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Wissenschaftlicher Fortschritt
in den Wirtschaftswissenschaften:
Einige Bemerkungen*
Von Gebhard Kirchgässner
Abstract
First, points of view of economists regarding falsificationism, scientific revolutions
and scientific research programmes are discussed. Next, hardly debatable scientific pro-
gress regarding empirical economic research in recent decades is described. Then it is
asked whether there have been scientific revolutions with respect to economic theory or
the basic methodology of the economic approach. Taking this term seriously, there have
been at best two revolutions since the time of Adam Smith. Today, economists share a
common paradigm, which also builds the hard core of their scientific research pro-
gramme. But while this hard core is hardly questioned, the safety belt is discussed the
more. Nevertheless, most today’s economic research can be considered as being ‘normal
science’. Even if this kind of research is not without problems, there is no reason to
assess it as being of secondary value.
Zusammenfassung
Zuerst wird auf die Positionen verschiedener Ökonomen zu Falsifikationismus, wis-
senschaftliche Revolutionen und wissenschaftliche Forschungsprogramme eingegangen.
Danach wird der kaum bestreitbare Fortschritt dargestellt, der sich in den letzten Jahr-
zehnten im methodisch-empirischen Bereich vollzogen hat. Im Anschluss daran wird ge-
fragt, ob es neben diesem Fortschritt, der sich vergleichsweise kontinuierlich vollzieht,
auch Revolutionen gegeben hat, die sich insbesondere im Bereich der Theorie (bzw. der
grundlegenden Methodologie) vollzogen haben. Anschliessend beschäftigen wir uns mit
dem Paradigma, welches hinter dem ökonomischen Ansatz steht, sowie mit dem entspre-
chenden Forschungsprogramm und der Kritik daran. Schliesslich werden Probleme der
Normalwissenschaft in den Wirtschaftswissenschaften diskutiert, die heute ohne Zweifel
den grössten Raum im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung einnimmt.
Schmollers Jahrbuch 135 (2015), 209 –248
Duncker & Humblot, Berlin
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
*Überarbeitete und aktualisierte Version von G. Kirchgässner (2011). Vortrag im
Rahmen des Internationalen Symposiums „Philosophie und Wirtschaftswissenschaft“
aus Anlass des 90. Geburtstags von Hans Albert, Klagenfurt, 3. –5. Februar 2011.
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Auch wenn damit einige Probleme verbunden sind, besteht kein Anlass, diese Forschung
in irgendeiner Weise abzuwerten.
JEL Classification: B10, B41
1. Einleitung
In wieweit es in den Wirtschaftswissenschaften Fortschritt gibt, ist ein altes
Thema, welches letztlich im 19. Jahrhundert auch der Diskussion zwischen der
Historischen Schule und den ‚Österreichern‘zugrunde lag. Andererseits wird
in der ökonomischen Literatur, soweit sie sich mit grundlegenden methodologi-
schen Fragen auseinandersetzt, das Problem des wissenschaftlichen Fortschritts
kaum erörtert; es scheint zu selbstverständlich zu sein, dass derartiger Fort-
schritt stattfindet.1Man befasst sich dann z. B. mit der Rolle von Theorien oder
der Empirie, gelegentlich wie z. B. in den ‚Economics of Economics‘auch mit
den Bedingungen, unter denen sich wissenschaftliche Forschung in den Wirt-
schaftswissenschaften vollzieht.2Dabei geht es in jüngerer Zeit vor allem um
die Organisation des Wissenschaftsbetriebs und dabei insbesondere um Fragen
der Publikationen und ihrer Bedeutung im Wissenschaftsprozess.3Dabei wird
auch gefragt, wie sich die (akademische) Forschung in den Wirtschaftswissen-
schaften in Zukunft weiterentwickeln wird.4Dort, wo die Frage der Produktivi-
tät der Forscher erörtert wird, geht es fast ausschliesslich um Rankings, die sich
aus der Zahl der Publikationen bzw. Zitierungen ergeben.5Fragen nach den
Bedingungen für wissenschaftlichen Fortschritt werden dagegen eher selten er-
örtert, wenn z. B. (ökonomische) Wissenschaft als freier Markt für Ideen ver-
standen und die Zulassung von Pluralismus bezüglich der Methoden und An-
sätze gefordert wird.6In jüngster Zeit ist die Frage nach dem Fortschritt in den
Wirtschaftswissenschaften sowie insbesondere der Volkswirtschaftslehre je-
doch insofern wieder in die Diskussion gekommen, als im Gefolge der Wirt-
schaftskrise nicht nur die Theorie der Finanzmärkte, sondern insbesondere die
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1Eine der wenigen Ausnahmen sind die Beiträge in Boehm et al. (2002), insbesonde-
re die Beiträge von Blaug und Mäki.
2Zur Economics of Economics siehe z. B. Eggertsson (1995), Coupé (2004) sowie
die Beiträge in German Economic Review 9 (2008, Heft 4).
3Siehe z. B. Coupé (2004, S. 200 ff.), Frey (2005) sowie Graber /Launov/ Wälde
(2008).
4Siehe z. B. Frey (2010).
5Siehe z. B. Fabel/Hein /Hofmeister (2008) für die Betriebswirtschaftslehre oder Ka-
laitzidakis/Mamuneas/ Stengos (2011) für die Volkswirtschaftslehre. Zur Kritik an den
Rankings siehe z. B. Frey/Rost (2010).
6Siehe z. B. Mäki (2002). Eine Ausnahme bildet Backhouse (1997), der sich u. a.
intensiv damit auseinandersetzt, wann man in der Wirtschaftswissenschaft von Fort-
schritt reden kann (siehe insbesondere 97 ff.). Siehe auch Shearmur (1991).
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makroökonomische Theorie in Misskredit geraten ist.7Während manche eine
Rückkehr zur (keynesianischen) Theorie der siebziger Jahre verlangten, die in
der praktischen Wirtschaftspolitik durch die massiven Konjunkturstützungspro-
gramme auch zumindest vorübergehend teilweise vollzogen wurde,8forderten
in Deutschland eine ganze Reihe von Ökonomen in einem öffentlichen Apell
eine Abkehr von der modernen, von den angelsächsischen Ländern dominier-
ten empirisch-quantitativen Ausrichtung der Volkswirtschaftslehre und eine
Rückkehr zur deutschen Ordnungsökonomik, die im Gegensatz zur modernen
Ökonomik weitgehend ohne Mathematik auskam.9In diesem Zusammenhang
wurde zwar nicht grundsätzlich verneint, dass es Fortschritt im Bereich der
Wirtschaftswissenschaften geben kann, aber zumindest wurde die Entwicklung
der letzten Jahrzehnte eher als Rückschritt betrachtet.10
Fragt man die Wissenschaftstheorie, wann man von wissenschaftlichem Fort-
schritt reden kann, wird man zwangsläufig auf die Diskussionen der sechziger
und siebziger Jahre verwiesen, deren Exponenten Karl R. Popper, Thomas
Kuhn, Imre Lakatos und Paul K. Feyerabend waren.11 Diese Diskussion litt
u. a. darunter, dass analytische und historisch-deskriptive Elemente miteinander
vermischt wurden. Während es bei Popper im Wesentlichen darum geht, wann
eine Theorie als besser als eine Konkurrentin ausgewiesen werden kann, geht
es Kuhn (1962) vor allem um eine Analyse der Prozesse, in denen eine Theorie
durch eine andere abgelöst wird (wobei es beiden um eine Rückweisung der
‚Kübeltheorie‘wissenschaftlichen Fortschritts ging). Als Ergebnis dieser Dis-
kussionen kann man u. a. festhalten, dass man nie sicher sein kann, ob die
Theorie, die man für die bessere hält, auch tatsächlich überlegen ist; alle Ver-
suche definitiv zu zeigen, dass eine Theorie näher an der Wahrheit ist als eine
Konkurrentin, müssen wohl als gescheitert angesehen werden. Selbst wenn alle
Kriterien erfüllt sind, gemäss denen nach Popper (1963, 240 ff.) eine Theorie
als besser als ihre Konkurrentin ausgewiesen werden soll, kann nicht ausge-
schlossen werden, dass neue Tests vorgeschlagen werden, bei denen die ,alte‘
Theorie besser abschneidet. Nicht umsonst spricht auch Popper (1972, 70 ff.)
zwar von Wahrheitsähnlichkeit als Ziel der Theoriebildung, aber er betont auch,
dass es keine Metrik gibt, mit welcher man die Wahrheitsähnlichkeit einer
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 211
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7Siehe hierzu z. B. Acemoglu (2009) sowie die entsprechenden Beiträge im Econo-
mist vom 16. Juni 2009 (http://www.economist.com/node/14031376, http://www.econo
mist.com/node/14030288, http://www. economist.com/node/14030296 (01/06 /15).
8Siehe z. B. Krugman, How Did Economists Get It So Wrong, New York Times vom
6. September 2009. (http://www.nytimes.com/2009/09/06/magazine/06Economic-t.html
(01/06/ 15)).
9Siehe hierzu die Beiträge in Caspari/Schefold (2011). Diese Debatte wurde vorwie-
gend in Zeitungen sowie im Internet ausgetragen.
10 Zu dieser Diskussion siehe Kirchgässner (2009).
11 Siehe hierzu z. B. die Beiträge in Lakatos/Musgrave (1974).
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Theorie abschätzen könne, und „dass es nie möglich ist, eindeutig zu beweisen,
dass eine empirisch-wissenschaftliche Theorie falsch ist“(1983, XVI).
Wir befinden uns damit bei der Diskussion wissenschaftlichen Fortschritts in
einer ähnlichen Situation wie beim Induktionsproblem: Obwohl das Problem
theoretisch nicht gelöst ist und aller Voraussicht auch gar nie gelöst werden
kann, führen wir nicht nur permanent praktische Induktionsschlüsse erfolgreich
durch, sondern wir sind auch alle davon überzeugt, dass es wissenschaftlichen
Fortschritt gibt, und wir urteilen darüber, welche Theorie wir für besser halten,
auch wenn der Konsens darüber im Allgemeinen in den Sozialwissenschaften
geringer als in den Naturwissenschaften ist. Schliesslich kann man kaum ernst-
haft bezweifeln, dass uns heute dank der Wissenschaft Möglichkeiten offenste-
hen, die frühere Generationen nicht zur Verfügung hatten. Aus rein instrumen-
tellen Überlegungen heraus kommen wir zur Überzeugung, dass der Stand der
Wissenschaft heute insgesamt weiter ist, als er früher war, auch wenn wir im
Einzelnen nicht sagen können, ob eine bestimmte Theorie wirklich besser als
eine andere ist.
Diese instrumentelle Sicht der Wissenschaft wurde von Friedman (1953) auf
die Ökonomie übertragen. Diese Arbeit löste eine bis heute andauernde Diskus-
sion aus.12 Aber selbst wenn man diese Perspektive akzeptiert, bringt dies für
die Diskussion der letzten Jahre über die makroökonomische Theorie nichts, da
mit dem Verweis darauf, dass man für die Bewältigung der Krise zur alten, auf
der keynesianischen Theorie basierenden Politik zurückkehren müsse, ja insbe-
sondere die instrumentelle Eignung der neueren Ansätze in Frage gestellt wur-
de. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in anderen Bereichen. So wurde in
den letzten Jahrzehnten die Theorie einer strategischen Handelspolitik entwi-
ckelt, die jedoch nicht nur in der Praxis keine Anwendung findet, sondern auch
von Ökonomen als mehr oder weniger untauglich für eine praktische Umset-
zung betrachtet wird.13 Für die Wirtschaftspolitik vertrauen Wissenschaftler
wie Politiker möglicherweise durchaus zu Recht nach wie vor eher auf die klas-
sische Theorie von David Ricardo als auf die Entwicklungen der modernen
Aussenhandelstheorie.14 Für die Diskussion über wissenschaftlichen Fortschritt
in den Wirtschaftswissenschaften sind aus der Diskussion der sechziger und
siebziger Jahre jedoch vor allem zwei andere Punkte relevant, die auch entspre-
chend aufgegriffen wurden: (i) Gibt es in den Wirtschaftswissenschaften Para-
digmen und wissenschaftliche Revolutionen (im Sinne von Kuhn, 1962) und
welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Normalwissenschaft, und (ii)
gibt es (im Sinne von Lakatos, 1974) wissenschaftliche Forschungsprogramme.
