezeichnung ‚Erklären‘ bekommen und wurde vom
‚Verstehen‘ abgegrenzt, das ein inneres Motiv als Erklärungsgrund für eine
Handlung einschließt und das, je nach Interpret, somit eine kausale Determina-
tion ausschließt, oder zu dieser ein Motiv hinzu nimmt.20 Diese Unterschei-
dung gilt als konstitutiv für den Unterschied zwischen den Natur- und den
Geisteswissenschaften, und sie bringt in der Tat eine der wesentlichen philoso-
phischen Implikationen des naturwissenschaftlichen Programms zum Aus-
druck: Die ‚Warum-Frage‘ wird nach dieser Unterscheidung in den Natur-
wissenschaften als Frage nach dem ‚Wie [gesetzmäßig] entstanden?‘ begriffen,
wohingegen sie in den Geisteswissenschaften als ein ‚Worumwillen (einer
Handlung) gedeutet wird, also auf etwas Sinnhaftes oder Beabsichtigtes ver-
weist.
Die Betrachtung der Zweckursache als Sinn oder Ziel einer Handlung und
die Betrachtung der faktischen kausalen Genese eines Geschehens treten also
als Wissensgebiete für jeweils einen Typus von Wissenschaft in Natur- und
Geisteswissenschaft auseinander,21 wobei der scheinbar linear steigende Fort-
schritt der Naturwissenschaften auf der einen Seite und die andauernden Par-
teikämpfe philosophischer Schulen und geisteswissenschaftlicher Grundhal-
tungen auf der anderen Seite den Eindruck entstehen lassen, nur das Programm
der Naturwissenschaft könne auf Dauer zu hartem Faktenwissen führen.
Führt man sich die obige idealtypische Skizze und die Erfolge der naturwissen-
schaftlichen Erklärungsweise vor Augen, so kommt man nicht umhin, auch aus
philosophischer Perspektive die Entstehung der modernen Wissenschaft als
ungeheuren Fortschritt auf dem Wege einer vernünftigen Erkenntnis der Welt
anzuerkennen. Diesem Programm liegt nicht nur die Idee der Erkennbarkeit
der Welt zugrunde, sondern auch die Überzeugung der Einfachheit und Uni-
formität der Welt, die mit Hilfe der Naturgesetze und mit einfachen (oft auch
mathematisch simplen und harmonischen) Grundannahmen über die sich in
20 Vgl. hierzu Apel (1979), der in seiner Analyse der Erklären-Verstehen-Debatte von einer
transzendentalen Priorität des Verstehens ausgeht, wie sie in ähnlicher Form auch für den
Bereich der Naturphilosophie vorgeschlagen werden soll (vgl. unten I 3.2.).
21 Diese Trennung kann man methodisch oder ontisch verstehen, allerdings ist bei einer onti-
schen Deutung die Zuordnung nicht eindeutig: Verstehen ist für den Bereich des Geistigen r e-
serviert, aber Erklären lässt sich sowohl Geistiges (menschliche Handlung) als auch Natürliches.
Das Verhältnis von Erklären (also genetisch-kausaler Rekonstruktion) und Verstehen (Einsehen
von Gründen, aber auch normative Bewertung) innerhalb der Geisteswissenschaft ist der Span-
nungspunkt, den jede Theorie des Menschen, des Sozialen, des Geistigen usf. lösen muss. In
dieser Spannung sind die Fragen nach Freiheit und Notwendigkeit, Reduktionismus oder Selb-
ständigkeit und das Problem des Verhältnisses von Genese und Geltung verwurzelt.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
22
Raum und Zeit befindlichen Kräfte und Stoffe, um sich archaisch auszudrü-
cken, aus sich heraus vollständig gedeutet und verstanden werden kann. Mit
dem Auftreten der modernen Wissenschaften scheint damit das Programm der
Philosophie selbst, zumindest das Programm der Naturphilosophie, die Erkenntnis
der vollständigen Wahrheit (der Natur), auf methodisch sicherem Wege und
mit fortschreitendem Erfolg erreichbar zu sein. Dies ist sicher, neben der tech-
nischen Anwendbarkeit der Resultate der Wissenschaft, ein Grund für die
Faszination dieses Programms, das so verständlicherweise zum Idealtyp von
Wissenschaft und Rationalität überhaupt, und so auch zum Vorbild für die
Philosophie selbst, avancierte. Rationale Reduktion von Komplexität, die Iden-
tifizierung einzelner Ereignisse als Ausdruck eines Allgemeinen (eines Ge-
setzes) ist schließlich die Grundidee des Wissens und Begreifens selbst.
Für die vorliegende Arbeit ist es von großem Interesse, dass die jüngere
Philosophie in ihrer Begeisterung für die Wissenschaft eine Richtung ent-
wickelt hat, die jeder metaphysischen Spekulation, jeder apriorischen Kon-
struktion gegenüber abhold ist und die namentlich Hegel und die deutschen
idealistischen Systembauer im Allgemeinen zu ihren Feinden erklärt hat.22 Die
wichtigsten Argumente dieser Richtung, die in der Bewegung des Wiener
Kreises und des logischen Empirismus bzw. Positivismus ihren Ausdruck fand,
sollen daher nun zusammengetragen werden, um zu prüfen, inwieweit diese
Schlussfolgerungen einerseits tatsächlich mit dem Erfolg der modernen
Wissenschaften im Zusammenhang stehen und diesen zugunsten ihrer Überle-
gungen verbuchen können und inwieweit ihre Argumente andererseits wirklich
überzeugend das Programm einer metaphysischen Naturphilosophie widerlegt
haben, oder ob nicht gerade aus dem Scheitern dieser Bewegung Argumente
für eine objektiv-idealistische Naturphilosophie gezogen werden können.
Dabei soll in diesem Abschnitt diese Position zunächst systematisch dargestellt
und gewürdigt werden, die Kritik jener Position wird dann Aufgabe des
Kapitels I 3.1.1. sein.23 Auf die wissenschaftskritische Wende in der modernen
22 So beginnt das programmatische Werk ,Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie‘ des
dem Wiener Kreis nahe stehenden Philosophen Hans Reichenbach mit einem Hegel-Zitat als
abschreckendem Beispiel für Philosophie, wie sie nicht sein sollte, vgl. H. Reichenbach (1953),
13. Im weiteren Verlauf heißt es: „Hegels System hat mehr als jede andere Philosophie dazu bei-
getragen, die Wissenschaftler von den Philosophen zu trennen, und hat die Philosophie zu
einem Gegenstand der Verachtung gemacht, mit dem der Wissenschaftler nichts zu tun haben
will.“, H. Reichenbach (1953), 88. Neben Hegel steht natürlich Platon auf der Liste der im
schlechten Sinne des Wortes rein spekulativen Philosophen. (Es versteht sich von selbst, dass
Reichenbach nicht über einen Begriff des Spekulativen im guten Sinne des Wortes verfügt.)
23 Auch wenn es Unterschiede in den Akzentuierungen der einzelnen Mitglieder des Wiener
Kreises gibt, ja auch wenn die Unterschiede zum Teil bedeutend sind, so kann doch m. E. die
folgende Darstellung als Schnittmenge der gemeinsamen Grundüberzeugungen der genannten
Bewegung gelten. Die Argumente, deren sich die moderne anti-naturphilosophische bzw. anti-
metaphysische ‚szientistische‘ Philosophie bedient, finden sich alle im Umfeld des Wiener Krei-
ses zusammenhängend dargebracht, unabhängig davon, ob die Vertreter selbst später zum logi-
schen Positivismus oder Empirismus neigten, sich eher subjektivistisch-phänomenologisch ori-
1. Naturwissenschaft
23
Wissenschaftstheorie, die immer mehr zum Skeptizismus neigt, soll dann erst
im nächsten Kapitel (I 2.) eingegangen werden, da jener Wissenschaftsskepti-
zismus oft genug Pate steht für Neubelebungen einer a-rationalen Naturphilo-
sophie und sich daher zumeist im Gefolge der Wiederbelebung des mythisch-
religiösen Naturbildes findet.
Trotz dieser skeptischen Weiterentwicklung der Wissenschaftstheorie ist
eine Beschäftigung mit dem logischen Empirismus insofern nicht obsolet, da er
die Argumente zugunsten des Szientismus in der reinsten und stärksten Form
präsentiert. Jede weitere Ablehnung der Möglichkeit von Naturphilosophie,
jede weitere Einschränkung der Naturphilosophie auf Naturwissenschaftsphi-
losophie oder auf wissenschaftstheoretische Philosophie geht in ihrer Argu-
mentation und Tradition auf jene Schule zurück, die daher nun betrachtet
werden soll. Mit dem Wiener Kreis geschieht eine enorm einflussreiche Wei-
chenstellung, und solange eine kritische Überwindung jener Position noch
nicht geleistet ist, muss jede Arbeit, die ein weitergehendes Verständnis von
Naturphilosophie verteidigen will, auf jene Argumente zurückkommen.24
1.2. Szientistische Naturphilosophie
Bei der Darstellung der zu schildernden Strömung des logischen Empirismus
bietet es sich an, von den zwei Grundaxiomen auszugehen, die in der Benen-
nung der Schule als ,logischer Empirismus‘ zum Ausdruck kommen und die für
den gesamten Wiener Kreis und die nachfolgende Bewegung kennzeichnend
sind: 1) Erkenntnis stammt aus der Erfahrung und muss immer prinzipiell an
dieser überprüft bzw. auf diese zurückgeführt werden können. 2) Die zweite
Quelle der Erkenntnis ist die Logik. Diese liefert aber nur analytisches Wissen,
d.h. es gibt keine synthetischen Sätze a priori bzw. keine gehaltvollen Erkennt-
nisse, die aus der Logik alleine ableitbar wären.25 Die Gründungsurkunde dieser
entierten, zum Pragmatismus und Instrumentalismus übergingen, oder wie etwa Reichenbach
dem naturwissenschaftlichen Realismus treu blieben.
24 Jene Position des Positivismus ist trotz der weiteren Fortentwicklung der Wissenschaftstheo-
rie noch nicht überwunden, da jene Weiterentwicklung nicht auf den Vorwurf der Irreflexivität
hin geschehen ist, sondern dominiert wurde durch den Versuch, den Rest-Realismus oder die
Rest-Metaphysik des logischen Empirismus zu überwinden. Die hier vorgeschlagene Auseinan-
dersetzung zielt aber in eine gänzlich entgegengesetzte Richtung, wie dies in der kritischen Aus-
einandersetzung weiter unten deutlich werden wird (vgl. unten S.62).
25 So etwa H. Reichenbach: „Gewißheit ist untrennbar von Leere: es gibt kein synthetisches
Apriori“ (1953), 340, oder R. Carnap: „Die für die Problemstellung der kantischen Erkenntnis-
theorie grundlegenden ,synthetischen Urteile a priori‘ kommen nach Auffassung der Kon-
stitutionstheorie überhaupt nicht vor“ (1961), 148; „Nach Auffassung der Konstitutionstheorie
gibt es in der Erkenntnis keine anderen Komponenten als diese beiden: die konventionelle und
die empirische; also keine apriorisch-synthetische.“ 253. Vgl. auch Wittgensteins Tractatus
(1994), 19 (2.225).
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
24
Bewegung ist bekanntermaßen der kurze Tractatus logico-philosophicus von
Wittgenstein, dessen Programm genau auf jenen beiden Grundsätzen fußt. Die
wichtigsten Annahmen des logischen Empirismus sollen im Folgenden nun als
Konsequenzen aus den beiden Grundaxiomen skizziert werden.
(1) Aus der Orientierung an der Logik und aus dem Versuch der exakten
Formalisierung der philosophischen Sprache ergibt sich der Rationalitätsan-
spruch der neuen Strömung, den sie mit den modernen Wissenschaften teilt. So
wie diese mit der Orientierung an der Mathematik Exaktheit erlangen will, soll
eine exakte Sprache das Auftreten von ‚philosophischen Scheinproblemen‘
verhindern.26 Das Credo dieser Bewegung lautet: Alles was sich sagen lässt, lässt
sich klar und deutlich sagen. Daraus ergibt sich zum einen neben der Forderung
nach Klarheit durch die Verwendung einer formalisierten Sprache, in der Logik
und Grammatik in Übereinstimmung gebracht werden, die für Vertreter dieser
Richtung zumeist typische Ablehnung des Bereichs von unsagbaren oder un-
ausdrückbaren Erkenntnissen, die der Philosophie nicht zugänglich wären.
Zwar mag es den Bereich religiöser, mystischer oder metaphysischer Erlebnisse
geben, doch nnen diese, wenn bzw. da sie nicht sprachlich formulierbar sind,
keinen Anspruch auf Erkenntnisstatus erheben. So heißt es bei Wittgenstein:
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“.27 Ebenso
26 So der Titel der bekannten Schrift von Carnap (1971). In dem Aufsatz von 1931 (1931a) ver-
sucht Carnap, auf ein paar philosophische Scheinargumente einzugehen, die aus einem falschen
bzw. mangelnden Gebrauch der Logik abzuleiten seien. Er verweist hier auf das Cogito-Argu-
ment von Descartes (234), dessen Widerlegung ein Topos in jener Strömung ist (so auch Rei-
chenbach (1953), 45f.), und auf den ontologischen Gottesbeweis, wo er die kantische Kritik,
nach der Existenz keine Eigenschaft sei, übernimmt (1931a, 234). Ziel ist es, mit sprachlichen
Unklarheiten aufzuräumen und philosophische Irrtümer zu vermeiden (so schon Wittgenstein
(1994), 27, [3.323-3.325]), wobei die versuchte Formalisierung von Heidegger-Deutsch (R.
Carnap (1931a), 230) klar erahnen lässt, welch ein Bruch zwischen der analytischen und der
hermeneutisch-phänomenologischen Philosophie entstehen wird, der bis heute andauert und zu
einer weitestgehenden ,Kommunikationslosigkeit‘ zwischen beiden Lagern geführt hat, wie
Stegmüller feststellt (vgl. W. Stegmüller (1960), XXXIff.). Hierbei werfen die ‚Analytiker‘ den
‚Hermeneutikern‘ das Reden in unklaren Scheinsätzen und Sprachwolken vor, wohingegen
andererseits die ‚Hermeneutiker‘ die ‚Analytiker‘ eher für Informatiker denn für Philosophen
halten. Es ist das Verdienst Apels, erste Versuche der Überbrückung dieses Gegensatzes, der
mitunter parallel zu dem Gegensatz zwischen europäischer und anglo-amerikanischer Philoso-
phie verläuft, geleistet zu haben.
27 L. Wittgenstein (1994), 115, vgl. auch dort 114: „(6.5) Zu einer Antwort, die man nicht
aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Wenn
sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie beantwortet werden“. Das Unaussprechliche
hält Wittgenstein allerdings für existent, nur lässt sich dies nicht sagen oder formulieren, es
zeigt sich“ (115, 6.522). (Freilich sind Sätze dieser letzten Art direkt selbstwidersprüchlich,
worauf bei der Erörterung des Erkenntnis- und Vernunftbegriffs im Kapitel I 3.1.1. und I 3.2.1.
noch zurückzukommen sein wird.) Siehe ebenso Reichenbach (1953), 345, der nichts Unsagba-
res, dem gegenüber die Philosophie kapitulieren müsste, anerkennt. Vgl. auch R. Carnap (1961),
253 ff., wo es heißt, dass die Wissenschaft keine Grenzen in sich habe. Etwas später heißt es
dort ebenso in Auseinandersetzung mit der Metaphysik und der Religion, dass nur das Er-
kenntnis sein kann, was sich klar formulieren lässt (256). Hierin ist freilich eine Analogie zu
1. Naturwissenschaft
25
ergibt sich aber auch zum anderen, dass jeder reguläre philosophische Satz mit
den Mitteln der Logik in endlichen Schritten aus einfachen Basissätzen abgelei-
tet werden und in eine eindeutige Sprache gebracht werden kann. Die Basis-
sätze oder Protokollsätze und Grundbegriffe selbst lassen sich aus der prakti-
schen Erfahrung gewinnen.28 So ließe sich eine vollständige Philosophie der
ganzen Welt aufbauen und dies ist das bekannte und ehrgeizige Programm von
Carnaps Schrift Der logische Aufbau der Welt.29 Vollständigkeit (so dass keine
unerkannte, unsagbare Erkenntnis jenseits der Philosophie übrig bleibe) und
Abschließbarkeit (so dass jeder philosophisch-wissenschaftliche Satz sich ent-
weder beweisen oder widerlegen lasse) sind also das Ziel der konsequenten
Anwendung der logischen Methode in der Philosophie.
In diesen beiden Punkten sind der ungeheure Fortschrittsoptimismus und
das außerordentliche Selbstbewusstsein jener Richtung begründet. So wie die
Naturwissenschaft aufgrund der Orientierung an logischer Methode und Er-
fahrung den sicheren Weg einer Wissenschaft geht, so kann auch die Philoso-
phie erst durch die konsequente Anwendung dieser Methode erfolgreich fort-
schreiten und ihre alten Parteienstreitigkeiten hinter sich lassen. Doch auch
wenn dieses Zutrauen in die Philosophie prinzipiell außerordentlich begrü-
ßenswert ist, so ist es doch eigentümlich zu sehen, wie sehr dieses Zutrauen
nicht auch der alten Philosophie entgegengebracht wird. So sind nicht nur
einige Vertreter dieser Richtung bereit, über zweitausend Jahre Philosophiege-
schichte den Stab zu brechen,30 sondern sie sind zumeist auch davon über-
zeugt, dass sich nun in Kürze tatsächlich auf dem Boden dieser Einschränkung
des Philosophieverständnisses alle philosophischen Probleme abschließend
sen lassen. Erinnert sei an die letzten Sätze der Einleitung zum Tractatus von
Wittgenstein, in denen dieser bekundet zu glauben, dass nun keine philosophi-
Hegel zu sehen, der in der Tat alle Erkenntnisse für der Vernunft immanent, und d. h. auch für
in Begriffen formulierbar, hält. Auf diese Ähnlichkeit zwischen Positivismus und Idealismus
macht interessanterweise Carnap selbst aufmerksam (ebd.).
28 In der Frage, wie die ersten Basissätze zu fundieren sind, liegt in der Tat eines der
Hauptprobleme des logischen Empirismus. Carnap versucht dieses Problem mit den
Ausführungen zu seinen Konstitutionsregeln in den Griff zu bekommen, (1961), 34-147,
insbes. 83ff., wechselt aber später vom Standpunkt individueller Erfahrung auf den der Fundie-
rung durch die Protokollsätze einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, während Schlick der An-
sicht ist, dass Basissätze nicht durch weitere Sätze fundiert werden können, da dies in den infi-
niten Regress führe, so dass sie also wie es der Pragmatismus ebenso meint durch Handlun-
gen fundiert werden müssten, vgl. M. Schlick (1931), 8.
29 Vgl. R. Carnap (1961).
30 So äußern sich zurecht M. Reichenbach und A. Kamlah in ihrem Vorwort zur Gesamtausgabe
der Schriften von Reichenbach [Reichenbach (1977), Band 1, 3f.] zur über die Behandlung der
Philosophiegeschichte von Reichenbach in dem schon zitierten Buch Der Aufstieg der wis-
senschaftlichen Philosophie, verteidigen aber sein Vorgehen, da „sein Werk […] nicht in erster
Linie dazu da [ist], um in gläubig historisierendem Eifer interpretiert zu werden.“, Reichenbach
(1977, Band 1), 3; siehe auch die Bemerkungen 471f., in denen u. a. die bloß negative Einstel-
lung zu Platon bemängelt wird.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
26
schen Fragen mehr offen sein dürften,31 oder an den triumphalistischen Ton
von Schlicks Die Wende der Philosophie,32 mit der die erste Ausgabe der von
Carnap und Reichenbach herausgegebenen Zeitschrift Erkenntnis eingeleitet
wird. Resultat dieses Optimismus ist mitunter leider auch ein weitgehendes
Desinteresse an der philosophischen Tradition, das auch heute noch für einige
Teile der analytischen Philosophie kennzeichnend ist.33
(2) Aus der Orientierung an der Erfahrung ergeben sich die weiteren zen-
tralen Ansichten dieser Strömung. So beschreibt Wittgenstein die grundlegende
Ontologie dieses (bzw. diejenige eines jeden) Empirismus, nachdem die ‚Welt
alles ist, was der Fall ist‘.34 Pointiert formuliert: Nur über das Physische (das
‚der Fall ist‘) kann man sinnvolle d.h. wahrheitsfähige Aussagen treffen,
nicht jedoch über das Meta-Physische (das im Lichte dieser Ontologie gar ‚nicht
der Fall ist‘, falls ein solcher Satz überhaupt im Sinne des logischen Empirismus
einen Sinn haben könnte). Eine rational aussprechbare Erkenntnis des ‚meta-
physischen‘ oder ‚transzendenten‘, kurz jedes ‚kontrafaktischen‘ Bereichs wird
vehement abgelehnt. Somit ergibt sich die Vorliebe für die typische materialis-
tische Ontologie, die man in Anlehnung an dieses Wittgenstein-Zitat ‚Ontolo-
gie des Der-Fall-Seins‘ nennen kann. Eigentlich (in einem substantiellen Sinne,
d.h. als Träger der Veränderung) existieren nur die Materie bzw. die Atome
und die Kräfte. ‚Der-Fall-Sein‘ bringt also zum Ausdruck, dass nur das, was in
Raum und Zeit existiert, wissenschaftlich untersucht werden kann, woraus sich
leicht die Tendenz ergibt, auch nur diesen Bereich als ,Wirklichkeit‘ anzuer-
kennen, um alle anderen Bereiche darauf zurückzuführen.35
31 Vgl. L. Wittgenstein (1994), 8.
32 Siehe M. Schlick (1931). Dieser Optimismus erinnert unweigerlich an Hegels Selbst-
teleologisierung der Philosophiegeschichte und ist trotz seiner mitunter störenden Ignoranz in
der Variante des Wiener Kreises bezüglich der Leistung der Philosophiegeschichte zunächst zu
begrüßen, da er konsistenter ist als die heute allgemein übliche und nur scheinbar ,bescheidene-
re‘ relativistische Hervorhebung, dass auch der eigene Ansatz nur ein gleichberechtigter unter
vielen sei, da jene Selbstaufwertung wenigstens in Einklang zu bringen ist mit dem eigenen
Wahrheitsanspruch, während eine Philosophie, die sich bloß als eine unter vielen versteht,
Schwierigkeiten haben dürfte, ihren eigenen Wahrheitsanspruch einzulösen. In genau diesem
Sinne argumentiert schon sehr präzise Kant in der Vorrede der Metaphysik der Sitten für die
tige Unbescheidenheit der Philosophen (MdS, AB VII).
33 Reichenbach spricht so in der Tat die Empfehlung aus, sich nicht allzu sehr mit der
Philosophiegeschichte auseinanderzusetzen vgl. H. Reichenbach (1953), 364 da dies nur in
den Relativismus führe. Seine Darstellung Hegels oder Platons etwa sind dementsprechend auch
nicht gerade ein Zeichen für die souveräne Beherrschung der Tradition. (So empfehlen auch M.
Reichenbach und A. Kamlah in ihrer Vorrede zur Gesamtausgabe, die Kant- oder Platondarstel-
lung aus Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie nicht am heutigen Forschungsstand zu
messen, vgl. H. Reichenbach (1977), Band 1, 4.) Doch ist die Vermeidung des Relativismus
sicherlich ein wichtiges Anliegen, allerdings bewältigt man diesen eher dadurch, dass man sich
der Herausforderung der Geschichtlichkeit der Philosophie stellt, als dass man sie ignoriert.
34 Vgl. L. Wittgenstein (1994), 11.
35 Interessant ist hier der Gegensatz zwischen der antiken platonischen Ideenlehre und Poppers
‚Drei-Welten-Theorie‘, bei der die dritte Welt trotz ihrer inneren Logik in ihrer Existenz abhän-
1. Naturwissenschaft
27
Diese Konzentration auf das Faktische erzeugt den Wunsch, die alte Meta-
physik zu überwinden. Bei Wittgenstein ergibt sich aus diesem Gedanken des
‚Der-Fall-Seins‘ einerseits, dass nur die Sätze über das Faktische, das heißt die
Sätze über die Natur und die ‚Tatsachen‘ wahrheitsfähig sind.36 Sätze über
tze aber beispielsweise, damit also die philosophischen Sätze der Erkenntnis-
theorie im Allgemeinen, aber auch andere Sätze der Philosophie, die über die
Sätze über die Natur hinausgehen, hält Wittgenstein weder für wahr noch für
falsch, sondern für sinnlos.37
Andererseits ergibt sich daraus, dass natürlich auch normative Sätze, da sie
ja nicht über Tatsachen sprechen, weder wahr noch falsch sein können und
somit für die meisten Vertreter dieser Richtung nicht in den Bereich der Philo-
sophie fallen: Neben dem Vermeiden ‚metaphysischer‘ Aussagen gilt somit
konsequenterweise der Bereich der ethischen Aussagen als prinzipiell nicht
wahrheitsfähig,38 und eine Kunstphilosophie oder Philosophie der Ästhetik
sucht man in jener Strömung vergeblich. Ästhetik und Ethik fallen neben der
Metaphysik, nachdem sie Jahrtausende lang ein Kerngebiet der Philosophie
ausgemacht haben, nicht mehr in diese. Wenn man genau sein will, so ergibt
sich diese ‚Überwindung der Metaphysik‘39 und man muss hinzufügen: die
Überwindung der Ethik allerdings nicht nur aus der Orientierung am Bereich
gig von den ersten beiden bleibt.
36 So heißt es im Traktat: „(4.11.) Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte
Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften). (4.111.) Die Philosophie ist
keine der Naturwissenschaften. (Das Wort ‚Philosophie‘ muß etwas bedeuten was über oder
unter, nicht neben den Naturwissenschaften steht.)“, L. Wittgenstein (1994), 41. Carnap
schreibt: „Die logische Analyse spricht somit das Urteil der Sinnlosigkeit über jede vorgebliche
Erkenntnis, die über oder hinter die Erfahrung greifen will.“, (1931a), 237. Unter den heutigen
Biophilosophen ist auch Wuketits dieser Ansicht, insofern er die typischen alten normativen
Fragen der Metaphysik für sinnlos und nicht wissenschaftlich hält, vgl. F. M. Wuketits (1982 ),
71, 109, siehe auch F. M. Wuketits (1984), 43. Im Glossar seines Buches von 1983 definiert er
die Metaphysik als Bereich der „Behauptungen über die Welt, die nicht mit wissenschaftlichen
Methoden begründet und überprüft werden können.“, F. M. Wuketits (1983), 242.
37 L. Wittgenstein (1994), 42f. (4.12., 4.121.)
38 So etwa H. Reichenbach: „Die moderne Analyse der Erkenntnis macht eine kognitive Ethik
unmöglich: die Erkenntnis enthält keine normativen Aussagen und kann daher nicht zu einer
Deutung der Ethik benutzt werden.“, (1953), 310, vgl. dort das gesamte Kapitel 17 (‚Das Wesen
der Ethik‘, 309ff.), nach dem die Verknüpfung zwischen Zielen und Handlungen rational ver-
stehbar sei, die Zielsetzung aber ein Akt des Willens und damit nicht rational einholbar sei. (Es
ist sicher kein Zufall, dass diese Sicht auf den skeptischen Empiristen David Hume zurück-
geht.)Vgl. im selben Sinne Carnap (1931a), 237: „[] die objektive Gültigkeit eines Wertes
oder einer Norm kann ja [] nicht empirisch verifiziert oder aus empirischen Sätzen ded uziert
werden; sie kann daher überhaupt nicht (durch einen sinnvollen Satz) ausgesprochen werden.“
Bei Wittgenstein heißt es: „6.42. Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze n-
nen nichts Höheres ausdrücken. 6.421. Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt“,
(1994) 112. Diese Ansicht hat sich, obwohl die spätere analytische Philosophie sich durchaus
produktiver mit der Ethik auseinandergesetzt hat, erstaunlicherweise in weiten Teilen der heuti-
gen Philosophie und vor allem in der Populärphilosophie durchgesetzt.
39 Vgl. R. Carnap (1931a).
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
28
des Empirischen alleine, sondern aus der Annahme, dass es in der Logik keine
synthetischen Sätze a priori gäbe.40 Wenn aber weder die Logik noch die Erfah-
rung uns Zugang zu irgendeinem, das Faktische bzw. das Natürliche über-
schreitenden Bereich geben, dann muss die Philosophie konsequenterweise
hierüber schweigen. Aus dieser methodischen Beschränkung ergibt sich dann
auch leicht eine ontologische Beschränkung, weil das, was mit der ‚wahren‘
Methode nicht gefunden werden kann, auch nicht als existent gedacht wird.41
Betrachtet man die Resultate aus (1) und (2), so ergibt sich aus den beiden
genannten Grundaxiomen der Orientierung an Logik und Erfahrung natürlich,
dass das methodisch-empirische Vorgehen der Naturwissenschaft den Idealtyp
des Wissens darstellt, d.h. zu Beginn der Entwicklung dieser Philosophie bis
hin zu zahlreichen heutigen Vertretern der Wissenschaftstheorie steht zunächst
eine uneingeschränkt positive Einstellung gegenüber der Wissenschaft. So wird von
der neuen philosophischen Richtung, die es zu etablieren gilt, immer wieder als
wissenschaftlicher Philosophie gesprochen (vgl. etwa den Buchtitel von H. Rei-
chenbach [1953]). Bei ‚wissenschaftlich‘ ist hier natürlich zunächst und haupt-
sächlich an die Naturwissenschaften gedacht.42 Auf der anderen Seite ergibt
sich ebenso, dass jedwede apriorische Systemkonstruktion und jede metaphysi-
sche Aussage, die also über die Empirie (und die tautologische Logik) hinaus
reichen soll, Feind der Erkenntnis ist.43 Mit dem Einklagen der Wissenschaft-
lichkeit der Philosophie geht für den logischen Empirismus so eine ontologische
Beschränkung der Philosophie einher.44
Somit stellt sich aber die Frage, welche Rolle die Philosophie im Allgemei-
nen und die Naturphilosophie im Besonderen noch neben der Wissenschaft
übernehmen kann. Die Antwort hierauf ist eindeutig: Philosophie hat lediglich
die Aufgabe, die Grundbegriffe der Naturwissenschaft logisch zu deuten,45 sie
hat also die „logische Klärung der Gedanken“46 zur Aufgabe, nicht jedoch hat
sie neben der Naturwissenschaft Aussagen über die Natur zu treffen. Sie muss
also, wo sie nicht logische oder pragmatische Reflexion über die Grundbegriffe
40 Vgl. Anmerkung 25.
41 Dies ergibt sich aus dem realistischen Wissenschaftsverständnis und aus dem Anspruch der
Wissenschaft, alleine für eine vollständige Erfassung der gesamten Wirklichkeit zuständig zu
sein.
42 In diese Richtung spricht sich immer wieder Carnap aus, der näher die Physik als Leitwissen-
schaft auserkoren hat, da ihre Sprache die Universalsprache aller Wissenschaft sein soll (1931b),
siehe auch sein Buch zur Philosophie der Naturwissenschaften, R. Carnap (1974).
43 So zerfällt das schon zitierte Buch von H. Reichenbach (1953) in zwei Teile: den ersten, nega-
tiv-ablehnenden Teil über ‚spekulative Philosophie‘ und den zweiten konstruktiven über ‚wis-
senschaftliche Philosophie‘.
44 Dies ist freilich nur dann eine Beschränkung, wenn man den Bereich der ‚Logik‘ und des
‚Geistes‘ für nicht auf das Natürliche reduzierbar hält.
45 In diesem Sinne ist für Schlick Einstein durch seine Umdeutung der Grundbegriffe ‚Raum‘
und ‚Zeit‘ eher Philosoph als Naturforscher, vgl. M. Schlick (1931), 9f.
46 L. Wittgenstein (1994), 41 (4.112.)
1. Naturwissenschaft
29
und Methoden darstellt, in Wissenschaft aufgehen. Am Ende des ‚Tractatus‘
schreibt Wittgenstein in diesem Sinne grundlegend:
„Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen,
als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft - also etwas, was mit
Philosophie nichts zu tun hat , und dann immer, wenn ein anderer etwas
Metaphysisches sagen wolle, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in
seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den an-
deren unbefriedigend er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie
lehrten - aber sie wäre die einzig streng richtige.“47
Ebenso heißt es in Anwendung dieser Gedanken auf die Möglichkeit von
Naturphilosophie bei Reichenbach stellvertretend für die gesamte Strömung:
„Wir können deshalb einen Unterschied zwischen Naturphilosophie und
Naturwissenschaft nicht anerkennen;[...] Es hieße auf die gewaltige logisch-
kritische Arbeit, die in dem weitverzweigten Bau mathematisch-natuwissen-
schaftlicher Erkenntnis implizit mitgeleistet worden ist, blindlings verzichten,
wollte man bei jener naiven Naturphilosophie stehen bleiben, die die Natur-
wissenschaft von der Philosophie abtrennen möchte.“ (Reichenbach (1931),
zitiert nach R. Breil (2000), 175f.).
Zur Möglichkeit einer Naturphilosophie ‚aus der Vernunft‘, wie sie Hegel vor-
schwebte, heißt es weiter unten in derselben Schrift:
„Wenn wir mit Kant und anderen darüber übereinstimmen, daß die Analyse
des Erkenntnisverfahrens notwendig ist, so besteht doch der schon genannte
entscheidende Unterschied: nicht eine Analyse der Vernunft, sondern nur
eine Analyse der Wissenschaft kann die zeitgemäße Antwort liefern. Die
Selbstbeschau der Vernunft ist unfruchtbar, denn sie fördert nur frühere Ent-
wicklungsstadien wissenschaftlichen Denkens zu tage; [...]“ (Reichenbach
(1931), zitiert nach R. Breil (2000), 177).
Somit ist also nur noch eine Naturwissenschaftsphilosophie, wenn überhaupt,
sinnvoll und legitim, nicht aber mehr eine Naturphilosophie.
So ergibt sich also zusammenfassend eine optimistische, rational-empiristi-
sche Philosophie, die in einigen entscheidenden Punkten Analogien zum kanti-
schen Programm aufweist.48 So wie dieser von der Wahrheit des neuen newton-
schen naturwissenschaftlichen Weltbildes überzeugt ist, vertraut der Wiener
Kreis auf die Wahrheit der modernen Naturwissenschaft. So wie Kant die
Philosophie (vornehmlich die Metaphysik) neu begründen und von alten dog-
matischen Philosophien befreien will, möchte der logische Empirismus die
Philosophie von alter, die Erfahrung überfliegender Philosophie und Metaphy-
sik befreien, damit sie sichere und erfolgreiche Wege gehen kann. Analog zu
47 L. Wittgenstein (1994), 115 (6.53)
48 Der größte Unterschied besteht natürlich darin, dass Kant synthetische Sätze a priori für
möglich und notwendig erachtet. Somit ist für Kant eine Grundlegung der Metaphysik und der
Ethik möglich.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
3a
Kant scheint man den Hauptfehler der Philosophie darin zu sehen, die Erfah-
rung zu übersteigen und leere Begriffe aus reinem Denken abzuleiten, wohin-
gegen doch reine Logik nur Tautologien und analytische Wahrheit hervorbringt
(also ‚leer‘ ist) und erst durch Verbindung mit der Erfahrung ‚sehend‘ wird.
So wie Kant also durch eine Einschränkung des Aussagenbereichs der Ver-
nunft auf die an Erfahrung (und Anschauung) geschulten Begriffe den endgülti-
gen Fortschritt der Philosophie sichern wollte, so beabsichtigt der Wiener
Kreis ebenfalls durch ein Verbot des ‚Überfliegens‘ der Erfahrung und des
Abgleitens in religiös-metaphysische Spekulationen der Philosophie zum
Durchbruch zu verhelfen. War so der Fehler für den geringen Erfolg der Philo-
sophie gegenüber dem Aufstieg der Naturwissenschaft gefunden und beseitigt,
so ließ sich hoffen, dass nun auch die Philosophie endlich sichere und erfolgrei-
che Wege gehen werde und damit denselben linearen Fortschritt erzielt, wie er
in der Naturwissenschaft zu beobachten ist. Somit stehen die moderne Wissen-
schaft und der logische Empirismus in der Tradition der Aufklärung und damit
der modernen Philosophie. Diese Beschränkung der Fragen auf empirisch-wis-
senschaftliche Untersuchungen hat aber insbesondere auch zur Folge, dass
naturontologische Fragestellungen gleichsam als Metaphysik gebrandmarkt und
tabuisiert wurden. Anders als in der kantischen Philosophie liegt aber hier
keine Lösung des Humeschen Induktionsproblems vor. Warum können wir
davon ausgehen, dass es in der Natur allgemeine Gesetzmäßigkeiten gibt, die
wir mit unserer Logik erkennen können? Woher die von Wittgenstein behaup-
tete Gemeinsamkeit der Sprache und der Welt in der logischen Form rührt,
bleibt unerklärt, ja unerklärbar. Man kann sagen, dass der logische Positivismus
die Grundannahme einer gesetzlichen oder logischen Verfasstheit des Empiri-
schen der Naturwissenschaften einfach übernimmt, statt sie aufzuklären. An
dieser Stelle drängen sich naturontologische Überlegungen in Ergänzung zum
Programm der Wissenschaften geradezu auf, wodurch der in dieser Arbeit
erfolgenden Rückgriff auf Hegels Grundposition durchaus an Attraktivität
gewinnt.
Auch wenn sich die spät- oder postmoderne Wissenschaftstheorie mit
Kuhn, Feyerabend und anderen von dem uneingeschränkten Optimismus
bezüglich des linearen Fortschritts der Wissenschaft und der wissenschaftli-
chen Philosophie entfernt hat,49 so sind doch auch heute im Zeitgeist wie in der
Philosophie die Grundargumente des logischen Empirismus in einem starken
Maße lebendig, so dass die grundlegenden Vorbehalte gegen ‚metaphysisch in-
spirierte‘ oder ‚apriorische‘ Naturphilosophie geblieben sind, wobei die Be-
gründung jener Vorbehalte zumeist noch immer mit Rückgriff auf die hier
skizzierten Argumente geschieht.50
49 Vgl. hierzu Kaptitel I 2.3.
50 Charakteristisch für weite Teile der aktuellen Diskussion vgl. die kurze Einleitung von A.
Bartels Buch über die Grundprobleme der modernen Naturphilosophie. Dort heißt es: „Philoso-
phen freilich können in der Rolle des Naturphilosophen keine ,höheren‘ systematischen
1. Naturwissenschaft
31
Diese Position, nach der sich die Naturphilosophie in Naturwissenschaft
aufzulösen habe und nach der die Philosophie im Allgemeinen zum einen die
Methoden der empirischen Wissenschaft übernehmen solle und damit zum an-
deren auf ontologische, metaphysische und ethische Aussagen verzichten solle,
sei im Folgenden als ‚Szientismus‘ bezeichnet. Allenfalls zulässig für den Szien-
tismus ist eine materialistische Ontologie, d.h. die skizzierte Fokussierung auf
das empirisch Fassbare und somit auf die ‚Ontologie des Der-Fall-Seins‘.
Jeder Versuch eines Rückgriffs auf Hegels Naturphilosophie muss sich also
mit den hier skizzierten Argumenten des Szientismus auseinandersetzen, wie
dies auch weiter unten geschehen soll, doch muss zuerst auf die religiös-mythi-
sche Einstellung zur Natur eingegangen werden, die dem Weltbild der Wissen-
schaft und des logischen Empirismus radikal entgegengesetzt ist (und die somit
als antiszientistische Position bezeichnet werden soll) und auf die sich einige
neuere Naturphilosophien als Alternativmodell zur Wissenschaft und zur
‚Wissenschaftsgläubigkeit‘ berufen.
Ansprüche geltend machen als Physiker oder Biologen, die sich in dieser Rolle betätigen“, so
dass „Naturphilosophie vernünftigerweise nicht mehr die Absicht verfolgen [kann], ein
geschlossenes ,System der Natur‘ zu erarbeiten, geschweige denn grundlegende Einsichten über
,die Natur‘ zu Tage zu befördern, die eine von den Naturwissenschaften unabhängige Geltung
beanspruchen könnten. Die Vorstellung einer Naturphilosophie als der gegenüber den
Naturwissenschaften tieferen Quelle von Wahrheiten über die Natur ist ebenso eine Illusion wie
die Annahme, Naturphilosophie verfüge über jenen geheimnisvollen Schlüssel, der eine ,Einheit
der Natur‘ erschließe. Ausgeträumt scheint letztlich auch der Traum, Naturphilosophie sei das
ausgezeichnete Unternehmen, das den Geltungsanspruch der Naturwissenschaft begründen
könne. Stattdessen sollte moderne Naturphilosophie sich als angewandte Wissenschaftstheorie
begreifen […]“, A. Bartels (1996), 16. Ferner lehnt er die bei Kanitscheider (1981) vertretene
Idee der ‚Synthese des Wissens‘ in einem einheitlichen ‚Weltbild‘ ab (vgl. Bartels (1996, 17).
Interessant ist, dass in der gesamten Einleitung so gut wie keine Argumente für die oben
versicherten Ansichten präsentiert werden, es ist für Bartels einfach so, dass ‚vernünftigerweise‘
gewisse Träume ‚ausgeträumt‘ seien. Dies zeigt, wie sehr jene tendenziell logisch-empiristische
Position heute common sense geworden ist und um wie dringlicher also eine Auseinander-
setzung mit dem logischen Empirismus und seinen Argumenten ist.
Für eine neue Naturphilosophie, die zwar nicht den Wissenschaften widersprechen solle, die
aber über reine Wissenschaftstheorie hinausgeht, und so die ‚Lücke‘ zwischen Naturwissen-
schaft und Philosophie füllt, spricht sich M. Stöckler (1989) aus: Stöckler sieht, dass oftmals
Naturwissenschaftlern ein Verständnis für philosophische Fragen fehlte (ebenso wie hier ein
Mangel naturwissenschaftlicher Bildung bei den Philosophen zu beklagen sei), und plädiert für
eine Zusammenarbeit und für die Bildung von Institutionen, die diese Zusammenarbeit fördern.
Bemerkenswert ist hingegen die ‚Einführung in die Naturphilosophie‘ von M. Esfeld, der ent-
gegen der gängigen Beschränkung von Naturphilosophie auf Wissenschaftstheorie die Natur-
philosophie wie selbstverständlich zur Ontologie zählt, vgl. M. Esfeld (2002), 7f. Gegen ein
Verständnis der Naturphilosophie als Wissenschaftstheorie und „Wissenschaftswissenschaft“
wendet sich auch M. Drieschner (2002), 11f.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
32
2. Religiös-mythische Naturdeutung und antiszientistische Natur-
philosophie
Als Kontrastmodell zur modernen Naturwissenschaft soll nun sowohl auf
mythisch-religiöse Naturbilder, als auch auf diejenigen Strömungen eingegan-
gen werden, die ihr Natur- und Weltbild als Gegenmodell zur szientistischen
Sicht entworfen haben und die heute unter dem Stichwort ,ganzheitliche An-
sätze‘ zusammengefasst werden. Sie alle versuchen, dasjenige, was aus ihrer
Sicht im szientistischen Weltbild fehlt oder verloren gegangen ist, zu betonen
und (neu) zu begründen. Hierbei kommt das diesen Konzepten zugrunde lie-
gende Naturbild der ‚antiszientistischen‘ Philosophie dem vorwissenschaftli-
chen, religiösen und mythischen Naturbildern sehr nahe und greift oft auch
explizit auf mythisch-religiöse Begriffe zur Naturerklärung zurück.51
Im Folgenden soll versucht werden, die wesentlichen strukturellen Elemente
zu benennen, die jeder nicht naturwissenschaftlichen Sicht der Natur gemein-
sam sind und die sich damit also in vorwissenschaftlichen und in antiszientis-
tischen Konzepten gleichermaßen finden lassen (und die somit jenen Rückgriff
der ‚Antiszientisten‘ erklären).52 Natürlich kann in diesem Kapitel weder eine
Übersicht über die jüngere Geschichte der philosophischen Auseinanderset-
zung mit dem Mythos gegeben werden,53 noch interessieren die inhaltlich oft
51 Eine gute strukturelle Skizze des frühmenschlichen mythischen Naturbildes stellen auch die
kurzen Ausführungen zum Panvitalismus bei Hans Jonas (1997), 25-27, dar, die mit poetischer
Kraft die wesentlichen Merkmale einer vorwissenschaftlichen, mythisch-magischen monisti-
schen Natursicht benennen und vom Paradigma des Mechanismus abgrenzen. Zum vorwissen-
schaftlichen, magisch-mythischen Naturverständnis vgl. auch das entsprechende Kapitel in K.
Gloy (1995), 31-62.
52 Zu den folgenden Ausführung vgl. das gute Übersichtskapitel „Vitalismus, Holismus, New
Age, Ökologie“ in: K. Gloy (1996), Band II (,Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens’),
154-197. Dieser Band behandelt insgesamt alle diejenigen Strömungen (neben den in der zitier-
ten Kapitelüberschrift genannten sind dies die ‚naturmagische Auffassung‘ der Renaissance, die
‚organizisitsche‘ Auffassung Leibniz’ und die Naturphilosophie des Idealismus und der Roman-
tik), die in ihrem „organizistisch-holistischen Naturverständnis“ (vgl. K. Gloy (1997), 7) einen
Gegensatz zu dem wissenschaftlich-technischen Bild darstellen. In jüngerer Zeit ist bei einer
solchen Natursicht vor allem an die Diskussion außerhalb der akademischen Philosophie und an
Autoren wie Lovelock, Capra und die Steiner’sche Schule zu denken, die ebenfalls von Gloy be-
sprochen werden und die offenkundig in religiös-spiritualistischer Sprache operieren.
Für die jüngere Auseinandersetzung in der deutschsprachigen Philosophie mit dem Mythos und
mit dem mythischen Denken vgl. Hübners einschlägiges Buch über die ‚Wahrheit des Mythos‘
(K. Hübner [1985]) und die hilfreichen Einführungen von L. Brisson/Ch. Jamme; für die
gegenwärtige Diskussion vgl. hierbei insbesondere den zweiten Band Ch. Jamme (1991a), siehe
auch Ch. Jamme (1991b).
53 Hübner unterscheidet in seinem Kapitel zur Geschichte der Mythosdeutung drei mögliche
philosophische Einstellungen zum Mythos: eine Betrachtung des Mythos als Vorstufe der phi-
losophischen oder rationalen Wahrheit (dies käme auch der hegelschen Ansicht nahe), dann als
gleichberechtigte Sichtweise neben dem wissenschaftlichen und philosophischen Weltbild und
schließlich eine Betrachtung, die das mythische Denken dem wissenschaftlichen und rational-
2. Religiös-mythische Natursicht
33
sehr unterschiedlichen Ausprägungen der Konzepte und Prinzipien der Natur-
erklärung, sondern es soll herausgestellt werden, inwiefern diese Prinzipien als
nicht-wissenschaftlich oder als antiwissenschaftlich zu charakterisieren sind und
inwiefern somit alle verschiedenen Ausführungen solcher Grundprinzipien zu
einem Typus von Natursicht gehören.
Wenn man versucht, die dargestellten Merkmale der Naturwissenschaft in
ontologischer, ethischer und methodologischer Sicht in ihr genaues Gegenteil
zu übersetzen, so erhält man ein Naturverständnis, das sowohl für viele neue
Ansätze der Naturphilosophie einerseits, als auch für viele vorwissenschaftliche
mythische Konzepte der Weltsicht andererseits charakteristisch ist. In den
nächsten Abschnitten werden die ontologischen (I 2.1.), die ethischen (I 2.2.)
und die methodologischen Aspekte (I 2.3.) jener ,ganzheitlichen‘, mythisch-re-
ligiösen oder antiszientistischen Natursicht in Abgrenzung von dem soeben
skizzierten Wesen der Naturwissenschaft und der szientistischen Philosophie
dargestellt, bevor im nächsten Kapitel beide Natursichten einer Kritik unterzo-
gen werden.
2.1. Ontologische Aspekte der antiszientistischen Naturbetrachtung
Das naturwissenschaftliche Weltbild des Szientismus wurde gekennzeichnet als
materialistisch-immanent‘. Die letzten Elemente und Bausteine des Univer-
sums sind die Materie und eine absichtslose, a-teleologische Kausalität oder
Gesetzmäßigkeit, die, wie erwähnt, mit dem Darwinismus auch die Phänomene
des Lebendigen erklären sollen. Erklärung durch Vereinheitlichung und Reduk-
tion von Komplexität war als Ziel der Wissenschaft beschrieben worden. Im
mythisch-religiösen Weltbild ist die ontologische Hierarchie nun genau entge-
gengesetzt: Das Ganze und Komplexe, die holistische Einheit aller Dinge ist
Paradigma zur Deutung und Erfahrung der Welt, so dass auch das Unbelebte
und Mechanische als lebendig und geistig, als eingeordnet in einem sinnhaften
philosophischen Denken gegenüber für überlegen hält, vgl. K. Hübner (1985), 48-94 und
insbes. 90ff. Im Folgenden verwende ich den Terminus ‚mythische Naturphilosophie‘ als
Gegenbegriff zum Begriff des ‚Rationalen‘ oder des ‚Logischen‘ und bezeichne damit den Ver-
such, gegen die Wissenschaften eine holistische Natursicht zu etablieren, die sich bemüht, eine
Sinngebung für das menschliche Dasein und das kosmische Geschehen in der Natur zu finden,
ohne die Wissenschaften zu integrieren. Ich folge hier den Überlegungen von Jamme, der die
Trennung zwischen Profanem und Heiligem hervorhebt und eine Art ‚Arbeitsteilung‘ zwischen
Rationalität und Mythos feststellt, vgl. Ch. Jamme 1991a, 2f. Mit der Verwendung des Mythi-
schen als Gegenbegriff zum Rationalen und zur Wissenschaft greife ich also auf die moderne
„Mythos-Renaissance“ (Jamme (1991a), 4) zurück, die sich aus der aktuellen Kritik an der Rati-
onalität speist, die aber auch die Forschungsergebnisse der Prähistorie, der Ethnologie und der
Anthropologie aufgearbeitet hat (vgl. ebd.), was die transzendentalphilosophischen Ansätze
eher vernachlässigt haben.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
34
Ganzen begriffen wird. Gemäß dem Diktum, dass die Ursache von etwas
immer mehr oder höher sein muss als die Wirkung, um die Wirkung vollständig
zu erklären, ist hier dasjenige, das am komplexesten und am höchsten ist, die
Ursache von allem.54 Sprachen wir vorhin von einer Reduktion des Komplexen,
so kann hier von einer ‚Komplexion‘ gesprochen werden: im Einfachen und
Gegebenen soll das Komplexe und Unendliche zu finden sein.55 Hübner
bezeichnet in Anlehnung an Hölderlin das „Eine, in sich selbst unterschei-
dende“56 als holistische Grundkategorie des ‚Mythischen‘ und grenzt eine
solche ‚ganzheitliche‘ Natursicht von der analytisch-wissenschaftlichen Welt-
auffassung ab.57 Im gleichen Sinne für die moderne antiwissenschaftliche
Naturphilosophie schreibt Gloy über die ökologisch motivierten Richtungen
einerseits und über den Vitalismus, die New-Age-Bewegung und den Holismus
andererseits, dass diese Strömungen darin übereinkommen,
„daß sie sich als Opponenten zum mechanistischen Denken verstehen und auf
die Gegenbegriffe zur Analyse, Zerstückelung, Kausalität usw., nämlich auf
die Kategorien der Einheit, Ganzheit, Lebendigkeit und Spiritualität, bauen.“58
Doch worin besteht nun genauer betrachtet dieses ‚Höchste‘ und ‚Ganze‘?
Bevor man diese Frage für das mythisch-religiöse Weltbild im Allgemeinen
genauer beantworten kann, muss auf eine spezifische Eigentümlichkeit aller
mythisch-religiösen Naturkonzeptionen eingegangen werden. Von entschei-
dender Bedeutung für eine solche Einstellung ist der ‚Pars-pro-toto‘-Gedanke:
ein einzelner und konkreter Gegenstand in der Natur verkörpert die gesamte
Einheit des Ganzen. Im mythischen Symbol kommen Bezeichnetes und
Bezeichnendes überein, im mythischen Fest wird eine erzählte Geschichte
wieder real nachvollzogen.59 Geschichten und Personifizierung der Naturkräfte
54 Dies entspricht in Abgrenzung vom Atomismus und vom Mechanismus dem platonisch-
aristotelischen Gedanken, dass das zeitliche Spätere und Komplexere das dem Wesen nach
Frühere ist. Vgl. etwa Aristoteles, Metaph., 1028a31ff. Auch Hegels Diktum „Das Wahre ist
das Ganze“ (3.24) steht sicherlich in dieser Tradition des Holismus.
55 Im Endlichen das Unendliche finden zu wollen ist bekanntlich die Parole der Romantiker und
der durch sie inspirierten antimechanistischen Naturphilosophie.
56 K. Hübner (1985), 21ff.
57 Allerdings wird bei dieser Abgrenzung zumeist übersehen, dass auch die Wissenschaften im
Einzelnen etwas Allgemeines (nämlich allgemeine Gesetze und Kräfte) suchen wollen, das in
der Naturwissenschaft dann das Ganze der gesamten Natur ist und im Materialismus zum Gan-
zen allen Seins wird. In dieser formalen Hinsicht kommen also Holismus und Szientismus über -
ein, der Unterschied besteht freilich in der näheren Kennzeichnung des gesuchten Allgemeinen.
58 K. Gloy (1996), 155.
59 Vgl. K. Gloy (2001), 33, und natürlich Cassirers Theorie des mythischen Symbols. Durchaus
in Übereinstimmung mit der Mythosforschung sind die Überlegungen von Thomas Mann zum
Ritual in den Josephs-Romanen, die Joseph seinem Bruder Benjamin mitteilt (T. Mann (1997),
55ff., insbes. 63), in denen auf das ‚Gegenwärtigen‘ einer vergangenen heiligen Handlung durch
das Fest reflektiert wird. Auch die traditionelle Auffassung der Eucharistie in der katholischen
Messe verwendet dieses typisch mythische Denkmuster. Jamme (1991a), 134f., nennt Cassirer,
2. Religiös-mythische Natursicht
35
dienen ferner der strukturierenden Erklärung der Welt und sind ein wesentli-
ches Merkmal mythischer Natursicht.60 Die Natur hat so ein ‚numinoses
Wesen‘ und ist angefüllt von ‚Individuen mit Allgemeinbedeutung‘.61 Dies
heißt, dass für die Welt- und Naturerklärung paradigmatische Erscheinungen
aus der Natur und der Lebenswelt selbst (oder aus einer mit Phantasie angerei-
cherten Vergangenheit) genommen werden, die somit sowohl Erklärung, als
auch Beispiel der Erklärung sind.
Bevor diese konkret-anschauliche Welterklärungsmethode, die im Gegen-
satz zum abstrakten und präzisen Denken der Wissenschaft steht, näher unter-
sucht wird (vgl. Abschnitt I 2.3.), soll hier nur auf folgende Konsequenz dieses
Verbleibens im Anschaulich-Gegebenen für die Ontologie des Antiszientismus
hingewiesen werden. Denn dies bedeutet, dass aus der Vielfalt des sinnlich
Gegebenen beinahe jedes zum letzten allgemeinen Bezugspunkt erhoben wer-
den kann, so dass es eine Pluralität der mythischen Welt- und Naturbilder gibt,
die je spezifisch für eine bestimmte Kultur sind, wohingegen die Wissenschaft
in ihrem Selbstverständnis ein einheitliches und überkulturelles Weltbild für
alle Menschen anstrebt, indem sie die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Ansätze
um das Kontingente reduziert und somit durchaus im hegelschen Sinne ‚auf
den Begriff bringt‘. Insofern lässt sich sagen, dass es idealiter eine Wissenschaft
gibt, dass aber viele mythisch-religiöse Weltbilder möglich sind. Damit lässt
sich aber auch festhalten, dass die hier zu bestimmende Kategorie des ‚Ganzen‘
in keinerlei Hinsicht ein genau definierter Terminus ist. Die mythische Erklä-
rungskategorie ‚des letzten Ganzen‘ ist eine eher anschaulich-konkrete Katego-
rie. Dieses Verbleiben im konkret Gegebenen steht somit sowohl im Gegensatz
zum ‚exakten‘ Begriffssystem der Wissenschaften als auch im Gegensatz zu der
oben beschriebenen Ontologie des ‚sagbaren‘ ‚Der-Fall-Sein‘. Das mythische
Symbol ist immer schon ‚mehr‘ als das konkret Erfahrene.62
Lévi-Strauss, H. Blumenberg und K. Hübner als Vertreter dieses Topos der Instanziierung einer
ewigen, mythischen Zeit in der Gegenwart durch den Kult. Vgl. hierzu aber auch die Überle-
gung von Hegel zur Gegenwärtigkeit des Inhaltes der Religion (18.94ff.).
60 Dass jene spirituellen Deutungen in vorwissenschaftlichen und auch in mittelalterlichen
Weltbildern zu finden sind, ist nur natürlich. Bizarrer ist, dass die gegenüber dem mythischen
Zeitalter noch recht junge Richtung der Theosophie/Anthroposophie von R. Steiner solche Ele-
mente (neben der Anerkenntnis der Wissenschafta) enthält. Aus Perspektive der steinerschen
meditativen Erkenntnisweise „erweisen sich die Naturprozesse als Wirkungen personaler Geis-
ter, Naturgeister oder subpersonaler geistiger Kräfte und die von der […] Naturwissenschaft
postulierten Naturgesetze als Selbstobjektivationen dieser Geister auf physischer Ebene. Ent-
sprechend ist die Erde […] der physische Organismus des Erdgeistes, der in Steiners Theologie
als einer der höchsten Planetengötter identifiziert wird, so dass der praktische Umgang des
Menschen mit der Erde magisch-sakramentalen Charakter gewinnt.“, K. Gloy (1996), 160. Es
ist nicht ganz einzusehen, inwiefern hier von einer echten Anerkenntnis der Wissenschaft mit
ihren ontologischen Prämissen die Rede sein kann.
61 Vgl. K. Hübner (1985), 110f.
62 Ein ähnlicher Gedanke lässt sich allerdings auch an die Wissenschaften herantragen, die in
ihrer Erklärung der Gegenstände ebenfalls auf nicht mehr sinnliche Abstrakta (Naturgesetze)
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
36
Doch impliziert die Tatsache, dass mythisch-religiöses und antiszien-
tistisches Denken nicht mit exakten Begriffen operiert, nicht, dass sich dieser
Denktypus nicht auch mit philosophischen Begriffen rekonstruieren ließe.
Ganz im Gegenteil lassen sich trotz aller Vagheit und Vieldeutigkeit des
Begriffs des ‚Ganzen‘ und trotz der jeweiligen konkreten unterschiedlichen
Ausprägung dieses letzten ‚Absoluten‘ zwei Kategorien benennen, die in jedem
a- oder antiszientistischen Naturbild, wie immer es auch inhaltlich konkret
ausgestaltet ist, zentral zur Geltung kommen, nämlich die Kategorien des
Lebendigen und die des Geistigen bzw. des Geistig-Göttlichen. Das mythisch-
religiöse Weltbild ist somit gekennzeichnet als spirituell-monistisch‘ oder
vitalistisch-monistisch‘.63 So kann der dem Thales zugeschriebene Ausspruch,
nach dem ‚alles voll von Göttern ist‘64 als das Grundcredo mythisch-religiöser
Natursicht gelten, ergänzt um den Ausspruch, dass ebenso ‚alles voll von
Leben ist‘. Lebendigkeit und Geistigkeit werden hier gedeutet als etwas, das aus
sich selbst heraus aktiv ist, teleologisch um seiner selbst willen da ist und für
das die Welt als Mittel (als Nahrung oder Körperteil, als Handlungsschauplatz
und Material) zur Verfügung steht. So kommen anstelle des Prinzips der causa
efficiens das Prinzip des Absichtsvollen, Gewollten und Zweckmäßigen sowie
die Frage nach dem ,Sinn‘ des Ganzen zentral zur Geltung. Im nächsten
Abschnitt (I 2.2.) über die ethische Dimension dieser Natursicht wird hierauf
näher einzugehen sein. Ferner ist der Begriff der organischen oder lebendigen
Ganzheit der Schlüsselbegriff für den Zusammenhang aller Elemente der Welt,
wobei diese ‚organische Ganzheit‘ in der neueren antiszientistischen Natur-
philosophie scharf abgegrenzt wird von einem bloß mechanischen oder physi-
kalischen Zusammenhang.65 Aus dieser Perspektive erscheint die materiali-
stisch-monistische Ontologie der Naturwissenschaften als ‚Ontologie des
Todes‘, in der alles auch das Leben und der Geist66 auf das Tote zurückge-
führt werden soll:
zurückgreifen, worauf noch zurückzukommen sein wird, siehe unten I 3.2.2.
63 Vgl. auch K. Gloy, die ebenfalls „Animismus“ und „Organizität“ als zwei der Grundbestim-
mungen des magisch-mythischen Naturverständnisses hervorhebt, K. Gloy (1995), 45ff.,48ff.
64aalêß Öëqh pánta plërh qeôn eÎnai Aristoteles, De Anima, A5 411a8f.
65 Nicht nur den magischen Religionen und Mythen sind solche Vorstellungen zueigen, auch der
griechischen Naturphilosophie ist die Idee des Kosmos als Lebewesen oder der Gestirne als
‚beseelt‘ nicht fremd, sie finden sich auch in Platons Timaios (30c). Die Welt als Lebewesen zu
deuten ist ferner die Hauptthese des bekannten Buches von J. E. Lovelock (1992). Die Abgren-
zung der lebendigen Einheit vom Mechanismus ist ebenso das Anliegen der Vitalisten gewesen.
Auch in Hegels Konzeption der ‚Idee des Lebens‘ sind Spuren des umfassenden antiken
Lebensbegriff zu finden, vgl. unten II 3.1.2.2. (iii) (3) und vgl. dort II 3.3.1. zum Beginn der
Organik mit der ‚Erde‘.
66 Man denke an die jüngeren populären Überlegungen der Philosophy of Mind, in der mitunter
der Geist (bzw. das Bewusstsein) als ‚Illusion‘ der Materie (des Gehirn) verstanden wird. Zur
aktuellen Diskussion des Bewusstseinsproblems vgl. den Sammelband von T. Metzinger (1996).
2. Religiös-mythische Natursicht
37
„Demnach ist heute der Leichnam der am ehesten verständliche unter den
Zuständen des Körpers. Erst im Tode wird der Leib rätsellos: in ihm kehrt er
von dem rätselhaften und unorthodoxen Benehmen der Lebendigkeit zu dem
eindeutigen und ‚vertrauten‘ Zustand eines Körpers innerhalb der gesamten
rperwelt zurück, deren allgemeine Gesetze der Kanon aller Begreifbarkeit
sind. Die des organischen Körpers diesem Kanon anzunähern, also in diesem
Sinne die Grenzen zwischen Leben und Tod zu verwischen; vom Tode, vom
Zustand des Leichnams her den Wesensunterschied aufzuheben, ist die Rich-
tung des modernen Nachdenkens über das Leben als weltlichen Tatbestand.
Unser Denken heute steht unter der ontologischen Dominanz des Todes.“67
Gegenüber einem so gedeuteten Materialismus erheben sich die Vertreter der
schon genannten neuen Naturkonzepte und versuchen, wie im mythischen
Weltbild, so auch in einer modernen philosophischen Sicht der Natur, die
Aspekte des Geistigen und Lebendigen wiederzugewinnen, wobei Geist und
Leben als irreduzible und substanzielle Kategorien gelten, auf die die Vielheit
der Welt zurückgeführt werden soll und die in allen Dingen präsent und wirk-
sam sind. Aus dieser Perspektive ist eine tote, absichtslose Materie nicht
vorhanden, oder sie ist als ontologisch defizient zu verstehen, da sie ihre Erklä-
rung erst durch die lebendigen und geistigen Prinzipien gewinnt.
Folgende Überlegung macht hierbei den Gegensatz zum Szientismus
besonders deutlich: Während der mechanistische Materialismus dazu neigt, die
kleinsten Bausteine der Welt als ‚eigentlich seiend‘ anzusehen, wohingegen
Geist bzw. Bewusstsein nur eine untergeordnete ‚epiphänomenale‘ Seinsweise
haben mögen, ‚in Wirklichkeit‘ aber ‚eigentlich nur‘ Materie sind, so wird sich
dies in einer religiös-mythischen Weltsicht genau umgekehrt darstellen. In
einer solchen Ontologie kann die physikalische Wirklichkeit die die einzige
Wirklichkeit des szientistischen Materialismus ist nur eine, ja sogar nur eine
schattenhafte und defiziente Welt sein, die ihre Begründung, ihr Sein und ihren
Sinn erst durch eine übergeordnete, ‚göttliche‘ Sphäre erhält. Ebenso gilt auch
der menschliche Geist, d.h. die Seele, hier oftmals als die eigentliche unsterbli-
che Substanz, während der Körper und das Materielle als Endliches und Physi-
kalisches im modernen Sinne des Wortes keine Wahrheit und kein ‚eigentliches,
selbständiges Sein‘ haben.68 Das Deutungsverhältnis vom Ganzen auf das Ein-
zelne geht also hier ebenso wie im umgekehrten Fall des Atomismus und Me-
chanismus mit einer ontologischen Aufwertung desjenigen Bereiches einher,
der den anderen erklären soll.69 Damit ist aber auch gesagt, dass diese Natur-
67 H. Jonas (1997), 30f.
68 Vgl. hierzu das schon zitierte Kapitel zum ‚Panvitalismus‘ der Frühzeit in H. Jonas (1997),
25ff. Während angesichts der Dominanz des Todes das Leben ein Rätsel ist, das dem Tode ange-
glichen werden muss, so ist nach Jonas hier der Tod das Rätsel, der dem Leben und zwar als
Übergang in ein anderes Leben angeglichen werden muss.
69 Interessant ist das Zitat von A. Meyer-Abich bei Gloy (1996), 157, in dem dieser vorschlägt,
die Gesetze der Mechanik aus denen der Organik (und nicht umgekehrt) abzuleiten, so dass er
also vom Ganzen und Komplexen zum Untergeordneten gelangen will, wobei die Kulturwissen-
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
38
sicht eine Transzendenz anstrebt, die nicht in den Wissenschaften zu finden
oder zu suchen ist. Für unsere Darstellung ist eine genauere Analyse der
verschiedenen religiösen Konzepte des Göttlichen oder ‚Jenseitigen‘ nicht
weiter nötig, denn es ist hinreichend, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
mythisch-religiöse Sicht in ontologischer Hinsicht die physikalische Natur als
Teil einer Welt sieht, die wesentlich durch nicht-physikalische Kategorien (im mo-
dernen Sinne des Wortes) bestimmt ist, wobei sie diese nicht immanente oder
nicht genetisch-kausale Erklärung als letzte und umfassende Erklärung
versteht, die auch die religiösen und philosophischen Fragen zu beantworten
beansprucht. In diesem holistischen Anspruch zeigt sich eine formale Ähnlich-
keit mit der szientistischen Philosophie des Positivismus (nicht notwendig mit
der Wissenschaft selbst), die ihrerseits den wissenschaftlichen Ansatz als letzte
Antwort auf alle metaphysischen Fragen versteht und die jenseits der naturwis-
senschaftlichen Fragen keine Fragen als legitime Fragen anerkennt.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so lässt sich mit Hegel der grundsätzli-
che Unterschied zwischen mythisch-religiöser Sicht und naturwissenschaftli-
cher Sicht als Unterschied des ‚endlichen‘ und des ‚unendlichen‘ Standpunkts
bezeichnen: Während die Grundkategorien des Szientismus Kategorien des
Endlichen oder des Relationalen sind (Ursache-Wirkungsverhältnisse, Erklä-
rung der Welt aus den räumlich-zeitlichen Bestandteilen, Verzicht auf teleolo-
gische und ethische Annahmen), zielt die mythische Betrachtung auf etwas
‚Absolutes‘ oder ‚Göttliches‘: Substantialität, Ganzheit und Einheit sind die
zentralen Kategorien. Somit ist also eine Erklärung von ‚oben nach unten‘, vom
‚Ziel‘ und ‚Sinn‘ her zu den Teilen und Elementen, kennzeichnend für dieses
Weltbild, wie eine Erklärung ‚von unten her‘ für den Szientismus kennzeich-
nend ist. Arbeitet die Wissenschaft mit einer exakten Sprache, so operiert das
mythisch-religiöse Denken im Medium der Vorstellung und der Anschaulich-
keit (vgl. unten I 2.3). Lässt die Wissenschaft die normativen Fragen offen,
erklärt aber das faktische Geschehen, versuchen die Mythen und Religionen die
Natur auch bzw. vornehmlich auf Sinn, Wert und Absicht zu deuten. Dieser
ethische Aspekt soll nun untersucht werden.
schaft in der Konzeption von Meyer-Abich der höchste und alles umfassende Bereich ist. Im
ähnlichen Sinne als Erklärung ‚von oben nach unten‘ ist die Debatte um das ‚starke anthropische
Prinzip‘ zu verstehen.