Gerade dieses Konzept hat in den Wirtschaftswissenschaften weite Beachtung
gefunden. Dies ist nicht überraschend; es resultiert aber zumindest zum Teil
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12 Siehe hierzu z. B. Blaug (1980, 91 ff.) sowie die Beiträge in Mäki (2009).
13 Siehe hierzu Baldwin (1992).
14 Siehe hierzu z.B. Krugman (1987).
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aus einer eher merkwürdigen Auffassung des Popperschen Falsifikationismus
(an der er selbst nicht ganz unschuldig ist), die mit dem tatsächlichen Wissen-
schaftsbetrieb nicht vereinbar ist, und der ,Absolution‘, welche die Konzeption
von Lakatos (1974) dem Wissenschaftler für sein Verhalten zu erteilen vorgibt.
Dabei gibt es im empirisch methodischen Bereich seit dem 2. Weltkrieg Fort-
schritte, die als solche kaum bestritten werden dürften, auch wenn, wie bereits
erwähnt wurde, gelegentlich der gesamte empirische Ansatz für die Volkswirt-
schaftslehre als verfehlt angesehen wird. Dieser Fortschritt hat mit der Entwick-
lung leistungsfähiger Rechner, der Erfassung von immer mehr Daten und der
Entwicklung darauf besser abgestimmter statistisch-ökonometrischer Verfahren
zu tun. Dies bedeutet freilich nicht notwendigerweise, dass damit auch die öko-
nomischen Theorien, die mit solchen Verfahren getestet werden sollen, ,besser‘
geworden sind.
Im Folgenden soll zunächst auf die Positionen verschiedener Ökonomen
im Rahmen der Debatte um Falsifikationismus, wissenschaftliche Revolutio-
nen und wissenschaftliche Forschungsprogramme eingegangen werden (Ab-
schnitt 2). Danach wird der kaum bestreitbare Fortschritt dargestellt, der sich in
den letzten Jahrzehnen im methodisch-empirischen Bereich vollzogen hat und
der zu einer neuen, wenn auch aller Voraussicht nach nur vorübergehenden
Version des ökonomischen Imperialismus in anderen Sozialwissenschaften ge-
führt hat (Abschnitt 3). Im Anschluss daran wird gefragt, ob es neben diesem
Fortschritt, der sich vergleichsweise kontinuierlich vollzieht, auch Revolutio-
nen gegeben hat, die sich insbesondere im Bereich der Theorie (bzw. der
grundlegenden Methodologie) vollzogen haben (Abschnitt 4). Abschnitt 5 be-
fasst sich mit dem Paradigma, welches hinter dem ökonomischen Ansatz steht,
und Abschnitt 6 mit dem auf diesem Paradigma aufbauenden Forschungspro-
gramm Wirtschaftswissenschaften und der Kritik daran, die insbesondere in
jüngerer Zeit daran geübt wird. Bei all dem soll es nicht um die Frage gehen,
wie die Konzeptionen von Kuhn und Lakatos insgesamt als Erklärungsansätze
für die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften zu beurteilen (bzw. ob sie
zu verwerfen) sind, sondern lediglich darum, inwieweit einzelne Kernpunkte
dieser Ansätze helfen können (oder auch nicht), bestimmte Einwicklungen in-
nerhalb der Wirtschaftswissenschaften zu verstehen.15 In Abschnitt 7 diskutie-
ren wir schliesslich Probleme der Normalwissenschaft in den Wirtschaftswis-
senschaften, die heute ohne Zweifel den grössten Raum einnimmt. Auch wenn
damit einige Probleme verbunden sind, besteht kein Anlass, diese Forschung in
irgendeiner Weise abzuwerten.
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 213
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15 In wieweit der Ansatz von Kuhn (1962) sich überhaupt eignet, die Entwicklung der
Wissenschaften zu beschreiben, ist auch für die Naturwissenschaften umstritten. Siehe
hierzu die Kritik an diesem Ansatz durch Andersson (1988) sowie die Besprechung die-
ser Arbeit durch Albert (1990). Weitere Beiträge dazu finden sich z. B. in Social Episto-
mology 17 (2003), Heft 2/3.
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2. Die wissenschaftstheoretische Debatte
um den Fortschritt in den Wissenschaften
und die Wirtschaftswissenschaft
Sozialwissenschaftler und insbesondere Ökonomen haben zum Kritischen
Rationalismus häufig eine ambivalente Einstellung. Zum einen leuchtet die
Asymmetrie bezüglich Verifikation und Falsifikation von All- und Existenzaus-
sagen unmittelbar ein. Zudem ist es heute zumindest bei den Wissenschaftlern,
die empirisch arbeiten, üblich, zunächst ein Modell zu entwickeln und dieses
dann ,empirisch zu überprüfen‘, d. h. die Parameter von entsprechenden
Gleichungen mit Hilfe statistischer Verfahren zu schätzen und anschliessend
statistische Tests durchzuführen.16 Dieses Verfahren scheint demjenigen, wel-
ches der Kritische Rationalismus fordert, zumindest in etwa zu entsprechen.17
Viele, vielleicht sogar die meisten Ökonomen bekennen sich zumindest verbal
zum Kritischen Rationalismus, auch wenn sie sich eher selten explizit auf Pop-
per berufen. Dennoch ist er unter Ökonomen ausgesprochen populär.18 Viele
vertreten dabei allerdings eher einen ,naiven‘als einen ,raffinierten‘Falsifika-
tionismus, um die Terminologie von Lakatos (1974, 113 ff.) zu verwenden. Da-
bei gehen sie zumeist von der Annahme aus, dass sich Existenzaussagen end-
gültig verifizieren und Allaussagen endgültig falsifizieren lassen, eine Auffas-
sung, die sich bekanntlich nicht aufrecht erhalten lässt, worauf Popper bereits
1935 hingewiesen hat.19
Andererseits hat wohl kaum ein Wissenschaftler ein Interesse daran, seine
eigenen Hypothesen und Theorien zu widerlegen. Vielmehr versuchen Wissen-
schaftler üblicherweise genau das Gegenteil: Sie sammeln alles an Evidenz,
was für ihre Theorien spricht, sie negieren häufig gegenteilige Evidenz und ver-
suchen gelegentlich sogar, sie zu unterdrücken. Wenn es nicht mehr anders
geht, ,erweitern‘sie ihre Theorien, um sie mit zunächst gegen sie sprechenden
Beobachtungen verträglich zu machen. Dies verringert in aller Regel den empi-
rischen Gehalt, d. h. die Aussagen werden allgemeiner und sind so schwerer
empirisch zu wiederlegen. Solche Verhaltensweisen scheinen eher mit dem An-
satz von Kuhn (1962) vereinbar zu sein als mit den Ideen Poppers.20 Daher
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16 Zum Testen ökonomischer Theorien siehe Kim (1991) sowie Gilbert (1991).
17 Zur Beurteilung der Ökonomie aus der Sicht des Kritischen Rationalismus siehe
Albert (1963), aber auch Albert (1978, 1986). Zur Anwendungsproblematik des Kriti-
schen Rationalismus in der Ökonomie siehe Meyer (1973).
18 Siehe hierzu auch Caldwell (1991, 30 ff.).
19 Siehe hierzu auch Popper (1983, XVI). Auf die Unmöglichkeit einer endgültigen
Falsifikation einzelner theoretischer Hypothesen hatten zuvor bereits Pierre Duhem und
später auch Willard van Orman Quine hingewiesen, weshalb man diesbezüglich auch
von der Duhem bzw. Duhem-Quine These spricht. Siehe hierzu z. B. Redman (1993,
38 ff.). Blaug (1976, 354) weist darauf hin, dass sich entsprechende Überlegungen be-
reits bei Henri Poincaré finden.
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halten viele das Vorgehen im empirischen Bereich der ökonomischen Wissen-
schaften genauso wie die Arbeit in den anderen Realwissenschaften für unver-
einbar mit dessen Ansatz.21 Dies wirft die Frage nach der möglichen Bedeutung
dieser Theorie auf: Welcher Stellenwert kann einer Theorie der Wissenschaft
zukommen, die täglich vom tatsächlichen wissenschaftlichen Geschehen ,falsi-
fiziert‘wird?
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass (nicht nur) Ökonomen fast
dankbar waren für den Ansatz, den Lakatos (1974) ihnen mit seiner Metho-
dologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme geliefert hat.22 Jetzt war es
nicht mehr gefordert, dass sie ihre eigenen Theorien zu widerlegen versuchen,
sondern sie konnten sich auf den Kern des Programms zurück ziehen, der zwar
nicht notwendigerweise als unwiderlegbar angesehen werden muss, der aber
als solcher zumindest vorläufig akzeptiert werden darf. Veränderungen ausser-
halb dieses Bereichs sind intellektuell zulässig, da nur durch die Verteidigung
einer Theorie gegen Angriffe ihr Gehalt wirklich voll erfasst werden kann; es
kann zu langsameren Fortschritt führen, Theorien zu früh fallen zu lassen.
Dies hat dazu geführt, dass beginnend mit Latsis (1972) verschiedene Öko-
nomen begannen, die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungspro-
gramme auf Fragestellungen bzw. Entwicklungen in den Wirtschaftswissen-
schaften anzuwenden.23 Dies vollzog sich im Wesentlichen in den achtziger
Jahren. Nach einer anfänglichen Euphorie nahm aber, wie Backhouse (2004,
191 ff.) beschreibt, der Skeptizismus unter den methodologisch interessierten
Ökonomen zu, und heute scheint dieses Programm weitgehend diskreditiert zu
sein, auch wenn er (193) davor warnt, es zu schnell zu verabschieden, und da-
für auch einige beachtenswerte Gründe angibt.24 Während andere (wie z. B.
McCloskey, 1983) damit das zugrunde liegende Programm von Popper insge-
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 215
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20 Siehe hierzu auch Hands (1985, 2.): „Unabhängig davon, wie sehr die ökonomische
Profession auch immer den Falsifikationismus predigt, es ist der allgemeine Konsens
derjenigen, die in jüngerer Zeit deren Vorgehensweise kommentiert haben, dass sie die-
sen kaum jemals praktizieren.“Und Blaug (1980, 111) schreibt: „Moderne Ökonomen
predigen häufig den Falsifikationismus, wie wir gesehen haben, aber sie praktizieren ihn
selten, die von ihren verwendete Wissenschaftstheorie kann passend als ,harmloser Falsi-
fikationismus‘beschrieben werden.“
21 Siehe z. B. Hausman (1989, 121 ff.) sowie Müller-Godeffroy (1985, 146), der die
Auffassung vertritt, der Gegenstandsbereich der Nationalökonomie erzwinge „die For-
mulierung von Theorien hoher Allgemeinheit und damit von Theorien mit geringer Fal-
sifizierbarkeit.“
22 Siehe hierzu auch Hands (1985, 2) sowie Redman (1993, 142 ff.). Blaug (1976,
353) sieht die Konzeption der wissenschaftlichen Forschungsprogramme als „einen
Kompromiss zischen Poppers ,aggressiver Methodologie‘und Kuhns ,defensiver Metho-
dologie‘“. Dies dürfte auch der Intention von Lakatos (1974) entsprechen (171 ff.).