2. Religiös-mythische Natursicht
39
2.2. Ethische Aspekte der antiszientistischen Naturbetrachtung
Man kann in ethischer Hinsicht den Gegensatz der beiden Naturkonzepte auch
als Gegensatz zwischen dem Geist und dem Leben als Bereich des Normativen
(dasjenige, das um seiner selbst Willen da ist, das etwas bestrebt, Ziele und
Zwecke setzt und verfolgt, aktiv ist) und dem Bereich des Materiellen und Fak-
tischen (etwas, das ist, was es ist, das passiv und ohne Absicht ist, ohne Wert
und Wertsetzung ist) interpretieren. Während die szientistische Philosophie
des logischen Empirismus die materielle Faktizität als zentral erachtet, enthält
hier der ‚primäre‘ Seinsbereich nicht nur die ‚quantitativ-objektiven‘ Eigen-
schaften, sondern, wie bereits geschildert, wesentlich auch normative Momen-
te: Schönheit und Harmonie, Güte der Götter und des Alls (oder eines hinter
der Natur liegenden Prinzips) sollen in der Natur ihren Ausdruck finden. Für
das mythische Weltbild ist ein Empfinden der Schönheit und Harmonie, aber
auch der Gefährlichkeit der Natur von großer Bedeutung, während eine wis-
senschaftliche Analyse natürlich von solchen Attributen absieht.70
Mittelalterliche Biologie hingegen etwa sieht in jeder Anpassung, in jedem
Tier eine Allegorie für Gottes Allmacht und Güte, die alles am zweckmäßigs-
ten eingerichtet hat, und gerade diese Form der religiösen Haltung dem
Kosmos gegenüber ist für die Auseinandersetzungen der Kirche sowohl mit
dem Mechanismus als auch mit dem Darwinismus von entscheidender Bedeu-
tung gewesen, da das religiöse Empfinden in diesen immanentistischen Ansät-
zen Wege zur Entgötterung des Kosmos sah.71 Demgegenüber ist sowohl bei
Platon und Aristoteles als auch im Christentum die Güte Gottes der letzte
Seinsgrund der Natur.72 Im christlichen Anthropozentrismus gipfelt dies in der
Vorstellung, dass die gesamte Welt um des Menschen willen da ist. Diese ethi-
sche Bewertung geht einher mit Konsequenzen für das ontologische Bild: Weil
der Mensch ethisch einzigartig zu bewerten sei, sei er faktisch in einem geson-
derten Akt direkt von Gott geschaffen, weil die lebendige Welt das normative
70 Es sei erneut an die Trennung von Profanem und Heiligem erinnert, die Jamme hervorhebt,
vgl. Ch. Jamme (1991b) insbes. Kapitel III. Jamme betont, dass der Mythos ein anderer Typus
von Vernunft sei als das instrumentelle Denken, und ihm ist zuzugeben, dass das Mythische
oder das Religiöse (neben der philosophischen Ethik, die aber bei Weitem nicht dieselbe Wir k-
mächtigkeit besitzt) die Bereiche sind, in denen auch im Zeitalter der Wissenschaft die Wertra-
tionalität konserviert ist.
71 Die Wissenschaft (und insbesondere die Naturwissenschaft) ist der Motor der ‚Säkularisie-
rung‘ und der ‚Entzauberung der Welt‘, wie Blumenberg und Weber feststellen. Die Wissen-
schaft setzt hierbei natürlich die Tendenz der Aufklärung einer Überwindung des bloß religiö-
sen Weltbildes hin zu einem rationalen Weltbild fort, ist aber anders als die Aufklärungsbewe-
gung zu Beginn entschieden materialistischer, da die Frage nach dem Materiellen nun einmal
ihr wesentliches Gebiet ist.
72 Auf die Frage, warum Gott die Welt schuf, antwortet Timaios in Platons Dialog: ˜gatòß Ên
(29e). Die These, dass die Welt nicht gut sei, wird in diesem Dialog für derartig frevelhaft
gehalten, dass sie nicht einmal ausgesprochen wird (ebd.).
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
4a
‚Ziel‘ des Kosmos sei, sei sie auch faktisch-räumlich als ihr Mittelpunkt anzu-
sehen. Dies sind nur zwei Beispiele von ontologischen Annahmen, denen ein
ethisches Empfinden zugrunde liegt, die aber in ihrer Struktur für mythisch-re-
ligiöses Denken kennzeichnend sind. So wie Wunder und Zeichen für eine der-
artige Denkhaltung der ontologische Beweis für eine normativ ausgezeichnete
Person sind, müssen sich alle normativen Aussagen in ontologische umwandeln
lassen und muss sich das Normative im Faktischen zeigen.73 Dies widerspricht
dem, was im Idealfall Gegenstandsbereich der Wissenschaften ist, die im
Wesentlichen wertfrei von ihren Gegenständen zu handeln bestrebt sind. Hier
wird allerdings wiederum der unendliche Kosmos, in dem Lebendigkeit nur
eine Ausnahme und Randerscheinung zu sein scheint, in dem der Mensch also
gleichsam geographisch aus seiner ‚zentralen Stellung‘ gerückt wurde, zum
Symbol eines auch ethisch leeren Kosmos. Somit wird also auch hier aus der on-
tologischen Stellung der Erde und des Menschen im materialistischen Sinne
eine normative Konsequenz gezogen.74 Gerade deswegen sieht der mythisch-
religiöse Mensch in einer a-teleologischen, kausalen Erklärung eine Zerstörung
auch der ethischen Dimension seines Weltbildes, da diese Bereiche in beiden
Natursichten direkt miteinander verknüpft sind. Auch aus der aktuellen wis-
senschaftskritischen Diskussion lassen sich radikale Zitate finden, die ver-
suchen, diesen Zusammenhang zwischen ethischem Handeln und szientisti-
schem Naturbild zu beschreiben:
„Der heutige Himmel läßt sogar zu, daß Milchstraßen und Sterne aus ihren
eigenen Kräften explodieren. Kein Wunder, daß das auch mit ganzen Gesell-
schaften geschehen kann. Hitlers Gasöfen sind das moralische Gegenstück zu
einem Neutronenstern in einem Sternensystem, das einmal Leben in sich
schloß. [...] Wofür soll man denn leben, wenn die Sterne nicht mehr für uns
sorgen? Warum sollten wir überhaupt versuchen uns anständig zu verhalten,
wenn sich Nacht für Nacht ein so rücksichtsloser Verbrecher über uns aus-
breitet?“75
73 In Parallele zum naturalistischen Fehlschluss, bei dem vom Sein auf das Sollen geschlossen
wird, könnte man hier vom deontologischen Fehlschluss sprechen: Das Sein soll das Sollen direkt
widerspiegeln und wird entsprechend interpretiert.
74 Die neuere Astrologie macht allerdings immer mehr faszinierende Entdeckungen, die einen
unmittelbaren Zusammenhang zwischen entfernten kosmischen Ereignissen und dem Leben auf
der Erde herstellen. H. v. Ditfurth will hieraus gar ein neues kosmisches Gefühl gewinnen, das
dem Monod’schen Zigeunertum entgegengesetzt ist, vgl. H. v. Ditfurth (1982).
75 M. Grossinger (1988), 126. Dass ,Hitlers Gasöfen‘ auch etwas mit dem Zusammenbruch der
aufklärerischen ethischen Vernunft und der Wiederbelebung eines barbarischen germanischen
Mythos, der gegen die ‚humane Vernunft‘ gestellt wird, zu tun hat, scheint diesen Kritiken
zumeist zu entgehen. Auf diesen Zusammenhang weist in Anknüpfung an Habermas (1986,
249) auch Gloy bei der Besprechung des ‚Anderen der Vernunft‘ hin: Mit der Ablehnung des
Rationalen und der Verherrlichung des Irrationalen „[geht] [n]icht selten […] die Verherrli-
chung von Gewalt, die heimliche oder offene Bewunderung des Abnormen, Anormalen, Ex-
zentrischen einher, die sich gleicherweise auf den ästhetischen Bereich, auf das an keine Regeln
gebundene Genie, erstreckt wie auf den politischen und sozialen, auf den ‚Übermenschen‘
2. Religiös-mythische Natursicht
41
Im Gegensatz zu dieser materialistisch-nihilistischen Weltsicht, die ver-
meintlich aus der wissenschaftlichen Natursicht folgen soll (oder gefolgert
wird), erlaubt natürlich die mythisch-religiöse Natursicht eine ‚Orientierung‘
und ‚Beheimatung‘ des Menschen in der Natur, da hinter oder in der Natur
sinnhafte Strukturen gesehen werden, die dem Geist verwandt sind und die mit
seinen Begriffen erfasst werden nnen. Sich nicht als ‚Zigeuner am Rande des
Universums‘76 fühlen zu müssen, sondern als geborgen in einem geordneten
Kosmos, kommt sicherlich dem Sinnbedürfnis des Menschen entgegen und
hierin liegt die Anziehungskraft, die solche religiös-mythische Weltsichten
auch in nach-aufklärerischen Zeiten auf den Menschen haben, selbst wenn sie
weitaus schlechter begründet (ja oft sogar offen antirational) sind als ein gut
methodisch abgesichertes Weltbild, das die so genannten existentiellen Fragen
ausspart oder düster‘ zu beantworten scheint.77 Mit der Kategorie des Göttli-
chen oder des Heiligen, mit der Integration solcher Konzepte wie Schönheit
und Absicht als Erklärungsprinzipien für die Welt können solche Naturbilder
auch über ein ethisches Empfinden der Natur gegenüber verfügen, indem die Welt
als heilige oder von Gott oder Göttern beseelte naturgemäß einen anderen
Rahmen für Empfindungen und Handlungen dem Natürlichen gegenüber setzt,
als es das materialistische Paradigma tut. Während für letzteres sich die Frage
nach dem, was getan werden soll (oder darf), zumeist auf die Frage reduziert,
was technisch getan werden kann, setzt ein nicht-materialistisches Weltbild, das
einen intrinsischen Wert der Natur annimmt, dem Machbaren Schranken.
Dementsprechend ist hier nicht die Technik, sondern die Magie das praktische
Pendant zur theoretischen Einstellung. Der Magier will zwar auch praktischen
Einfluss auf das Naturgeschehen nehmen, er geht aber hierbei von der Selb-
ständigkeit der Kräfte und des Wesens der Natur aus, die nicht zu beherrschen,
sondern nur zu beschwören sind.78 Ein derartiges Eingreifen in die Natur, wie
es wesentlich für die moderne westliche Technik ist, ist in einer solchen Men-
talität undenkbar. In der Tat lässt dagegen eine Ontologie des ‚Der -Fall-Seins‘
die Vorstellungen eines intrinsischen Wertes der Natur nicht mehr zu, da in ihr
Nietzescher Provenienz, auf die faschistischen Führer dieses Jahrhunderts, auf Revolutionäre,
Aufrührer und Chaoten.“, K. Gloy (2001), 16.
76 Vgl. J. Monod (1970), 211.
77 Diese Spannung zwischen tendenziell moralisch-nihilistischer Wissenschaft und sinngebender
Mythik ist in jüngerer Zeit immer wieder auch Thema der Kunst und der Literatur. So ist dieser
Gegensatz als Widerspruch zwischen kalter, sezierender Vernunft und dem lebendigen Ich eines
der Hauptmotive des Expressionismus. Man denke in der jüngeren Literatur zu dieser Spannung
an so eindrucksvolle Werke wie Homo Faber von Max Frisch und Cees Notebooms Die fol-
gende Geschichte, die jeweils das Aufeinandertreffen mythisch-religiöser Sicht und nüchterner,
moderner Wissenschaftlichkeit (freilich eine im Sinne des Szientismus verkürzte Wissenschaft-
lichkeit) schildern. Auch in Heideggers Schrift Die Frage nach der Technik taucht dieser Gegen-
satz als Gegensatz des Rheines, wie er in ein Kraftwerk ‚verbaut‘ ist, und wie er in Hölderlins
Gedichten erscheint, auf, vgl. M. Heidegger (2000), 16f.
78 Zum Wesen der Magie und zum Zusammenhang von mythischem Denken und Magie vgl. K.
Hübner (1986), 344ff.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
42
Wertungen als subjektive Zusätze zu einer objektiv wertfreien Welt verstanden
werden müssen. Ohne Zweifel ist der Verlust der mythisch-religiösen Katego-
rie des ‚Heiligen‘ mit einer der Gründe für die ungehemmte Naturzerstörung,
wie Hans Jonas bemerkt.
79 G. Picht schreibt in seinen Überlegungen zum my-
thischen Denken im selben Sinne, dass der Schändung der Landschaft die
Schändung der Tempel und Götter vorausgehe.80 Dass die nichtwissenschaftli-
chen Naturbilder über solche Kategorien verfügen, ist für manche Intellektu-
elle der Gegenwart angesichts der aktuellen ökologischen Bedrohung, die die
Technik mit sich bringt, ein Punkt, der jene vorwissenschaftlichen Sichtweisen
wieder reizvoll zu machen scheint.
Zusammenfassend lässt sich das Verhältnis der wissenschaftlichen und der
vor- bzw. antiwissenschaftlichen Sicht in ethischer Hinsicht also wie folgt
charakterisieren: Wurde oben die Naturwissenschaft als paradigmatisch für den
Begriff des ,Erklärens‘ skizzier (die Warum-Frage als Frage der zeitlich-kausal-
en Genese), so steht für das mythisch-religiöse Naturbild und für die antiszien-
tistische Philosophie folgende Frage im Zentrum: ,Wozu gibt es x?’ bzw.
,Welchen Sinn hat x, welchen Platz im Ganzen hat x?‘. Diese Frage nach einem
normativen Zusammenhang kann aber als Frage des ‚Verstehens‘ identifiziert
werden. So liegt es nahe, den sonst für die Grenzziehung zwischen Naturwis-
senschaft und Geisteswissenschaft benutzten Gegensatz von ‚Erklären und
Verstehen‘ auf das Verhältnis zur Natur selbst anzuwenden. Diese kann nach der
ersten Sicht nur erklärt werden, nach der zweiten nur verstanden. Genauer aus-
gedrückt: Die Erklärung der Natur im Sinne der szientistischen Naturphilo-
sophie beansprucht, diese auch verstanden zu haben, während sich die verste-
hende Herangehensweise als über der bloß erklärenden erhaben wähnt.
2.3. Methodologische Aspekte der antiszientistischen Naturbetrachtung
Methodologisch lässt sich der Unterschied beider Sichten als Unterschied
zwischen einer intuitiven Zugangsweise einerseits und einem Zugang zur Natur
mit wissenschaftlicher Rationalität andererseits charakterisieren. Ist für die
Naturwissenschaften hierbei, wie beschrieben, genauer eine an der Empirie und
an der Logik geschulte Rationalität der Ausgangspunkt, so steht für die hier
skizzierten Weltsichten eher das Gefühl und die Anschauung im Mittelpunkt,
sei es, weil jene Positionen eher im voraufklärerischen Zeitalter zu finden sind,
sei es, weil sie sich nach der Aufklärung und der Wissenschaftlichkeit in Kon-
kurrenz zur Vernunft setzen müssen. Das Suchen der Unendlichkeit der Ro-
mantiker geht mit einer Skepsis der Vernunft gegenüber genauso einher, wie
79 Vgl. H. Jonas (1984), 57.
80 Vgl. G. Picht (1986), 488.
2. Religiös-mythische Natursicht
43
die neuere Naturphilosophie oft versucht, ihr Weltbild ausgehend von einer
Kritik der wissenschaftlichen Rationalität oder von Rationalität überhaupt zu
errichten.81 In diesem Sinne schreibt Gloy einleitend zur schon zitierten Dar-
stellung der Geschichte des ‚ganzheitlichen‘ Denkens, dass es
„sich versteht […], daß der Erkenntnistypus, der sich auf ein organisches
Ganzes bezieht, von anderer Art sein muß als der konstruktive, analytisch-
synthetische, der sich auf das mechanistische Konzept bezieht. Es steht zu
vermuten, daß für den ersteren, den holistischen Typus, jene diskreditierten
und verdrängten Vermögen wie Anschauung, Phantasie, Gefühl, Stimmung,
Befindlichkeit, sogar Leiblichkeit und Praxis in Betracht kommen und eine
Aufwertung erfahren.“82
Wissenschaftliches (und übrigens auch philosophisches) Vorgehen ist im We-
sentlichen gekennzeichnet durch das Bemühen um eine exakte Sprache (die an
Logik und Mathematik als exakten Wissenschaften zu orientieren ist, wie dies
oben geschildert wurde). Hier nun erscheint die bildliche und metaphorische
Sprache als typisch für die mythische Natursicht, und in dem Verzicht auf
abstrakte Begriffe, die im Sinne eines mit dem Empirismus geteilten Realismus
ja nicht die Sache selbst sind, sondern nur ‚graue Theorie‘,83 wird oftmals ein
Vorteil jener nichtwissenschaftlichen Sicht der Natur gesehen, die so näher an
der Wirklichkeit sei, als die durch das abstrakte Denken hervorgebrachte Theo-
rie. So schreibt Gloy, dass
81 So setzt das Buch von Hübner über den Mythos, in dem dieser für eine ‚sachliche
Auseinandersetzung mit dem Mythos‘ plädiert, seine Kritik der wissenschaftlichen Vernunft
(1979) voraus. Hübner argumentiert in seinem Mythos-Buch, dass die apriorisch-ontologischen
Voraussetzungen der Wissenschaft, wie sie bei Newton und Descartes zu finden sind und die in
der christlichen Gottesvorstellung ihre Wurzeln haben, historisch fragwürdig geworden seien.
Er verweist ebenfalls auf die neuere Wissenschaftstheorie und auf den Methodenpluralismus
von Feyerabend, vgl. K. Hübner (1986), 30ff. Auch K. Gloy setzt sich, nachdem sie sich in
ihrer zitierten zweibändigen Abhandlung dem Verständnis der Natur widmete, mit dem
‚Anderen der Vernunft‘ (2001) und mit der Methode der ‚Analogie‘ (Gloy/Bachmann [2000])
als Alternative zum traditionellen Vernunftbegriff auseinander.
82 K. Gloy (1996), 8. Diese Tendenz ist sicherlich auch ein Grund, warum in der jüngeren De-
batte zur Naturphilosophie eher auf Schelling als auf Hegel zurückgegriffen wird, da für diesen
nicht die Reflexion und die Vernunft, sondern die intellektuelle Anschauung das höhere Er-
kenntnismittel ist. Allerdings schreibt auch Hegel, dass die Verstandesbetrachtungen die Einheit
der Natur „zersplittern, zerreißen“, Vorlesung (1821/22), 4. Doch ist für Hegel die Vernunft
die versöhnende Kraft, nicht die Anschauung oder das Gefühl, vgl. ebd. und vgl. unten Kapitel I
3.2. und II 1.1.
83 So beschreibt Hegel poetisch das Verlustgefühl des theoretischen Denkers zu Beginn der
Naturphilosophie in der Enzyklopädie: „Je mehr des Denkens in der Vorstellung wird, desto
mehr verschwindet von der Natürlichkeit, Einzelheit und Unmittelbarkeit der Dinge: durch den
sich eindrängenden Gedanken verarmt der Reichtum der unendlich vielgestalteten Natur, ihre
Frühlinge ersterben, ihre Farbenspiele verblassen. Was in der Natur von Leben rauscht, ver-
stummt in der Stille des Gedankens; ihre warme Fülle, die in tausendfältig anziehenden Wun-
dern sich gestaltet, verdorrt in trockene Formen und zu gestaltlosen Allgemeinheiten, die einem
trüben nördlichen Nebel gleichen.“, 9. 16.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
44
„der Mythos unmittelbar auf die Wirklichkeit bezogen ist, der Logos mittel-
bar. Während der Mythos in Bildern, Vergleichen, Parabeln und unter Ver-
wendung von Götter- und Heroengeschichten, die als Vorbilder der Men-
schenwelt und ihrer Ordnung fungieren, ein unmittelbarer anschaulicher Spie-
gel der Wirklichkeit ist, ist der philosophisch-wissenschaftliche Diskurs auf-
grund seiner Begriffskonstruktionen ein mittelbares Erklärungsmodell.“ 84
Etwas später heißt es:
„Während der Mythos die Fülle der Wirklichkeit mit ihren heterogenen, anta-
gonistischen Tendenzen, Kräften und Mächten, ihren latenten oder evidenten
Widersprüchen unmittelbar einfängt und wiedergibt, versucht der rektifizie-
rende Logos eine reduktionistische Wiedergabe durch ein konsistentes und
kohärentes Relationssystem, das er wie ein Gradnetz der Wirklichkeit über-
stülpt, um diese einzufangen und auf Klarheit und Präzision hin festzule-
gen.“85
Mythische und bildliche Weltbeschreibung wird hier also der begrifflichen vor-
gezogen. Diese Kritik am Begrifflichen, nach der der Logos ein nur ‚abkünfti-
ges‘ (also nicht unmittelbares oder ‚ursprüngliches‘) Mittel der Welterschlie-
ßung ist, geht in dieser Fassung zurück auf Heideggers Überlegungen zum
Logos in Sein und Zeit,86 der selbst wiederum an die Tradition der Abwertung
der Vernunft in der deutschen Philosophie nach Hegels Tod anknüpfen kann,
wie sie durch Schopenhauers Unterordnung der Vernunft unter den Willen
über Nietzsches Kritik des Apollinisch-Vernünftigen bis zu Adornos Analysen
in die postmoderne Gegenwart reicht. Steht die wissenschaftliche Naturphilo-
sophie bzw. die Wissenschaftstheorie, wie beschrieben, dagegen durchaus noch
in der Tradition der Aufklärung und damit in der Tradition der positiven
Bewertung der Vernunft, der eine Erkenntnis der wirklichen Strukturen der
Welt zugetraut wird, so berufen sich Philosophen, die im Sinne oder unter
Rückgriff auf natur-mythische Vorstellungen ein neues Naturbild etablieren
möchten, somit auf die Postmoderne und ihre Vernunftkritik. Interessant ist
bei diesen Traditionsunterschieden aber, dass beide Richtungen gemeinsam
d.h. die szientistische und die antiszientistische Naturphilosophie die Prä-
misse teilen, dass eine logische, ‚vernünftige‘ Herangehensweise an die Natur not-
wendig zum wissenschaftlichen ad.h. zu einer Art materialistisch-mechanistischen)
Weltbild führt, in dem die Natur als solche ohne Hinzunahme ethischer oder
religiöser Kategorien vollständig erfassbar ist. Unterschiede bestehen freilich in
der Bewertung dieses Weltbildes und damit einhergehend in der Bewertung der
Vernunft. So übernimmt die wissenschaftstreue Philosophie zumeist den Fort-
schrittsoptimismus der Aufklärung, die im Schritt vom Mythos zum Logos einen
Durchbruch sieht und dabei auf die Gefahren des Mythischen und der Religion
84 K. Gloy (2001), 32.
85 K. Gloy (2001), 33.
86 Vgl. M. Heidegger (1993), 253ff., 213ff. zur ‚Abkünftigkeit‘ des traditionellen Wahrheitsbeg-
riffs und der theoretischen Einstellung.
2. Religiös-mythische Natursicht
45
verweist, während die eher antiszientistische Philosophie geprägt ist von
denjenigen philosophischen Strömungen, die wie Heidegger, einen Verfall in
der Geschichte des Denkens sehen, da dieses in seiner Ausrichtung zum
abstrakten, wissenschaftlichen Denken die Kräfte und Möglichkeiten des
Mythischen verliere.87 (Natur)-wissenschaftliche Erkenntnis wird in dieser Per-
spektive nur zu einer möglichen Weltsicht, nicht zur Wahrheit an sich. In
dieser Relativierung des Wahrheitsanspruchs der Wissenschaften kommen un-
terschiedlichste Strömungen überein. Bemerkenswert ist, dass hierbei auch die
ursprünglich einem realistischen Wissenschaftsverständnis verpflichtete Wis-
senschaftstheorie, die historisch an den logischen Empirismus anknüpft, sich
zu einer eher skeptisch zu nennenden Haltung entwickelt hat. Die ‚New
Theory of Science‘ unterscheidet sich vom Ansatz des Wiener Kreises haupt-
sächlich darin, dass sie nicht mehr von einem starken empirischen Realismus
ausgeht. Die Theoriedurchdrungenheit des wissenschaftlichen Ansatzes lässt
das Programm der ‚Verifizierung‘ fragwürdig erscheinen und legt eher kon-
struktivistische oder pragmatische Konzeptionen nahe. Ohne dass auf diese
Entwicklung hier näher eingegangen werden kann, so lässt sich doch festhalten,
dass zwar nicht ein Abrücken von der wissenschaftlich-analytischen Methode
festzustellen ist, dass aber ein Abrücken vom emphatisch-realistischen Ver-
ständnis der Wissenschaft heute in der Wissenschaftstheorie alles andere als
ungewöhnlich ist.88 Eine solche Abschwächung des Wahrheitsanspruchs
87 Das Heer der Philosophen, die sich in der Vernunftkritik betätigen, ist beinahe unüberscha u-
bar. Kritik der ‚einen Vernunft‘ kann als kleinster gemeinsamer Nenner beinahe der gesamten
europäischen post- und spätmodernen Philosophie gelten, mit Ausnahme freilich der Rehabili-
tierungsversuche der Vernunft der Diskursethik um Habermas und Apel sowie der
Letztbegründungsansätze bei Apel, Hösle und Kuhlmann. Bemerkenswert ist ferner der Ansatz
der ‚transversalen Vernunft‘ von W. Welsch (1995), (1997), 295ff. der den Versuch darstellen
soll, inmitten der Vernunftkritik ein positives Verständnis der Vernunft zu verteidigen, ohne die
teils berechtigte Vernunftkritik zu ignorieren. Hilfreich ist ferner die einleitende Übersicht der
Typen der Vernunftkritik bei Gloy (2001), 10-21, die Ähnlichkeiten zu den glichen Stellun-
gen zum Mythischen, die Hübner bespricht (vgl. oben Anmerkung 53), aufweist: Interessant ist
hier die Einteilung der Gegner der Vernunft in diejenigen, die die Vernunft durch ‚niedrigere‘
Vermögen entlarven (oder ersetzen) wollen (durch den Willen, das Unterbewusste, materialisti-
sche Interessen etc.), und diejenigen, die die Vernunft einer ‚höheren‘ Wahrheitsquelle (der
mythischen Intuition, der religiösen Offenbarung oder der ästhetischen Erfahrung) unterord-
nen, vgl. K. Gloy (2001), 16-21. Darüber hinaus nennt sie noch die Kritiker, die auf einen Be-
reich abzielen, der neben der Vernunft und nicht über oder unter ihr Erkenntnisquelle sei.
Eine ausführliche Darstellung und Diskussion der unterschiedlichen Richtungen und Strömun-
gen der Vernunftkritik kann hier natürlich nicht geleistet werden, umfassend hierzu vgl. erneut
W. Welsch (1995).
88 Vgl. die kurze Skizze der Entwicklung der Wissenschaftstheorie zu Beginn von Agazzis
Versuch eines Ansatzes zu einer neuen Naturphilosophie: E. Agazzi (2001), 3-7. Besonders
prägnant und pointiert kommt die Wissenschaftskritik in dem bekannten und provokanten
Buch von P. Feyerabend (1976) zum Ausdruck, der dafür plädiert, nach der Trennung von Staat
und Kirche nun auch die Trennung von Staat und Wissenschaft zu vollziehen, vgl. P. Feyera-
bend (1976), 392ff. Die Wissenschaft stünde dem Mythos näher als sie glaube und habe so wie
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
46
kommt aber vielen neuen Ansätzen, die ein alternatives Naturbild gegen das
Bild der Naturwissenschaft etablieren wollen, entgegen. In einem solchen Plu-
ralismus soll das naturwissenschaftliche Weltbild als eine Erfahrungsweise der
Natur neben (oder unter) anderen betrachtet werden. So schreibt schon
Heidegger in Sein und Zeit:
„Diesem Naturentdecken [d.h. dem naturwissenschaftlichen Ansatz, C.S.]
bleibt aber auch die Natur als das, was ‚webt und strebt‘, uns überfällt, als
Landschaft gefangen nimmt, verborgen. Die Pflanzen des Botanikers sind
nicht Blumen am Rain, das geographisch fixierte ‚Entspringen‘ eines Flusses
ist nicht die ‚Quelle im Grund‘.“89
Von Heidegger stammt darüber hinaus aber noch ein weiteres Argument gegen
das Naturbild der Wissenschaft, das in seiner bekannten Schrift Die Frage nach
der Technik entfaltet wird und das zeigen soll, inwiefern die wissenschaftliche
Natursicht nicht eine gleichberechtigte Sicht der Natur unter anderen, sondern
eine defiziente ist: Naturwissenschaft „stellt“ Natur und betrachtet sie nur dar-
aufhin, wie sie technisch verfügbar zu machen ist.90 Kausalität ist deswegen
auch nach Heidegger in diesem Naturbild die vorherrschende Kategorie, da die
Natur als Mittel bzw. als ‚Gestell‘ betrachtet wird, so wie sie für den Menschen
‚funktionieren‘ kann. Die Naturwissenschaft betrachtet so die Natur nicht, wie
sie an sich ist, sondern wie sie für die technische Anwendbarkeit als ‚Bestand‘
erscheint. Naturwissenschaft wird somit sowohl bei Heidegger als auch in der
Frankfurter Schule von Adorno an bis noch zum jungen Habermas als Aus-
druck eines Herrschaftsinteresses betrachtet, das der Mensch an der Natur
habe. Der Objektivitätsanspruch der Wissenschaften ihr ‚objektivistischer
Schein‘91 sei zu entlarven, indem man auf das eigentliche Interesse hinter den
Wissenschaften verweise, das nicht primär ein reines Interesse an der Wahrheit,
sondern ein Interesse an der technischen Beherrschbarkeit sei.92 Interessant ist,
jede Religion oder Ideologie keinen Anspruch auf besondere staatliche Bevorzugung. So könne
ein Amerikaner heute wählen, welche Religion er haben will, er könne aber nicht wählen, ob sein
Kind Magie oder Wissenschaft an der Schule lerne (397). Feyerabend sieht hierbei nicht völlig
zu Unrecht in der tendenziell nihilistischen Wissenschaft, die sich als einzige und vollständige
Wahrheit ausgibt, eine Gefahr für die Menschlichkeit, und er verweist darauf, dass die ethischen
und religiösen Ziele, die etwa durch den Mythos erreicht werden, mindestens ebenso wichtig,
wenn nicht wichtiger seien, als die Ziele der Wissenschaft. Eine widerspruchsfreie Verbindung
des ethischen Wissens und des naturwissenschaftlichen Wissens über die Natur hat allerdings
Feyerabend selbst nicht ausgearbeitet.
89 M. Heidegger (1993), 70. Vgl. auch die schon zitierte Stelle über den zweifachen Rhein aus
seiner Technikschrift in der Anmerkung 77.
90 Vgl. M. Heidegger (2000), insbes. 20ff.
91 Vgl. J. Habermas (1968), 165ff., insbesondere 167.
92 Immerhin erkennt bereits der frühe Habermas im praktischen Interesse an der Natur ein
legitimes Interesse des Menschen (J. Habermas (1968), 160), das der Wissenschaft erst Objekt-
konstitution erlaubt. Obwohl es Habermas großes Verdienst ist, den auf strategisches Handeln
beschränkten Vernunftbegriff wieder um die kommunikative Vernunft erweitert zu haben, so
findet sich doch bei ihm nicht der Gedanke einer nicht strategischen Herangehensweise an die
2. Religiös-mythische Natursicht
47
dass sowohl Heidegger als auch Adorno den Ausweg in den künstlerischen Fä-
higkeiten des Menschen sehen, da die Poesie in ihrem Selbstzweckcharakter die
Sache von sich selber her sprechen lasse, ohne ihr einen fremden Zweck aufzu-
zwingen.93 Diese Tendenz ergibt sich konsequent aus der Ablehnung der wis-
senschaftlich-exakten Sprache und aus der Ablehnung der (begrifflich) den-
kenden Vernunft, der das Poetische als nicht rational und nicht exakt begriff-
lich gegenüberstehen soll. Heidegger erinnert ferner daran, dass für die Grie-
chen auch die Technik eine Form der poíhsiß sei, und rückt so das Wesen der
Technik dem der Poetik nahe, da für ihn beide jeweils Wege der Wahrheitser-
schließung seien, wobei aufgrund der Gefahren der Technik die Poetik vorzu-
ziehen sei.94 Mit dieser Option für das Poetische wird noch einmal deutlich,
dass die inhaltliche Ablehnung des naturwissenschaftlichen Weltbildes einher-
geht mit einer Ablehnung der exakten methodischen Rationalität der Wissen-
schaft.
Natur, wie McCarthy zurecht kritisiert, vgl. T. McCarthy (1996), 67f.
93 Adorno sieht die Vernunft in dem strategischen Interesse des Menschen verwurzelt, wohinge-
gen die Kunst im freien ‚mimetischen Impuls‘ begründet ist, vgl. T. W. Adorno (1990). Interes-
sant ist ferner, dass Adorno die Kunst der empirischen Weltanschauung entgegensetzt und von
ihr sagt, dass sie mehr sei ‚als der Fall ist‘, vgl. T. W. Adorno (1990), 499.