23 Siehe hierzu die Übersicht bei de Marchi /Blaug (1991, 29 ff.).
24 Siehe hierzu auch Hands (1985), der ausführt, dass die Anwendung des Ansatzes
von Lakatos auf die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften eine Reihe uns wichti-
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samt verabschieden möchten, weist er darauf hin, dass man das Programm von
Lakatos (1974) nicht unbedingt in der Tradition von Popper sehen muss, son-
dern dass man es auch in eine ältere Tradition, die bis auf Georg Wilhelm
Friedrich Hegel zurückgeht, einordnen sowie vor dem Hintergrund seiner Wis-
senschaftstheorie der Mathematik sehen kann, wodurch es in einem sehr viel
positiveren Licht erscheine.25 Dessen ungeachtet wird in der ökonomischen Li-
teratur heute nur noch vergleichsweise selten auf Lakatos Bezug genommen.26
Die Zurückweisung des Kritischen Rationalismus durch viele Wissenschafts-
theoretiker und methodologisch orientierte Ökonomen lässt zum einen die Fra-
ge aufkommen, weshalb Popper, wie oben bereits ausgeführt wurde, unter den
Ökonomen dennoch so populär ist, obwohl sie seinen Anweisungen nicht fol-
gen bzw. dessen Konzeption durch die tägliche Wissenschaftspraxis widerlegt
scheint.27 Wichtiger aber dürfte die Frage sein, ob diese Konzeption durch diese
Praxis tatsächlich widerlegt wird. Dieser Behauptung liegt meines Erachtens
zumindest ein doppeltes Missverständnis zugrunde, wobei freilich Popper an
beiden selbst nicht ganz unschuldig ist. Zum einen geht es bei ihm zunächst
nicht um eine Beschreibung des tatsächlichen Wissenschaftsprozesses, sondern
um eine „Logik der Forschung“, d. h. um die Frage nach den theoretischen
Grundlagen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Dazu kann die all-
tägliche Wissenschaftspraxis, wie auch immer sie sich vollzieht, nicht als Ge-
genargument vorgebracht werden.28 Hier werden die Ebene methodischer Re-
geln und die deskriptive Perspektive nicht genügend scharf voneinander ge-
trennt.
Dies gilt für weite Teile der Debatte über den wissenschaftlichen Fortschritt
in den sechziger und siebziger Jahren. So will auch Kuhn (1962) sein wissen-
schaftshistorisches Werk gelegentlich ins Normative wenden und Ratschläge
zur Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts geben. Dabei sind die Diffe-
renzen in wissenschaftslogischen Fragen zwischen Kuhn und Popper eher ge-
ring.29 Andererseits aber hat Popper (1983, XXI ff.) durch die Aufzählung von
insgesamt 20 ,gelungenen Widerlegungen‘klar gemacht, dass er auch etwas
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ger Einsichten vermittelt hat, darunter insbesondere, dass sie uns gelehrt hat „die richti-
gen Fragen zu stellen“(14).
25 Er verweist dabei auf seine eigene Arbeit Backhouse (1997, Kapitel 10). –Zur Wis-
senschaftstheorie der Mathematik siehe Lakatos (1976).
26 Siehe (als Ausnahmen) z. B. Silva (2009) oder Gospodarek (2009).
27 Zu einigen Antwortversuchen darauf siehe Caldwell (1991, 30 ff.).
28 Siehe hierzu auch Caldwell (1991, 4).
29 Siehe hierzu die Bemerkung von Kuhn (1974, 1): „Beinahe immer, wenn wir uns
denselben Problemen zuwenden, sind Sir Karls und meine Ansichten über Wissenschaft
so gut wie identisch.“Und Popper (1983, XXVII) schreibt: „Und ausserdem stimmen
Kuhns und meine Ansichten in der Frage der Bedeutung der Falsifikation für die Wis-
senschaftsgeschichte fast völlig überein.“Er listet an dieser Stelle freilich auch die Un-
terschiede auf, die zwischen seinen Ansichten und denjenigen von Kuhn bestehen.
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über den tatsächlichen Wissenschaftsprozess aussagen will. Soweit er seine
Aussagen auch als empirisch-gehaltvolle Theorien verstanden wissen will, die
an der Wirklichkeit scheitern können, muss er sich daher den Einwand gefallen
lassen, dass der tatsächliche Wissenschaftsprozess, so wie wir ihn erleben, mit
seiner Konzeption zumindest prima facie nicht vereinbar ist.
Dieser vermuteten Unvereinbarkeit liegt jedoch ein zweites Missverständnis
zugrunde, welches schwerer wiegt: Die Verwechslung der individuellen Moti-
vation der Forscher mit der gesellschaftlichen Organisation der Wissenschaft.
Für den Prozess einer rationalen Wissenschaft ist es nicht erforderlich, dass die
einzelnen Forscher versuchen, ihre eigenen Hypothesen und Theorien zu wi-
derlegen. Wichtig ist vielmehr, dass der wissenschaftliche (gesellschaftliche)
Diskussionsprozess so ausgestaltet ist, dass solche Widerlegungen möglich
sind, und dass Anreize gegeben werden, dass entsprechende Diskussionen statt-
finden. Dazu bedarf es eines ,Theorienpluralismus‘. Es mag sogar durchaus
von Vorteil sein, wenn einzelne Forscher ihre Theorien ,mit Zähnen und
Klauen‘verteidigen, weil nur so die Leistungsfähigkeit dieser Theorien voll
erkannt werden kann. So hat z. B. Lakatos (1974) darauf hingewiesen, dass es
dem wissenschaftlichen Fortschritt durchaus abträglich sein kann, wenn Theo-
rien ,zu schnell‘fallen gelassen werden, nachdem empirische Evidenz gegen
sie vorgebracht wurde. Wenn man die Konzeption des Kritischen Rationalis-
mus als empirische Theorie auffassen will, dann lässt sich daraus die Hypothe-
se ableiten, dass wissenschaftlicher Fortschritt sich am ehesten dort vollzieht,
wo die freie Diskussion Verteidigung und Zurückweisung theoretischer Ent-
würfe erlaubt. Diese Hypothese dürfte empirisch bewährt sein.30
Selbstverständlich versuchen Wissenschaftler auch, ihre eigenen Theorien
und Hypothesen zu überprüfen, aber nicht um sie zu widerlegen, sondern um
sie ,abzusichern‘. Sie tun dies üblicherweise, bevor sie mit einer Hypothese an
die (wissenschaftliche) Öffentlichkeit treten. Sie versuchen selbst Gründe zu er-
wägen, die gegen ihren Ansatz sprechen könnten. Sie werden u. a. Experimente
durchführen, statistische Analysen erstellen oder weitere Beobachtungen sam-
meln. Gerade weil sie ihre Ideen verteidigen wollen, sind sie gezwungen, sie
zunächst strengen Tests zu unterwerfen, um dann im öffentlichen Disput nicht
widerlegt zu werden. Damit aber hierzu die Motivation vorhanden ist, ist wie-
derum notwendig, dass der Wissenschaftsbetrieb entsprechend organisiert ist.
Zwischen den Vorstellungen von Popper und der alltäglichen Wissenschafts-
praxis besteht daher in dieser Hinsicht nicht notwendigerweise ein Wider-
spruch. Popper hat selbst darauf hingewiesen, dass es im Wissenschaftsprozess
weniger darum geht, dass die einzelnen Forscher versuchen, ihre Hypothesen
und Theorien zu widerlegen, sondern darum, dass dieser Prozess so organisiert
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 217
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30 Siehe hierzu auch die Diskussion darüber, ob die Wissenschaft insgesamt oder ob
der einzelne Wissenschaftler ,pluralistisch‘sein sollte, damit wissenschaftlicher Fort-
schritt möglich ist, in Review of Austrian Economics 24 (2011), Heft 1.
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wird, dass entsprechende Widerlegungen möglich und sogar wahrscheinlich
sind. „Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, dass die Objektivität der Wissen-
schaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt.“ … „Die Objektivität
der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen
Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik“
(1962, 112).31 So betrachtet ergibt sich aus der Realität des heutigen Wissen-
schaftsbetriebs und seiner einzelnen Akteuere nicht notwendigerweise ein Ar-
gument gegen die Konzeption von Popper und damit auch nicht notwendiger-
weise dafür, dass die Konzeption wissenschaftlicher Forschungsprogramme
‚besser‘ist.
3. Fortschritte im empirisch-methodischen Bereich
Sieht man einmal von jenen ab, die den empirischen Ansatz generell ableh-
nen und z. B. in Anlehnung an die Praxeologie des v. Mises (1949) auch heute
noch glauben, man könne unbestreitbare Aussagen über das Funktionieren des
Wirtschaftsprozesses rein logisch ableiten,32 dürfte kaum jemand bestreiten,
dass die empirische Ökonomie im Bereich der Methoden in den letzten Jahr-
zehnten erhebliche Fortschritte gemacht hat. Sie haben dazu geführt, dass es
heute in den Sozialwissenschaften neben dem ,theoretischen Imperialismus‘
des ökonomischen Verhaltensmodells auch insofern einen Imperialismus der
Ökonomen gibt, als sie mit ihren hoch entwickelten empirischen Methoden
Fragestellungen aus ganz anderen Sozialwissenschaften bearbeiten, teilweise
ohne besondere Kenntnisse der theoretischen Grundlagen dieser Wissenschaf-
ten und Fragestellungen.
Als mit dem Aufkommen (relativ) leistungsfähiger Computer in den siebzi-
ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und der Entwicklung der entspre-
chenden Software umfangreichere empirische Untersuchungen überhaupt erst
möglich wurden, gab es eine relativ klare Arbeitsteilung zwischen Ökonomen
einerseits und anderen Sozialwissenschaftlern, insbesondere Soziologen und
Psychologen andererseits: Ökonomen verwendeten Zeitreihendaten, die im We-
sentlichen aus der amtlichen Statistik stammten, während die anderen Sozial-
wissenschaftler vor allem Querschnittsdaten verwendeten, welche sie mit Um-
fragen oder Experimenten erhoben hatten.33 Damit hatten die Ökonomen prak-
tisch ausschliesslich Aggregatdaten zur Verfügung, während die übrigen So-
218 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
31 Siehe hierzu auch Caldwell (1991, 25 ff.).
32 Siehe Polleit (2009), der argumentiert: „Aufbauend auf Anerkennung von absolut
wahrem Wissen ist wissenschaftlicher Fortschritt möglich.“Er präsentiert fünf ökonomi-
sche Aussagen, für die er –ohne Einschränkung –Wahrheit reklamiert.
33 Gelegentlich wurden beim gleichen Personenkreis auch mehrere Umfragen hinter-
einander durchgeführt, womit die ersten Panels entstanden. Diese blieben jedoch zu-
nächst auf wenige Zeitpunkte beschränkt.
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zialwissenschaftler sich vorwiegend mit Individualdaten befassten. In diese
Richtungen wurden auch die Methoden weiterentwickelt, was sich in den ent-
sprechenden Lehrbüchern niederschlug.34
Dies änderte sich, als Wirtschaftsforschungsinstitute nach dem zweiten Welt-
krieg begannen, Unternehmensdaten (und somit ebenfalls Individualdaten) zu
erheben. In Deutschland spielte hier insbesondere das Ifo Institut für Wirt-
schaftsforschung in München mit seinem Konjunkturtest eine herausragende
Rolle, während in der Schweiz vor allem die Konjunkturforschungsstelle an
der ETH Zürich (KOF), die analoge Daten für die Schweiz erhob, bedeutsam
war. Damit aber wurde es erforderlich, dass sich auch Ökonometriker mit den
Problemen der Analyse von Individualdaten beschäftigten, was zur Entwick-
lung der Mikro-Ökonometrie führte.35 Dabei rückten neben reinen Querschnitts-
analysen immer mehr auch Panelanalysen ins Zentrum der Aufmerksamkeit,
wobei die zeitliche Dimension gegenüber früher deutlich an Bedeutung ge-
wann. Dies war u. a. auch dann unvermeidbar, wenn (z. B. im Bereich der Ar-
beitsmarktforschung) individuelle ‚Karrieren‘zu verfolgen waren.