94 Vgl. M. Heidegger (2000).
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
48
3. Naturphilosophie als Synthese aus Szientismus und Antiszien-
tismus: Die Aktualität des hegelschen Ansatzes
Es wurden nun die beiden gegensätzlichen Extreme skizziert, die zwar in ihrem
Anliegen, die Natur erfassen zu wollen, übereinstimmen, die aber in ihrer kon-
kreten Ausführung einander diametral entgegengesetzt sind. Der Positivismus
und Szientismus sieht in jedem Versuch, über die Aussagen einer empiristisch-
immanent verstandenen Naturwissenschaft hinauszugehen, einen illegitimen
Rückschritt in alte dogmatische Metaphysik, wohingegen die antiszientisti-
schen Weltbilder der wissenschaftlichen Rationalität skeptisch gegenüberstehen
und ihre Aussagen nur als die ,halbe Wahrheit‘ begreifen, die der ‚höheren reli-
giös-mythischen‘ Sicht unterzuordnen sei. So versuchen beide Positionen, den
Widerspruch zur anderen dadurch aufzulösen, dass sie die Aspekte ihrer Sicht-
weise absolut setzen und darauf abzielen, die jeweils andere Natursicht in sich
zu absorbieren. Kurz gesagt, versucht die wissenschaftstreue Philosophie das
Gespenst einer ‚metaphysischen Naturphilosophie‘ durch Berufung auf die
Vollständigkeit und alleinige Zuständigkeit der Naturwissenschaft für die Erfor-
schung der Natur zu vertreiben, während umgekehrt Neubelebungen eines
Naturbildes, das über die Naturwissenschaft hinausgehen soll, versuchen im
Geiste des Relativismus die Wissenschaften zurückzudrängen.
Natürlich lassen sich zwischen den hier skizzierten beiden Polen vermit-
telnde Positionen denken, die aber jeweils verschieden ausfallen können, je
nachdem, welchen Bestandteil des Gegensatzes sie aufgeben, um einen Aus-
gleich zu erreichen.95 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Geschichte
der jüngeren Wissenschaftstheorie, zusammenfassend ausgedrückt, immer
mehr vom Positivismus abgerückt ist, um sich eher pragmatistischen Positio-
nen zu verschreiben, so dass sie hierin anders als das alltägliche Bewusstsein
einer hypothetischen und relativistischen Sicht der Wissenschaft näher
kommt.96 Dennoch ist eine radikale Ablehnung der Wissenschaft in der akade-
95 Ein häufiger Weg der ‚Vermittlung‘, der allerdings letztlich unbefriedigend bleibt, ist der
Versuch eines Pluralismus oder Perspektivismus, demzufolge Wissenschaft einerseits und Reli-
gion oder ‚Mythos‘ andererseits jeweils ihr eigenes Recht nebeneinander hätten. (In diese Rich-
tung tendieren etwa die naturphilosophischen Ansätze von M. Drieschner (2002) und K. Köchy
(2003), der ein Kreismodell der Methodologie zur Erfassung des Organischen vorschlägt.
Begrüßenswert ist sicher der Versuch beider Ansätze, über die Einseitigkeiten von Wissen-
schaftsgläubigkeit und Wissenschaftsskepsis hinaus zu gelangen). Spätestens aber, wenn Wider-
sprüche auftreten, müssen diese gelöst werden und kann nicht bei einem bloßen Nebeneinander
der Sichtweisen stehen geblieben werden.
96 Doch auch diese Positionen teilen ihre Ablehnung der traditionellen Ontologie und Metaphy-
sik mit dem Positivismus, sie wollen also nicht wie die in I 2.1. angesprochenen Autoren (vgl.
oben Anmerkung 52) über die Wissenschaften zu einer neuen Metaphysik der Natur hinaus,
sondern gleichsam selbst hinter dem Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaft als harter Wis-
3. Naturphilosophie als Synthese
49
mischen Philosophie wohl eher die Ausnahme, da die Wissenschaft trotz aller
konstruktivistischen und relativistischen Vorbehalte zumeist, wenn schon nicht
als unumstößlich wahrer, so doch als bester Weg der Weltbildkonstruktion in
einer aufgeklärten, nicht religiös-fundamentalistischen Gesellschaft angesehen
wird.
Doch scheint es neben diesen Annäherungsversuchen auch möglich zu
sein, mit Rückgriff auf Hegel, eine echte Synthese aus dem alten Anliegen der
Naturphilosophie und dem der modernen Naturwissenschaft zu leisten. Dazu
ist es notwendig, die beiden konträren Positionen näher kritisch zu betrachten.
Dabei soll versucht werden, die Probleme der beiden einseitigen Pole näher in
den Blick zu bekommen, um so auf eine Bestimmung der Naturphilosophie als
Lösungsansatz zu verweisen, die weitestgehend der hegelschen Fassung dieses
Begriffs entspricht. Gleichzeitig kann durch die Bestimmung der Natur-
philosophie als Synthese der geistigen Ansprüche des Menschen an die Natur
diese einerseits nüchtern erklären und erfassen zu können und andererseits sich
mit seinen ethischen und höheren geistigen Ansprüchen mit der Natur in
Beziehung zu setzen97 die Fragestellung einer Philosophie des Lebendigen
gewonnen werden, die als Leitfaden dieser Arbeit dienen wird.
Nachdem zuvor die gegensätzlichen Aspekte beider Positionen ausführlich
dargestellt wurden, geht die folgende kritische Untersuchung nun von den
spezifischen Gemeinsamkeiten aus: Beide skizzierten Betrachtungsweisen der
Natur sowie alle Versuche, zwischen diesen zu vermitteln, stimmen zunächst
ganz allgemein darin überein, dass sie beanspruchen, die Natur als Ganze zu
erfassen und vollständig zu erklären bzw. verstehen zu können. Sie erheben
also einen holistischen Anspruch, der den Erklärungsanspruch der jeweils ande-
ren Sichtweise ausschließen will, und verteidigen damit die Idee einer Einheit
des Weltbildes, wenn auch durch Anspruch auf Exklusivität der jeweiligen
Sicht.98 Darüber hinaus teilen beide Sichten grundsätzlich dieselben Annahmen
über das Verhältnis von Rationalität und Szientismus, und in beiden Positionen
senschaft zurück, ohne dass hier das Anliegen zu finden wäre, das Zurückdrängen der Anspr ü-
che der Wissenschaft als Ausgangspunkt für alternative nichtwissenschaftliche Natur- und
Weltbilder zu benutzen.
97 und d.h. auch sich im Hinblick auf die ökologische Krise mit der Natur versöhnen zu nnen.
98 Vgl. die repräsentative Annahme von M. Stöckler (1989), dass die Naturphilosophie heute
nicht der Naturwissenschaft widersprechen dürfe (5), so dass naturphilosophische Einsichten
keinen „Ewigkeitswert“ (ebd.) hätten, sondern dem Wandel der Wissenschaft unterliegen
würden. In diesem Argument liegt allerdings folgendes Problem verborgen: Wenn die Wissen-
schaft offenkundig einem Wandel (oder gar einem Fortschritt) unterliegt, so ist nicht einzuse-
hen, inwiefern der jeweils aktuelle Stand der Forschung verabsolutiert werden kann, d.h. inwie-
fern nicht doch (begründeter) Widerspruch gegen ihn möglich sein soll. Außerdem scheint
gerade umgekehrt zu gelten, dass empirisch-wissenschaftliches Wissen und daraus induzierte
Naturphilosophie keinen Ewigkeitswert haben können, wohingegen naturphilosophische Refle-
xionen über die Natur, die nicht induktiv gewonnen sind (die somit auch den jeweiligen Stand
der einzelwissenschaftlichen Forschung kritisch gegenüberstehen können), einen solchen
Anspruch sehr wohl erheben können (siehe unten I 3.2.2.).
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
5a
lassen sich spezifische irreflexive Momente finden, die die Konsistenz der bei-
den gegensätzlichen Sichtweisen gefährden. So soll nun zum einen diese Irrefle-
xivität als Mangel beider Natursichten skizziert werden (I 3.1.), um dann auf
das eingeschränkte Verständnis des Rationalitätsbegriffs (I 3.2.1.) einzugehen,
dass in beiden Fällen unter anderem auch die Thematisierung naturontologi-
scher Fragestellungen ausschließt. Schließlich werden die Argumente und Auf-
gaben für eine zeitgemäße Naturphilosophie, die sich aus der Kritik der beiden
Extreme ergeben, unter Aufnahme des holistischen Anspruchs eines jeden
Naturbildes zusammengefasst und die Fragen an die hegelsche Philosophie
gewonnen (I 3.2.2.).
3.1. Die Irreflexivität der szientistischen und der antiszientistischen Na-
tursicht
Da nun dafür argumentiert werden soll, inwiefern ein philosophischer Stand-
punkt jenseits der beiden Alternativen von Szientismus und Antiszientismus ein
sinnvoller Ausgangspunkt sein kann, muss die strukturelle Defizienz der beiden
Sichten deutlich gemacht werden, die verlangt, dass man zu einer philosophisch-
reflexiven Position übergeht. Die somit darzulegende These lautet, dass weder
der wissenschaftliche Empirismus des Positivismus noch der Rückgriff auf
mythische Ganzheitskonzepte in der Lage sind, die eigenen geltungstheoreti-
schen Ansprüche einzuholen. Dies soll nun für den Szientismus (I 3.1.1.) und
für das antiszientistische religiös-mythische Naturbild (I 3.1.2.) gezeigt wer-
den.
3.1.1. Szientismus
Es wurde oben das Anliegen des Wiener Kreises mit dem Anliegen Kants
verglichen: Die fruchtlosen metaphysischen Spekulationen, die die Erfahrungen
überfliegen, sollen durch eine Rückbindung des Denkens an das ‚Gegebene‘
und an die empirischen Wissenschaften eingedämmt werden. Somit ist der
‚Tractatus‘ als Gründungsurkunde dieser Bewegung gleichsam eine Art ‚Prole-
gomena einer jeden Philosophie, die als Wissenschaft (oder als wissenschaftli-
che Philosophie) wird auftreten können‘. Es wurde skizziert, inwiefern aus
dieser Perspektive eine Absorption der Philosophie in die Wissenschaft nahe
liegt und konsequenterweise gefordert wird. Ebenfalls wurde dargestellt, inwie-
fern insbesondere das Ende einer eigenständigen Naturphilosophie gefordert
wird, da es ein wesentlicher Topos vom Beginn des logischen Empirismus an
bis noch zur heutigen Wissenschaftstheorie ist, dass Aussagen über die Natur
ausschließlich den Naturwissenschaften zu überlassen seien, da es eine eigen-
3. Naturphilosophie als Synthese
51
ständige philosophische Einsicht in das Wesen der Natur nicht gäbe.99 Erinnert
man sich aber an die angedeuteten Ähnlichkeiten zwischen dem Ansatz des
Wiener Kreises und dem kritischen Ansatz von Kant, so erscheint folgender
Weg zur argumentativen Überwindung des Szientismus und aller strukturell
verwandten Positionen möglich: Es lässt sich nämlich aufgrund der Ähnlichkeit
beider Positionen in ihrem kritischen, die Vernunft beschränkenden Anliegen
die hegelsche Kant-Kritik in modifizierter Weise auch auf den Wiener Kreis
und damit auf jede Ablehnung der (Natur-)Philosophie im Namen der Wissen-
schaft anwenden.100
Kant hat bekanntlich versucht, die alte dogmatische und spekulative Meta-
physik dadurch zu überwinden, dass er die Vernunft in ihrem Geltungsbereich
an die Erfahrung und an die Anschauung zurückgebunden und ihr somit Gren-
zen gesetzt hat. Nur Vernunfturteile, die auf Erfahrung oder Anschauung ba-
sieren, können laut Kant philosophisch legitim sein.101 Beansprucht die Ver-
nunft aber, über den Bereich der Erfahrung (und der Anschauung) hinauszu-
gehen und aus sich heraus zu Erkenntnissen zu gelangen, so fliegt sie in den
luftleeren Raum der Spekulation und verirrt sich notgedrungen.102 Kant geht
ferner davon aus, dass die logischen Kategorien, die als transzendentale Kate-
gorien Erfahrung erst möglich machen, nicht aus der Erfahrung selbst stammen
99 Vgl. oben Anmerkung 50.
100 Ich folge hier insbesondere den instruktiven Überlegungen von K.-O. Apel (1976a), der in
einer explizit an Hegel orientierten Deutung Wittgensteins versucht, den logischen Positivismus
zugunsten einer reflexiven Transzendentalphilosophie zu überwinden (und der in interessanter
Weise die großen Ähnlichkeiten zwischen Wittgenstein (und der analytischen Schule) und
Heidegger (und der hermeneutischen Tradition) aufweist). In dieselbe Richtung argumentiert
gegenüber dem logischen Positivismus in Anknüpfung an Apel V. Hösle, der versucht, auch
heute noch den Philosophietypus des objektiven Idealismus zu verteidigen, wobei dieses Anlie-
gen sicherlich selbst wiederum durch die Auseinandersetzung mit der hegelschen Philosophie
beeinflusst ist (siehe insbes. Hösle (1990), 71ff. (zu Wittgenstein) bzw. 205ff. [zum objektiven
Idealismus]).
101 Kant unterscheidet das Denken eines Gegenstandes vom Erkennen eines Gegenstandes.
Letzteres ist nur möglich, wenn der (konsistente) Gedanke bzw. eine Kategorie auf eine
Anschauung bezogen wird, vgl. Kritik der reinen Vernunft, B, XXVII, §22 (B 146ff.), §27 (B
165): „Wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien; wir können keinen
gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen.“
Hieraus folgert Kant, dass uns somit nur die Erkenntnis apriori von möglichen Gegenständen
der Erfahrung (bzw. der Anschauung) möglich sei (ebd.). Im Sinne des hier zu besprechenden
Selbstanwendungsgebot kann man nun bemängeln, dass damit Kants kritisches Nachdenken über
die Kategorien selbst nach eigener Auskunft keine Erkenntnis sein kann, da die Kategorien selbst
keine Gegenstände glicher Erfahrung sind.
102 Vgl. die Taubenmetapher, Kritik der reinen Vernunft, A6. Allerdings strebt Kant eine kriti-
sche Neubegründung der Metaphysik an, insofern er glaubt, durch die Begrenzung der Vernunft
falsche Widerlegungen im Bereich der Metaphysik ausgeräumt und somit Platz für eine neue
Metaphysik geschaffen zu haben, vgl. Kritik der reinen Vernunft, XXVff. zum nicht nur negati-
vem Nutzen der Kritik und explizit B XXXVI. Doch sind mit den Widerlegungen auch alle
positiven metaphysischen Aussagen beiseite geräumt. So schreibt Kant, dass nun mehr Raum für
den Glauben ist (B XXX), da Wissen hier nicht möglich ist.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
52
können. Diese und die synthetischen Sätze a priori sind neben den reinen ana-
lytischen Sätzen a priori und den moralischen Grundsätzen der reinen prakti-
schen Vernunft die einzigen legitimen Sätze, die die reine Vernunft sicher aus-
sagen kann. Diese Sätze erhalten, obwohl sie selbst keine Erfahrungssätze sind,
ihre Legitimation allerdings daraus, dass sie erst Erfahrung (und Anschauung
bzw. Moralität) möglich machen. Sie müssen dementsprechend aus dem Sub-
jekt bzw. aus der Vernunft selbst stammen und können nicht aus der Er-
fahrung abgeleitet sein.103 Daraus folgert Kant nun aber, dass die durch jene
Kategorien geleitete Vernunft nicht das Wesen der ‚Dinge an sich‘ erfassen
kann, sondern nur die Dinge so zu begreifen vermag, wie wir sie erfahren.
Anders als der logische Empirismus geht Kant also nicht von einem starken
Realismus aus, der heute mit dem Szientismus verbunden ist, sondern
bezeichnet es als kopernikanische Wende, dass sich nicht das Subjekt nach den
Dingen, sondern die Dinge nach dem Subjekt richten.104
Der deutsche Idealismus hat nun bekanntlich versucht, über diese Grenz-
ziehung hinaus wieder zu dem ‚Wesen der Dinge‘ vorzustoßen und somit den
kantischen Dualismus zu überwinden. Ein bemerkenswertes Argument stammt
hierbei von Hegel, das sich als Variante des heute so genannten Selbstanwen-
dungsargumentes identifizieren lässt. In der Logik argumentiert Hegel gegen
die kantische Annahme einer unerkennbaren Welt der Dinge an sich, die
jenseits unserer Vernunft liege:
„Die Dinge heißen an-sich, insofern von allem Sein-für-Anderes abstrahiert
wird, das heißt überhaupt, insofern sie ohne alle Bestimmung, als Nichtse ge-
dacht werden. In diesem Sinne kann man freilich nicht wissen, was das Ding
an sich ist. Denn die Frage Was? Verlangt, daß Bestimmungen angegeben
werden; indem aber die Dinge, von denen sie anzugeben verlangt würde,
zugleich Dinge-an-sich sein sollen, das heißt eben ohne Bestimmung, so ist in
die Frage gedankenloserweise die Unmöglichkeit der Beantwortung gelegt,
oder man macht nur eine widersinnige Antwort.“105
Das heißt mit anderen Worten, dass der Versuch, einen Bereich als undenkbar
zu denken eine ‚Widersinnigkeit‘ ist. Zu behaupten, dass es jenseits unseres
103 Dies ist die kantische Lösung des Induktionsproblems: Allgemeine Aussagen mit
Notwendigkeitsanspruch sind für ihn wie für Hume nicht aus der Erfahrung abzuleiten. Doch
anders als für Hume ist für Kant ohne die grundlegenden Kategorien Erfahrung gar nicht erst
möglich. Allerdings setzt Kant die Wirklichkeit (und Wahrheit) der Wissenschaft voraus, um
dann auf die Gültigkeit der entsprechenden apriorischen Prinzipien zu schließen, die so also
nicht durch sich selbst (im Wege eines indirekten Beweis mittels Selbstwiderspruch) bewiesen
werden. Deswegen kann man von Kants Transzendentalphilosophie als irreflexiver Transzen-
dentalphilosophie sprechen, vgl. V. Hösle (1988), 18ff. In ähnlicher Weise setzt der logische
Positivismus die Wahrheit der Naturwissenschaft und des empiristischen Realismus voraus.
Diese Voraussetzung kann bei Wittgenstein selbst weder ausgesagt noch begründet werden
(s.u.), somit ist seine Position irreflexiv.
104 Kritik der reinen Vernunft, B XVI.
105 5.129f.
3. Naturphilosophie als Synthese
53
Denkens oder unserer Welterfahrung einen Bereich gibt, der erstens nicht von
unserem Denken erfasst wird und der zweitens für den ‚substantiellen‘ und
‚wahren‘ Bereich gehalten wird, ist ein Selbstwiderspruch, der verschieden
rekonstruiert werden kann. Hegel hebt hier zunächst im Kontext der syste-
matischen Stelle der Logik, aus der dieses Zitat stammt, auf den Unterschied
eines Seins an sich und den eines Seins für Andere ab und argumentiert, dass
ich nicht ein Ding als bestimmungslos bestimmen kann. Jedes Ding an sich ist
immer schon als ‚an sich‘ bestimmt, damit aber nicht das vorgestellte ‚reine,
unbestimmte‘ An sich, das als solches eine leere Abstraktion eben ein Nichts
ist. Somit ist dieses An sich ebenfalls ein von unserem Denken gedachtes An-
sich, also gleichsam ein An-sich-für-uns. Ein von unserem Denken unabhängi-
ges An sich ist nicht ohne Selbstwiderspruch zu postulieren. Genau dies muss
aber jeder subjektive Idealist tun, der unsere Welterkenntnis von der ‚wahren
Welt‘ ‚jenseits‘ unseres Denkens absolut abgrenzen will, wie dies Kant in sei-
nem Dualismus tut. Konkreter ausgeführt heißt dies, dass Kant behauptet, dass
unsere Kategorien und Bestimmungen die Dinge an sich oder die wahre Welt
nichts angehen und noch viel weitergehend dass diese unterschieden von
unseren Bestimmungen sei.106 Diese Behauptung widerspricht sich aber selbst,
da sie nicht darauf reflektiert, dass in ihr ‚Unterschiedlichkeit‘, ‚Existenz‘ usf.
(also ‚unsere‘ Kategorien) auf die Dinge an sich angewendet werden müssen,
von denen gerade konstitutiv behauptet wird, dass eine solche Kategorien-
anwendung prinzipiell nicht möglich sei. Die gleiche Argumentationsrichtung
finden wir an vielen anderen Stellen bei Hegel; auch sämtliche Polemiken
Hegels gegen einen ‚jenseitigen‘ Gott und gegen ein nicht rational erfassbares
Absolutes107 basieren auf der Einsicht der Selbstwidersprüchlickeit der Selbst-
begrenzung der Vernunft, da diese immer durch die Vernunft selbst vorgenom-
men wird. In der Logik hat die zitierte Stelle ihren Ort bezeichnenderweise vor
dem Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, und jenes Argument spielt
eine entscheidende Rolle in der Abgrenzung des Schlecht-Unendlichen vom
Wahrhaft-Unendlichen.108 Besonders pointiert kommt diese Kritik am end-
106 Vgl. etwa für die Anschauungsformen Kritik der reinen Vernunft, B 59f. Hierauf beruht die
kantische ‚Lösung‘ des Determinismusproblems und somit seine Verbindung von Moral und
Newtonianismus. In der phänomenalen Welt sind wir durch die Naturgesetze determiniert, in
der noumenalen Welt sind wir frei. Zu den Mängeln dieser Lösung, die sich aus den oben
skizzierten Problemen ergeben siehe V. Hösle (1995a).
107 Vgl. etwa in der Schrift ,Glaube und Wissen‘, 2.288f., oder in der Einleitung zur
Phänomenologie, 3.69f.
108 Zu diesem Übergang siehe unten Kapitel II 1.2. Diese Reflexion ist entscheidend für das
hegelsche Programm der dialektischen Begriffsentwicklung. In den jüngeren Dialektiktheorien
wird somit auch jener Selbstwiderspruch endlicher Kategorien (als Widerspruch zwischen dem,
was explizit gesagt, und dem, was impliziert ist) als Kern der dialektischen Bewegung a ngesehen,
vgl. V. Hösle (1988), 174ff. D. Wandschneider (1995) rekonstruiert die Methode der Dialektik
anhand des Konzeptes ‚antinomischer Begriffe‘: Ein Begriff ist antinomisch, wenn er (in gewis-
ser Hinsicht) sein Gegenteil umfasst, aber gleichzeitig durch die Ausgrenzung bzw. die Nega-
tion des Gegenteils seine Bestimmtheit enthält. Soll aber an dem Gegensatz festgehalten
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
54
lichen Denken im Paragraphen 60 der einleitenden Erörterung der enzyklopä-
dischen Logik zum Ausdruck (und zwar am Ende des Abschnitts „zweite Stell-
ung des Gedankens zur Objektivität“, der die kritische Philosophie behandelt),
so dass auch diese Stelle hier etwas ausführlicher zitiert sei:
„Es ist darum die größte Inkonsequenz, einerseits zuzugeben, daß der
Verstand nur Erscheinungen erkennt, und andererseits dies Erkennen als
etwas Absolutes zu behaupten, indem man sagt, das Erkennen könne nicht
weiter, dies sei die natürliche absolute Schranke des menschlichen Wissens.
[…] Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja nur empfunden, indem
man zugleich darüber hinaus ist. […] Es ist daher nur Bewußtlosigkeit, nicht
einzusehen, daß eben die Bezeichnung von etwas als einem Endlichen oder
Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen,
Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern
das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist.“109
Der kantischen Philosophie wird also Irreflexivität110 (oder in Hegels Sprache:
Endlichkeit) vorgeworfen, da sie nicht erkennt, dass in den Begriffen von
Schranke und Begrenzung ausgedrückt der Akt des Begrenzen bzw. das
Wissen um eine Grenze diese aufhebt und nicht mehr als absolut erscheinen
lässt, und da nicht darauf reflektiert wird, dass ein Ding als ‚an sich‘, d.h. als
jenseitig von unseren Bestimmungen zu bestimmen, selbst ein Akt unserer
Vernunft ist. In der Tat können nun ähnliche Überlegungen helfen, sowohl die
Vernunftkritik des Antiszientismus als auch die Philosophiekritik des Szien-
tismus näher zu beleuchten, da sich auch hier ein Widerspruch zwischen den
werden, so ist man zu einer Explikation der Hinsichten gezwungen. Dies geschieht durch die
Einführung einer synthetischen Kategorie. Wandschneider sieht in diesem Prinzip den Motor
der dialektischen Begriffsentwicklung. In der anglo-amerikanischen Debatte ist Pierce derjenige,
der mit der Einführung der performativen Ebene die rein formallogische Betrachtung (in der
solche Widersprüche nicht auftreten) überwunden hat. Zum Programm der Ableitung funda-
mentaler philosophischer Einsichten mittels Selbstwiderspruch oder der Methode des indirekten
Beweises vgl. auch jüngst das sehr lesenswerte Buch von B. Braßel (2005).
109 8.143f. Vgl. auch die entsprechende Stelle in der großen Logik 5.131ff. Auf diese Stelle wird
in der Naturphilosophie und zwar beim organischen Phänomen des ‚Mangels‘ verwiesen. Das
Organische ist, da es Mangel und Begrenzung empfinden kann, somit für Hegel schon über den
Bereich des rein Endlichen hinaus und verwirklicht damit eine logisch bzw. ‚metaphysisch‘
höhere Seinsstufe, vgl. 9.468ff., siehe auch die folgenden Kapitel der Arbeit, insbes. II 3. In An-
knüpfung an diese Überlegungen Hegels formuliert Hösle es als objektiv-idealistisches Grund-
credo, dass es nichts geben kann, das nicht prinzipiell durch die Vernunft erfassbar wäre, vgl.
etwa V. Hösle (1988), 20 bzw. (1990), 187f.
110 Ich verwende den Begriff im Folgenden im Sinne einer ‚negativen Reflexivität‘: Eine Position
ist dann irreflexiv in einem die Geltung der Position gefährdenden Sinne, wenn ihre expliziten
Behauptungen den impliziten Behauptungen widersprechen, wie noch zu erläutern sein wird.
Daneben lassen sich natürlich auch Positionen oder Aussagen denken, die in einem trivialen
Sinn irreflexiv sind, die etwa nur über etwas anderes sprechen, nicht aber über sich selbst, ohne
dass dies für die Geltung der Position relevant wäre.
3. Naturphilosophie als Synthese
55
inhaltlichen Aussagen beider Positionen und dem Vorgehen beider Richtungen
finden lässt.
Doch zunächst ist auffällig und vielleicht überraschend, dass der logische
Positivismus strukturell in einem entscheidenden Punkte mit dem hegelschen
Idealismus übereinkommt. Interessanterweise darauf wurde oben hingewie-
sen111 lassen sich Stellen in den Schriften Carnaps finden, in denen er wie
Hegel davon ausgeht, dass es keine Erkenntnis außerhalb des Bereiches der Ver-
nunft (bzw. der logischen Sprache) gibt und dass alles, was nicht rational ist,
nicht in den Bereich der Philosophie gehört.112 Auch wurde oben auf das
Diktum Wittgensteins eingegangen, nach dem alles, was sich sagen lässt, sich
klar sagen lässt, und dass man über alles andere eben schweigen müsse.
Schließlich ist daran zu erinnern, dass für Hegel, dessen Philosophieverständnis
man hierin folgen kann, die Philosophie nur als wissenschaftliche Philosophie113
ihrem Anspruch gerecht wird. Auch für Hegel stellen sich nur die Aussagen,
die mit ‚wissenschaftlichen‘ Methoden gewonnen sind, als philosophische Aus-
sagen im eigentlichen Sinne dar. Hösle schließlich macht darauf aufmerksam,
dass der Abbildrealismus bei Wittgenstein, der der Sprache und der Welt die
logische Form als Gemeinsamkeit zuschreibt (vgl. L. Wittgenstein (1994)
19ff.), ebenfalls eher dem hegelschen Programm als dem kantischen Dualismus
nahe steht.114
Wenn aber hierin im logischen Empirismus eher eine Gemeinsamkeit mit
Hegel gegen Kant zu finden ist, inwiefern lässt sich die hegelsche Kantkritik
dann dennoch auf den logischen Empirismus und auf den Szientismus im All-
gemeinen anwenden? Ich denke, dass dies geschehen kann, wenn man darauf
reflektiert, dass der logische Empirismus die skizzierte Gleichsetzung der Ratio-
nalität mit naturwissenschaftlicher Rationalität und damit eine Gleichsetzung
von Wissenschaftlichkeit mit natur- bzw. einzelwissenschaftlicher Wissen-
schaftlichkeit anstrebt. Das Problem besteht hierbei also nicht in dem mit
Hegel geteilten optimistischen Glauben, alle philosophischen Fragen für ratio-
nal (und nur für logisch-rational) beantwortbar zu halten, sondern in der Ein-
schränkung des Rationalitätsbegriff. Anders als bei Kants kritischer Einschrän-
111 Vgl. Kapitel I 1.2., Anmerkung 27.
112 Vgl. R. Carnap (1961), 253ff., 256. Es finden sich aber keine reflexiven Argumente für diese
Behauptung, die im Positivismus zunächst nichts mehr als eine Versicherung ist. Eben gerade
weil der logische Positivismus reflexive Argumente nicht anerkennt und stattdessen mit dem
Faktum des Vorrangs der Vernunft beginnt, hat er die nun zu schildernden Schwierigkeiten.
113 Resümierend schreibt Hegel in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie: „Worauf
ich überhaupt in meinen philosophischen Bemühen hingearbeitet habe und hinarbeite, ist die
wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit“, 8.14. In der Einleitung zur Phänomenologie des
Geistes heißt es: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wisse n-
schaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wis-
senschaft näherkomme […] ist es, was ich mir vorgesetzt“, 3.14, vgl. auch zum absoluten
Wissen 3.583. Siehe hierzu auch Kapitel II 1. zu Hegels objektivem Idealismus.
114 Vgl. V. Hösle (1990), 74f.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
56
kung ist, so wurde dargestellt, für den Wiener Kreis und für den modernen
Szientismus eine ‚Metaphysik‘ oder ‚Ontologie‘ und eine ‚Ethik‘ nicht mehr
rational möglich. Unter modifizierter Anwendung der dargestellten hegelschen
Argumente lässt sich allerdings in der Tat zeigen, dass diese Beschränkung
nicht konsistent ist.
Kants Einschränkung und Einführung eines durch die Kategorien nicht
erfassbaren Bereichs war deswegen unmöglich, da diese Einschränkung von der
Vernunft selbst und zwar genauer unter Zuhilfenahme der in Abrede stehenden
Kategorien geschieht. Ebenso kann man zeigen, dass der Versuch der Redu-
zierung der Philosophie auf Erfahrungswissenschaft oder auf (leere) Logik und
Erfahrung (bzw. auf Sprachanalyse) aus dem gleichen Grund scheitern muss,
da zur Begründung dieser Einschränkung ein Typus von Vernunft benötigt
wird, der zugleich ausgeschlossen werden soll. Denn diese Begrenzung kann
nicht selbst auf der Grundlage der Erfahrung und der Logik bzw. durch die
Einzelwissenschaft geschehen. Wenn nämlich, wie schon zitiert, Wittgenstein
paradigmatisch schreibt, dass „(4.11.) [d]ie Gesamtheit der wahren Sätze [...]
die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaf-
ten)[ist]“ und dass „(4.111.) [d]ie Philosophie [...] keine der Naturwissen-
schaften [ist] (Das Wort „Philosophie„ muß etwas bedeuten was über oder
unter, nicht neben den Naturwissenschaften steht)“115, und wenn ferner nur
tze, die über empirische Sachverhalte sprechen, wahrheitsfähig sein können,
so wird das Dilemma jener Position selbst deutlich. Der Tractatus selbst ist kein
naturwissenschaftliches Buch, er ist keine empirische Abhandlung: Er enthält
keinen einzigen naturwissenschaftlichen Satz, dafür aber lauter Sätze, die über
das Verhältnis von Sätzen zur Wirklichkeit, über das Wesen der ‚Abbildung‘
etc. sprechen, d.h. aber im Sinne Wittgensteins verbotene bzw. sinnlose
tze.116 Inhalt der Sätze des Tractatus ist nicht die ‚Welt der Dinge‘ oder die
reale Welt‘, sondern hier wird über die ‚Welt der Sätze‘, der ‚logischen Struk-
turen‘ etc. gesprochen, wobei im Widerspruch dazu zugleich nur Sätzen über
die Dingwelt Sinnfähigkeit zugesprochen wird.117
Genau genommen liegen hier sogar zwei Probleme vor. Die Irreflexivität
der hier vertretenen Wahrheitstheorie beinhaltet zum einen, dass eine ‚Abbil-
dung der Abbildung‘ nicht möglich sein soll, da diese nur von außerhalb
geschehen könne. So schreibt Wittgenstein (1994), 4.12: „Der Satz kann die
gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit
der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie darstellen zu können die logische
Form. Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem
Satz außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt“, 42.