Seit den achtziger Jahren erlebte die Mikroökonometrie einen ungeheuren
Aufschwung, dem die Statistiker aus den anderen Sozialwissenschaften kaum
folgten. Ihre verbreitete Anwendung wurde auch dadurch gefördert, dass (in
Zusammenarbeit mit anderen Sozialwissenschaftlern) grosse (Längsschnitts)
Datensätze zur Erfassung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation
der Bevölkerung erhoben wurden, welche die Untersuchung ganz neuer Frage-
stellungen ermöglichten. In Deutschland ist dies das sozio-oekonomische Panel
(SOEP), in dessen Rahmen seit 1984 jährlich eine repräsentative Stichprobe
der deutschen Bevölkerung befragt wird, die heute jedes Jahr etwa 20.000
Haushalte mit mehr als 40.000 Personen umfasst (www.leibniz-soep.de). In der
Schweiz startete die entsprechende Unternehmung, das Swiss Household Panel
(SHP), mit gebührender Verspätung erst 1999; seit 2013 umfasst es 4.093
Haushalte mit 9.945 Personen.36 Auf internationaler Ebene gibt es heute u. a.
das International Social Survey Programme (ISSP), das World Value Survey
(WVS),37 (mit speziellem Focus auf die schulische Ausbildung) das OECD
Programm für International Student Assessment (PISA)38 sowie (für Europa
mit einem speziellen Focus auf Probleme des Alters und der Gesundheit)
SHARE.39 Mit Ausnahme von SHARE waren die Ökonomen bei der Erhebung
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 219
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
34 Siehe z. B. Theil (1971) als prominentes Ökonometriebuch der damaligen Zeit oder
Blalock (1971), in welchem sich wesentliche Verfahren finden, die damals in den ande-
ren Sozialwissenschaften angewendet wurden.
35 Das erste Lehrbuch hierzu im deutschsprachigen Raum dürfte Ronning (1991) sein.
36 Zum SHP http://forscenter.chenour-surveysswiss-household-panel/ (12/05 / 15).
37 Zum ISSP siehe http://www.issp.org/, zum WVS http://www.worldvaluessurvey.
org/ (12/05 /15) sowie Inglehart et al. (2004).
38 Siehe hierzu http://de.dbpedia.org/page/ PISA-Studien (12/ 05/ 15).
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dieser Daten meist nicht federführend, wohl aber häufig bei den mit diesen Da-
ten durchgeführten empirischen Untersuchungen sowie insbesondere bei der
Entwicklung der hierzu notwendigen statistisch-ökonometrischen Verfahren.
Dies wurde u. a. auch dadurch dokumentiert, dass James J. Heckmann und Da-
niel Leigh McFadden im Jahr 2000 für ihre entsprechenden Arbeiten den No-
belpreis für Ökonomie erhielten.
Neue mikroökonomische Verfahren versuchen insbesondere, kausale Effek-
te besser zu isolieren, als dies im Rahmen der herkömmlichen Ökonometrie
üblich bzw. möglich war. Ein klassischer Anwendungsfall sind Untersuchun-
gen zu den Auswirkungen aktiver Arbeitsmarktpolitik.40 Es ist es alles andere
als trivial zu erfassen, ob eine Massnahme die Beschäftigung tatsächlich er-
höht (bzw. die Dauer einer individuellen Arbeitslosigkeit reduziert). Hierzu
genügt es nicht danach zu fragen, wie schnell jemand nach einer solchen
Massnahme wieder in Arbeit kommt, sondern man muss die gesamte Zeit
vom Eintritt der Arbeitslosigkeit bis zum Wiedereintritt in eine reguläre Be-
schäftigung erfassen, wobei die Zeit in der Massnahme mitzuzählen ist. Aus-
serdem kann das Ergebnis der Untersuchung dadurch verzerrt sein, dass jene,
die a priori eine höhere Chance auf Beschäftigung haben, auch eher in eine
solche Massnahme kommen.41 Angrist /Pischke (2010) sprechen in Zusam-
menhang mit diesen neuen Verfahren von einer „Glaubwürdigkeitsrevolution“.
Sie werten „natürliche Experimente“aus bzw. verwenden quasiexperimentelle
Designs.42 Damit sollen diese Untersuchungen auch der Wirtschaftspolitik
dienlich sein, weshalb man in diesem Zusammenhang von „evidenzbasierter
Wirtschaftspolitik“spricht.43
Es ist freilich hoch umstritten, wie weit man in der praktischen Politik mit
solchen Untersuchungen kommt. Es ist zweifellos möglich, diese Verfahren in
einigen Bereichen anzuwenden, und sie können dort, wie z. B. in der Arbeits-
marktpolitik, politisch hoch relevant sein. Hier gibt es ein umfangreiches, durch
die Arbeitsämter offiziell erhobenes Datenmaterial, welches man auswerten
kann. Aber selbst Angrist/Pischke (2010, 26) gestehen zu, dass sie im Bereich
220 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
39 Survey on Health, Ageing and Retirement in Europe; siehe hierzu Börsch Supan/
Jürges (2005), A. Börsch Supan et al. (2005) sowie http://www.share-project.org/ (12/
05/15).
40 Siehe z. B. Wunsch/Lechner (2008).
41 Wirtschaftspolitisch kann es durchaus Sinn machen, diese Arbeitslosen bevorzugt
in eine solche Massnahme zu schicken, aber die für die Erfassung der Auswirkungen
einer Massnahme bedeutsame Frage ist, ob die gleiche Person dann, wenn sie in eine
Massnahme kommt, insgesamt schneller wieder in eine Beschäftigung kommt.
42 Zu einer Beschreibung dieser Methoden siehe z. B. Kugler/Schwerdt/ Wössmann
(2014). Zu natürlichen bzw. quasi-natürlichen Experimenten siehe auch Dinardo (2008).
43 Dies war auch das Thema der Jahrestagung 2014 des Vereins für Socialpolitik, der
Vereinigung deutschsprachiger Ökonomen. Zu diesem Konzept siehe z. B. Schmidt
(2014).
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makroökonomischer Fragen keine Anwendung finden, und es ist auch völlig
unklar, wie dies z. B. im Bereich der Geldpolitik aussehen könnte, da es nicht
zwei unterschiedliche Geldpolitiken gleichzeitig und parallel für einen Wäh-
rungsraum geben kann. Darüber hinaus verlangt die Interpretation einer realen
Situation als „quasiexperimentell“sehr starke Annahmen, von denen die meis-
ten nicht getestet werden können. Dementsprechend besteht z. B. Sims (2010,
59) darauf, dass die Ökonomie „keine experimentelle Wissenschaft“ist, und er
bezeichnet das, was Angrist/Pischke (2010) über mögliche Anwendungen im
Bereich makroökonomischer Fragen schreiben, als ‚weitgehend Unsinn‘.
Andererseits können diese Verfahren nicht nur auf ökonomische, sondern
prinzipiell auf alle Fragestellungen angewendet werden, die mit Hilfe von Mik-
rodaten untersucht werden können, unabhängig vom Bereich, welchem das zu
untersuchende Problem inhaltlich zugeordnet ist. Dies gilt z. B. für die ‚Eco-
nomics of Education‘, ein neu aufstrebendes Gebiet, in welchem Ökonomen
heute Fragestellungen untersuchen, die früher fast ausschliesslich von Erzie-
hungswissenschaftlern (bzw. Soziologen) behandelt wurden. So fragt z. B. Za-
vodny (2006), in wieweit der Fernsehkonsum die schulischen Leistungen von
Kindern beeinflusst. Hoffmann/Orepoulos (2009) befassen sich damit, wel-
chen Einfluss die Qualität der Professoren auf die Examensergebnisse ihrer
Studierenden hat. West/ Woessmann (2010) untersuchen anhand der PISA-Da-
ten, welchen Einfluss der Anteil privater Schulen in einem Land auf die Ergeb-
nisse in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften hat, und Mueller / Wolter
(2011) befassen sich mit den Auswirkungen der statistischen Diskriminierung
beim Übergang von der Schule ins Berufsleben. Cygan-Rehm /Maeder (2013)
untersuchen den Einfluss der Erziehung auf die Fertilität. Hanushek /Link/
Woessmann (2013) zeigen, dass sich eine höhere Autonomie der Schulen in
Entwicklungsländern negative, in entwickelten Ländern dagegen positive Aus-
wirkungen auf den Schulerfolg hat. Und Suziedelyte /Zhu (2015) zeigen, dass
ein früherer Schulbeginn bei Benachteiligten positive Auswirkungen auf die
kognitiven, aber negative Auswirkungen auf die nicht-kognitiven Fähigkeiten
der Kinder hat. Das Spektrum der hier von Ökonomen behandelten Fragen ist
enorm. Selbstverständlich sind Antworten auf solche Fragen auch für sie inte-
ressant. Dennoch bleibt festzustellen, dass sich noch vor nicht allzu langer Zeit
Ökonomen kaum an die wissenschaftliche Untersuchung solcher Fragen heran-
gewagt hätten. Hier hat sich ein dramatischer Wandel vollzogen.
Dies ist nicht auf eine irgendwie geartete (oder auch nur behauptete) theore-
tische Überlegenheit des ökonomischen Ansatzes zurückzuführen; schliesslich
spielen theoretische Überlegungen in vielen dieser Arbeiten bestenfalls eine
untergeordnete Rolle. Das Erstaunliche ist vielmehr, dass die anderen Sozial-
wissenschaften, die hier einen erheblichen theoretischen Vorsprung haben soll-
ten, diesen anscheinend nicht ausnützen können. Der empirisch-methodische
Vorsprung der Ökonomen dominiert hier offensichtlich den theoretischen Vor-
sprung der anderen Sozialwissenschaftler.
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 221
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
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Die derzeitige Situation dürfte freilich nur von kurzer Dauer sein. Zwar ist
nicht davon auszugehen, dass sich die Ökonomen aus diesem Untersuchungs-
feld wieder gänzlich zurückziehen werden; sie werden im Gegenteil in Zukunft
möglicherweise noch stärker in dieses und andere ähnliche Felder hineingehen.
Hierfür sorgen schon der Zwang zur Publikation, dem junge Wissenschaftler
heute sehr viel stärker als früher ausgesetzt sind, und die sich daraus ergebende
Suche nach immer neuen Fragestellungen. Andererseits gibt es bereits heute
führende Forscher in diesen Fächern44, welche die modernen ökonometrischen
Methoden beherrschen, und es sollte möglich sein, innerhalb weniger Jahre in
diesen Fächern genügend Forscher so weit in diesen Verfahren auszubilden,
dass der methodische Vorsprung der Ökonomen schwindet oder vielleicht ganz
verloren geht. Schliesslich ist an diesen Verfahren nichts spezifisch ‚ökono-
misch‘.45 Und wenn die anderen Sozialwissenschaftler mit den Ökonomen me-
thodisch gleich gezogen haben, sollten sie ihren theoretischen Vorsprung sowie
ihre besseren institutionellen Kenntnisse ausnutzen können. Dies setzt freilich
voraus, dass der Ausbildung mit statistischen Verfahren in diesen Wissenschaf-
ten in Zukunft ein deutlich höheres Gewicht beigemessen wird als heute. Wäh-
rend dies im angelsächsischen Raum mit ziemlicher Sicherheit geschehen wird,
bleibt abzuwarten, ob es auch im deutschsprachigen Raum der Fall sein wird.
Die Aversion gegen die ‚Quantifizierung‘, die viele Vertreter dieser Wissen-
schaften hegen, dürfte dieser Entwicklung eher hinderlich sein.46 Damit könnte
in diesem Bereich noch für längere Zeit die Möglichkeit einer Hegemonie der
Ökonomen gegeben sein.
4. Wissenschaftliche Revolutionen
in den Wirtschaftswissenschaften
Folgt man der Terminologie von Kuhn (1962), dann sollte man die oben
beschriebene Entwicklung wohl in die Kategorie ,Normalwissenschaft‘ein-
ordnen, auch wenn dabei ausgesprochen interessante und auch politisch rele-
vante Ergebnisse erzielt werden. Die Frage ist jedoch, ob es daneben auch
Entwicklungen gab, die man als ,wissenschaftliche Revolutionen‘bezeichnen
könnte. Als Ökonomen begannen, diese Frage zu diskutieren, stand (entspre-
chend der damaligen Zeit) die keynesianische Revolution im Vordergrund.47
Die Entwicklung der davor nicht existierenden makroökonomischen Theorie
konnte man im Vergleich zum davor existierenden Theoriegebäude durchaus
222 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
44 Siehe z. B. Mayer (2009).
45 Soweit diese Arbeiten auf einer expliziten theoretischen Grundlage aufbauen, sind
sie freilich in dem Sinn ‚ökonomisch‘, als sie das ökonomische Verhaltensmodell zu-
grunde legen.
46 Siehe z. B. das Manifest der SAGW (2010).
47 Siehe z. B. Blaug (1976, 34; 1990a, 88) sowie die dort angegebenen Hinweise.
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als Revolution begreifen. Schliesslich hat sie zur ,Neoklassischen Synthese‘
geführt, welche die Lehrbücher nach dem Zweiten Weltkrieg dominiert hat.
Dementsprechend sprach man auch von der monetaristischen Gegenrevolution
in Zusammenhang damit, dass sich in Geldtheorie und Geldpolitik in den
siebziger Jahren weitgehend die Ideen der Monetaristen durchsetzten, die spä-
ter in Verbindung mit der Theorie rationaler Erwartungen zur ,Neuen klassi-
schen Makroökonomik‘führten. Worin aber bestanden diese Revolutionen ei-
gentlich, und inwieweit kann man aus heutiger Perspektive hier von Revolu-
tionen sprechen?48
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Position von Bronfenbrenner
(1971, 138).49 Er sieht drei Revolutionen in der Entwicklung der ökonomischen
Theorie: eine Laissez-faire Revolution, die üblicherweise mit Smith (1776) in
Beziehung gesetzt wird, seiner Meinung nach aber auf Hume (1752) zurück-
geht, dann die marginalistische Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts, die er auf das Jahr 1870 datiert, und die keynesianische Revolution,
ausgelöst durch Keynes (1936).50 Interessant ist, wie sich in diesen ,Revolutio-
nen‘politische Ideologien, welche die Rolle des Staates betreffen, und metho-
dische Fortschritte verbinden. Die Laissez-faire Revolution war in erster Linie
eine Veränderung des politischen Standpunkts; der Staat sollte aus dem Wirt-
schaftsleben weitgehend zurückgedrängt werden. Die marginalistische Revolu-
tion war zweifellos in erster Linie eine methodische Angelegenheit. Dennoch
sind auch hier politische Positionen im Spiel, gegen welche die neue Theorie
aufgebaut wurde. Dies gilt nicht nur für den Marxismus, sondern z. B. auch für
die Deutsche Historische Schule.51 Auch bei Keynes finden wir wieder beide
Elemente: Während die wissenschaftliche Innovation vor allem darin bestand,
dass man Aggregate und nicht mehr einzelne Individuen betrachtete (und damit
die moderne makroökonomische Theorie überhaupt erst begründete), war der
zentrale (wirtschafts-)politische Streitpunkt, inwiefern der Staat in den Wirt-
schaftsablauf sinnvoll eingreifen kann bzw., falls er das kann, ob er das auch
soll. Auch die jüngeren ,Revolutionen‘, die monetaristische Gegenrevolution
oder die Revolution der rationalen Erwartungen, drehen sich letztlich immer
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 223
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
48 Auch wenn sie nie in diesem Zusammenhang diskutiert wurde, könnte man die
institutionelle Wende in der Ökonomik, die eine zumindest partielle Abkehr von dem
bereits von H. Albert (1963) kritisierten ‚Modellplatonismus‘der neoklassischen Theorie
brachte, mindestens mit gleichem Recht als wissenschaftliche Revolution betrachten. Zu
dieser ‚Wende‘siehe Albert (2006, 113 ff.).
49 Die gegenwärtige Situation, d. h. die Situation zu Beginn der siebziger Jahre, sieht
er als „vorrevolutionär“an. –Zu ‚Revolutionen‘in den Wirtschaftswissenschaften siehe
auch Hicks (1976).
50 Er merkt freilich auch an, dass sich keine dieser Revolutionen mit den grossen Re-
volutionen in den Naturwissenschaften, der Kopernikanischen, der Newtonschen oder
der Darwinschen Revolution vergleichen kann (139).
51 Zur Deutsche Historischen Schule siehe z. B. Caldwell (2001) sowie Senn (2006).
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auch (und gelegentlich sogar vorwiegend) um diese Frage. Dies gilt selbst
dann, wenn methodische Fragen im Vordergrund der Diskussion stehen. Ein
Indikator dafür, welche wirtschaftspolitische Position eingenommen wird, ist,
inwieweit die Modelle neben klassischer, d. h. freiwilliger, auch unfreiwillige
Arbeitslosigkeit kennen.
Dass man nicht nur Einzelpersonen betrachtet, sondern Aggregate in das
Zentrum der Analyse stellt, war sicher neu und ist ein kaum bestrittenes Ver-
dienst des keynesianischen Ansatzes. Dabei wurde zwar mit mikroökonomi-
schen Plausibilitätsargumenten gearbeitet, aber es gab (noch) keine mikroöko-
nomische Fundierung, d. h. die Aussagen der Theorie basierten zumindest nicht
explizit auf der Annahme individuell rationalen Verhaltens der Wirtschaftssub-
jekte. Dies wird auch von Blaug (1976) betont.52 Tatsächlich gab es noch in
den siebziger Jahren eine Diskussion darüber, inwieweit die makroökonomi-
sche Theorie überhaupt einer Mikrofundierung bedarf.53 Rein logisch gesehen
bedarf es einer solchen ,Mikrobasis‘, d. h. einer durch mikroökonomische Ent-
scheidungskalküle gelegten Grundlage der makroökonomischen Relationen,
nicht, um eine aussagekräftige makroökonomische Theorie zu entwickeln. Em-
pirisch gehaltvolle Theorien, die dem deduktiv-nomologischen Erklärungsmo-
dell folgen, lassen sich auch ohne mikroökonomische Basis konstruieren. So
wurden noch vor wenigen Jahrzehnten auf Plausibilitätsargumenten beruhende
Makrorelationen akzeptiert, solange sie mit Hilfe ökonometrischer Methoden
statistisch abgesichert schienen. Dies dürfte sich im Bereich der Theorie inzwi-
schen weitgehend erledigt haben: Unabhängig von ideologischen Gegensätzen
verwenden heute sowohl die (eher links orientierte) ‚Neue (keynesianische)
Makroökonomik‘als auch die (eher konservativ orientierte) ‚Neue klassische
Makroökonomik‘54 (bzw. die entsprechenden ,Neo-Neo-…-Ansätze‘) heute ei-
ne solche ‚Mikrobasis‘.
Im Vertrauen auf die Existenz und Stabilität makroökonomischer Beziehun-
gen wurden auch wirtschaftspolitische Maßnahmen getroffen. Das berühmteste
Beispiel für eine solche Beziehung dürfte die modifizierte Phillips-Beziehung
sein, jene (behauptete) langfristige Beziehung zwischen Inflation und Arbeits-
losigkeit, die zudem (zumindest) implizit in fast allen großen makroökonomet-
rischen Modellen der siebziger Jahre enthalten war.55 Sie wurde zuerst von
Phillips (1958) als Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Nominallohnent-
wicklung ‚entdeckt‘und später zu einer Beziehung zwischen Inflation und Ar-
224 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
52 Zur rudimentären Mikrofundierung der keynesianischen Theorie siehe auch z. B.
Lejonhufvud (1976, 105).
53 Siehe hierzu z. B. Ramser (1987, 8 ff.) sowie Machlup (1960) und Schlicht (1977).
54 Zur Einführung in die neue keynesianische (Makro-)Ökonomik siehe Gordon
(1990) oder Romer (1993). Zur Gegenüberstellung beider Ansätze siehe Ramser (1987)
sowie Mankiw (1990).
55 Siehe hierzu Chow und Megdal (1978).
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beitslosigkeit erweitert. Im Jahr 1960 wurde sie von Samuelson und Solow als
„Speisekarte der Wirtschaftspolitik“bezeichnet. Solche –nach ihrem ‚Entde-
cker‘benannten – ‚Phillips-Kurven‘wurden für eine ganze Reihe von Ländern
ökonometrisch geschätzt, und gestützt auf diese empirische Evidenz glaubte
man, durch eine einmalige Erhöhung der Inflationsrate die Arbeitslosenquote
dauerhaft senken zu können. Die in den siebziger und achtziger Jahren darauf
aufbauende Politik muss jedoch als gescheitert betrachtet werden: Die Erhö-
hung der Inflationsrate mag zwar kurzfristig zu einer Erhöhung der Beschäfti-
gung beigetragen haben, aber bereits mittelfristig liess sich die Arbeitslosigkeit
dadurch nicht senken, sondern es trat Stagflation ein, wie es der von Friedman
(1968) vorgestellten Hypothese der natürlichen Rate der Arbeitslosigkeit ent-
spricht. Wie Robinson bereits 1972 schrieb: „Die experimentelle Demonstra-
tion der Phillipskurve hat …versagt“(S. 47). Dieses praktische Scheitern der
Makroökonomik hat nicht zuletzt –zusammen mit der schlechten Prognoseleis-
tung geschätzter makroökonometrischer Grossmodelle56 –dazu geführt, dass
die Notwendigkeit einer Mikrofundierung heute kaum mehr bestritten wird.
Betrachtet man vor diesem Hintergrund die methodischen Aspekte der key-
nesianischen Revolution, kann man feststellen, dass sich das Argumentieren in
Aggregaten durchgesetzt hat, der Verzicht auf eine Mikrobasis dagegen nicht.
Insofern war diese Revolution nur zur Hälfte erfolgreich. Dies ist anders bei
der marginalistischen Revolution. Der Übergang von der Durchschnittsbetrach-
tung, wie sie noch von Karl Marx insbesondere auch im Kapital angestellt wur-
de, zur Grenzbetrachtung, die mit den Namen Leon Walras, Alfred Marshall
und Carl Menger verbunden ist, hat die ökonomischen Argumentationen
grundlegend verändert und wird auch nirgends bestritten. Betrachtet man den
methodischen Aspekt in der Theoriebildung, dann war dies die wohl mit Ab-
stand bedeutendste (und möglicherweise sogar die einzig wirkliche) wissen-
schaftliche Revolution in den modernen Wirtschaftswissenschaften. Daneben
kann nur noch die keynesianische Revolution einen wenn auch vermutlich we-
niger bedeutsamen grundlegenden Beitrag zur Methodik der ökonomischen
Theoriebildung für sich beanspruchen.