Die Irreflexivität dieser Sätze (die genau das tun, von dem sie sagen, dass es
unmöglich sei) fällt sofort ins Auge: Es ergibt sich nämlich sofort die Frage
115 L. Wittgenstein (1994), 41.
116 Vgl. K.-O. Apel (1976a), 230ff., V. Hösle (1990), 74ff.
117 Vgl. die Darstellung des Traktates von Wittgenstein oben unter I 1.2.
3. Naturphilosophie als Synthese
57
nach dem Status der tze, die alle das Abbildungsverhältnis thematisieren. So
stehen schon die ersten beiden Hauptthesen des Tractatus im Widerspruch zu
dem Sinnkriterium, d.h. zu der Annahme, dass der Satz das Abbilden nicht
noch einmal abbilden könne. Denn wenn dem so ist, ist nicht klar, inwiefern
der Sprache schon in erster Linie ihr Verhältnis zur Wirklichkeit als Abbildung
zuzuschreiben ist und inwiefern wir positiv aussagen können, dass die Welt
und der Satz die logische Form gemeinsam haben. Eine solche Aussage über
das Wesen dieses Verhältnisses müsste nach Wittgenstein sinnlos sein, da sie
versucht auszudrücken, was der Satz nach Wittgenstein selbst nicht ausdrücken
kann. Zwar mag man Wittgenstein so deuten wollen, dass etwa der Satz „Die
Katze ist unter dem Tisch“ selbst nichts über sein Verhältnis als Satz zur Welt
aussagt, dass eine solche Reflexion über das Verhältnis von Satz und Wirklich-
keit aber in einem anderen Satz oder in Sätzen anderer Art möglich ist. Doch
scheint sowohl Wittgenstein selbst, aber auch der frühe Weg der analytischen
Philosophie, auch dieses für unmöglich zu halten, gerade hiermit wurde ja die
Ablehnung der Ontologie und der Metaphysik begründet. Die Typentheorie,
auf die Wittgenstein verweist (vgl. L. Wittgenstein (1994), 3.332, 28) und die
eingeführt wurde, um das Auftreten von Antinomien zu verhindern, verbietet
eine solche Reflexivität prinzipiell. Wenn aber nur Sätze höherer Ebenen über
Sätze niederer Ebenen sinnvoll sprechen können, niemals aber über sich selbst,
bzw. wenn jeweils nur Typen höherer Ordnung auf diejenigen niedriger Ord-
nung verweisen können, so ergibt sich ein infiniter Regress von Ebenen, und
die Abbildungsfrage bzw. die Frage des Verhältnisses des Satzes zur Objektivi-
tät muss prinzipiell unentscheidbar bzw. unaussprechbar bleiben.118 Zum ande-
ren bleibt, selbst wenn man dieses speziellere Problem außen vor lässt (etwa
indem man das Irreflexivitätsgebot aufgibt), das zweite Problem bestehen, dass
diejenigen Sätze, die nur einzelwissenschaftlich-empirischen tzen Legitimität
zusprechen, selbst eben keine solche einzelwissenschaftlich-empirischen Sätze
sind.119 Auch diese Sätze sind nach dem Sinnkriterium Wittgensteins ‚sinnlose‘
Sätze. Dieser zweite Widerspruch resultiert daraus, dass man (1) unter ‚wissen-
118 Schon erwähnt worden ist der Versuch, den Bezug zur Realität nicht sprachlich-begrifflich,
sondern durch eine Fundierung der letzten Sätze in ‚Handlungen‘ zu leisten, vgl. Anmerkung 25
bzw. Schlick (1931), 8. Auch Apel verweist auf Ansätze zu einer ‚pragmatischen‘ Lösung bei
Wittgenstein (vgl. den schon zitierten Aufsatz 1976b), für den sich das Unsagbare ,zeigt‘ (was
sprachlich zu behaupten freilich widersprüchlich bleibt). Der infinite Ebenenregress hingegen,
den die Typentheorie auslöst, löst das Problem nicht, da immer ein Satz der Art entsteht ‚Für
alle Ebenen gilt, dass Sätze nur auf Sätze tieferer Stufe rekurrieren können‘. Es ist aber dann
nicht ganz klar, von welchem logischen Standpunkt aus diese allgemeine metatheoretische Aus-
sage gefällt wird. Sie muss sich selbst mit einschließen, um gültig sein zu können, behauptet
aber gerade für alle Ebenen, dass ein solches Sich-Miteinschließen nicht möglich ist. Auch Apel
sieht, dass mit der Typentheorie allgemeine Sätze nicht möglich sind, vgl. K.-O. Apel (1976b),
233.
119 Dieses Problem ist von dem obigen zu unterscheiden, da es hier nun nicht um die Reflexivi-
tät als solche geht, sondern um das nähere Kriterium, das wahrheitsfähige oder sinnvolle Sätze
erfüllen müssen.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
58
schaftlichen‘ Sätzen nur die empirisch-logischen (d.h. einzelwissenschaftlichen)
Aussagen fasst (bzw. auf Elementarsätze zurückführbare Sätze) und dass man
(2) prinzipiell nur diesen Sätzen eine Wahrheitsfähigkeit (oder Sinnfähigkeit)
zuschreibt120 und man (3) die philosophischen (und also auch die wissen-
schaftstheoretischen und epistemologischen) Sätze (zurecht) nicht zu den
unter (1) genannten Sätzen zählt. Zwar wird die Forderung ausgesprochen, die
philosophischen Sätze über die Welt und die Natur zu wissenschaftlichen
tzen im Sinne der Naturwissenschaft zu transformieren, doch bleiben hierbei
die wissenschaftstheoretischen Sätze selbst notwendig außen vor. Reflektiert man
nun darauf, dass um die in (2) gemachten Annahmen zu begründen nur Sätze
des dritten Typus in Frage kommen (ja, dass die (2) zugrunde liegende meta-
theoretische These selbst ein nicht empirisch-wissenschaftlicher, sondern ein
nach der eigenen Aussage sinnloser Satz ist), so sieht man recht deutlich das
strukturelle Problem eines jeden Szientismus. In diesem Sinne schreibt Apel
pointiert zusammenfassend:
„Versteht man in dieser Weise den Tractatus als transzendentale Sinnkritik, so
bemerkt man freilich, daß Wittgenstein mit einem Schlag nicht nur die
glichkeit einer ,dogmatischen Metaphysik‘ im Sinne Kants, sondern auch
die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Transzendentalphilosophie als Er-
kenntnistheorie in Frage stellt. Beide Typen philosophischen Denkens reden
nach Wittgenstein gewissermaßen nur von zwei Seiten her von denselben Be-
dingungen der Möglichkeit der Rede, die zugleich Bedingungen der Möglich-
keit der Gegenstände der Rede sind. Von diesen transzendentalen Bedingun-
gen […] läßt sich aber nach Wittgenstein per definitionem nicht ‚reden‘. […]
So gelangt Wittgenstein dazu, sowohl dogmatische Ontologie als auch aprio-
rische (transzendentale) Sprachkritik und damit den gesamten Inhalt seines
eigenen Tractatus als unsinnige Metaphysik zu deklarieren. Ihr insgesamt gilt
der 7. und letzte Hauptsatz des Tractatus: ‚Wovon man nicht sprechen kann,
darüber muß man schweigen‘ (Und es versteht sich, daß auch dieser Satz
demselben Sinnlosigkeitsverdikt unterliegt, sofern er mehr zu sein bean-
sprucht als eine bloße Tautologie.)“121
120 Dies geschieht, um metaphysische Sätze oder ‚reine Vernunftsätze‘ wie die synthetischen
Sätze apriori auszuschließen, worin ein Hauptanliegen des Wiener Kreises, aber auch des Popu-
lärszientismus gesehen wurde (s.o.).
121 K.-O. Apel (1976b), 234f. Im gleichen Zusammenhang findet sich der Verweis auf Hegel
(249) und die Bezeichnung des eigenen Ansatzes als Explikation der „dialektischen Selbstauf-
stufung der Sprache“. Apels Formulierung, nach der Wittgenstein erneut demonstriere, „daß die
Sprache, indem sie eine Grenze zieht, diese Grenze zugleich überschreitet“ (ebd.), knüpft an
das weiter oben angeführte Hegel-Zitat an. Allerdings sieht Apel zwischen der Sinnkonstitution
(die für ihn in der vorreflexiven Lebenswelt angesiedelt ist) und der Geltungsreflexion eine
Spannung, die nicht, wie Hegel glaubt, ‚aufhebbar‘ sei. Apel schlägt stattdessen vor, die ‚Objekt-
sprache‘ der Naturwissenschaft in einer übergeordneten hermeneutischen Sprachebene zu ver-
ankern, wobei diese Sprachebene wiederum in der philosophischen Sprache, die sich selbst zu
begründen vermag, zu fundieren sei. Somit sei die Selbstaufhebungsgefahr gebannt und ein infi-
niter Ebenenregress vermieden, vgl. 247f. Zurecht betont Apel, dass durch diese ‚Selbstthemati-
3. Naturphilosophie als Synthese
59
Am Schluss seines Tractatus weist Wittgenstein selbst mit der bekannten
Leitermetapher auf diese Absurdität hin.122 Doch ist dieser Hinweis wenig hilf-
reich, da auf das Problem nur mit einem Bild angespielt wird,123 es aber nicht
gelöst wird: Eine Leiter, von der versichert wird, dass sie aus lauter unzuverläs-
sigen Sprossen (absurden Sätzen) besteht, sollte man trotz bester Empfehlung
nicht benutzen, und dies erst recht nicht, wenn diese Empfehlung selbst zu den
als zweifelhaft bezeichneten Aussagen gehört.124
Die gleiche Problematik lässt sich auch an Carnaps und Reichenbachs
Positionen verdeutlichen, da sie kennzeichnend ist für den gesamten logischen
Empirismus und alle verwandten szientistischen Positionen. Zwar geht Carnap
davon aus, dass sich auch die Metasprache in der normalen Sprache darstellen
lässt, dass also wissenschaftstheoretische Sätze zulässig sind, und scheint so
den oben genannten ersten Widerspruch zu umgehen. Doch auch seine Kenn-
zeichnung sinnvoller und legitimer philosophischer bzw. wissenschaftlicher
Sätze in seiner frühen, für den Wiener Kreis programmatischen Schrift Die
Überwindung der Metaphysik‘ ist äußerst interessant und läuft auf die schon
beschriebene Ablehnung jeglicher ‚nicht-empirischer‘ (und damit ‚metaphysi-
scher‘) Sätze hinaus: „Aber in Wirklichkeit liegt die Sache so, daß es keine
sinnvollen metaphysischen Sätze geben kann“, R. Carnap (1931a), 236. Weiter
unten heißt es dann in derselben Schrift, dass es nur drei Arten sinnvoller Sätze
geben kann: logische tze, d.h. Tautologien im Sinne Wittgensteins, kontra-
diktorische Sätze (die Negationen der logischen Sätze) und Erfahrungssätze
der empirischen Wissenschaft, vgl. ebd. Nun ist klar, dass der zitierte Satz,
nach dem es keine sinnvollen metaphysischen Aussagen geben kann (und genauer
die hiermit für Carnap bedeutungsgleiche Behauptung, dass nur die genannten
Aussagetypen (die eben die nicht-metaphysischen Sätze sind) sinnvoll sind) in
keine der drei Kategorien gehört. Diese These ist eindeutig weder ein
Erfahrungssatz, noch eine Kontradiktion oder eine Tautologie. Sie selbst erfüllt
also nicht die Kriterien, die eine sinnvolle Aussage zu erfüllen hat. Somit ist es
eine selbstwidersprüchliche oder irreflexive Behauptung, die besagt, dass nur
Sätze einer grundsätzlich anderen Struktur, als diese Behauptung sie aufweist,
sinnvoll seien.
Dieser Selbstwiderspruch in der Begrenzung der Vernunft hängt letztlich
damit zusammen, dass der logische Positivismus nur die Logik und die Erfah-
rung als Wahrheitsquellen anerkennt, er aber gleichzeitig damit in Schwierigkei-
ten gerät, wenn er diejenigen Sätze untersucht, die weder Tautologien sind,
sierung‘ der Sprache kein externer Standpunkt notwendig sei, vgl. 248. Dieses Konzept erinnert
natürlich an Hegels Unendlichkeitsbegriff, nach dem das Absolute nicht jenseits des Endlichen
zu suchen sei. Vgl. hierzu auch unten Kapitel II 1.2.
122 Vgl. L. Wittgenstein (1994), 6.54, 115.
123 Im gleichen Sinne kritisiert auch Kuhlmann den Tractatus, vgl. W. Kuhlmann (1985), 17, 47.
124 Dieser Widerspruch erinnert an das bekannte Beispiel des unmöglich zu befolgenden Hin-
weisschild: „Ignore this signa“.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
6a
noch sich auf die erfahrbare Welt beziehen. Es wurde geschildert, dass eben
solche Sätze unter anderem auch deswegen ausscheiden sollen, da sie als meta-
physische Satztypen als Quellen der Probleme der Philosophie angesehen wur-
den, die nun überwunden werden sollen. Doch sind eben auch die Sätze, mit
denen sich eine solche Ausschließung formulieren und begründen lässt, not-
wendigerweise von genau diesem fraglichen Typus. Pointiert gegen den auch
heute sehr populären Szientismus, der eine der Hauptquellen der allgemeinen
Skepsis des Zeitgeistes gegen die Philosophie ist, formuliert: Man kann nicht
eine Methode (die der Naturwissenschaft) als einzige wahrheitsfähige und zu-
verlässige Methode auszeichnen wollen, wenn die Auszeichnung selbst mit
einer anderen Methode (und zwar gerade mit der, die man schmähen will) for-
muliert und begründet wird.125
Philosophisch betrachtet ist für den Wiener Kreis die zitierte Ablehnung
der Möglichkeit der synthetischen Sätze a priori126 letztlich der Grund für alle
weiteren Widersprüche. Zum einen lässt sich hier das Argument wiederholt
anwenden: Der Satz ‚Es gibt keine synthetischen Sätze a priori‘ ist selbst ein
synthetischer Satz a priori, denn er ist weder ein Erfahrungssatz (er sagt nicht,
es habe nie Philosophen gegeben, die synthetische Sätze a priori aufgestellt
tten, sondern er will sagen, dass diese es nicht zurecht taten) und er ist sicher
keine Tautologie (die Negation: ‚Es gibt synthetische Sätze a priori‘ ist nicht
widersprüchlich). Andererseits scheinen auch alle konkreten wissenschaftsthe-
oretischen Sätze des logischen Positivismus, um die es hier geht (etwa der Satz
‚Nur Sätze, die aus den Regeln der Logik und der Erfahrung gebildet werden,
sind sinnvolle Sätze‘, ‚Die Sätze der Ethik sind nicht sinnvoll‘, ‚Es gibt keine
sinnvollen metaphysischen Aussagen‘ usf.) selbst synthetische Sätze zu sein
und zwar in ihrem Anspruch: synthetische Sätze a priori.127
Doch kann man abschließend die Betrachtung der Irreflexivität des Szien-
tismus noch deutlicher machen, wenn man auf die geschilderte Ablehnung der
Ethik als Teilgebiet der wissenschaftlichen Philosophie blickt. Auch ethische
Sätze sind weder Erfahrungstatsachen noch logische Tautologien, deswegen
waren sie aus der ‚wissenschaftlichen Philosophie‘ ausgeschlossen worden. Bei
Carnap hieß es, dass normative Aussagen nicht in die Philosophie fallen, da
solche Aussagen naturgemäß ebenfalls sinnlos seien.128 Es wird dann natürlich
fraglich, wie sich dann noch der Begriff der Philosophie selbst normieren lassen
soll, etwa dahingehend, dass er metaphysische Sätze (oder ethische Sätze) aus-
schließt. Ein nicht unwichtiger Teil des Geschäfts des logischen Positivismus
125 Im Umkehrschluss lässt sich hierin eine unaufhebbare Selbstbegründung des philosophischen
Denkens sehen. Philosophie im Allgemeinen kann in keiner überzeugenden Weise als sinnlose
Beschäftigung, ja nicht einmal als nur unverbindliches, nicht streng wahrheitsfähiges Denken
betrachtet werden, da sich eine solche Verurteilung der Philosophie als philosophische unmit-
telbar selbst vernichten muss.
126 Vgl. oben Kapitel I 1.2., Anmerkung 23.
127 Vgl. V. Hösle (1990), 75f., (1999a), 93ff.
128 Vgl. oben I 1.2., Anmerkung 38.
3. Naturphilosophie als Synthese
61
bzw. des Wiener Kreises ist es, ein altes und falsches Philosophieverständnis
abzulehnen und zu bekämpfen. Doch läuft dies auf die normative (ethische)
Forderung hinaus, dass Philosophie nicht mehr so betrieben werden soll, wie es
vormals der Fall war. Dann ist aber dieser kämpferische Anspruch des logi-
schen Positivismus, im Namen der Rationalität gegen die Irrationalität (und
gegen die Metaphysik und gegen die Ethik) vorzugehen, selbst nicht und
zwar nach dem eigenen Rationalitäts- und Sinnkriterium rational oder sinn-
voll.
Erläutern wir dies an einem Beispiel: Es wurde oben Reichenbach zitiert,
der ethische Aussagen für nicht wahrheitsfähig und ethische Entscheidungen
r reine Willensentscheidungen hält.129 Aus diesem Grund lehnt er es ab zu
glauben, dass es Aufgabe der Philosophie sein könnte, etwa den Menschen das
gute Leben zu lehren oder ihn zu einem besseren Menschen zu bilden. Gleich-
zeitig ist Reichenbach in seinem Lehren und Schreiben nicht zu Unrecht von
der Forderung durchdrungen, dass man rationale oder wissenschaftliche Philo-
sophie betreiben solle. Damit stellt sich natürlich die Frage nach dieser norma-
tiven Aussage selbst: ‚Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie‘ ist
nicht nur eine deskriptiv-empirische Beschreibung der Welt, sondern enthält
programmatische Forderungen, wie eine ‚wissenschaftliche Philosophie‘ sein
soll. Hiernach gefragt, hält Reichenbach konsequenterweise seine eigene
Maxime zum wissenschaftlichen Philosophieren für eine Willensentscheidung,130
ihm scheint aber zu entgehen, welche Bedeutung es hat, dass nach den eigenen
Voraussetzungen diese Entscheidung zur Rationalität selbst nicht rational und
damit nicht wahrheitsfähig ist. Dies führt nämlich eigentümlicherweise dazu,
dass ganz im Gegensatz zu der Forderung, dass Philosophie auf wissenschaft-
liche Rationalität und nur auf diese bauen soll, jene erkenntnistheoretische
Position selbst nicht wissenschaftlich ist. Dies ergibt sich aus der internen
konsequenten, aber äußerst fatalen Ablehnung ethischer bzw. normativer
Sätze, die jedem Szientismus zu Eigen ist.131 Somit wird Reichenbachs Position
129 Vgl. ebenfalls oben I 1.2., Anmerkung 38.
130 In seiner Einleitung zur Gesamtausgabe von Reichenbachs Schriften geht W. C. Salmon kurz
auf das Problem ein, das sich dadurch ergibt, dass die von Reichenbach geforderte Übe rnahme
des Verifizierbarkeitskriterium selbst eine Aussage ist, die als normative Forderung nicht mit
diesem Kriterium begründet werden kann (vgl. dazu Reichenbach selbst in Experience and Pre-
diction, H. Reichenbach (1977), Band 4, insbes. Kap. 1, §8.). Allerdings glaubt Salmon, dass
sich dieses Problem der (Selbst-)Begründung des Kriteriums durch die Angabe, es handle sich
hierbei um eine willentliche Setzung, auflöst, vgl. Salmons Aussagen in: Reichenbach (1977), 23,
so dass man dadurch der „Verlegenheit“ (ebd.) entgehen könne, die sich aus der Frage ergibt,
ob das Kriterium auf sich selbst angewandt überhaupt noch sinnvoll sein könne. Die Bedeutung
jener Verlegenheit unterschätzt Salmon vollkommen.
131 So hält auch der kritische Rationalismus als letzter Nachfolger der Tradition der gleichzeiti-
gen Verteidigung der wissenschaftlichen Rationalität und der Ablehnung metaphysischer An-
sprüche die eigene Position für nicht rational begründbar. Die Entscheidung für die Vernunft ist
in dieser irreflexiven Position selbst (vergleichbar mit dem Sprung in den Glauben) keine ver-
nünftige Entscheidung, sondern geht dem vernünftigen Philosophieren, man weiß nicht wie und
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
62
selbst zu einem Dogmatismus, da die zugrunde liegende Annahme nicht mehr
gerechtfertigt werden kann, zumindest nicht, solange man die eigenen Maß-
stäbe für eine legitime Rechtfertigung anwendet.132
In der geschichtlichen Entwicklung des logischen Empirismus und der
nachfolgenden Strömungen in der Wissenschaftstheorie stand diese Irreflexivi-
tät nun erstaunlicherweise nicht im Vordergrund der Debatte. Man kann sogar
sagen, dass statt der unten zu besprechenden Erweiterung des Rationalitätsbe-
griffs um reflexive Elemente, um die Paradoxien zu umgehen, eine entgegen-
gesetzte Richtung eingeschlagen wurde. So hat der logische Empirismus nicht
versucht, eine rationale Basis für die realistische Ontologie des Tractatus zu
suchen, sondern strebte danach, diese wittgensteinsche ‚Restontologie‘ zu
überwinden.133 So hat sich die Wissenschaftstheorie im Anschluss an den logi-
schen Empirismus hauptsächlich neben dieser Überwindung der realistisch-on-
tologischen Reste mit dem Induktionsproblem und mit dem Problem der The-
orieabhängigkeit unseres Wissens beschäftigt.134 Reine Erfahrung unabhängig
warum, voraus. Damit beraubt man sich aber jeder Möglichkeit, die Religionen oder unver-
nünftige Philosophien tatsächlich zu kritisieren, was aber wiederum ein Hauptanliegen des kriti-
schen Rationalismus ist. Der Rationalitätspathos ist leer, wenn er sich selbst als nur eine mögli-
che Entscheidung neben anderen sieht, gleichzeitig aber diese anderen Entscheidungen (etwa
die zum Irrationalismus, oder auch die zu einem Absolutheitsanspruch des Denkens) kritisieren
will.
Es ist Apels Verdienst, nicht nur auf dieses Problem aufmerksam gemacht zu haben,
sondern auch gegen den Kanon derjenigen Philosophen, die eine rationale Begründung der
Normativität für unmöglich halten, eine solche vorgelegt zu haben [vgl. Apel (1976a)]. Damit
überwindet er das Dogma, demzufolge rationale Ethik unmöglich sei (so dass in Abgrenzung
zur öffentlichen Wissenschaft Ethik private Willensangelegenheit sei). Dieses Dogma hat sich
nicht nur als unbegründet, sondern auch als unbegründbar erwiesen, da die Ablehnung rationaler
normativer Ansprüche, die der logische Empirismus formuliert, selbst solche Ansprüche hierfür
in Anspruch nehmen muss.
132 In Analogie zu jener methodologischen Selbstaufhebung lässt sich eine Selbstaufhebung jegli-
cher ontologischer materialistischer Reduktionismen aufweisen. Wenn man den Geist bzw. das
Bewusstsein als abhängiges Epiphänomen betrachten will und hierbei vor allem versucht, die
Ansprüche, die das Bewusstsein in Bezug auf Wahrheit und Ethik stellt, eben aufgrund seiner
materiellen Abhängigkeit zu relativieren, so hebt sich jene theoretisch als wahr behauptete Onto-
logie selbst auf: Jede Theorie über das Ganze der Welt muss dem Faktum, dass es Wesen mit
Bewusstsein gibt, die überhaupt erst Theorien mit Wahrheitsanspruch über das Ganze aufstellen,
Rechnung tragen. Ein eliminativer materieller Reduktionismus, der in welcher Form auch immer
das logische Denken als sekundär auf das Materielle als das ‚nichtlogische‘ Primäre zurückfüh-
ren will, untergräbt sich selbst als Theorie, vgl. in diesem Sinne auch H. Jonas (1997), 96f.,
sowie K.-O. Apel (2002), 18.
133 In dieser Richtung ist sowohl das carnapsche Programm als auch Wittgensteins weiterer Weg
zu verstehen. Apel weist darauf hin, dass auch für den anderen Überwinder der traditionellen
Metaphysik, nämlich für Heidegger, seine Kehre nach Sein und Zeit als Versuch zu verstehen
ist, die in diesem Werk noch vorhandenen ontologischen Reste (d.h. die Fassung des Seins in
Denkkategorien) hinter sich zu lassen, vgl. K.-O. Apel (1976b), 249f. Die notwendige Erweite-
rung des Rationalitätsbegriffs (s.u. I 3.2.1.) ist weder in der Heideggernachfolge, noch in der
analytischen Tradition, sondern in der Diskursethik von Apel und Habermas geschehen.
134 Diese Entwicklung stellt deswegen eine entgegengesetzte Richtung dar, da sie nicht versucht,
3. Naturphilosophie als Synthese
63
von aller begrifflichen Strukturierung steht uns nach dieser Auffassung nicht
zur Verfügung und kann somit nicht die Basis der Wissenschaft sein. Erfah-
rungen werden zudem im Sinne des späten Wittgensteins nun als immer über
die Sprache vermittelt betrachtet, wobei die Sinngebung der Grundbegriffe nun
nicht mehr empirisch in der einzelnen Erfahrung verwurzelt wird, sondern an
den faktischen Gebrauch einer Sprachspiel- oder Kommunikationsgemein-
schaft gebunden wird. Somit ergibt sich eine konstruktivistische Strömung als
ein Erbe des logischen Positivismus, die denkbar weit von einer empirisch-rea-
listischen Deutung der Wissenschaft entfernt ist, ohne dass jedoch in dem
Selbstverständnis der Naturwissenschaft und im allgemeinen Bewusstsein sich
diese Abkehr vom empirischen Realismus besonders bemerkbar macht. Ein
zweiter Nachfolger des logischen Positivismus ist der Pragmatismus, der in
seinem Grundanliegen mit dem Konstruktivismus übereinkommt. Auch hier
ist die Grundannahme, dass eher der Gebrauch der Sprache und der Gebrauch
der Methoden und Werkzeuge die ‚Wahrheit‘ bestimmt, als dass sie aus der
passiven, ‚abbildenden‘ Beobachtung gewonnen wird. Da im Folgenden eine
Modifizierung des Szientismus in gerader entgegengesetzter Richtung vorge-
schlagen werden soll, ist es nicht notwendig, auf diese Entwicklung in aller
Breite einzugehen. Allerdings wird auf die Argumente dafür, dass diese weitere
Einschränkung des ohnehin schon eingeschränkten Vernunftbegriffs nicht
durchzuhalten ist, nun im Zusammenhang mit der Kritik am antiszientistischen
Irrationalismus eingegangen werden. Festzuhalten bleibt, dass der radikale logi-
sche Empirismus als gescheitert betrachten werden muss, insofern er nämlich
seinen eigenen normativen wissenschaftstheoretischen Aussagen selbst die
Grundlage entzieht.135 Die weitere Abschwächung des Pathos der objektiven
Wissenschaftlichkeit in der weiteren Entwicklung der Wissenschaftstheorie
kommt den Antiszientisten in ihrem Anliegen näher als es noch der Positivis-
mus war. Denn auch für die Antiszientisten, die ja zumeist an einem eigenstän-
digen Bild der Natur, das nicht durch wissenschaftliche Kategorien bestimmt
ist, interessiert sind, ist es entscheidend so wurde oben dargestellt den
Wahrheitsanspruch der Wissenschaft zu relativieren.
den Empirismus um eine nicht-empirische Basis zu erweitern, um so an der Objektivität der
Wissenschaften festzuhalten, sondern sie versucht, in Akzeptanz der kritischen Einwände,
diesen Objektivitätsanspruch zu modifizieren. Nach einer Kritik am logischen Empirismus und
Szientismus sind so zwei Wege möglich: Entweder man versucht, die Grundlegung der Wissen-
schaft philosophisch zu erweitern und zu stärken, oder man schwächt den Anspruch der Wis-
senschaften ab. Am Ende dieser Entwicklung treffen sich dann, wie geschildert, mythischer Ir-
rationalismus und postmoderne Wissenschaftstheorie. Die neuere Wissenschaftstheorie scheint
sich somit von dem logischen Empirismus weiter zu entfernen, als dies hier im Folgenden trotz
aller Kritik am Empirismus geschehen soll.
135 Man kann diese Entwicklung des logischen Empirismus als Selbstwiderlegung des Empiris-
mus deuten, wie dies D. Wandschneider in einer Analyse der Philosophie von R. Carnap
skizziert, vgl. Wandschneider (1975).
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
64
3.1.2. Antiszientismus
Es ist ersichtlich, dass die oben durchgeführte Kritik am Szientismus und am
logischen Empirismus nicht auf ein Plädoyer für eine antiszientistische oder
mythisch-religiöse Natursicht hinausläuft. Ganz im Gegenteil ist nur zu deut-
lich, dass eine wissenschafts- und vernunftkritische Haltung derselben Irrefle-
xivität unterliegt, wie nun in einer kritischen Betrachtung der antiszientisti-
schen Position deutlich gemacht werden soll. Während der logische Empiris-
mus die Wissenschaften, speziell aber die Naturwissenschaft überschätzt, wenn
er nur in dieser die vollständige Wahrheit über die Natur zu finden glaubt, so
unterschätzt die Wissenschaftskritik das Potential der Wissenschaft (und der
Naturwissenschaft), wenn sie die Wahrheit über die Natur im vor- oder außer-
wissenschaftlichen, naiv-mythischen Denken finden will.
Es wurden oben mehrere Wurzeln der Wissenschaftskritik benannt, die
kurz wiederholt seien. Zunächst ging die Kritik von der Überwindung des auf-
klärerischen Standpunktes der Vernunft aus, so dass andere Erkenntnisvermö-
gen (etwa Anschauung und Gefühl) und damit auch ‚vorrationale‘136 Weltbilder
wieder zur Geltung kommen sollen. An die Stelle der rationalen Analyse soll
das ‚holistische Ganzheitsdenken‘ treten. Der vom Szientismus begrüßte
Durchbruch zur Vernunft wurde als entscheidender Schritt zum Verfall der
Philosophie gedeutet, ‚vorvernünftige‘ Denkweisen wie das Mythische und das
Religiös-Anschauliche wurden damit wieder interessant. Sodann wurde an den
Naturwissenschaften insbesondere der hinter ihr stehende Herrschaftsan-
spruch bemängelt. Schließlich wurde auf den historischen Wandel der Natur-
bilder hingewiesen, ja auch auf den Wandel der naturwissenschaftlichen Theo-
rien selbst, der nicht erlaubt, eine jeweils bestimmte Theorie über die Natur als
absolut wahr zu akzeptieren. So sehr es anzuerkennen ist, dass zumeist hinter
all diesen Argumenten gegen den Absolutheitsanspruch der wertfreien (Natur-
136 Jamme, für den das mythische Denken eine andere Form des Denkens (und d.h. wohl auch
der Rationalität) ist, erklärt, dass man in Bezug auf das Mythische nicht vom ‚Vorrationalen‘
sprechen kann und lehnt die Vorstellung eines Durchbruchs vom ‚Mythos zum Logos‘, aber
auch die analoge Rationalisierungsthese von Habermas ab, vgl. Ch. Jamme (1991), 1f., 143ff.,
insbes. 149. Dass im mythischen Denken bereits Vernunft am Werke ist, d.h. dass der Mythos
eine Form der Reduktion von Komplexität darstellt und eine Erklärungsleistung gegenüber dem
Kosmos beansprucht, ist nicht zu bestreiten. Doch kann man dennoch die These vertreten, dass
erst mit der Aufklärung und mit der Reflexion auf die mythischen Geschichten die in diesen
Mythen verborgenen Wahrheiten ins Begriffliche übersetzt und damit auch ‚in ihre Wahrheit
gebracht werden.‘ Wenn man von der prinzipiellen Überlegenheit der expliziten Reflexion (d.h.
der Philosophie) gegenüber anderen Denkformen ausgeht und für dieses Denken den Begriff
des ‚Rationalen‘ verwendet, so kann man auch weiterhin vom ‚vorrationalen‘ Denken sprechen,
ohne zu verkennen, dass in diesem Denken Vernunft zu finden ist (daher verwende ich den
Begriff des Vorrationalen in Anführungsstrichen). Diese Form der Vernunft zu finden, wie es
die Befürworter des Mythischen tun, ist aber selbst kein mythischer Akt, sondern eine Leistung
vergleichender und expliziter ‚Rationalität‘, vgl. unten S. 75.
3. Naturphilosophie als Synthese
65
)Wissenschaften das Bemühen steht, die Dimension des Normativen und des
Absoluten in der Betrachtung der Natur wiederzugewinnen, so sehr müssen
doch zwei Aspekte im Folgenden kritisch beleuchtet werden. Zum einen
basiert ein großer Teil der dargestellten antiwissenschaftlichen und anti-ratio-
nalen Kritik auf der Verwechslung von Genese und Geltung, d.h. auf einem
historistischen bzw. genetischen Fehlschluss. Dies soll zuerst kurz kritisch
erläutert werden (a). Zum anderen ist mit dem oben verwendeten Selbstan-
wendungsargument zu zeigen, dass die Abwertung der rat ionalen Methode und
die Aufwertung der nicht-begrifflichen Vernunft nicht konsistent und damit
ebenfalls irreflexiv sind. Um dies zu zeigen, empfiehlt es sich, die Argumente
für die überlegene Wahrheitsfähigkeit des mythischen, nicht-wissenschaftlichen
Denkens kurz kritisch zu erörtern, um ihre Voraussetzungen deutlich zu ma-
chen (b). Im Rahmen dieser Arbeit kann natürlich nicht eine ausführliche
Diskussion sämtlicher Kritiken am Programm der Vernunft und der Wissen-
schaft in aller Differenziertheit geschehen.137 Dies ist aber auch für die weitere
Argumentation nicht nötig, da hier auf abstrakter methodologischer Ebene der
prinzipielle Vorrang des vernünftigen Argumentierens bei der Beantwortung
philosophischer Fragen einerseits, aber insbesondere bei der Beantwortung
naturphilosophischer Fragen andererseits, dargelegt werden soll.
(a) Um mit dem ersten Aspekt zu beginnen, so ist an fast allen gängigen
Argumenten zur Wissenschaftskritik der ‚historistische Fehlschluss‘ (oder
weiter: der genetische Fehlschluss) zu bemängeln. Janich und Hübner etwa
kritisieren beide den Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaften mit
Verweis auf die historische Bedingtheit (bzw. die kulturell-historische Abhän-
gigkeit) ihrer Erkenntnisse. So spricht Janich im Sinne der allgemeinen neueren
relativistischen Wissenschaftsauffassung davon, dass Naturwissenschaft nicht
objektive Gesetze ‚entdecke‘ ([1992], 226), sondern im Ganzen ‚kulturabhän-
gig‘ (ebd.) sei.138 Hübner verweist auf die historische Abhängigkeit der ersten
137 Es ist immerhin interessant festzustellen, dass die postmoderne Vernunftkritik zumeist ke ine
eigene differenzierende Theorie der Vernunft vorgelegt hat, so dass sie bei Kritik eines Teilbe-
reichs dessen, was Vernunft ausmacht (etwa bei Kritik der strategischen Elemente oder bei
Kritik der zweckrationalen Vernunft), die Rationalität als solche im Ganzen als philosophische
Methode zurückweisen will, vgl. in diesem Sinne K. Gloy (2001), 11 und V. Hösle (1995b), 59,
203. Auf diese Problematik einer differenzierten Betrachtung der verschiedenen Vernunftbeg-
riffe soll weiter unten (I 3.2.1.) eingegangen werden, da hierin eine Lösung für die Verbindung
von Naturwissenschaft und Naturphilosophie jenseits von Szientismus und Antiszientismus
liegt.