Bei allen übrigen ‚Revolutionen‘ging es vor allem um empirische Fragen,
die freilich zumeist wirtschaftspolitisch und/oder ideologisch erhebliche Impli-
kationen hatten. Dies gilt z. B. für die monetaristische Gegenrevolution, in der
es zunächst darum ging, ob die Fiskal- oder die Geldpolitik ein wirksameres
Mittel staatlicher Wirtschaftspolitik sein kann, inwieweit sie überhaupt sinnvoll
eingesetzt werden können und wie man der damaligen Inflation wirksam be-
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 225
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
56 So haben Granger/Newbold (1975) gezeigt, dass mit (‚untheoretischen‘) einfachen
Modellen der univariaten Zeitreihenanalyse erstellte Prognosen über die zukünftige wirt-
schaftliche Entwicklung häufig besser abschnitten als Prognosen, die mit Hilfe großer
makroökonometrischer Modelle erstellt wurden und die für sich in Anspruch nahmen,
auf der ökonomischen Theorie zu basieren.
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gegnen kann. Die Antwort von Friedman (1948, 1968) war eindeutig:57 (i) In-
flation ist im Wesentlichen ein monetäres Phänomen; sie kann und soll über die
Geldmenge gesteuert werden. (ii) Die Geldpolitik hat zwar reale Auswirkun-
gen, die aber kaum steuerbar sind. Deshalb sollte sich die staatliche Wirt-
schaftspolitik darauf beschränken, die Geldmenge mit einer festen Rate wach-
sen zu lassen und in der Finanzpolitik ein ausgeglichenes Budget (mit mög-
lichst geringen Steuern) vorzulegen. Dies war zwar inhaltlich ein völlig konträ-
res Rezept zum keynesianischen Ansatz, aber die methodischen Unterschiede
waren, soweit sie überhaupt vorhanden waren, eher gering.
Unterschiede bezogen sich bestenfalls auf die Frage, inwieweit sich die Indi-
viduen rational verhalten. Dies wurde aufbauend auf der Theorie Rationaler
Erwartungen im Sinne von J. Muth (1961) in der zweiten Welle der monetaris-
tischen Revolution thematisiert, die zur Neuen Klassischen Makroökonomik
bzw. zur „Ökonomie des Dr. Pangloss“führte, wie sie (aus eher keynesiani-
scher Perspektive) von Buiter (1980) bezeichnet wurde. Danach sind die Mög-
lichkeiten staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftsablauf noch begrenzter, als
Friedman (1968) zuvor angenommen hatte. Tatsächlich wurde hier ein Problem
der keynesianischen Ansätze aufgedeckt: Sie waren (bis zu diesem Zeitpunkt)
damit vereinbar, dass sich die Bürgerinnen und Bürger durch die staatliche
Wirtschaftspolitik längerfristig systematisch täuschen lassen. Die Tatsache,
dass die Annahme rationaler Erwartungen bald auch in die Modelle der neuen
keynesianischen Makroökonomik eingebaut werden konnte, ohne dass dies zu
den gleichen wirtschaftspolitischen Abstinenzempfehlungen führte, zeigt frei-
lich, dass es sich hier zwar um ein zentrales wirtschaftspolitisches, aber nicht
um ein grösseres methodisches Problem handelt.
Insgesamt betrachtet ergibt sich daraus, dass das Konzept der wissenschaft-
lichen Revolution für die Erklärung der Entwicklung der wirtschaftswissen-
schaftlichen Theorien nur wenig hergibt. Fragt man nach den grösseren metho-
dischen Umwälzungen, kann man bestenfalls zwei Beispiele finden. Dazu
kommt, dass die Inkommensurabilitätsthese in diesen beiden Beispielen nicht
gilt: So wurde z. B. für die auf dem klassischen Ansatz basierende Theorie von
Marx gezeigt, wie sie im neoklassischen Modell als ein Spezialfall dargestellt
werden kann, der unter bestimmten Annahmen gilt.58 Man dürfte daher nicht
ganz falsch liegen, wenn man vermutet, dass der Begriff der Revolution in den
Wirtschaftswissenschaften eher anderen Intentionen dient, seien diese z. B. rhe-
torischer, ideologischer oder allgemeinpolitischer Natur, als dem Aufzeigen
massgeblicher Fortschritte in der ökonomischen Theoriebildung. Dies gilt auch
für den Wechsel im Paradigma, der damit verbunden sein soll: Er bezog sich
jeweils weniger auf die theoretische Perspektive als vielmehr auf die Einschät-
zung der wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten, auch wenn selbstver-
226 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
57 Siehe hierzu auch Friedman/Schwarz (1965).
58 Siehe hierzu z. B. Okishio (1963) sowie die Verweise in Kornai (1971, 359).
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ständlich wissenschaftliche Argumente als Begründung herangezogen wur-
den.59
5. Das Paradigma der Wirtschaftswissenschaften
Betrachtet man die Theorieentwicklung nüchtern stellt sich die Frage, inwie-
weit es überhaupt Paradigmen in den Wirtschaftswissenschaften gibt und wo
diese allenfalls angesiedelt sein könnten. Entsprechend den obigen Ausführun-
gen über die Entwicklung der makroökonomischen Theorie dürfte es sehr pro-
blematisch sein, dort von Paradigmen zu sprechen, zumindest solange man den
hohen Anspruch damit verknüpfen will, den Kuhn (1962) damit verbindet und
an seinen Beispielen aus den Naturwissenschaften aufzeigt. Wenn man in den
Wirtschaftswissenschaften überhaupt sinnvoll von einem Paradigma reden will,
dürfte dies im Bereich der mikroökonomischen Theorie angesiedelt sein. Dort
findet sich tatsächlich eine weitestgehend geteilte methodische Basis, die man
als Paradigma betrachten kann.
Man kann den ökonomischen Ansatz vereinfacht so verstehen, dass man
menschliches Handeln /Verhalten als rationale Auswahl unter Alternativen60
bzw. –in ökonomischer Terminologie –als ‚Maximierung unter Nebenbedin-
gungen‘betrachtet. Dazu muss man freilich angeben, wer wählt aus bzw. maxi-
miert, nach welchem Kriterium die Auswahl erfolgt bzw. was ‚Maximierung‘
bedeutet und welche Alternativen in Betracht gezogen werden bzw. was die –
relevanten bzw. perzipierten –Nebenbedingungen sind. Genauer betrachtet, ent-
hält dieser Ansatz vier Elemente: (i) Die Grundlage des Methodologischen Indi-
vidualismus, (ii) die Annahme des Schwachen Rationalitätsprinzips, (iii) An-
nahmen über die Intentionen der Individuen (bzw. –in ökonomischer Termino-
logie –die Struktur und die Elemente der Nutzenfunktion) sowie (iv) Annah-
men über die den Individuen zur Verfügung stehende und von ihnen verwendete
Information. Die ersten beiden Elemente sind unverzichtbar und bilden den
Kern des ökonomischen Ansatzes. Dagegen unterscheiden sich die jeweiligen
Anwendungen sehr stark bezüglich der Elemente (iii) und (iv).
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 227
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
59 Entgegen den Vermutungen von Kuhn (1962) und Feyerabend (1975) dürfte die
Inkommensurabilitätsthese freilich auch in den Naturwissenschaften nicht haltbar sein.
Siehe hierzu Andersson (1988, 110 ff.).
60 Man spricht deshalb auch vom Rationalwahlansatz (Rational Choice Approach) in
den Sozialwissenschaften. –Zur Darstellung des ökonomischen Ansatzes siehe Kirch-
gässner (1991).
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5.1 Der Methodologische Individualismus:
Das Individuum als Akteur
Einheit der ökonomischen (Mikro)Analyse ist das Individuum: Der einzelne
Mensch steht im Mittelpunkt der Betrachtungen. Für eine Sozialwissenschaft,
die sich als ‚Humanwissenschaft‘begreift, ist dies ein natürlicher Ausgangs-
punkt. Es entspricht darüber hinaus unserer abendländischen Tradition, die spä-
testens seit der Zeit der Aufklärung das (autonome) Individuum in das Zentrum
ihrer philosophischen und politischen Überlegungen gestellt hat. Die Sozial-
wissenschaften und auch die Wirtschaftswissenschaften sind freilich in aller
Regel weniger am Verhalten der einzelnen Individuen interessiert als am aggre-
gierten Verhalten, am Verhalten von ‚Kollektiven‘, wie z. B. der Konsumenten,
der Unternehmer, oder auch der Wähler. Es geht um das ‚typische‘Verhalten,
d. h. um Regelmässigkeiten im Verhalten aller oder zumindest einer Mehrheit
der betrachteten Individuen in der jeweils untersuchten Gruppe. Die Theorie
individuellen Verhaltens bietet (nur) die Basis, um Makrophänomene erklären
zu können. Dies ist kein Widerspruch, wie es zunächst scheinen könnte. Wer-
den nämlich durch eine Veränderung einer bestimmten Makrovariablen die
Rahmenbedingungen für das Handeln aller Individuen bzw. einer bestimmten
Gruppe in ähnlicher Weise beeinflusst, so kann man davon ausgehen, dass de-
ren Reaktion zwar nicht unbedingt in jedem Einzelfall, aber im Durchschnitt
jene Regelmässigkeit aufweist, welche aus dem individuellen Entscheidungs-
kalkül heraus erklärt werden kann.
Die Betrachtung von Aggregaten ist aber noch aus einem anderen Grund zent-
ral für die Sozialwissenschaften: Nur so können die von den einzelnen Indivi-
duen nicht intendierten sozialen Folgen ihrer individuellen Handlungen erfasst
werden, welche zu einer spontanen Ordnung führen. Dies aber ist eine zentrale
Aufgabe der Sozialwissenschaften, nach Ansicht vieler Autoren sogar die zen-
trale Aufgabe.61 Für die Ökonomie ist dies fast trivial und seit Adam Smith
(1776) eigentlich selbstverständlich: Üblicherweise hat keines der Individuen,
die auf einem Markt tätig sind, die Absicht, dadurch den Marktmechanismus als
einen gesellschaftlichen Koordinationsmechanismus in Gang zu setzen, und
doch tragen alle, bewusst oder unbewusst, mit oder gegen ihre Absicht, dazu bei.
So wie ‚Handeln‘hier verstanden wird, sind nur Individuen, nicht aber Kol-
lektive oder Aggregate dazu fähig. Letztere haben auch keine eigenständigen
Präferenzen, die von denen der in ihnen handelnden Individuen unabhängig
wären. Kollektive Entscheidungen ergeben sich daher –im Unterschied zu an-
deren sozialwissenschaftlichen Theorien –aus der Aggregation individueller
Entscheidungen und nicht aus dem eigenständigen Handeln von Kollektiven.
228 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
61 Siehe hierzu z. B. Popper, der die Aufgabe der Soziologie darin sieht, „die unbe-
absichtigten sozialen Rückwirkungen absichtlicher menschlicher Handlungen zu analy-
sieren“(1945, 121). (Siehe hierzu auch Popper (1962, 23. These, 109 ff.)).
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Diese Idee ist nicht neu; sie ist im Gegenteil bereits Bestandteil des klassischen
Programms der Nationalökonomie.62 Freilich ist eine Theorie des individuellen
Verhaltens in aller Regel nicht und schon gar nicht notwendigerweise eine
Theorie des Verhaltens vereinzelter Individuen. Wird dieser Unterschied gese-
hen, so entfallen viele Scheinargumente gegen Theorien individuellen Verhal-
tens. Gleichzeitig wird es damit schwierig, für Theorien kollektiven Verhaltens
zu argumentieren, die nicht auf individuelles Verhalten rekurrieren.
5.2 Das schwache Rationalitätsprinzip63
Wie oben ausgeführt wurde, kann im Rahmen des ökonomischen Ansatzes
Handeln bzw. Verhalten als rationale Auswahl aus den vorhandenen Alternati-
ven interpretiert werden. Dies ist ein konsequentialistischer Ansatz: Die Indivi-
duen beurteilen die ihnen bekannten Handlungsalternativen anhand deren erwar-
teter Konsequenzen.64 Das schwache Rationalitätsprinzip kann wie folgt formu-
liert werden: „Für jede beobachtbare Handlung ist eine Erklärung möglich, die
diese als rationales Verhalten erklärt.“Dies ist eine gemischte Aussage, die eine
Allaussage mit einer Existenzbehauptung verknüpft. Solche Aussagen sind we-
der verifizierbar noch falsifizierbar und können daher auch nicht durch empiri-
sche Evidenz zurückgewiesen werden; sie können deshalb als ‚metaphysisch‘
betrachtet werden. Dennoch können sie, worauf Watkins (1957, 1958, 1975)
mehrfach hingewiesen hat, in den Wissenschaften eine wesentliche Funktion er-
füllen, wenn sie als heuristische Regel verstanden werden: „Wo immer Du ein
Verhalten beobachtest, versuche, es als rationales Handeln zu erklären!“
Bezogen auf das Verhalten des Individuums bedeutet Rationalität hier somit
nicht, dass dieses in jedem Augenblick optimal handelt, dass es also gleichsam
wie ein wandelnder Computer durch die Welt schreitet, der immer die beste
aller vorhandenen Möglichkeiten blitzschnell ermittelt. Dieses Zerrbild des ho-
mo oeconomicus, das bis heute in vielen Lehrbüchern der mikroökonomischen
Theorie zu finden ist und das mit Recht immer wieder Kritik herausgefordert
hat, entspricht nicht der modernen Interpretation des ökonomischen Verhaltens-
modells. Rationalität bedeutet hier lediglich, dass das Individuum, wenn es sei-
nen Intentionen folgt, prinzipiell in der Lage ist, gemäss seinem relativen Vor-
teil zu handeln, d. h. seinen Handlungsraum abzuschätzen und zu bewerten,
um dann entsprechend zu handeln.65 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das In-
dividuum sich immer unter unvollständiger Information entscheiden muss und
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 229
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
62 Siehe hierzu Albert (1977, 183; 1978, 53).
63 Siehe hierzu ausführlicher Kirchgässner (2013).
64 Siehe hierzu auch Sen/Williams (1982).
65 Eine ähnliche Formulierung des ‚Rationalprinzips‘, die er jedoch als „nur grob und
provisorisch“bezeichnet, gibt z. B. Watkins (1978, 35).
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dass die Beschaffung zusätzlicher Information Kosten verursacht. Auch muss
es häufig unter Zeitdruck entscheiden. Kosten zur Informationsbeschaffung
wird das Individuum vor allem dann auf sich nehmen, wenn es eine relevante
Veränderung seines Handlungsraumes (und /oder seiner Präferenzordnung) re-
gistriert und daher eine neue Abschätzung und Bewertung seiner Handlungs-
möglichkeiten vornehmen muss. Auf eine solche Veränderung reagiert ein ra-
tionales Individuum ‚systematisch‘, d. h. nicht zufällig oder willkürlich, aber
auch nicht dadurch, dass es sich unabhängig von diesen Veränderungen streng
an vorgegebene Regeln hält.
Damit kann dieses Verhalten durch Setzung von Anreizen systematisch be-
einflusst werden, wobei sich solche Anreize im Wesentlichen aus Veränderun-
gen des Handlungsraums der Individuen (der Restriktionen) ergeben. In diesem
Konzept verschwindet daher der philosophisch bedeutsame und häufig disku-
tierte Unterschied zwischen Verhalten und Handeln: Verhalten von Individuen
wird erklärt, indem unterstellt wird, dass sie rational handeln. Damit sind auch
Prognosen von Verhaltensänderungen als Reaktion auf Veränderungen des
Handlungsspielraums möglich. Mit anderen Worten wird im Rahmen des öko-
nomischen Verhaltensmodells unterstellt, dass sich Individuen an veränderte
Umweltbedingungen entsprechend ihrer Zielvorstellungen (Präferenzen) in sys-
tematischer und damit vorhersagbarer Weise anpassen, wobei sich solche Ver-
änderungen sowohl durch Handeln anderer Individuen, z. B. durch politische
Massnahmen, als auch durch Veränderungen der ‚natürlichen‘Bedingungen er-
geben können.
Wissenschaftslogisch dürfte das dem ökonomischen Verhaltensmodell zu-
grunde liegende schwache Rationalitätsprinzip für die Sozialwissenschaften ei-
nen ähnlichen Stellenwert haben wie das ‚Kausalitätsprinzip‘in den Naturwis-
senschaften.66 So wie dort das Reden über (Natur-)Gesetze erst dann möglich
ist, wenn man das Kausalitätsprinzip akzeptiert, ist in den Sozialwissenschaften
das Verstehen menschlichen Handelns erst möglich, wenn man die im ökonomi-
schen Verhaltensmodell angelegte Unterscheidung zwischen Präferenzen und
Restriktionen (Zielen und Mitteln) akzeptiert und ausserdem davon ausgeht,
dass die Individuen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel (rational) zur Er-
reichung ihrer Ziele einsetzen, wobei natürlich die subjektiven Perzeptionen ei-
ne wichtige Rolle spielen. Diese Rationalitätsannahme ist keine empirische An-
nahme, sondern eine Voraussetzung dafür, dass ich menschliches Handeln in
einer bestimmten Weise analysieren kann. Begreift man dieses Verhaltensmo-
dell in der hier vorgeschlagenen Weise als Voraussetzung zum Verstehen
menschlichen Handelns, so verschwindet auch der Unterschied zwischen ‚Ver-
stehen‘und ‚Erklären‘: Ich kann menschliches Handeln nur verstehen, wenn ich
es mit Hilfe eines solchen Modells rationalen Verhaltens erklären kann.67
230 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
66 Zum Rationalitätsprinzip siehe auch Popper (1967). Auch beim Kausalitätsprinzip
handelt es sich um eine gemischte Aussage. Siehe hierzu Watkins (1958, 348).
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Dass rationales Verhalten das zentrale Paradigma der Wirtschaftswissen-
schaften ist, dürfte heute innerhalb der Wirtschaftswissenschaften kaum bestrit-
ten werden. Mit dem Aufkommen der makroökonomischen Theorie wurde es
zwar zeitweise bestritten, doch spätestens seit auch die neue keynesianische
Makroökonomik mit einer Mikrofundierung arbeitet, hat sich dies erledigt.
Dies heisst freilich nicht, dass dieser Ansatz in den Sozialwissenschaften unbe-
stritten wäre; es gibt als Alternative z. B. die Möglichkeit einer Sozialwissen-
schaft in der Tradition von Durkheim (1895), der forderte, Soziales nur durch
Soziales zu erklären. Insbesondere im Bereich der Soziologie gibt es nach wie
vor theoretische Ansätze, die ausschliesslich auf der Aggregatsebene argumen-
tieren und für sich behaupten, einer Mikrobasis nicht zu bedürfen.
Andererseits kann man festhalten, dass der ökonomische Ansatz heute auch
in den anderen Sozialwissenschaften verwendet wird, auch wenn er dort we-
sentlich umstrittener als in den Wirtschaftswissenschaften ist. Dies gilt insbe-
sondere für die Politikwissenschaft, aber auch für die Soziologie. Der ‚ökono-
mische Imperialismus‘hat dort viele Unterstützer, aber auch nicht wenige Geg-
ner gefunden.68 Im Sinne eines den Fortschritt in den Wissenschaften fördern-
den Theorienpluralismus kann dies sinnvoll sein; das Problem im Wettbewerb
der Ideen ist hier jedoch, dass die Gruppe jener, die eine Anwendung des öko-
nomischen Ansatzes in ihrem Bereich nicht als sinnvoll erachten, stark frag-
mentiert ist, so dass es sehr viel schwieriger als im Bereich der Wirtschaftswis-
senschaften ist, zu eruieren, welches ihr Paradigma ist. Von einem gemeinsa-
men Paradigma kann in diesem Bereich kaum die Rede sein.
Damit bleibt die Frage der von Kuhn (1962) und Feyerabend (1975) immer
wieder behaupteten Inkommensurabilität zwischen den verschiedenen wissen-
schaftlichen Ansätzen. Ist Inkommensurabilität in den Wirtschaftswissenschaf-
ten (oder allgemeiner in den Sozialwissenschaften) zu beobachten? Es ist
nicht zu übersehen, dass zum einen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen
(in den Sozialwissenschaften) gelegentlich (oder vielleicht auch häufig) anei-
nander vorbei reden, und dass sie zweitens auch gegenüber dem gleichen Ge-
genstand gelegentlich sehr unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Beides
aber hat nichts mit Inkommensurabilität zu tun. Selbst dort, wo es Inkommen-
surabilität ex ante geben sollte, dürfte sie kaum jemals ex post gegeben sein:
Wenn zwei Theorien aufgrund ihrer unterschiedlichen Perspektiven zu unter-
schiedlichen, möglicherweise auch gegenteiligen Aussagen kommen, besteht
grundsätzlich die Möglichkeit nachzuvollziehen, welches die entscheidenden
Annahmen sind, die dies bewirken. Man wird sich vielleicht nicht darüber
einigen können, welches die sinnvolleren Annahmen bzw. welches das besser
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 231
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
67 Genau betrachtet handelt es sich hier um das allgemeine Grundmodell einer verste-
henden Sozialwissenschaft im Sinn von Max Weber. Siehe hierzu z. B. die Beschreibung
dieses Ansatzes in Weber (1913, 429).
68 Zum ökonomischen Imperialismus siehe z. B. Kirchgässner (2009a).
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geeignete Modell ist, um ein bestimmtes Phänomen zu erklären, aber gerade die
Auseinandersetzung zwischen Keynesianern und Monetaristen in den sechziger
und siebziger Jahren hat gezeigt, dass man sehr wohl eine gemeinsame Sprache
zur Verfügung hatte, in der man die Kontroversen austragen konnte. Dies zeigt
genauso wie auch z. B. jene Vexierbilder, die Feyerabend (1975, 314; 1978,
192 ff.) zur Demonstration der Inkommensurabilität anführt, dass durch Kom-
munikation aufgezeigt werden kann, dass beide Perspektiven möglich sind und
weshalb ich aus der einen zum Ergebnis A und aus der anderen zum Ergebnis B
komme.69
6. Das wissenschaftliche Forschungsprogramm der Ökonomie
Der ökonomische Ansatz kann aus zwei Perspektiven kritisiert werden. Zum
einen gibt es bereits seit einiger Zeit auch innerhalb der Disziplin erhebliche
Kritik an seinen grundlegenden Annahmen, insbesondere im Rahmen der ,Be-
havioural Economics‘.70 Zweitens wird dieses Modell häufig erheblich ,reicher‘
dargestellt, indem zum Kern eine strenge Rationalitätsannahme sowie die Ei-
gennutzannahme gerechnet wird. Im Extremfall wird das Modell des mikro-
ökonomischen Einführungslehrbuchs herangezogen, in welchem vollständig
informierte Individuen ihren Nutzen dadurch maximieren, dass sie aus einem
vorgegebenen Güterangebot zu vorgegebenen Preisen das für sie ideale Güter-
bündel wählen.
Die vorgebrachte Kritik trifft freilich nicht den Kern des Ansatzes, der oben
bewusst ,sparsam‘dargestellt wurde. Zur Beschreibung dieses Kerns eignet
sich hier der Ansatz von Lakatos (1974) eher als jener von Kuhn (1962): In der
Terminologie von I. Lakatos handelt es sich um die negative Heuristik, um den
harten Kern des Programms. Tatsächlich wird in der weit überwiegenden An-
zahl ökonomischer Analysen sehr viel mehr unterstellt, und zwar sowohl be-
züglich der Motivations- wie auch der Rationalitätsannahme, womit wir uns im
Schutzgürtel des Programms befinden, um wiederum die Terminologie von La-
katos (1974) zu verwenden. Dabei sind zwei Dinge offensichtlich, die auch
niemanden überraschen sollten: Zum einen kann das Rationaliätsmodell auch
mit starken Annahmen in bestimmten Bereichen sehr viel erklären, zum ande-
ren begibt man sich damit aber in ein Meer von Anomalien.