138 Das Buch von P. Janich (1992) trägt den provozierenden Titel „Die Grenzen der
Naturwissenschaft“, spricht sich aber dann doch bei einer eher behutsamen Begrenzung des
wissenschaftlichen Anspruchs für die (Natur-)Wissenschaft aus. Es ist zwar löblich, dass Janich
sich angesichts des Vorherrschens der Vernunftkritik für die Vernunft (und damit für die Wis-
senschaft) aussprechen will (229). Ob sich aber einerseits vernünftiges Reden über die Natur in
der Naturwissenschaft erschöpft, ist fraglich, wird aber von Janich nicht gesondert thematisiert
(er überlässt das Reden über das ‚Metaphysische‘ wie viele Andere den ‚Irrationalen‘ (Janich
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
66
großen naturwissenschaftlichen Theorien von metaphysisch-religiösen Annah-
men, die heute ‚historisch‘ überholt seien.139 Beide verstehen diese Abhängig-
keiten nicht nur als genetische, sondern unter Begehung des genetischen Fehl-
schlusses als geltungstheoretische Abhängigkeit. Gegen eine solche Argumen-
tation ist daran zu erinnern, dass aus der Tatsache, dass zu unterschiedlichen
Zeiten unterschiedliche Annahmen über die Natur getroffen wurden, keines-
wegs schon folgt, dass keine von diesen Annahmen wahr sein könne. Gleiches
gilt natürlich für den Verweis darauf, dass unterschiedliche Kulturen Unter-
schiedliches über die Natur aussagen. Denn schließlich ist auch diese meta-
theoretische Annahme des historischen Relativismus selbst in der Geschichte
der Philosophie wiederholt aufgetreten (und auch wieder verschwunden), wo-
raus alleine sich noch nichts über ihre Geltung aussagen lässt. Allerdings lässt
sich sagen, dass, wenn der Historismus in einem radikalen Sinne wahr wäre, er
falsch sein müsse (woraus unter der plausiblen Zusatzbedingung, dass er auch
falsch ist, wenn er falsch ist, folgt, dass er notwendig falsch ist): Wenn alle
Theorien schon deswegen als falsch zu gelten hätten, weil sie in einer
historischen Tradition stehen, so gilt dies auch für den historischen Rela-
tivismus selbst, der sich somit, wie jede radikal-skeptische Theorie, aufheben
muss.140 Es mag sein, dass es kulturelle, historische und sicher auch religiöse
Bedingungen gibt, die die modernen Wissenschaften erst haben entstehen
lassen. Doch daraus ist, wenn man Ursachen von Begründungen trennt, nicht
abzuleiten, dass die Wissenschaften nicht nur in ihrer Entstehung, sondern
auch in ihrer Geltung bedingt seien. Ferner ist nicht ganz ausgemacht, ob sich
der Wandel innerhalb der Wissenschaft nicht doch als Fortschritt wird deuten
lassen können. (So wurde oben schon die Vereinigung von Axiomen bzw. das
Zurückführen disparater Phänomene auf eine gemeinsame Erklärung als Krite-
rium für wissenschaftlichen Fortschritt definiert. Ebenso wurde darauf verwie-
sen, dass dieser Anspruch der Vereinheitlichung identisch ist mit dem philoso-
phischen Anspruch auf Erklärung der Welt, die nur verstanden oder begriffen
werden kann, indem immer mehr Unbekanntes auf Bekanntes zurückzuführen
ist. Legt man dieses Kriterium an die Naturwissenschaften an, so ist die An-
verweist auf Capra [229]). Andererseits ist nicht ganz klar, wie man die Aufgabe der Objektivi-
tät der Rationalität im naturwissenschaftlichen Sinne mit einem Plädoyer für diese Rationalität
verbinden kann. Der Vorzug einer Methode (hier der rationalen Methode der Wissenschaft vor
der (freilich für Janich wohl notwendig irrationalen) Befriedigung des „metaphysische[n]
Grundbedürfnis[es]“[ebd.]) zur Naturerkenntnis kann wohl letztlich schwerlich anders als über
den Bezug zur Wahrheit begründet werden.
139 Vgl. das Kapitel zu den religiösen Voraussetzungen der Wissenschaft, K. bner (1985),
30ff. Zwar weist Hübner selbst den Historismus, den Irrationalismus und den Relativismus
zurück (256), verwendet aber immer wieder relativistische Argumente, die auf der Verwechs-
lung von Genese und Geltung basieren, vgl. etwa 255f.
140 Zur Sinnkritik am Historismus vergleiche das kurze Buch von R. Lauth (1966), das auf der
Ungeschichtlichkeit der Wahrheit besteht und das sicher nicht zufällig von einem Philosophen
geschrieben wurde, der sich ausführlich mit dem deutschen Idealismus (näher mit Fichte, dem
das Selbstanwendungsargument nicht gerade unbekannt war) beschäftigt hat.
3. Naturphilosophie als Synthese
67
nahme der Möglichkeit eines Wissensfortschritts bei allen Revolutionen der
Grundparadigmen nicht unplausibel. Dies gilt auch insofern, als selbst noch der
historische Relativismus ihn voraussetzt, feiert er sich selbst d.h. die Ansicht,
nach der es keine wahren, sondern nur historisch gewordene, gleichberechtigte
Theorien gäbe als Fortschritt in der Geschichtsphilosophie, die nun eben
gerade die Fortschrittsmodelle aufzugeben habe.)
Es ist leicht zu sehen, dass die analoge Trennung von Genese und Geltung
nicht nur für den historistisch oder kulturell inspirierten Relativismus, sondern
auch für den Bereich der Annahmen über Herrschaftsansprüche hinter Theo-
rien gilt: Eine Theorie mag wahr sein, obwohl hinter ihr Herrschaftsansprüche
stehen, ja obwohl sie gewisse Ansprüche zu legitimieren vermag, genauso wie
eine Theorie, die ohne jede Herrschaftsansprüche, sondern aus dem reinen
Wunsch nach Erkenntnis konstruiert wird, falsch sein kann. Über Wahrheit
und Falschheit entscheiden nur Gründe, nicht Ursachen oder Absichten, auch
wenn es richtig bleibt, dass uns bestimmte nur allzu offenkundige Absichten
hinter gewissen Theorien oder Legitimationssystemen skeptisch machen soll-
ten. Nur muss nach einer solchen Skepsis die Widerlegung jener in Frage
stehenden Theorien erfolgen, die nicht schon durch das Nachweisen einer
Koinzidenz von Interessen und Theorie geleistet ist. So mag es auf unseren
Fall angewendet durchaus sein, dass die Annahme, in der Natur seien keine
Werte verwirklicht, die es zu respektieren gelte, dem Ausbeutungsbedürfnis
des Menschen stark entgegenkommt. Dass diese Annahme falsch ist, folgt aber
nicht schon daraus, dass sie einem bedenklichen Wunsch entspricht, sondern
muss gesondert gezeigt werden.141 Auch mag es möglich sein, dass die
Naturwissenschaften die ganze Wirklichkeit des Kosmos beschreiben, auch
wenn die so beschriebene Wirklichkeit jeder intrinsischen Würde entbehren
mag. Es ist ohne das Hinzunehmen weiterer Argumente aber offen, ob dies
gegen die Naturwissenschaft oder gegen die Sehnsucht nach weitergehenden
‚metaphysischen Aussagen‘ über die Natur spricht.
Betrachten wir dieses Selbstanwendungsargument gegen die Kritik am
Szientismus, so lässt es sich wie folgt zusammenfassen: Der entscheidende
Punkt ist, dass die wissenschaftstheoretische Beurteilung der Wahrheit der
Naturwissenschaft, wenn sie auf genetische Bedingungen verweist, zumeist
auch einräumen muss, dass die gleichen oder analoge genetische Bedingungen
auch Bedingungen der Möglichkeit dieser wissenschaftstheoretischen Metareflexion
sind. Hierin ist das Problem der Selbstaufhebung der skeptischen wissen-
schaftstheoretischen Annahmen begründet. Hier wiederholt sich also gleich-
sam spiegelverkehrt zur Kritik am Positivismus dasselbe Problem. Hatte jener
einen Weg zur Wahrheit ausgezeichnet, (und einen anderen Weg auf dem
141 Dies gilt übrigens insbesondere dann, wenn man gegen gewisse verkürzte Darstellungen im
antiszientistischen Lager nicht annimmt, dass die Entstehung der Naturwissenschaft selbst sich
ausschließlich dem Herrschaftsstreben der Menschen verdankt, sondern dass in ihr auch das
Interesse nach Erkenntnis der Natur eine eindeutige Rolle spielt.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
68
aber auch die eigenen Aussagen gewonnen wurden verdammt), so werden
hier genetische Argumente gegen die Möglichkeit von wissenschaftlicher
Wahrheit vorgetragen. Da aber zum einen falsche wie wahre Theorien glei-
chermaßen genetisch entstanden sind und da zum anderen auch die Metarefle-
xion selbst eine Genese haben muss, findet eine Selbstaufhebung statt. Natür-
lich lässt sich dieses Problem umgehen, wenn man die eigenen Annahmen von
den kritisierten Annahmen ausnimmt, etwa indem man sagt, dass die Einsicht
in die Unwahrheit der Naturwissenschaften eine höhere (und keine naturwis-
senschaftlich gewonnene) Einsicht ist (analog: dass die Einsicht in die Unzu-
länglichkeit der Vernunft nicht aus der Vernunft selbst stammt). Doch für
diese ‚Rettung‘ der Wissenschaftskritik muss der rein genetische Standpunkt
verlassen werden und Typen von Argumenten müssen logisch voneinander
unterschieden werden. Hierauf wird nun im nächsten Abschnitt (b) eingegan-
gen. Ein Hinweis auf genetische Faktoren reicht also nicht aus, es ssen
Gründe genannt werden, warum das wissenschaftliche Programm nicht funkti-
onieren kann (und damit einhergehend Gründe, warum ein anderes Programm
bzw. eine andere Methode überzeugender ist).142 Die genetisch fundierte Wis-
senschaftskritik muss aber hiermit als nicht hinreichend begründet zurück-
gewiesen werden. Historischer Wandel in den Wissenschaften, historische und
kulturelle Abhängigkeit sowie die strategische Bedeutung der Wissenschaft
sind in jedem Fall kompatibel mit dem Wahrheitsanspruch und der Wahrheits-
möglichkeit der Wissenschaften.
(b) Diese Zurückweisung der genetisch-relativistischen antiszientistischen
Vorbehalte gegen die Wissenschaft ist natürlich noch keine positive Rechtferti-
gung der Wahrheitsansprüche der Wissenschaft, auch ist hiermit nicht gesagt,
dass sich keine rein geltungstheoretischen Argumente gegen den Anspruch der
Wissenschaften auf intersubjektiv verbindliche Wahrheit bzw. der Naturwis-
senschaften auf alleinige Erkenntnis der Natur finden lassen. In der Tat gibt es
einige Argumente der Antiszientisten, die rein geltungstheoretischer und nicht
genetischer Natur sind. Hiermit ist das oben angeführte zweite Problem des
Antiszientismus angesprochen: Einhergehend mit der Zurückweisung des
Wahrheitsanspruchs des modernen wissenschaftlichen Weltbildes geht der
Antiszientismus davon aus, dass die wissenschaftlich-rationale Methode zu-
rückzuweisen sei und dass ein nicht-rational erfassbares, mythisch-religiöses
Naturbild den modernen Naturwissenschaften vorzuziehen ist.143 Will man
142 Es ist jedoch erstaunlich, wie oft im Rahmen der Wissenschaftskritik bei dem Aufweisen von
Ursachen stehen geblieben wird und wie selten stringente Gründe für ein mögliches Scheitern
des wissenschaftlichen Ansatzes angegeben werden.
143 Natürlich lassen sich neben dieser Ansicht, nach der entweder der ‚logische‘ oder der ‚mythi-
sche‘ Weg zu verfolgen sei, vermittelnde Positionen denken, die dann zumeist auf das ‚Myth i-
sche im Logos‘ oder das ‚Logische im Mythos‘ verweisen müssen. Dieses Kapitel, das den Streit
zwischen Szientismus und Antiszientismus darstellt, hebt auf die Unterschiede von ‚Mythos‘
und ‚Logos‘ ab, das Kapitel zur Naturphilosophie (I 3.2.) versucht eine konsistente Versöhnung
3. Naturphilosophie als Synthese
69
diese Bevorzugung hinreichend begründen, so muss dies nach dem eben Gesag-
ten unabhängig von dem Nachweis genetischer Bedingungen der Wissenschaft-
lichkeit geschehen. Die wichtigsten Argumente des Antiszientismus für die
Überordnung des mythischen und ganzheitlichen Denkens sollen nun in drei
Schritten kritisch besprochen werden. Zunächst soll erstens auf das Argument
der ‚Realitätsnähe‘ des anschaulichen Denkens, das hierin der abstrakten Ratio-
nalität überlegen sei, eingegangen werden. Sodann wird zweitens der ‚Ganz-
heitsanspruch‘ mythischer Naturbilder zu untersuchen sein. Diese beiden Kri-
tiken laufen drittens auf die übergeordnete Kritik der Irreflexivität auch der
geltungstheoretischen Argumente des Antiszientismus hinaus.
(1) Das erste Argument für die Überlegenheit der Naturerfassung im Mythos
wurde oben (S.43f.) schon dargestellt: Das wissenschaftliche und das vernünf-
tig-begriffliche Denken bewegt sich im Abstrakten, das mythische und religi-
öse Weltbild bleibt im Bereich des Anschaulichen und Konkreten. Damit, so
wurde argumentiert, erhebt das mythische und das holistische Naturdenken im
Gegensatz zur Analyse durch die Vernunft und die Wissenschaft den Anspruch,
unmittelbarer die Wahrheit wiederzugeben. Die oben dargestellte und nicht
genetisch argumentierende Logoskritik geht von einer größeren Nähe des
Mythischen zur Realität aus und betrachtet den Logos als eine im größeren
Maße vermittelte Betrachtung der Welt, die im Wesentlichen auf Abstraktion
(damit, so suggeriert das Argument, auf einem größeren ‚Abstand‘ zur Wahr-
heit) beruht. Während der Mythos die ‚Fülle der Wirklichkeit‘ direkt wider-
spiegle, ‚stülpe‘ der Logos der Welt ein externes und abstraktes Ordnungssys-
tem über. Im mythischen Symbol sei nun gar eine Form der Identität erreicht,
die dem abstrahierenden Logos nicht zugänglich sei. Im Anschluss an die
Darstellung dieses Argumentes bei Gloy heißt es im Sinne der Idee des ‚mythi-
schen Symbols‘: „So repräsentiert ein Erdklumpen nicht das ganze Feld, son-
dern ist dieses.“144 Während der wissenschaftliche Logos also etwas Anderes,
Abstrakteres gegenüber der Welt ist, strebt der Mythos die Einheit von
Zeichen und Bezeichnetem an und ist somit ‚realistischer‘.
Diese Logoskritik ist insofern besonders interessant, da sie mit dem Empi-
rismus (und gegen den kantischen oder hegelschen Idealismus) eine gemein-
same Voraussetzung teilt: Es wird davon ausgegangen, dass die Welt in Sinne
eines naiven Realismus nicht-begrifflich zu deuten ist und dass die vorbegriffli-
che Anschauung das letzte Wort habe in der Entscheidung über das Wahre und
das Falsche. Der Vorrang einer als konkret gegebenen Realität vor aller Theorie
ist die gemeinsame Prämisse beider Positionen (und man kann sagen, es ist die
Prämisse der modernen Vernunftkritik überhaupt), nur aufgrund dieser Prä-
misse kann der Vorwurf der Abstraktion gegen die Wissenschaften erhoben
werden, da vorausgesetzt ist, dass Begrifflichkeit etwas Subjektives und Abstrak-
beider Anliegen, indem auf die Gemeinsamkeiten verwiesen wird.
144 K. Gloy (2001), 33.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
7a
tes und ‚Gegenständlichkeit‘ etwas Objektives und vor allem nicht etwas Be-
griffliches ist. In hegelscher Sicht befindet sich diese Annahme also auf der
Stufe der vorskeptischen Anschauung, die hinter sich zu lassen für Hegel wohl
zurecht erst der Anfang des Weges zur Philosophie ist.145 Natürlich ist die
Betrachtung des wissenschaftlichen Denkens als abstrakt‘ zunächst einmal zu-
treffend. Aus der Fülle der Naturerscheinungen werden (wie im Mythos)
einzelne Aspekte ‚isoliert‘ betrachtet und in Beziehungen gesetzt, und die oft
beklagte Zersplitterung des Wissens hängt ohne Zweifel mit diesem Grundzug
wissenschaftlicher Erkenntnis zusammen. Doch heißt dies nicht, dass ein kon-
kreter philosophischer Einheitsstandpunkt hinter (oder über) den Einzelwissen-
schaften nicht doch ein begrifflicher Standpunkt sein kann, wenn man nur an
dem Unterschied von abstraktem Verstand und konkreter Vernunft festhält (s.
u. Kapitel I 3.2.).
In diesem Sinne muss aus der Perspektive eines objektiven Idealismus, wie
ihn Hegel vertritt und wie er weiter unten146 erläutert werden wird, jener
Vorwurf der Abstraktheit zurückgewiesen und genauer: umgedreht werden.
Die Begriffe, die die Wissenschaften (und vor allem die Philosophie) an die
Welt herantragen, sind nach dieser Auffassung der innerste Kern der Welt,
wohingegen das Stehenbleiben auf dem Gebiete der Anschauung sich an der
äußeren Erscheinung festhaltet, die aber für Hegel gerade zu überwinden ist,
wenn man zur Wahrheit vorstoßen will. Genau diese Überwindung ist es, die
die Wissenschaft anstrebt, wenn sie Theorien über die Welt erstellt. Aus der
Perspektive eines simplen Abbildrealismus mag es in der Tat nahe liegen, zur
ursprünglichen mythischen Einheit mit der Welt zurückkehren zu wollen, aus
der Perspektive einer rationalen Philosophie ist gerade das vernünftige Begrei-
fen der Welt und die Abstraktion von der Sinnlichkeit der Beginn des Vorsto-
ßens zur Wahrheit. So mag es in der Tat das Selbstverständnis des mythischen
Menschen sein, dass im Symbolgegenstand eine Einheit zwischen dem Symbol
und dem Symbolisierten vorliegt (‚ein Erdklumpen ist das ganze Feld‘), doch
ist es viel plausibler, eine echte Selbstreferenz (zu sein, was man bezeichnet)
dem Denken und einigen Begriffen (und nicht den realen Gegenständen) zuzu-
schreiben: Das Denken des Denkens ist im entscheidenden Sinne selbst Ge-
danke, der Begriff des Begriffs ist ein Begriff. Jede naturphilosophische Be-
trachtung kommt somit nicht umhin, Stellung zu beziehen bezüglich der Ver-
mittlung der beiden Pole des Subjektiven (des Denkens bzw. des Begrifflichen)
und des Objektiven (des Seins bzw. der Natur als Realität). Hierzu schreibt
Hegel in Bezug auf den Standpunkt der Naturphilosophie:
„Die Vereinigung beider Bestimmungen nämlich ist das, was man den ur-
sprünglichen Stand der Unschuld nennt, wo der Geist mit der Natur iden-
145 6.258ff. Dort wird allerdings auch an der kantischen Konzeption des Dinges an sich und an
der Synthese der Einheit der Apperzeption aus der gegebenen sinnlichen Mannigfaltigkeit diese
Annahme einer Realität jenseits des Begriffs kritisiert.
146 Vgl. Kapitel II 1.
3. Naturphilosophie als Synthese
71
tisch ist und das geistige Auge unmittelbar im Zentrum der Natur steht,
während der Standpunkt der Trennung des Bewußtseins der Sündenfall
aus der ewigen göttlichen Einheit ist. Diese Einheit wird vorgestellt als
eine ursprüngliche Anschauung, eine Vernunft, die zugleich Phantasie ist,
d.h. sinnliche Gestalten bildend und eben damit die sinnlichen Gestalten
vernünftigend. […] Die Exzentrizitäten der Naturphilosophie haben zum
Teil ihren Grund in einer solchen Vorstellung, daß, wenn auch die jetzi-
gen Individuen sich nicht mehr in diesem Zustande des Paradieses befin-
den, es doch noch Sonntagskinder gebe, denen Gott die wahrhafte
Erkenntnis und Wissenschaft im Schlafe mitteile; oder daß der Mensch,
auch ohne Sonntagskind zu sein, wenigstens durch den Glauben daran
sich in solche Momente versetzen könne, wo das Innere der Natur von
selbst ihm unmittelbar offenbar sei, wenn er nur sich einfallen lasse,
Einfälle zu haben, d.i. seine Phantasie walten lasse, um prophetisch das
Wahre auszusprechen.“ (9.17)
Etwas später betont Hegel im Sinne einer Verteidigung des Begrifflichen die
Defizienz dieses Ansatzes in der Naturphilosophie:
„Um kurz darauf einzugehen, worin der Mangel solcher Vorstellung liegt, so
muß zunächst freilich dies zugegeben werden, daß etwas Hohes darin ist, das
ihr auf den ersten Blick große Empfehlung gibt. Diese Einheit der Intelligenz
und der Anschauung, des Insichseins des Geistes und seines Verhaltens zur
Äußerlichkeit, muß aber nicht Anfang, sondern Ziel, nicht eine unmittelbare,
sondern eine hervorgebrachte Einheit sein. Eine natürliche Einheit des Den-
kens und des Anschauens ist die des Kindes, des Tiers, die man höchstens
Gefühl, aber nicht Geistigkeit nennen kann. […] Jene unmittelbare Einheit
ist so nur abstrakte, ansichseiende Wahrheit, nicht die wirkliche Wahrheit;
nicht nur der Inhalt muß das Wahre sein, sondern auch die Form“ (9.18)
Hegel optiert so in seiner Naturphilosophie für die Methode der Wissenschaft-
lichkeit, nach der das in der Naturphilosophie Ausgesagte auch begriffen und
gedacht sein muss. Naturphilosophische Gedanken müssen sich als solche (so
wie man es wohl für jeden philosophischen Gedanken fordern kann) argumen-
tativ ausweisen können. Will man diese Option Hegels teilen, so muss man wie
Hegel davon ausgehen, dass die Begriffe, die das Denken an die Welt heran-
trägt, dieser nicht fremd sind, sondern in ihr auch zu finden sind. Teilt man
diese Voraussetzung, so ist der Abstraktionsvorwurf gegen den Logos nicht
mehr gültig. Der Logos ‚stülpt‘ der Welt dann kein Begriffsnetz mehr über,
sondern legt ihre innere Vernunft frei. Auf diesen engen Zusammenhang
zwischen wissenschaftlicher Methode und objektivem Idealismus, der der
gewöhnlichen Entsprechung von Empirismus und Wissenschaft entgegensteht,
wird weiter unten noch näher eingegangen. Wichtig ist es festzuhalten, dass nur
unter der Voraussetzung, dass der Logos etwas Fremdes gegenüber der empiri-
schen Welt ist, nur unter der Voraussetzung, dass das Denken nicht dem Sein
entspricht, jene Abwertung des Logos zu begründen ist. Diese Voraussetzung
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
72
selbst kann aber kontrovers diskutiert werden. Ferner ist mit der Abwertung
des einen Vermögens (der Vernunft) nicht zugleich schon gezeigt, inwiefern
ein anderes Vermögen (die Anschauung oder die unmittelbare Erfahrung)
besser zur Erfassung der Wahrheit geeignet ist. Bleibt man auf der Ebene der
Unmittelbarkeit der Anschauung stehen, findet keine Vermittlung und damit
kein Begreifen der Welt statt. Die so gedeutete Welt bleibt mythisch-geheim-
nisvoll und damit letztlich unerklärt und unverstanden.147
(2) Hiermit sind wir beim zweiten Aspekt, dem ganzheitlichen Anspruch des
antiszientistischen Naturbildes, angelangt. Es wurde oben der Ausgang vom
Ganzen her dargestellt und erläutert, inwiefern in der mythischen Ontologie
das Ganze vom Paradigma des Geistes und des Lebens her gedeutet wird, um
so einen umfassenden Einheitsstandpunkt zu finden. Es wurde ebenfalls schon
angedeutet, inwiefern eine Vernachlässigung der Kategorien des Geistes mit
seinem Anspruch auf Wahrheitsfähigkeit zu Problemen bei der Selbsteinholung
des Szientismus führt.148 Doch kann man dem wissenschaftlichen Weltbild
vorwerfen, dass es zu sehr in der Analyse und der ‚Zerstückelung‘ bleibt, so
kann man bei den Antiszientisten bemängeln, dass sie umgekehrt die Kategorie
der Differenz nicht hinreichend zur Kenntnis nehmen. Zwar mag man, wie
Jamme ausführt, die Trennung zwischen dem Bereich des Profanen (als Bereich
der Wissenschaften) und des Heiligen und ‚Sinnstiftenden‘ (als Bereich der
147 Um die Aktualität jener Überlegungen auch aus heutiger Sicht plausibel zu machen, lohnt
sich ein kurzer Blick in die wenigen, aber doch aufschlussreichen Veröffentlichungen der eher
mythischen und tendenziell antiszientistischen Richtung der zeitgenössischen Naturphiloso-
phie. In dem Buch „Philosophia Naturalis“ (T. Arzt [1996]) etwa, das dem durchaus lobenswer-
ten Anliegen gewidmet ist, angesichts der szientistischen und antimetaphysischen Übermacht
Ansätze zu einer neuen Naturphilosophie zu entwickeln, finden sich in dem Aufsatz von
Cramer/Cramer Überlegungen, die Ergebnisse der Naturwissenschaft mit der mythischen
Lehre des Yin-Yang in Verbindung zu bringen (Cramer, Cramer (1996), 255ff.). Doch kommt
die Abhandlung über abstrakteste Allgemeinheiten etwa der Art, die ganze Welt sei polar und
dies behaupte auch die Yin-Yang-Lehre, nicht hinaus, und die ernste Beunruhigung seriöser
Wissenschaftler und tendenziell ‚szientistischer‘ Naturphilosophen angesichts dieser Vermi-
schung oder Identifizierung von Weisheitslehren und Wissenschaft sind nur zu verständlich.
Denn zwar mag es sein, dass in der Tat sowohl die Wissenschaft als auch verschiedene asiatische
Weisheitskonzepte von einer durchgehenden Polarität der Welt ausgehen, nur ist zum einen die
philosophische (nicht mehr mythisch-religiöse) Frage, warum dies der Fall ist, d.h. wie eine
solche mögliche Polarität zu begreifen und zu erklären ist, d.h. wie aus den letzten angenommen
Begriffen die konkreten Erscheinungen abgeleitet werden können. Eine solche Ableitung von
mythischen Konzepten, die als solche bloße Namen sind, ist nicht möglich. Die Frage vom
Standpunkt einer hegelianischen Naturphilosophie lautet, was sich bei solchen Konzepten
denken lässt. Zum anderen stellt sich die Frage, ob wir von der durchgängigen Polarität (s. a.
Hegel 9.30) wissen, weil sie uns von den Wissenschaften aufgedeckt oder von den Weisheitsleh-
ren vorhergesagt werden. Wenn wir jene Ergebnisse aber aus den rationalen Wissenschaften
ziehen, inwiefern sollten wir dann unserer Vernunft nicht auch die philosophische Erklärung
dieser Ergebnisse und zwar ohne Verweis auf mythisch-religiöse Konzepte zutrauen rfen?
148 Vgl. oben Anmerkung 132.
3. Naturphilosophie als Synthese
73
Religion und des Mythos) in der Moderne kritisieren, so ist doch nach dem
bisher Gesagten deutlich, dass der Ruf nach einer Einheit konkret ausgearbeitet
werden muss: Wirft man dem wissenschaftlichen Materialismus vor, dass er nur
die tote Materie kenne, so muss man den mythischen Naturbildern vorwerfen,
dass sie diese nicht kennen und dass damit wichtige ontologische Grenzen ver-
wischt werden, wie die zwischen beseelten und nicht beseelten, lebendigen und
toten, geistigen und materiellen, aktiven und passiven, werthaften und neutra-
len Bereichen der Natur.149
Doch nicht nur gelangt man zu einer Einebnung von Differenzen im onto-
logischen Bereich, auch methodisch droht der philosophisch relevante Unter-
schied zwischen Glauben und Wissen verloren zu gehen: Wenn hinter der Wis-
senschaft nicht nur ein Herrschaftsinteresse, sondern auch ein Interesse an
einer Erkenntnis der Welt steht, dann ist der grundsätzliche Standpunkt der
Aufklärung, nach dem positiver und dogmatischer Glauben in kritisches Wis-
sen überführt werden muss, unaufgebbar. Diese Forderung einer Übersetzung
muss davon ausgehen, dass dem Logischen und dem Mythischen eine gemein-
same Logik zugrunde liegt, die jene Übersetzung ermöglicht. Ebenso setzt
dieser Standpunkt das Konzept eines verbindlichen, universalistischen Rationa-
litätsbegriffs voraus, doch heißt dies umgekehrt, dass eine Wiederbelebung
einer antiszientistischen oder mythischen Naturphilosophie nur um den Preis
der Aufgabe des universalistischen Rationalismus möglich ist. Genauer (und dies
ist die Voraussetzung fast aller modernen Auseinandersetzungen mit dem
Mythos einerseits und der Wissenschaftskritik andererseits) muss vorausge-
setzt werden, dass über die letzten, normativen oder ‚sinnstiftenden‘ Dinge
kein rationales Wissen, sondern nur mythischer Glaube möglich ist. Nur unter
dieser Voraussetzung ergibt eine Wiederbelebung des Mythischen Sinn. Be-
streitet man diese Voraussetzung, ist der Standpunkt einer mythischen Natur-
philosophie auch methodisch unvollständig, da er es nicht schafft, den kri-
tischen Anspruch der Wissenschaften oder einer rationalen Philosophie auf
methodisches und begründetes Wissen zu integrieren. Der Vorzug des Wissens
liegt natürlich im Anschluss an die obigen Hegelzitate darin, dass das Sub-
jekt sich selbst von der Wahrheit des Inhaltes überzeugt hat (sei es durch An-
wesenheit in der eigenen Erfahrung, die es selbst erlebt hat, sei es durch das
eigene Denken). Mythisches Wissen bleibt aber notwendig positiv. Einer Auto-
rität (sei es eine Person oder ein Text) ist in dieser Richtung die Wahrheit über
die Welt nur deswegen abzunehmen, weil sie eine Autorität ist, auf den Gedan-
149 Auch aus ökologischen Gründen, die ja oft für das Auftreten neuer Naturbetrachtungen in
Anspruch genommen werden, empfiehlt sich jene Einebnung der Differenz nicht, da insbeson-
dere für eine ethische Betrachtung verschiedene Umgangsweisen mit der Natur unterschiedlich
bewertet werden müssen. Bewertungsmaßstäbe setzten die Kategorie der Differenz voraus, die
aber in viel stärkerem Maße vom wissenschaftlichen Denken herausgearbeitet wurde, freilich
ohne dass dies schon für die Ethik hinreichend fruchtbar gemacht wurde. Auch kann auf die
Kategorie der Differenz nicht verzichtet werden, wenn man mythisches Denken als etwas An-
deres und Fremdes (und zu Bevorzugendes) gegenüber dem Logisch-Rationalen betrachtet.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
74
ken der methodischen Überprüfung wird verzichtet. Zwar mag es auch Metho-
den der Falsifikation im mythischen Denken geben, wie bner nachzuweisen
versucht,150 doch lehrt das nur zu vertraute Phänomen des religiösen Funda-
mentalismus und die Langlebigkeit religiöser Überzeugungen, die nicht mit
dem wissenschaftlichen Weltbild übereinstimmen, das die subjektive Seite der
kritischen Gewissheit, die als unaufgebbares Erbe der Aufklärung auch von
Hegel anerkannt wird, nicht zur Genüge zur Kenntnis genommen wird. Wenn
man aber und hierzu neigen die halb-akademischen Ansätze zur neuen
Naturphilosophie nicht einen klaren erkenntnistheoretischen und methodi-
schen Standpunkt offen legt, ist die Gefahr groß, in anschaulicher Beliebigkeit
und in Versicherungen dogmatischer Art stehen zu bleiben.151 Hiermit, dies sei
ausdrücklich gesagt, soll weder der Religiosität als solcher, noch den zurzeit
aktuellen fernöstlichen Weisheits- und Naturlehren im Besonderen jegliche
Einsicht und Weisheit abgesprochen werden. Ganz im Gegenteil ist es naiv,
ausschließen zu wollen, dass in Religionen und Mythen höhere Wahrheiten
anschaulich erfasst sein können, die von einer wissenschaftlichen Kultur nicht
oder noch nicht hinreichend berücksichtigt werden. Es wurde schon darauf
verwiesen, dass insbesondere die ethische Dimension der Natur in der natur-
wissenschaftlichen Naturphilosophie weitestgehend verloren gegangen ist,
wohingegen sie in der Religion konserviert ist. Nichtsdestotrotz ist die Auf-
gabe der Philosophie das Erkennen, und hierin ist Hegel und der Aufklärung
recht zu geben somit die Transformation mythisch-anschaulicher Metaphern
in eine konkrete argumentierende Philosophie.152 Ansonsten käme der Versuch,
dem barbarischen ‚Zurück zum Mythos‘ der ‚Posthistorie‘ zu folgen, einem
reaktionären Schritt hinter die Aufklärung gleich, und die Differenzierungsleis-
tungen der Aufklärung müssten aufgegeben werden. Dann wäre der ‚ganzheit-
liche‘ Standpunkt aber kein ganzheitlicher, sondern ein gefährlich einseitiger
Standpunkt.153
150 Vgl. K. Hübner (1985), 262ff.
151 Natürlich ist Kuhn und Feyerabend darin recht zu geben, dass der Dogmatismus auch ein
Phänomen der wissenschaftlichen Kultur ist. Neue wissenschaftliche Theorien setzen sich allzu
oft nicht durch, weil die Vertreter alter Theorien überzeugt worden sind, sondern weil sie ‚aus-
sterben‘. Doch sind letztlich die Kriterien einer Widerlegung in den Wissenschaften eindeutiger
definiert als im religiös-mythischen Bereich, der in seiner modernen Form der Logosfeindlich-
keit sich oftmals gegen ‚Widerlegungen‘ immunisiert, indem er seine Wahrheit als Wahrheit de-
klariert, die über der Vernunft und der logischen Widerlegung stehe und die daher angeblich von
dieser unberührt bliebe. Es ist nun allerdings verdächtig, dass diese Immunisierungsstrategie des
Religiösen selbst eine logische Strategie ist und nur aus dieser ‚internen Konsistenz‘ (‚Weil das
Logische untergeordnet ist, kann es das Mythische nicht widerlegen‘ [was selbst ein logisches
Argument ist]) ihre etwaige Überzeugungskraft gewinnen kann. Ein solcher abweisender Um-
gang mit zwingenden logischen Einwänden ist auch von Gadamer und Heidegger als den
Stammvätern der jüngeren deutschen Logoskritik bekannt.
152 Dies entspricht auch der bekannten Forderung von Habermas, dass das Religiöse im Di skurs
der offenen Gesellschaft ‚übersetzt‘ werden muss, um Geltungsansprüche zu erheben.
153 Zur analogen Kritik am ‚Zurück zum Mythos‘-Topos siehe auch Ch. Jamme (1991a), 5, der
3. Naturphilosophie als Synthese
75
(3) Diese Überlegungen münden im dritten und wichtigsten Kritikpunkt an
der Vernunft- und Wissenschaftskritik, nämlich in dem Vorwurf der Irreflexi-
vität. Zu der geäußerten Kritik im Detail kommt als übergeordnete Kritik
hinzu, dass natürlich im Sinne der Selbsteinholung der eigenen Position zuge-
standen werden muss, dass die Reflexion über Mythos und Wissenschaft selbst
keine Tätigkeit mythischer Kulturen, sondern eben eine argumentativ-reflexive
Tätigkeit ist. So schreibt etwa Hübner, dass die Beurteilung von Wissenschaft
und Mythos ein philosophischer und kein mythischer Akt ist154 (allerdings auch
kein (einzel-)wissenschaftlicher Akt), und es ist auch historisch plausibel, dass
die Bekanntschaft mit anderen Kulturen und damit mit anderen Mythen, die
den selben Absolutheitsanspruch erheben, über kurz oder lang zu einer Schwä-
chung des eigenen Mythos führen. Erst in einer aufgeklärten Kultur stellt sich
die Frage nach der Legitimität des Mythos oder der Religion, diese Frage selbst
ist keine mythische Frage mehr. Für die zu besprechende gegenwärtige Lage
der Naturphilosophie ist es daher interessant, dass es sich um eine äußerst
reflektierte Zuwendung zum natur-mythischen Denken handelt; eine Zuwen-
dung zum Mythischen, die in ihren verschiedenen Varianten nicht nur Argu-
mente dafür vorlegt, warum wir unseren Argumenten nicht trauen sollen, son-
dern die sich in widersprüchlicher Weise in die Naivität und Unreflektiertheit
zurückreflektieren will. So lässt sich für die schon in Sein und Zeit angelegte
‚Logoskritik‘ (die von K.-O. Apel in Anlehnung an Heideggers Vorwurf der
‚Seinsvergessenheit‘ als ‚Logosvergessenheit‘155 bezeichnet wird) bemängeln,
dass jedwede philosophische Form der Ablehnung logischer Argumentation
selbst eine Form der Argumentation ist. 156 Mit Apel (und sicherlich auch im
Sinne Hegels) ist an der Transzendentalität der vernünftigen Argumentation
aber eine Ergänzung des Rationalitätskonzepts um Elemente des Mythischen vorschlägt, da er
ebenfalls vor der auch praktisch gefährlichen Einschränkung der Rationalität auf Zweckrationa-
lität warnt (ebd.).
154 Vgl. K. Hübner (1985), 48ff.
155 Vgl. K.-O. Apel (1976a), 273.
156 Gegen Heideggers Abwertung des ‚Urteils-Als‘ und der Bevorzugung des ‚apophantischen
Als‘ und gegen seine pragmatistische Überordnung der Zuhandenheit vor dem theoretischen
‚Anstarren‘ der Vorhandenheit in Sein und Zeit können Selbstanwendungsbedenken erhoben
werden. So kann darauf verwiesen werden, dass die philosophische Tätigkeit selbst nicht als on-
tisch ursprünglich, sondern als genetisch voraussetzungsvolles, spätes Produkt des Geistes zu
betrachten ist, dass die ‚Abkünftigkeit‘ des theoretischen, wissenschaftlichen Logos selbst nur
mit diesem abkünftigen Logos festzustellen ist und dass, wenn man dieser Feststellung trauen
will, man auch diesem Logos trauen muss. (Es sei auch an Hegels Diktum zur Erkenntnistheo-
rie erinnert, das auf diese Unhintergehbarkeit der Affirmation des Denkens anspielt: Man kann
nicht schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu gehen. Man kann nicht das Erkennen untersuchen,
ohne zu erkennen, vgl. 8.53f.) In diesem Sinne hat schon T. Litt (1948) darauf hingewiesen,
dass Heideggers eigene Deutung des Daseins einen anderen (höheren) Wahrheitsanspruch
haben muss als die analysierte existentielle Deutung der Welt durch das Dasein selbst. Auf diese
Kritik verweist auch Apel, vgl. K.-O. Apel (1976a), 247.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
76
festzuhalten. Jede Kritik an der Vernunft muss ihrerseits ihren Standpunkt
explizieren. Eine Bevorzugung des nicht-begrifflichen Denkens kann nicht von
einem philosophischen Standpunkt aus geschehen, muss also argumentativ
entweder widersprüchlich oder aber unausgewiesen sein.157 Die Behauptung,
dass nur eine prinzipiell andere Zugangsweise zur Welt der logischen vorzuzie-
hen sei, setzt die logische Kategorie der Andersheit ebenso voraus, wie sie
selbst als These argumentativ bzw. logisch zu begründen ist, will sie mehr sein
als eine bloße Meinung. Ein Abwägen über das Verhältnis des vergleichenden,
logischen Denkens zu anderen Vermögen muss dieser Abwägung selbst (die
durch den Logos geschieht) trauen, will sie sich nicht selbst ad absurdum
führen.
Man kann nun sehen, inwiefern die oben angeführten Kritikpunkte auch als
Anwendungsfälle dieser übergeordneten Kritik zu betrachten sind: i) Das
Argument von der Konkretheit und Realitätsnähe des Mythos gegenüber dem
Logos ist selbst natürlich ein Argument, das mit abstrakten Begriffen operiert;
ii) die Welt als nicht-begrifflich zu kennzeichnen, setzt voraus, dass der Begriff
des Nicht-Begrifflichen adäquat wiedergibt, was über die Welt als nicht-be-
griffliche ausgesagt werden soll; iii) der Wunsch nach einer neuen mythischen
Einheit mit der Natur gegen das abstrakte und differenzierende Denken setzt
selbst die Darstellung und Behauptung der unversöhnlichen Differenz des
mythischen und des logischen Weges voraus. Am wichtigsten aber bleibt der
Widerspruch zwischen Form und Inhalt jener mythisch inspirierten Naturbe-
trachtungen der Gegenwart (oder allgemeiner jeder reflektierten Annäherung
an den Mythos, die die Reflexion überwinden will), die eben selbst eine philo-
sophische Reflexion und kein Mythos ist. Damit steht der Antiszientismus
(wie auch der Antirationalismus) aber gleichsam notwendig außerhalb seiner
selbst: Er verwirft das logische Denken, um zu einer anschaulichen Einheit zu
gelangen, muss dabei aber, wie schon Wittgenstein, jener eigenen Leiter, mit
der er zum Mythischen aufsteigen will, misstrauen: Er kann auf ihr nicht dort
ankommen, wo er anzukommen glaubt, will er seiner eigenen Logoskritik
folgen. Somit scheint es durchaus nicht historisch überholt, Hegels Überlegun-
gen zu einer hervorgebrachten, durch den Logos vermittelten Einheit neu zu
Rate zu ziehen, um einen alternativen und vor allem konsistenten Stand-
punkt jenseits des Szientismus und des Antiszientismus zu beziehen.
157 Zu dieser Figur der ‚Selbstaufhebung des Skeptizismus‘ siehe Kapitel I 3.2.1. und die dort in
der Anmerkung 169 genannte Literatur. Auch wenn man die weitgehenden positiven Ansprüche
der Letztbegründung des Absolutheitsanspruchs der Vernunft nicht teilt, so bleibt die hier ge-
übte Kritik am Szientismus und am Antiszientismus davon unberührt, da sie lediglich auf der
minimalen Forderung basiert, dass eine philosophische Position sich nicht selbst widersprechen
darf. Die Kritik stellt somit eine interne Widerlegung da, die nicht externe Kriterien an eine
Position heranträgt, sondern die jene in den beiden Positionen selbst formulierten Vorstellun-
gen über das, was Philosophie sein soll, mit den Positionen selbst vergleicht.
3. Naturphilosophie als Synthese
77
3.2. Die Erweiterung des Vernunftkonzepts in der jüngeren Philosophie
und Möglichkeiten für die Naturphilosophie
Es können nun die bisherigen Überlegungen des Kapitels zusammengefasst
und die Konsequenzen für ein zeitgemäßes Konzept der Naturphilosophie
gezogen werden. Die folgenden Untersuchungen werden sich auf einige allge-
meine programmatische Konsequenzen beschränken, die aber hinreichend sind,
um die Fragestellung an Hegels Philosophie des Organischen zu erarbeiten.
Die Überlegungen gehen von dem Ausgangspunkt aus, der der Leitfaden in der
kritischen Untersuchung von Antiszientismus und Szientismus war. Jede
philosophische Betrachtung der Natur (sowie jede philosophische Betrachtung
im Allgemeinen) muss ihren eigenen Standpunkt ohne Selbstwiderspruch
explizieren können, jede methodologische Betrachtung über die Argumentati-
onsweise der Naturphilosophie muss konsistent mit ihren eigenen Ergebnissen
sein nnen. Diese Reflexion auf das immer schon Implizierte hat, wie schon
angedeutet, in der jüngeren deutschsprachigen Debatte um Möglichkeiten und
Grenzen des Rationalitätsbegriffs bei Apel und Habermas zu einer Erweiterung
des Rationalitätsbegriffs geführt und damit in der Nachfolge der Vernunftkri-
tik der Postmoderne eine neue Phase eingeläutet, die als differenzierte Rück-
kehr zu den Geltungsansprüchen der Aufklärung gedeutet werden kann.
Zuerst soll diese Erweiterung des Rationalitätsbegriffs und die damit einherge-
hende Überwindung des Skeptizismus in aller Kürze dargestellt werden (I
3.2.1.), so dass dann unter Rückgriff auf die bisherigen Ausführungen der
vorangehenden Kapitel die Anwendung jener Erweiterung des Vernunftbegriffs
auf das Programm der Naturphilosophie geschehen kann (I 3.2.2.), wobei
zugleich die Motivation und die Fragestellung für den vorliegenden Rückgriff
auf Hegel deutlich wird. Einzuräumen ist, dass die Ausführungen zur Notwen-
digkeit der transzendentalen Ebene für die Philosophie von unbefriedigender
Kürze sein müssen. Die wichtigsten Argumente können hier, damit nun
endlich zur Naturphilosophie vorgestoßen werden kann, nur äußerst knapp
wiedergegeben und angedeutet werden. Die kurze Interpretation des hegel-
schen Philosophietyps in den nächsten Kapiteln (II 1. und II 2.) ist insofern als
Ergänzung und Vertiefung der hier nur aufgerafften und nicht kontrovers dis-
kutierten Argumente zu verstehen.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
78
3.2.1. Wissenschaftliche und reflexive Vernunft: Die Erweiterung des Rationali-
tätskonzepts
Mit Apels an Wittgenstein und Heidegger anknüpfenden Überlegungen in den
Transformationen der Philosophie158 auf der einen Seite und mit Habermas’ Aus-
führungen in der Theorie des kommunikativen Handelns159 auf der anderen Seite
ist es gelungen, die zuvor zumeist rein destruktive und pauschale Vernunftkri-
tik zu überwinden und durch Einnahme einer reflexiven Ebene einen konsisten-
ten Standpunkt zu erreichen.160 Das dargestellte Problem einer irreflexiven
Position lag darin, dass zwischen Aussageinhalt und Aussageform ein Wider-
spruch auftrat, so dass etwa die Behauptung, nur naturwissenschaftliche Aus-
sagen seien sinnvoll (oder ‚hartes Wissen‘), sich selbst als nicht naturwissen-
schaftliche Aussage in ihrem Wahrheitsanspruch aufheben muss. Ein Verhin-
dern der Selbstaufhebung der eigenen kritischen Position ist aber nur möglich,
wenn man eine Differenzierung einführt, die die unerwünschte Selbstanwen-
dung verhindert. Apels Einführung der ‚philosophischen, transzendentalen
Ebene‘ in seinem schon zitierten Aufsatz „Wittgenstein und Heidegger“161
sowie Habermas’ Begriff der kommunikativen Vernunft in Ergänzung zur stra-
tegischen Vernunft leisten genau diese Differenzierung, die nötig ist, um die
Aporien des Relativismus zu vermeiden, ohne dass hierbei der kritische An-
spruch der Philosophie aufgegeben werden müsste. Apel schreibt in Anknüp-
fung an seine Metakritik der heideggerschen Logoskritik, dass über dem wis-
senschaftlichen Logos ein verstehender (existenzialer) Logos anzusetzen sei,
dass hierüber aber wiederum ein transzendentaler philosophischer Logos anzu-
nehmen sei, der nicht die (historische, kulturell bedingte usf.) Defizienz der
untergeordneten Logoi haben könne.162 In seiner Auseinandersetzung mit der
„Herausforderung eines neuen Irrationalismus“163 schlägt Apel eine Typologie
der Rationalitätstypen vor, die im Wesentlichen auf die alte Grenzziehung von
Verstand und Vernunft verweist.164 Mit der Differenzierung von Verstand und
Vernunft und mit der Wiederbelebung einer transzendental-reflexiven Ebene
soll vor allem zweierlei geleistet werden. Einerseits soll derjenigen Kritik der
Vernunft Rechnung getragen werden, die ihre Konzeption von Vernunft aus
einer Verabsolutierung einzelner Teilbereiche der Vernunft her bezieht. In
diesem Sinne sind der logische Empirismus und der Szientismus als Einschrän-
kung der Vernunft auf den einzelwissenschaftlichen und nicht-reflexiven Ver-
158 Vgl. K.-O. Apel (1976).
159 Vgl. J. Habermas (1981).
160 Für die folgenden Ausführungen ist neben den schon zitierten Aufsätzen von Apel vor allem
K.-O. Apel (1984) von Bedeutung.
161 K.-O. Apel (1976a).
162 Vgl. K.-O. Apel (1976a), 247.
163 Vgl. K.-O. Apel (1984), 15.
164 Vgl. K.-O. Apel (1984), 18.
3. Naturphilosophie als Synthese
79
stand zu deuten. Wenn der Antiszientismus mit der Kritik an den Wissenschaf-
ten auch die Rationalität insgesamt über Bord werfen will, so identifiziert er
fälschlicherweise (genauso wie der logische Empirismus) Rationalität mit dem
wissenschaftlichen Verstand. Eine solche Selbstbeschränkung des Vernunft-
begriffs hat sich aber selbst als nicht vernünftig erwiesen (vgl. oben Kapitel I
3.1.1.). Damit wird aber eine der Voraussetzungen des Dualismus von Szientis-
mus und Antiszientismus fragwürdig, nämlich die Gleichsetzung von Vernünf-
tigkeit mit empirisch-wissenschaftlicher Rationalität. Es ist dann nämlich nicht
mehr eine Entscheidung zwischen entweder Rationalität und Wissenschaft
(und damit also eine Absage an Normativität und ‚sinnlose Metaphysik‘) auf
der einen Seite, oder Absage an Wissenschaft und Vernunft (und damit ein
Zurück zum mythisch-anschaulichen Denken und eine Wiedergewinnung des
Normativen ohne kritisch-argumentative Prüfung) auf der anderen Seite
notwendig. Die Überwindung jenes Dualismus zwischen nicht rationalem
Wertempfinden und wertfreier Rationalität lässt sich damit als wichtigste Auf-
gabe der weiteren Entwicklung der Rationalitätstheorie erkennen.
Andererseits ist laut Apel aber neben dieser negativen Absicherung gegen
Kritik, die sich aus der Verabsolutierung der Teilbereiche der Vernunft ergibt,
auch positiv eine Absicherung in einer reflexiven Ebene möglich: Mit der refle-
xiven Fundierung untergeordneter Vermögen der Vernunft in einer reflexiv-
philosophischen oder ‚letztbegründeten‘ Ebene gewinnt auch eine Legitimation
der Wissenschaft an Stärke, so dass die Aporien der neueren Wissenschaftsthe-
orie vermieden werden können. Apels Ziel ist es also, die Grenzen der Rationa-
litätskritik in einer doppelten Hinsicht aufzuzeigen. Weder können Teilberei-
che der Vernunft für das Ganze der Vernunft ausgegeben werden, so dass die
philosophisch-reflexive Ebene unberücksichtigt bleibt, noch kann der Vernunft
gänzlich die Wahrheitsfähigkeit abgesprochen werden. Um diese Position zu
verteidigen, will Apel auf eine Einsicht von Kant und auf eine Einsicht von
Hegel zurückgreifen.
165 Mit Kant und gegen das Reflexionsverbot der Typen-
theorie hält Apel an einer reflexiven und transzendentalen Ebene fest: Die
Vernunft kann und muss die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens (bei
Apel genauer: des sprachlichen Argumentierens) thematisieren können. Anders
als Kant, der die Geltung der Wissenschaft voraussetzt, will er Hegels Einsicht
der Möglichkeit der Selbstbegründung166 (Selbsteinholung) der Vernunft
wieder aufgreifen. Apel geht hierbei zurecht davon aus, dass auch jede Kritik
(an der Vernunft, an den Wissenschaften, an der Philosophie usf.) implizite
Maßstäbe voraussetzen muss. Diese werden dadurch explizit gemacht, dass
man auf die Bedingungen der Möglichkeit dieser Kritik reflektiert. Apel belebt
damit eine Denkfigur, die von Hegel als ‚Misstrauen in das Misstrauen‘
bezeichnet wurde, und die als Überwindung der skeptischen Philosophie schon
165 K.-O. Apel (1984), 19.
166 K.-O. Apel (1984), 18.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
8a
der Motor des platonischen Systems war.
167 Apel unterscheidet den analytisch-
semantischen Widerspruch, der für die interne logische Konsistenz der Theorien
des Verstandes bedeutsam ist, vom performativen Widerspruch, der zur Errei-
chung der Widerspruchsfreiheit der Vernunft vermieden werden muss.168
Von diesen Überlegungen zur Selbstkonsistenz der Vernunft ausgehend
versucht Apel in seinen philosophischen Bemühungen zu einer Letztbegrün-
dung der normativen Argumentationsregeln einerseits und zu einer Zurückwei-
sung des Skeptizismus und Fallibilismus andererseits zu gelangen.169 Die Argu-
167 Zur Geschichte der antiskeptischen reflexiven Argumente siehe den kurzen Exkurs bei W.
Kuhlmann (1985), Kapitel 6, 254ff. Zu Sokrates als erstem Philosophen, der die Figur der
Selbstaufhebung entdeckte, siehe V. Hösle (1984b), 267ff.
168 Vgl. K.-O. Apel (1984), 23.
169 Vgl. hierzu insbes. auch K.-O. Apel (1976b). Eine Letztbegründung des Absolutheitsan-
spruchs der Vernunft kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Diese Arbeit setzt voraus,
dass die neueren Versuche, den Standpunkt der Unhintergehbarkeit des vernünftigen Argu-
mentierens erneut darzulegen, als noch nicht widerlegt zu gelten haben. Im Rahmen dieser Ar-
beit, die sich der Naturphilosophie widmet, ist es nicht möglich, eine ausführliche Debatte der
Letztbegründungsargumente zu leisten. Dennoch kann hiermit der Standpunkt offen gelegt
werden, von dem die folgenden Untersuchungen zur Naturphilosophie ausgehen, nämlich von
der Überzeugung, dass eine Erfassung der wesentlichen Wahrheiten über die Welt (und über
dieses Erfassen selbst) auf vernünftig-argumentativer und nur auf vernünftig-argumentativer
Weise möglich ist. Die folgenden Kapitel sind neben dem Rückgriff auf Hegel stark durch die
moderne Debatte der reflexiven Letztbegründung beeinflusst, vgl. insbes. K.-O. Apel (1976b)
und V. Hösle (1987b,1990). Zu einer umfassenden Analyse der Struktur der reflexiven Letzt-
begründungsargumente, die auf der Selbstaufhebung skeptisch-kritischer Annahmen basieren,
siehe das Buch von W. Kuhlmann (1985). Eine Gegenposition zur Möglichkeit der Letztbe-
gründung wird vor allem von H. Albert (1980) bzw. vom kritischen Rationalismus im Allge-
meinen eingenommen. Bei aller Gemeinsamkeit besteht ein bedeutender Unterschied zwischen
Hösle und Apel darin, dass Apel die transzendentale Ebene als intersubjektiv-pragmatisch (vgl.
etwa K.-O. Apel (1976c), 162ff., (1976d), insbes. 220) konzipiert, und nicht wie Hegel im
einzelnen Denken des Subjektes verankern will. Hösle ist hierin ‚hegelianischer‘, wenn er mit
seinem Versuch der Zurückweisung des Privatsprachenargumentes für die autonome Wahr-
heitsfähigkeit des Privatus argumentiert, vgl. V. Hösle (1990), 181ff. Ferner denkt Apel gegen
Hösle und Hegel, dass die Selbstbegründung der Vernunft nicht für ontologische oder meta-
physische Konsequenzen in Anspruch genommen werden kann (vgl. jüngst K.-O. Apel (2002),
14f., der Hösles Begründung eines objektiven Idealismus als „sophistischen Fehlschluß“
bezeichnet), da für ihn wie für Kant notwendig ein nichtrationaler Bereich außerhalb der
Vernunft bestehen bleibt (vgl. K.-O. Apel (1984),19), auch wenn dies für Apel kein Argument
zugunsten des Irrationalismus ist. Vgl. hierzu aber die oben schon zitierte Kritik Hegels am
Ding an sich und die Ausführungen unten in II 1. und II 2. Um den Mangel des Fehlens einer
kritischen Auseinandersetzung mit diesen reflexiven Argumenten wenigstens ein wenig zu be-
heben, seien kurz die wichtigsten Probleme der Letztbegründungsansprüche genannt: Der
wichtigste Einwand besteht zum einen darin, dass das Verhältnis von Logik und Letztbegrün-
dung näher thematisiert werden muss, vor allem müssen die ,vorausgesetzten‘ logischen Prinzi-
pien selbst letztbegründet werden. Zum anderen fehlt bei Hösle ein ausgearbeiteter Übergang
von der These ‚Es gibt notwendige Wahrheit‘ zu den einzelnen logischen Kategorien oder zu
einzelnen ethischen, metaphysischen oder ontologischen Aussagen. Eine systematische Deduk-
tion einzelner ethischer oder argumentationslogischer Prinzipien, bis hin zu ontologischen kon-
kreten Schlussfolgerungen liegt nicht vor, auch wenn sich aus den Andeutungen und Anmer-
3. Naturphilosophie als Synthese
81
mentationssituation wird als für die Philosophie (bzw. für das Aufstellen von
Wahrheitsansprüchen im Allgemeinen) zentral erachtet: Sie ist transzenden-
tal, d.h. für jede Philosophie, die Behauptungen aufstellt, unhintergehbar. Wenn
immer ich eine philosophische Theorie aufstelle, habe ich damit nach Apel
unweigerlich schon implizit die Argumentationsregeln der Diskursgemein-
schaft anerkannt, die ich im Übrigen nach Apel insbesondere auch dann aner-
kennen muss, wenn ich sie bestreite. Damit ist jene Position auch transzenden-
tal für das Aufstellen der Gegenposition, d.h. für die Bestreitung der Möglich-
keit von Ethik, Wahrheitsfähigkeit und Letztbegründung.170 Die zugrunde ge-
legten Argumentationsprinzipien erheben folglich einen universalen Anspruch.
Hierin unterscheidet sich das Letztbegründungsargument von einem ge-
wöhnlichen Zirkel oder von einem bloß hypothetischen Beweis, da bei beiden
die Prämissen ohne Selbstwiderspruch bestritten werden können.171 Wichtig ist
kungen bei Hösle Ansätze zu einem solchen ‚System‘ erahnen lassen. Doch soll mit dieser Auf-
zählung jener Probleme keinesfalls zum Ausdruck gebracht werden, dass dies für den Letzt-
begründer prinzipiell unlösbare Aufgaben darstellen würden (was übrigens selbst eine letztbe-
gründete Aussage über die prinzipiellen Schwierigkeiten solcher Aussagen wäre. Schon aus
diesem Selbstwiderspruch erhellt, dass es plausibler ist anzunehmen, dass sich jene Probleme
prinzipiell werden lösen lassen ssen). Zur Kritik an Hösles Übergang von der Letztbegrün-
dung zum objektiven Idealismus vgl. T. Kesselring (1991), zur Kritik an der näheren Variante
des objektiven Idealismus von Hösle vgl. M. Wetzel (2002), zur Kritik an Hösles Version der
Letztbegründung siehe Albert (1989), zur logischen Rekonstruktion und Kritik von Hösles
Beweis siehe jüngst M. Ossa (Dissertation Aachen, voraussichtlich 2006). Zum Versuch, einige
grundlegende logische Prinzipien aus der Möglichkeit wahrer Aussagen (die als Möglichkeit der
‚Prädikation‘ verstanden wird) zu gewinnen, siehe Wandschneider (1995). Zu diesem Problem
sei erneut auf das programmatische Buch von B. Braßel (2005) verwiesen.
170 So wie im analogen Sinne die Behauptung ‚Anything goesa‘, bzw. die Annahme: ‚Es dürfen
keine Regeln aufgestellt werdena selbst eine Regel ist. Auch Hösle beginnt seinen Letztbegrün-
dungsbeweis mit dem Nachweis, dass die These ‚Letztbegründung ist unmöglich‘ genau das
voraussetzt, was sie bestreitet, vgl. V. Hösle (1987b), 245ff. und (1990), 153f.
171 In diesem Sinne hat im kritischen Anschluss an Apel Hösle einen Letztbegründungsbeweis
vorgelegt, der aber nicht auf die Argumentationssituation, sondern auf das im Denkakt Präsup-
ponierte abzielt. Hösle folgert aus der Unmöglichkeit der Bestreitung der Letztbegründung (die
sich daraus ergibt, dass die Behauptung ‚Es gibt keine letztbegründeten (=notwendigen) Wahr-
heiten‘, selbst nicht ‚letztbegründet‘ oder notwendig sein kann), dass der Skeptiker zu der
Annahme gezwungen ist, ‚dass es möglicherweise Letztbegründung gibt‘. Diese Aussage ist aber
identisch mit der widersprüchlichen Behauptung, dass Letztbegründung (d.h. die Frage, ob es
notwendige Wahrheiten gibt) von kontingenten Voraussetzungen abhängt. Da nun notwendige
Wahrheiten, wenn es sie (‚möglicherweise‘) gibt, nicht kontingent sein können (also bloß g-
lich und damit nicht notwendig), muss es sie notwendigerweise geben (vgl. (1987b), 245ff.). In
(1990) hat Hösle diesen Beweis um einige Zwischenschritte im Übergang von der Kontingenz-
behauptung zur Notwendigkeitsbehauptung erweitert, um damit den Übergang von der Kon-
tingenz zur Notwendigkeit plausibler zu machen, vgl. V. Hösle (1990), 156f. Zur Stützung
schon des ersten Beweises und zur näheren Analyse beider Varianten der Letztbegründung
Hösles siehe das schon zitierte Buch von M. Ossa (2006). Hösle erweitert den Apelschen
Letztbegründungsbeweis um die an die oben zitierte hegelsche Argumentation angelehnte
Annahme, dass Denknotwendigkeiten nicht sinnvoll als bloß subjektiv gedeutet werden können
und somit im Sinne des objektiven Idealismus auch als Seinsnotwendigkeiten verstanden werden
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
82
es, in diesem Kontext festzustellen, dass die Debatte um jene Argumente zu
einer Wiederbelebung des vom logischen Empirismus für tot erklärten Gebiets
der rationalen Ethik geführt hat, dass ferner auch auf die Notwendigkeit und
glichkeit reflexiver Vernunft verwiesen wurde, ja dass mit Apel anstelle des
empirischen Verifikationsprinzips das Selbsteinholungsprinzip wieder zum
Maßstab der Bewertung philosophischer Ansprüche wurde. So muss sich auch
eine Naturphilosophie diesem Maßstab verpflichten, wenn sie rational
gerechtfertigte (ethische oder erkenntnistheoretische) Konsequenzen aus der
Naturwissenschaft ziehen will, oder wenn sie transzendental über die
Bedingungen der Möglichkeit von Naturwissenschaft und von Naturerkenntnis
allgemein nachdenkt.
Doch sind jene Überlegungen nicht nur von erkenntnistheoretischem oder
ethischem Interesse, sie führen dazu, dass Apel eine „Selbstdifferenzierung“
der Vernunft für möglich hält,172 so dass strategische, wissenschaftliche, künst-
lerische, ästhetische usf. Vernunftbegriffe nicht mehr notwendig gegeneinander
ausgespielt werden müssen, sondern als Aspekte der einen Vernunft verstanden
werden können.173 Es empfiehlt sich in der Tat, jene Form der Konsistenz-
Überlegungen bei der Frage nach einer möglichen ‚Einheit der Vernunft‘ zu
berücksichtigen. So lassen sich die verschiedenen Ebenen des Denkens
(wissenschaftliches Denken, anschauliches oder analoges Denken, philosophi-
sches Denken oder Denken des Denken usf.) wohl nur dann integrieren (und
als verschiedene Ebenen des Denkens bezeichnen), wenn es ein übergeordnetes
begriffliches Vermögen in der Vernunft gibt, das die anderen Vermögen (als
verschieden) erfassen, vergleichen und bewerten kann.174 Zu behaupten, dass
sich kein letzter übergeordneter Punkt oberhalb der einzelnen Rationali-
tätstypen finden lässt, impliziert bereits, dass man entgegen dieser Versicher-
müssen. Sein Argument operiert mit dem Selbstwiderspruch, der sich ergibt, wenn man
versucht, von den Denknotwendigkeiten zu abstrahieren, um sie als ‚bloß subjektiv‘ zu erweisen.
Damit bestreitet man aber implizit den Notwendigkeitscharakter jener Annahmen für das
Denken, da man im Versuch eine anders geordnete Welt zu denken, gleichsam gegen das
Denken andenken muss (vgl. Hösle (1990), 209ff. bzw. (1987b), 249ff.).
172 K.-O. Apel (1984), 19.
173 Eine ‚Deduktion‘ oder systematische Ableitung der verschiedenen Vernunftvermögen leistet
Apel in jenem Aufsatz zur Typologie der Vernunft nicht, er beschränkt sich im Wesentlichen
auf die Herausarbeitung des Unterschiedes zwischen reflexiver und irreflexiver Vernunft.
174 So fragt auch Gloy danach, inwiefern die Diskussion verschiedener Vernunftkonzepte nicht
doch den Begriff einer einheitlichen Vernunft voraussetzt, will man all diese Konzepte als Ver-
nunftkonzepte bezeichnen, vgl. K. Gloy (2001), 36. Gleichzeitig wendet sich Gloy aber gegen
die Absolutsetzung der begründenden Vernunft des ‚lógon didónai‘ (31ff.) und versucht, der
Pluralität der Vernunftkonzepte der Moderne weitestgehend Rechnung zutragen. Die kurze
Skizze oben ist hingegen von der Typologie Apels (1984) und damit vom transzendentallogi-
schen Vorrang des lógon didónai beeinflusst. Ebenso halte ich es für zwingend, an einer prin-
zipiellen Einheit des Denkens bzw. der Vernunft aus transzendentallogischen Gründen festzu-
halten, auch wenn Gloys weitere Frage, wie man von der Einheit zur Pluralität kommt, ernst zu
nehmen ist, vgl. K. Gloy (2001), 36.
3. Naturphilosophie als Synthese
83
ung über die einzelnen Typen hinaus ist. Sollen sich die verschiedenen Typen
widersprechen, so müssen sie in logischer Hinsicht eine Gemeinsamkeit haben,
widersprechen sie sich nicht und ‚existieren nebeneinander her‘, so ist nicht zu
sehen, inwiefern begründet werden könnte, dass sie sich nicht in einem
Einheitspunkt integrieren ließen. Die Einsicht in die Einheit der Vernunft ist
somit ebenso transzendental: Sie geht jeder Binnendifferenzierung der Vernunft
notwendig voraus und ist auch Voraussetzung der (damit selbstwidersprüch-
lichen) Behauptung einer radikalen, ‚nicht-integrierbaren‘ Vielfalt der Vernunft.
Für die Naturphilosophie bedeutet dies: Es sind Teile derselben Vernunft, die
sich in Technik und Poesie aussprechen, es sind Aspekte desselben Denkens,
das in der Natur das Schöne und Erhabene und das Nützliche und das Logische
erkennt. Jene Zersplitterung der Vernunft ist nur von bedingter Gültigkeit und
muss in einer philosophisch-rationalen Betrachtung integrativ überwunden
werden. Naturwissenschaft und ‚Religion‘ müssen in der Naturphilosophie
versöhnt werden können.175
Fassen wir die für unsere Arbeit wichtigsten Aspekte in der Entwicklung
der Diskussion der Rationalität kurz zusammen: Eine Einschränkung der
Rationalität auf den (einzelwissenschaftlichen) empirisch-logischen Bereich ist
nicht glich, da jene Einschränkung selbst für sich nicht beanspruchen
kann, rational zu sein. Eine philosophisch-argumentative Unterordnung der Ra-
tionalität unter andere Vermögen im Hinblick auf die Wahrheitsfähigkeit kann
selbst als rational begründete Unterordnung nicht wahr sein (oder als Versiche-
rung nicht begründet sein). Somit muss neben der einzelwissenschaftlichen
und neben der strategischen Rationalität eine philosophisch-normative Ratio-
nalität aus Konsistenzgründen notwendig anerkannt werden. Diese höchste
Ebene der Vernunft ist aber durchaus im klassischen Sinne erst mit dem
Denken des Denkens erreicht, d.h. erst wenn das Argumentieren und Denken
mit seinen Regeln selbst thematisiert wird, ist eine reflexive Ebene und damit
Vollständigkeit erreicht. Die Diskussion um die Letztbegründung kann hierbei
lehren, dass die Selbstthematisierung des Denkens (oder des Argumentierens
oder der Sprache) keine geltungstheoretischen Voraussetzungen außerhalb ihrer
haben kann. Wenn man einmal die Ebene der reinen Reflexion auf die
Geltungsansprüche des Denkens erreicht hat, ist ein letzter absoluter Punkt
erreicht, der nicht ohne Selbstwiderspruch relativiert werden kann. Die histori-
schen Argumente zugunsten einer systematischen und integrativen Philoso-
phie, wie sie im deutschen Idealismus angestrebt wurde, sind also auch heute
noch (bzw. nach der Selbstwiderlegung der radikalen Vernunftkritik und des
Szientismus als komplementäre Feinde philosophischer Vernunft auch heute
wieder) aktuell, so dass der kritische Rückgriff auf Hegels Philosophietyp des
175 Unter Religion ist hier natürlich nicht an eine bestimmte positive Religion, ja nicht einmal
notwendig an ‚theistische‘ Annahmen gedacht. Hiermit sei lediglich die im Kapitel über den
Antiszientismus geschilderte intuitiv-anschauliche Ahnung des Normativen oder Ideellen in der
Natur im weitesten Sinne des Wortes gemeint.
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
84
objektiven Idealismus durchaus eine ernstzunehmende systematische Option
insbesondere auch für die Naturphilosophie sein kann.
3.2.2. Programmatische Skizze der Anforderungen an eine zeitgemäße Natur-
philosophie Der Rückgriff auf Hegel.
Als erste und wichtigste Konsequenz der Überlegungen der bisherigen Kapitel
ergibt sich die Forderung nach einer rationalen Erweiterung des heutigen Begriffs
der Naturphilosophie. Die Beschränkung der Naturphilosophie auf Naturwis-
senschaftsphilosophie oder auf Wissenschaftstheorie ist als Erbe des logischen
Empirismus nicht mehr ohne weiteres zu verteidigen. Ebenso ist eine funda-
mentalistische Wissenschaftskritik abzulehnen, da die zugrunde liegende Tradi-
tion der Vernunftkritik allen relativistischen Vorurteilen zum Trotz als Irr-
weg bezeichnet werden muss. Dies heißt konkret: Der holistische Anspruch
der letzteren Strömung und der methodisch-aufgeklärte Standpunkt der zuerst
besprochenen Richtung müssen zusammengeführt werden. Dies ist nach den
bisherigen Ausführungen als möglich zu erachten, da die zugrunde liegende
Prämisse, die die Trennung beider Bereiche zementiert hat, sich als fragwürdig
erwiesen hat: Eine szientistische Einschränkung des Vernunftbegriffs ist nicht
mehr haltbar. Doch heißt dies nicht, dass jedweder metaphysischen oder religi-
ösen Spekulation hiermit ungeprüft Tür und Tor geöffnet werden soll; dies ist
durch die Orientierung an der argumentativen Ausweisung der philosophischen
Überlegungen gewährleistet.176 Keine Philosophie und auch keine naturphilo-
sophische Betrachtung kann sich mit Verweis auf eine pauschale Rationali-
tätskritik einer rationalen Überprüfung der eigenen Aussagen entziehen. Doch
ist ebenso eine reine Beschränkung auf eine Nacherzählung naturwissen-
schaftlicher Erkenntnis durch die Philosophie aufgrund des Unterschieds der
Rationalitätstypen, die Naturwissenschaft und Naturphilosophie zugrunde
liegen, abzulehnen. Damit kann aber insbesondere auch über den modernen
Ansatz der induktiven Metaphysik177 und der Naturwissenschaftstheorie hinaus-
176 Vgl. oben I 3.1.2. In dieser Forderung nach Rationalität kommen im Übrigen kritischer
Rationalismus und die Letztbegründer gegen den Irrationalismus überein.
177 Unter dem Begriff der ,induktiven Metaphysik‘ werden jene naturphilosophische Einzel-
untersuchungen zusammengefasst, die, von den Ergebnissen der Naturwissenschaften aus-
gehend, allgemeine Aussagen über die Verfasstheit des Natürlichen anstreben, ohne hierbei
apriorisch-systematisch zu verfahren (vgl. hierzu F. Kaulbach (1984), 548ff., 558.). Hierin
bleibt dieses Naturphilosophieverständnis insofern dem logischen Empirismus verhaftet, als
dass die naturphilosophischen Aussagen eine einzelwissenschaftliche empirische Basis haben
müssen. Über den logischen Empirismus wird insofern hinausgegangen, als dass ,meta-physi-
sche‘ Aussagen nicht mehr als vollständig sinnlos betrachtet werden. In diesem Sinne können
auch die meisten Arbeiten zur Philosophie der Biologie als ,induktive Metaphysik‘ bezeichnet
werden, da sie einzelne Ergebnisse der biologischen Forschung und Prinzipien des Darwinismus
3. Naturphilosophie als Synthese
85
gegangen werden, ohne zugleich in einem apriorischen Rigorismus zu verfallen,
der an den Ergebnissen der Naturwissenschaft vorbei operiert. Die folgenden
Ausführungen sollen in aller Kürze die Konsequenzen für einzelne Bereiche
der Naturphilosophie ziehen, um so konkrete Fragen an Hegels Philosophie
des Organischen herauszuarbeiten. Es seien nun in plakativer Kürze die
Forderungen an eine zeitgemäße Naturphilosophie, die sich aus den bisherigen
Überlegungen ergeben, dargestellt.
Wenn Naturwissenschaft als Verwirklichung des Programms der Vernunft
bezeichnet wurde (vgl. oben I 1.2.), gleichzeitig wissenschaftliche Rationalität
vernünftigerweise aber nur als ‚Teil der Vernunft‘ zu betrachten ist (vgl. I
3.2.1.), so ist zunächst zu erläutern, inwiefern die Wissenschaft nur ‚teilweise‘
ein rationales Bild der Natur entwirft und inwiefern die Philosophie dieses Bild
rational zu ergänzen hat.
Erstens ist Wissenschaft beschrieben worden als axiomatisches Verfahren:
Jede naturwissenschaftliche Erklärung geht von letzten konkreten Annahmen
über die Wirklichkeit aus, die selbst wiederum nicht naturwissenschaftlich
erklärt werden können. Naturgesetze, Schwerkraft, Erhaltungssätze etc. sind
selbst nicht natürliche Gegenstände: ‚Das Fallgesetz kann nicht fallen.‘178
Dennoch kann man sich die philosophische Frage stellen, inwiefern nicht ein
Zusammenhang zwischen den verschiedenen naturwissenschaftlichen Berei-
chen und Gesetzen hergestellt werden kann. Dieser Zusammenhang, will man
nicht in eine Ebenenverwechslung fallen, kann natürlich nicht ein naturwissen-
schaftlicher, bzw. ein immanentistischer, kausaler Zusammenhang sein. Doch
das heißt nicht, dass ein möglicher Zusammenhang zwischen den verschiede-
nen Grundgrößen der Naturwissenschaft und zwischen den Eigenschaften der
verschiedenen ontologischen Ebenen der Natur, nicht doch ein logischer Zu-
sammenhang sein könnte. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass rein apriorisch-
logische Überlegungen, etwa prinzipientheoretische Überlegungen über das
Verhältnis der Begriffe ‚Grund und Ursache‘ ‚Gegenstand‘, ‚Gesetz‘ usw. oder
noch abstrakter: Reflexionen über die Begriffe ‚Einheit‘, ‚Andersheit‘, ‚Natur‘
usf. aufschlussreich und grundlegend für die Naturphilosophie sein können. In
der Tat sind solche Reflexionen über Raum und Zeit, über das Wesen des
Organischen, über das Verhältnis von Organischem und Mechanischem, über
das Verhältnis von realen Ereignissen und Gesetzen, von Mathematik und
Realität wichtige naturphilosophische Überlegungen, die auch die Einzelwissen-
schaften befruchtet haben oder durch diese angeregt wurden.179
auf ,philosophische‘ Bereiche ausdehnen, hierbei aber induktiv vom biologischen Bereich zum
Allgemeinen fortschreiten.
178 Vgl. den aufschlussreichen Artikel von D. Wandschneider (1985a), 210, der die ontologi-
schen Voraussetzungen der Naturwissenschaft thematisiert. Zu den Aufgaben der Naturphilo-
sophie, die sich aus dem axiomatisch-hypothetischen Charakter der Naturwissenschaft und
durch die Einschränkung auf die Betrachtung empirischer Gegenstände ergeben, vgl. V. Hösle
(1987a), 377ff.
179 Zur Notwendigkeit prinzipientheoretischer Überlegungen, die der konkreten Naturphiloso-
I. Naturwissenschaft und Naturphilosophie
86
Neben diesem konkreten Weiterdenken über die ‚Naturphänomene‘ hinaus
können insbesondere die ontologischen Voraussetzungen von Naturwissenschaft
überhaupt Ausgangspunkt für eine fruchtbare naturphilosophische Betrach-
tung sein.180 Was bedeutet es eigentlich, dass es möglich ist, die Natur wissen-
schaftlich (und d.h. theoretisch) zu erfassen? Wie muss ‚Natur‘ verfasst sein,
damit eine wahre Theorie eines denkenden Wesens über sie möglich ist? Jene
Fragen gehen in ihrer allgemeinen Richtung über die Beschränkung der Natur-
philosophie sowohl auf Methodologie einerseits als auch auf induktive Meta-
physik (die sich mit einzelnen Phänomenen philosophisch beschäftigt) hinaus
und zielen auf eine allgemeine Ontologie, in der die Naturontologie einen Platz
einzunehmen hat. Für die Moderne drängt sich hierbei notwendig erneut die
Frage nach dem Verhältnis von ‚Logik‘ oder ‚Geist‘ und Materie bzw. ‚fakti-
schem Sein‘ auf, die es gilt, neu rational zu behandeln.181 Dennoch ist trotz
dieser philosophischen ‚Überschreitung‘ (im Sinne des logischen Empirismus)
über die (Natur-)Wissenschaftlichkeit hinaus klar zu sehen, inwiefern solche
Fragen mit dem Vorhandensein von Naturwissenschaft kompatibel sind, ja, in-
wiefern solche Theorien (als Theorien über naturwissenschaftliche Theorien)
das Programm der Naturwissenschaft sinnvoll ergänzen, wenn nicht gar ange-
sichts des modernen skizzierte Skeptizismus erneut begründen und verteidigen
können. Weder machen einzelwissenschaftliche Ergebnisse derartige Überle-
gungen überflüssig, noch können natürlich umgekehrt solche philosophische
Reflexionen die naturwissenschaftliche Forschung ersetzen.
Die Betrachtung des Allgemeinen und die Erforschung des Konkreten sind
weder von einander zu trennen, noch gegeneinander auszuspielen, auch wenn
daran festzuhalten bleibt, dass es sich hierbei um zwei verschiedene, sich not-
wendig ergänzende Aspekte einer einheitlichen, vernünftigen Betrachtung der
Welt handelt. Dies läuft darauf hinaus, dass auch eine moderne Naturphiloso-
phie in einer zeitgemäßen Ontologie oder Theorie des Logischen zu fundieren
wäre. Wenn sich die Vernunft nicht auf szientistische Vernunft einschränken
lässt, so wäre eine Klärung der Reichweite und Grundkonzepte der Vernunft
eine der dringlichen Aufgaben der Gegenwartsphilosophie, wobei vor allem in
den Arbeiten von V. Hösle und D. Wandschneider eine erneute Ausarbeitung
und Prüfung des Philosophietyps des objektiven Idealismus gefordert wird.182
Daher soll im Folgenden in Anknüpfung an diese Überlegungen Hegels objek-
tiv-idealistische Philosophie des Organischen auf ihre Aktualität hin befragt
werden.
phie vorausgehen müssen, siehe das nächste Kapitel, das diese Fragen im Zusammenhang mit
der Funktion der hegelschen Logik für die Naturphilosophie thematisiert.
180 Es sei abermals auf D. Wandschneider (1985a) verwiesen, der eine Überwindung des rein
methodologischen Standpunktes der Naturphilosophie fordert.
181 Vgl. hierzu die kurze kritische Diskussion der hegelschen Argumente zugunsten des absolu-
ten Idealismus im nächsten Kapitel II 1.
182 Programmatisch hierzu siehe V. Hösle (1984).
3. Naturphilosophie als Synthese
87
Diese Arbeit will jedoch hier nicht die systematischen Argumente für eine
objektiv-idealistische Position grundsätzlich erarbeiten,183 sondern sich statt-
dessen der letzten vollständig ausgearbeiteten objektiv-idealistischen Natur-
philosophie direkt zuwenden. Da trotz der programmatischen Wiederbelebung
des Typus des objektiven Idealismus weder eine aktuelle Theorie der Logik, die
mit Hegels Ausarbeitung konkurrieren könnte oder diese ersetzen könnte,
vorliegt, noch eine ausgearbeitete Naturphilosophie dieses Typs vollständig
erarbeitet ist, ist es nicht falsch, sich der historischen Leistung Hegels zuzu-
wenden, auch wenn dies nicht heißt, blindlings zu Hegels naturphilosophischen
Ansichten zurückzukehren. Allerdings bietet gerade die Philosophie des Orga-
nischen bei Hegel zum einen interessante und auch heute noch aktuelle Ein-
sichten in das Wesen des Lebendigen, von denen zugleich zu sehen ist, wie sie
in der der Naturphilosophie vorgeschalteten Theorie der Logik fundiert sind.
Eine kritische Rekonstruktion dieses Zusammenhanges kann zum einen helfen,
Hegels Naturphilosophie aus sich heraus besser zu verstehen und ihre Stärken
aufzuweisen, aber sie kann zum anderen auch Argumentationslinien aufzeigen,
die eine zeitgemäße synthetische objektiv-idealistische Naturphilosophie auf-
greifen könnte. Das Ziel der Untersuchung wird es dabei zunächst sein, in der
Rekonstruktion des hegelschen Idealismus diesen als Typus einer synthetischen
Naturphilosophie im skizzierten Sinne zu erweisen. Sodann kann Hegels
Theorie intern auf ihre Kohärenz überprüft werden, wobei zunächst der Natur-
begriff im Allgemeinen im Zentrum steht. Erst abschließend werden diejenigen
logischen Konzepte betrachtet, die die Philosophie des Organischen fundieren.
Eine interne Kritik der entsprechenden Passagen der Logik wird zugleich die
Möglichkeit aufzeigen, den wichtigsten Aspekt einer heutigen Philosophie der
Biologie den Evolutionsgedanken in Hegels Philosophie der Organik zu
integrieren.
183 Neben den erwähnten Arbeiten von V. Hösle und D. Wandschneider zum Programm des
objektiven Idealismus vgl. jetzt auch die Ausführungen zur ‚idealen Logik‘ von B. Braßel
(2005).
II. Hegels Philosophie des Lebendigen
88
1. Die Naturphilosophie im Zusammenhang des Systems
89
II.
Hegels Philosophie des Lebendigen.
Die dialektische Deutung des Organischen als Begriff
1. Die dialektische Naturphilosophie Hegels im Zusammenhang
des Systems des absoluten Idealismus
Jede Diskussion einzelner Aspekte der hegelschen Realphilosophie verlangt
unweigerlich einen Blick auf Hegels Systemarchitektur sowie einen Blick in
Hegels Logik. Während es heute immer mehr üblich ist, sich getrennt mit
einzelnen Teilbereichen der Philosophie zu beschäftigen, so macht Hegels
Philosophie eine solche Herangehensweise geradezu unmöglich.184 Hegels Na-
turphilosophie ist nur vor dem Hintergrund des gesamten hegelschen Systems
zu verstehen, welches wiederum seine Fundierung in der hegelschen Wis-
senschaft der Logik erfährt.185 Die systematische Geschlossenheit des hegel-
schen Entwurfs, die Verwendung einer in der Logik entwickelten Begrifflich-
keit in der Naturphilosophie sowie der gesamten Realphilosophie haben sicher
dazu beigetragen, dass Hegels Philosophie für den unbedarften, an Naturphilo-
sophie interessierten Leser auf den ersten Blick schwer zugänglich erscheint.186
184 So moniert etwa Horstmann die merkwürdige Situation, dass einzelne Teile des hegelschen
Denkens weiter fruchtbar bearbeitet werden, dass aber eine Auseinandersetzung mit Hegels
System im Ganzen und insbesondere eine Auseinandersetzung mit der logisch-dialektischen
Grundlegung der Realphilosophie oft ausbliebe, vgl. R.-P. Horstmann (1984), 39f. Im Sinne der
Betonung des systematischen Zusammenhangs der Naturphilosophie mit Hegels Philosophie im
Ganzen versucht T. Kalenberg (1997) Hegels Naturbegriff, allerdings von der Phänomenologie
des Geistes her, zu deuten. Auch Kalenberg bemängelt zurecht, dass zu oft versucht wird,
Hegels Naturphilosophie oder einige Teile derselben isoliert aus sich heraus zu verstehen. Hösle
bemerkt in (1984a), 38f., dass auch umgekehrt Hegels System im Ganzen nicht ohne die Natur-
philosophie verstanden werden kann, die ein integraler Bestandteil des objektiven Idealismus von
Hegel sei.
185 Ich folge hierin V. Hösle (1988), 55 und insbes. 58 Anmerkung, der anknüpfend an K.
Harlander (1969, 1), H. F. Fulda (1965, 297ff.) und K. Hartmann (1976, 25) die fundierende
Rolle der Logik gegenüber der Phänomenologie betont. Ausschlaggebend ist das Argument, dass
die Phänomenologie schon logischer Kategorien bedarf, so dass es ein schlechter (und vermeid-
barer) Zirkel sei, wenn sie das System und etwa auch die Bestimmungen der Logik fundieren
solle. Demgegenüber argumentiert T. Kalenberg (1997), dass die Logik die Einheit von Denken
und Sein schon voraussetze, die in der Phänomenologie erst erwiesen werde, vgl. dort XIf. Doch
kann dieser Zusammenhang nur genetisch (als Überwindung falscher Einstellungen des
Bewusstseins) und nicht geltungstheoretisch verstanden werden: Die Überwindung des Gegen-
satzes von Subjekt und Objekt und damit die Einheit von Denken und Sein muss sich in der
Logik erweisen.
186 Die Fremdheit der hegelschen Naturphilosophie für heutige Leser betont auch G. Marmasse
in seiner Einleitung zur Vorlesungsmitschrift zur Naturphilosophie Hegels, vgl. G.W.F. Hegel,
II. Hegels Philosophie des Lebendigen
9a
Hegels Naturphilosophie ist somit als Disziplin nicht aus sich selbst heraus zu
verstehen, sondern sie hat ihre Voraussetzungen außerhalb ihrer selbst. Sie ist
für Hegel gekennzeichnet durch zwei Besonderheiten: die Anwendung einer
begrifflich-apriorischen Methode und die Perspektive der Suche nach den Spu-
ren des ‚Absoluten‘ in der endlichen Natur. Die Rechtfertigung für den Natur-
begriff und für die spezielle Methode wird von Hegel nicht selbst in der
Naturphilosophie, sondern an anderen Stellen seines Systems geliefert.187
Hegels System ist hierbei näher in seiner Logik fundiert, und jede Auseinan-
dersetzung mit der Naturphilosophie Hegels muss dieser Tatsache Rechnung
tragen.
Zunächst ist für das kritische Verständnis der hegelschen Philosophie des
Organischen erstens ein kurzer Abriss derjenigen Grundideen erforderlich, die
Hegels ontologischen Idealismus fundieren, aus dem sich die Stellung der Natur
als ‚die Idee in ihrem Anderssein‘188 ergibt. Hierzu wird auf die Überlegungen
zum Verhältnis der Denkbestimmungen des Endlichen und Unendlichen zu-
rückgegriffen. Aus jenen Überlegungen lassen sich sowohl Konsequenzen für
die ontologische Stellung der Natur zwischen der Logik und der Geistphiloso-
phie im Allgemeinen als auch für die Gliederung und den Aufbau der Natur-
philosophie Hegels im Besonderen gewinnen. Die Grundpointe der idealisti-
schen Ontologie besteht in der Fassung des Natürlichen als Bereich des Endli-
chen, dem mit dem ideellen Bereich das ‚eigentlich Seiende‘ gegenübersteht.
Hegels Begründung dieses absoluten Idealismus189 soll im Folgenden kurz an-
hand seiner Überlegungen zum Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit
skizziert werden. Nur durch Hegels Auffassung der Verschränkung des Endli-
chen und des Unendlichen wird deutlich, inwiefern sein Ansatz im Sinne der
bisherigen Ausführungen als synthetische Naturphilosophie gelten kann.
Hegel stellt somit im klassischen Sinne die Frage nach dem Wesen der Na-
tur, d.h. nach dem Wesen des Raumes, der Zeit, des Organischen usf. Die
Antwort auf jene Frage ergibt sich für Hegel als Deutung der verschiedenen
Stufen der Natur als jeweils spezifische (und defiziente) Verwirklichung des
‚Absoluten in seinem Gegenteil‘, dem ‚Endlichen‘. Die folgenden beiden Kapi-
tel spiegeln somit im Aufbau die Ergebnisse des einleitenden Kapitels I, indem
zu untersuchen sein wird, inwiefern die hegelsche Philosophie ontologisch ver-
sucht, den Intuitionen der antiszientistischen Naturphilosophie gerecht zu
werden, wobei sie gleichzeitig methodologisch den Rationalitätsanspruch des
Vorlesung (1823/24), 10ff.
187 Hegel schreibt: „Indem die Wissenschaft der Philosophie ein Kreis ist, von dem jedes Glied
seinen Vorgänger und Nachgänger hat, in der Enzyklopädie die Naturphilosophie aber nur als
ein Kreis im Ganzen erscheint, so liegt das Hervorgehen der Natur aus der ewigen Idee, ihre
Erschaffung, der Beweis sogar, daß notwendig eine Natur sei, im Vorhergehenden (§244).“,
9.10.
188 Vgl. 9.24.
189 Ich gebrauche im Folgenden die Termini absoluter Idealismus, ontologischer und objektiver
Idealismus bedeutungsgleich.
1. Die Naturphilosophie im Zusammenhang des Systems
91
wissenschaftstreuen Lagers zu erfüllen bestrebt ist. Als wesentlich erweist sich
hierbei einerseits Hegels Annahme einer Vorrangstellung des ‚Logischen‘ oder
‚Ideellen‘ gegenüber dem ‚Natürlichen‘ oder dem ‚Endlichen‘ sowie seine Kon-
zeption des Absoluten als dialektischer Zusammenfall der abstrakten Gegen-
sätze des Verstandes.
1.1. Der Vorrang des Logischen im ontologischen Idealismus
Die neuere Hegelforschung zu seiner Naturphilosophie hat sich nicht primär
mit der logischen Fundierung des objektiv-idealistischen Naturbegriffs ausei-
nandergesetzt. Sie hat zwar zur Kenntnis genommen, dass die Natur bei Hegel
als das Andere der Idee von der Logik her zu verstehen ist, sie hat aber selten
die Frage erörtert, warum nach Hegel die Natur als Ausdruck des Logisch-Ab-
soluten zu deuten ist. So hat man sich bei der Darstellung der Naturphiloso-
phie zumeist auf die einleitenden Ausführungen zur Naturphilosophie in der
Enzyklopädie beschränkt. Die entscheidende Frage ist aber zunächst, inwiefern
Hegels apriorisch-logische Deutung der Natur, die sich etwa auch in den
Parallelismen und Zuordnungen zwischen Logik und Realphilosophie, die für
die Organik noch näher zu diskutieren sein werden, niederschlägt, bei Hegel
gerechtfertigt ist. Der bloße Verweis, dass es bei Hegel diese Bezüge zwischen
Logik und Naturphilosophie gibt, ist verdienstvoll, da er deutlich macht, dass
für Hegel auch die Naturphilosophie in seinem Entwurf systematisch einge-
ordnet ist.190 Warum aber Hegel diese ‚metaphysische‘ oder ontologische Logi-
fizierung der Natur systematisch für möglich hält, wird in vielen Arbeiten zur
Naturphilosophie nicht ausführlich diskutiert. Derartige Überlegungen finden
190 Irritierend ist der Aufsatz von M. J. Petry in dieser Hinsicht, der zwar daran interessiert ist,
den Ruf der hegelschen Naturphilosophie zu verbessern, und der auf Hegels außerordentliche
naturwissenschaftliche Kenntnisse verweist, der aber die Bedeutung des ,Systemzusammen-
hangs‘ für die Naturphilosophie herunterspielt, vgl. M. Petry (1981), 624ff. Eher in Richtung
der hier angestrebten systematischen Deutung steht W. Neusers Rezeption der hegelschen
Naturphilosophie, der die apriorische Fundierung der Grundbegriffe der Naturwissenschaft in
Hegels Logik hervorhebt, vgl. W. Neuser (2000), 141, (1989), 27, 36ff., (1995), 148ff. Zu
dieser Notwendigkeit der Fundierung naturwissenschaftlicher Begriffe durch philosophische
Überlegung siehe auch V. Hösle (1987c), 247, der auf die axiomatische Form wissenschaftlicher
Betrachtung verweist, die eine einzelwissenschaftliche Erklärung der Axiome selbst unmöglich
mache. Allerdings ist mit der philosophischen Begründung und Einordnung der Wissenschaften
zugleich ihre ‚Aufhebung‘ im hegelschen Sinne vollzogen, sie erfassen einen Teil der Wahrheit.
Die notwendige philosophische Begründung ihrer Methode und Begriffe adelt die Wissenschaft
ebenso sehr, als sie auch ihren umfassenden Anspruch aus hegelscher Sicht einschränkt. In
diesem Sinne kritisch gegen die Versuche der ‚Letztbegründung‘ einzelwissenschaftlicher
Erkenntnisse, so wie etwas zu apologetisch gegen alle Versuche, Hegel mit Blick auf die
Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften zu ‚aktualisieren‘, siehe T. Kalenberg (1997),
XVf.
II. Hegels Philosophie des Lebendigen
92
sich eher in den wenigen Schriften, die sich mit Hegels System im Ganzen oder
mit den metaphysischen oder gar theologischen Aspekten befassen.191 Es sollen
nun Hegels Begriff des Endlichen und komplementär dazu seine Überlegungen
zum Wesen des Unendlichen im Hinblick auf die Ontologie skizziert werden.
Es gilt zu begreifen, wie Hegel die Natur sowohl als das Reale, Nicht-Ideale,
kurz als das Andere der Idee und zugleich als bestimmt durch die Idee, die in
ihrem Anderen ja ‚zu sich kommen soll‘, verstehen kann.
In der bekannten Dialektik zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit
kommt zum ersten Mal in der Logik diejenige dialektische Grundstruktur zum
Ausdruck, die für Hegels ontologischen Idealismus insgesamt kennzeichnend
ist. Durch eine etwas tiefergehende Betrachtung des Zusammenhangs der
beiden Kategorien bei Hegel lässt sich nicht nur die nähere Gliederung des
hegelschen Naturbegriffs erarbeiten, es kann ferner schließlich kurz vermit-
telnd auf die Vorschläge von Wandschneider192 zur Lösung des notorischen
191 Die meisten Erörterungen übernehmen Hegels Begriff der Natur aus dem Paragraphen 247
der Enzyklopädie und orientieren sich stark an der Einleitung zur Naturphilosophie aus Hegels
Vorlesungen oder der Enzyklopädie, die den Unterschied zwischen praktischer und theoreti-
scher Einstellung, zwischen Physik und Naturphilosophie erörtert, so z.B. W. Bonsiepen
(1997), 482ff., H. F. Fulda (2003b), 133ff. Natürlich gibt es auch Überlegungen zu den von
Hegel angelegten Entsprechungen der Naturphilosophie zur Logik, doch wird hierbei auf die
Begründung des absoluten Idealismus selten eingegangen. Dies hat sicherlich mit der allgemei-
nen zeitgenössischen Skepsis gegenüber nicht-naturalistischen Ansätzen zu tun. Zum Zusam-
menhang zwischen Logik und Naturphilosophie siehe etwa R. W. Meyer (1989), 22ff., der auf
das Diktat von Hegel [siehe F. Nicolin (1969), 21f.,28f.] verweist. Eine Ausnahme ist Wand-
schneider (etwa 1985a), der über den philologischen Verweis auf die Zusammenhänge bei Hegel
hinaus versucht, teilweise unabhängig von Hegels Ausführungen, Argumente für eine Deutung
der Natur von einer ‚absoluten Logik‘ her zu entwickeln, siehe auch (1985b), (1987c), (1990),
(2001). Wandschneider argumentiert von der Idee der Naturerkenntnis der Wissenschaften. Die
gesetzmäßige Verfasstheit des Naturseienden, das durch die Vernunft und die wissenschaftliche
Forschung zu erkennen sei, verweise auf ein inneres logisches Wesen der Natur. Die folgenden
Ausführungen versuchen, die vor allem von Wandschneider und Hösle (1987c), (1990) vorge-
brachten neuen Argumente für den objektiven Idealismus in analoger Weise aus einschlägigen
Passagen der hegelschen Logik zu gewinnen. Auch wenn Hegel nicht über eine ausgearbeitet
Rechtfertigung der Absolutheit der Logik verfügt, wie sie von Wandschneider (1990), 25f.
skizziert wird [siehe auch die Ausführungen zur Letztbegründung bei Hösle (1990)]a so lassen
sich die von Wandschneider erarbeiteten Argumente auch textnah zu Hegel entwickeln. Zum
allgemeinen Programm der Dialektik als Letztbegründung der Logik siehe Wandschneider
(1996) und die Ausführungen zum objektiv-idealistischen Programm der Fundamentallogik bei
B. Braßel (2005). Für die folgenden näheren Ausführungen siehe auch L. Collettis Beitrag zur
‚Dialektik der Materie‘ bei Hegel (1982), der unter Verweis auf die im Folgenden besprochenen
Hegel-Passagen, wenn auch mit christlichen Anleihen, die Notwendigkeit des Übergang des
‚Endlichen‘ in das ‚Unendliche‘ herausarbeitet. Zum Verständnis von Hegels Welt- und Natur-
begriff sind ebenfalls die Überlegungen von M. Theunissen (1982) zum Wahrheitsbegriff der
Phänomenologie des Geistes besonders hilfreich. Sie verweisen darauf, dass Hegel das ‚Objekt‘
‚intentional‘ deutet, um eine ‚absolute Wahrheit‘ zu ermöglichen, und versuchen, mit husserl-
schen Überlegungen Hegels Ansatz zu erhellen.
192 Vgl. (1985b), (1990), (1997). T. Kalenberg stellt sich kritisch gegen derartige Überlegung,
insofern er im Entäußerungsproblem kein Problem sieht; er verweist auf die falschen Vorausset-
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Hegel often criticizes the use of unobservable entities postulated in scientific theories. For example, he claims that atoms are not things but, rather, thoughts, and that various imponderable stuffs such as caloric are not independently existing things but, rather, “moments” of material bodies. In this paper I argue that, in such passages, Hegel expresses his original metaphysics of nature, which I relate to the different positions on the relation between what Sellars has called the “scientific image” and the “manifest image.” I reconstruct those aspects of Hegel's philosophy of inorganic nature that allow us to understand Hegel's position in detail, as well as his reasoning in support of it. I argue that, for Hegel, mechanical properties of bodies are abstractions from the bodies that have a full complement of physical and chemical properties standing in specific relations of dependency. Such bodies correspond to the objects of our manifest image, which thus has priority over the scientific image for Hegel.
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In this article, I discuss the specific ways in which Hegel's account of life and organisms advances upon Kant's account of natural purposes in the third Critique. First of all, I argue that it is essential for Hegel's account that it contains two levels. The first level is that of logical life, the discussion of which does not depend on any empirical knowledge of natural organisms. I provide my reconstruction of this logical account of life that answers to the objection made by a number of Hegel scholars to the effect that Hegel does in fact rely on empirical knowledge at this place in the logic. The second level is that of natural organisms themselves. I argue that it is with the help of this separation of the logical and natural levels, as well as his doctrine of the impotence of nature, that Hegel, unlike Kant, (a) is able to claim that not everything in natural organisms is purposive, and (b) provide a philosophical, and not merely empirical, account of the distinction between plants and animals. In both of these respects, Hegel's position can be seen as a welcome advance over Kant.
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When looking at modern epistemology, one might come to the conclusion that the prospects for a solid realism are not so good. Two main sources for this common assessment can be identified: (1) First of all, Logical Positivism has initiated a new phase in the recent history of philosophy that was first and foremost characterized by a commitment to science. It has become evident, however, in the development of this tradition that the early hopes for a new foundation of a strong epistemic realism were soon disappointed: Tendencies toward internalism, constructivism, pragmatism, antirealism, or even cultural relativism were established. The most important steps in this development will be analyzed in the first part of the chapter: The working hypothesis in the short sketch of the historical development of epistemology is that a certain ultimately Cartesian and antievolutionary dualism plays the decisive role in the formative period of modern realism. It is this same dualism that leads from realism to more skeptical positions. By taking this Cartesian opposition for granted, modern realism again turns from empiricism to internalism or linguistic idealism. The main argument against realism will be examined and rejected: the defense of a coherent realism is only then impossible if one accepts the dualism of mind and world in the first place. But in this case most arguments against realism become a powerless tautology.
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After half a century of cognitive revolution we remain far from agreement about what cognition is and what cognition does. It was once thought that these questions could wait until the data were in. Today there is a mountain of data, but no way of making sense of it. The time for tackling the fundamental issues has arrived. The biogenic approach to cognition is introduced not as a solution but as a means of approaching the issues. The traditional, and still predominant, methodological stance in cognitive inquiry is what I call the anthropogenic approach: assume human cognition as the paradigm and work 'down' to a more general explanatory concept. The biogenic approach, on the other hand, starts with the facts of biology as the basis for theorizing and works 'up' to the human case by asking psychological questions as if they were biological questions. Biogenic explanations of cognition are currently clustered around two main frameworks for understanding biology: self-organizing complex systems and autopoiesis. The paper describes the frameworks and infers from them ten empirical principles--the biogenic 'family traits'--that constitute constraints on biogenic theorizing. Because the anthropogenic approach to cognition is not constrained empirically to the same degree, I argue that the biogenic approach is superior for approaching a general theory of cognition as a natural phenomenon.
Kapitel 6, 254ff. Zu Sokrates als erstem Philosophen, der die Figur der Selbstaufhebung entdeckte
  • Kuhlmann
Kuhlmann (1985), Kapitel 6, 254ff. Zu Sokrates als erstem Philosophen, der die Figur der Selbstaufhebung entdeckte, siehe V. Hösle (1984b), 267ff.
55 und insbes. 58 Anmerkung, der anknüpfend an K
  • V Ich Folge Hierin
  • Hösle
Ich folge hierin V. Hösle (1988), 55 und insbes. 58 Anmerkung, der anknüpfend an K.
T. Kalenberg stellt sich kritisch gegen derartige Überlegung, insofern er im Entäußerungsproblem kein Problem sieht
  • Vgl
Vgl. (1985b), (1990), (1997). T. Kalenberg stellt sich kritisch gegen derartige Überlegung, insofern er im Entäußerungsproblem kein Problem sieht; er verweist auf die falschen Vorausset