All dies ist seit langem bekannt. Probleme mit der Rationalitätsannahme
wurden zuerst zu Beginn der fünfziger Jahre im Rahmen der Diskussion des
232 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
69 Siehe hierzu auch Andersson (1988, 1121 ff.). Dies schliesst nicht aus, dass be-
stimmte Personen (aus welchen Gründen auch immer) nicht in der Lage sind, beide Per-
spektiven einzunehmen, aber es zeigt, dass man beide Perspektiven einnehmen kann,
was die Behauptung der Inkommensurabilität widerlegt.
70 Zur Übersicht über die Behavioural Economics siehe z. B. Camerer/ Loewenstein
(2004) oder Santos (2009).
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Allais-Paradoxes71 und später vor allem im Rahmen der auf Simon (1955) zu-
rückgehenden Theorie eingeschränkter Rationalität thematisiert, Probleme der
Eigennutzannahme wohl zuerst bei der Übertragung dieses Ansatzes auf den
Bereich der Politik, als Downs (1957) und insbesondere Riker und Ordeshook
(1968) feststellten, dass ein Modell, welches das Verhalten der Wähler als ratio-
nale, ihrem eigenen Interesse dienende Handlung erklären soll, scheitert: Es
kommt zum Paradox des Nicht-Wählens: Würde man sich im eigenen Interesse
und rational verhalten, dürfte sich kaum jemand an einer Wahl oder Abstim-
mung beteiligen. In diesem Fall hat man nicht von der Rationalitäts-, sondern
von der Eigennutzannahme Abstand genommen.
Es ist das Verdienst der Behavioural Economics, in den letzten Jahrzehnten
diese Probleme näher untersucht und erhebliche Fortschritte erzielt zu haben.
Im Schutzgürtel des klassischen ökonomischen Forschungsprogramms waren
dabei erhebliche Änderungen erforderlich. Der Kern wurde dadurch jedoch zu-
mindest bisher nicht angetastet: Auch die Behavioural Economics gehen von
Individuen mit Intentionen aus, die unter beschränkter Information im Sinne
des schwachen Rationalitätsprinzips handeln. Die gelegentlich auftretende
(eher terminologische) Verwirrung ergibt sich vor allem dadurch, dass die Ver-
treter dieses Ansatzes das ökonomische Verhaltensmodell recht umfassend de-
finieren, womit es dann im Widerspruch zu den Ergebnissen ihrer (zumeist ex-
perimentellen) Forschung steht und sich damit plakative Aussagen wie jene,
dass der Homo Oeconomicus tot sei, rechtfertigen lassen.72
Inwieweit die Ergebnisse der Behavioural Economics dazu führen, dass die
Wirtschaftswissenschaften und insbesondere die Volkswirtschaftslehre (wieder)
stärker politikrelevant werden, muss vorerst offen bleiben. Es gibt einige An-
sätze im Rahmen des ,sanften Paternalismus‘, die in Zusammenhang mit meri-
torischen Gütern neue Möglichkeiten für bewusste politische Entscheide eröff-
nen.73 In der Krise des Jahres 2009, die u. a. durch Modelle der Risikoabschät-
zung hervorgerufen wurde, die auf den extrem starken Rationalitätsannahmen
von von Neumann/Morgenstern (1944) basieren, wurde gelegentlich auf die
Ergebnisse der Behavioural Economics als mögliche Alternative zu den tradi-
tionellen Verfahren der Risikoabschätzung verwiesen.74 Konkrete Vorschläge
in dieser Richtung wurden freilich bisher keine gemacht, ganz abgesehen da-
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 233
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
71 Siehe hierzu Allais (1953).
72 Wenn z. B. Axel Okenfels, einer der prominenten jüngeren Vertreter der Behavio-
ural Economics im deutschsprachigen Raum, den „Abschied vom Homo Oeconomicus“
einläuten will, geht es auch ihm lediglich um eine Modifikation der in ökonomischen
Analysen üblicherweise gemachten Annahme der Verfolgung des Eigeninteresses, nicht
um eine grundsätzliche Ablehnung des gesamten Ansatzes.
73 Zum sanften Paternalismus siehe z. B. Kirchgässner (2015).
74 Siehe z. B. Thaler, Die Finanzkrise ist kein Unfall, Institutional Money 1/2009,
http://www.institutional-money.com/magazin/uebersicht/artikel/die-finanzkrise-ist-kein-
unfall/?newsseite=79 (01/06/15).
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von, dass diese sich auch in der Praxis zu bewähren hätten. Insofern haben wir
bisher im Wesentlichen Ergebnisse, die im Labor für die Mikroebene abgeleitet
wurden und die zeigen, dass bestimmt strenge Annahmen, die üblicherweise
bei ökonomischen Analysen gemacht werden, in bestimmten Situationen nicht
gelten. Inwieweit dies auf die Makroebene zu übertragen ist bzw. welche wirt-
schaftspolitische Relevanz dies hat, ist bisher weitgehend offen. Dies gilt insbe-
sondere dann, wenn in derartigen Experimenten Phänomene wie die Geldillu-
sion oder Suchtverhalten simuliert werden sollen.
Eine Infragestellung des Kerns des ökonomischen Verhaltensmodells könnte
sich allenfalls durch die Neuroökonomik ergeben.75 Inwieweit dies tatsächlich
geschehen wird, ist derzeit freilich reichlich spekulativ. Man kann sich auch
eine zusätzliche Bewährung des traditionellen Modells des Homo Oeconomi-
cus vorstellen. In Experimenten wurde gezeigt, dass Individuen selbst dann be-
reit sind, andere zu bestrafen, die sich nicht an bestimmte Normen halten, wenn
dies für sie selbst Kosten verursacht. Dies wurde als Widerlegung der Eigen-
nutzannahme interpretiert. Wenn heute von der Neuro-Ökonomik gezeigt wer-
den kann, dass durch diese Bestrafung die gleichen Gegenden im Gehirn akti-
viert werden wie bei anderen Nutzen stiftenden Aktivitäten, sind wir zumindest
wieder nahe an der Annahme, dass die Menschen genau dies tun, was ihnen
Nutzen stiftet. Aber während dies bisher eine (nahezu) tautologische Aussage
war, hätten wir jetzt eine experimentelle Unterlegung. Die Ergebnisse der Ex-
perimente könnten dann mit der Eigennutzannahme vereinbar sein.
7. Ökonomische Normalwissenschaft
und die Lösung von Rätseln
Soweit Ökonomen die Ideen von Kuhn (1962) aufgenommen haben, sei es,
dass sie seine Konzepte auf die Entwicklung der ökonomischen Theorie ange-
wendet haben, sei es, dass sie grundsätzliche Kritik geübt und die Anwendbar-
keit seiner Konzeption in Frage gestellt haben, bezogen sie sich fast aus-
schliesslich auf seine Konzeptionen des Paradigmas und der wissenschaftlichen
Revolutionen, aber kaum jemals auf seine Konzeption der Normalwissen-
schaft.76 Diese scheint nicht nur bei Philosophen und Wissenschaftstheoretikern
wenig Kredit zu geniessen, wie die Diskussionen der sechziger und siebziger
Jahre zeigen, sondern auch bei den Ökonomen. Dabei scheint gerade das Kon-
zept der Normalwissenschaft auf grosse Teile der heutigen wirtschaftswissen-
234 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
75 Zur Neuroökonomik siehe z. B. Bonano /List//Tungodden /Valentyne (2008), Mc-
Cabe (2008), Harrison (2008), die (übrigen) Beiträge in Economics and Philosophy 24
(2008), Heft 3 und die Beiträge in Analyse und Kritik 29 (2007, Heft 1) sowie Camerer
(2013).
76 Siehe hierzu die Übersicht in Drakopoulos /Karayannis (2005).
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schaftlichen Forschung zu passen,77 und genauso wie in den Naturwissenschaf-
ten ist dies zumindest teilweise ein notwendiger Bestandteil wissenschaftlicher
Forschung, der bei Weitem nicht immer nur negativ zu bewerten ist. Man den-
ke (im Bereich der Naturwissenschaften) nur an die vielen Wissenschaftler, die
an den Grossexperimenten am CERN oder am DESY beteiligt sind.
Einer der wenigen, die darauf aufmerksam gemacht haben, dass sich wirt-
schaftswissenschaftliche Forschung in aller Regel als Normalwissenschaft im
Sinne von Kuhn (1962) vollzieht, ist Weimann (1984), wobei auch er dies als
negativ ansieht. Nach ihm dürften jedem Ökonomen „die typischen Symptome
einer solchen Strategie bekannt sein: das beharrliche Festhalten an Theorien,
deren Gültigkeit nur für eine idealtypische Modellwelt nachzuweisen ist; die
Immunisierung von Theorien, entweder a priori durch explizite Bezugnahme
auf einen rein theoretischen Begründungszusammenhang oder ad hoc durch die
nachträgliche Einführung von Prämissen und Annahmen, die die ,wenn‘-Kom-
ponente der theoretischen Aussage so aufblähen, dass die ,dann‘-Komponente
zum irrealen Spezialfall wird“(284). Er sieht den Grund dafür darin, dass die
sozialwissenschaftliche (und damit auch die wirtschaftswissenschaftliche) For-
schung im Wesentlichen von aussen bestimmt ist, „ihre Rationalität weitgehend
aus ihrer Fremdbestimmung bezieht“und sieht als Voraussetzung einer „Über-
windung“dieser Normalwissenschaft eine „Anerkennung der Wertigkeit sozial-
wissenschaftlicher Theorien“, sodass die „Zwecksetzung der Forschung, so sie
unvermeidlich ist, zu einem demokratischen Prozess gedeihen kann, indem der
Sozialwissenschaftler selbst eine bewusste, eine wichtige Rolle spielt“(297).
Auch wenn man seine Analyse bezüglich der von ihm angeführten Gründe
nicht teilt, wird man kaum umhinkommen, zugeben zu müssen, dass seine Be-
schreibung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung die Realität dieser
Forschung zumindest nicht vollständig verfehlt.Will man der heutigen Situation
der Normalwissenschaft in den Wirtschaftswissenschaften gerecht werden, soll-
te man zwischen der rein theoretischen und der empirischen Forschung unter-
scheiden. In der empirischen Forschung, auf die oben bereits eingegangen wur-
de, haben wir sowohl bei der Feld- wie bei der experimentellen Forschung heu-
te die Situation, dass im Rahmen grösserer Forschungsprojekte ähnlich wie in
den Naturwissenschaften bestimmte Fragestellungen aufgeteilt und insbesonde-
re von einer Vielzahl von Doktorierenden bearbeitet werden. Als Beispiel mag
die moderne mikroökonometrische Arbeitsmarktforschung dienen. Wie oben
bereits ausgeführt wurde, wurden im Bereich der Mikroökonometrie durch und
im Anschluss an Arbeiten von James J. Heckmann Methoden entwickelt, die
im Vergleich zu den früher angewendeten Verfahren z. B. sehr viel zuverlässi-
gere Aussagen darüber erlauben, ob bestimmte Massnahmen der aktiven Ar-
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 235
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
77 Siehe hierzu auch Tarascio (1997, 16): „Vieles, woraus heute Forschung und Publi-
kationen in ökonomischen Zeitschriften besteht, kann als ,Normalwissenschaft‘im
Kuhn’schen Sinne dieses Begriffs charakterisiert werden: die Verfeinerung, sorgfältige
Ausarbeitung und Anwendung von Theorien innerhalb eines bestehenden Paradigmas.“
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beitsmarktpolitik tatsächlich dazu führen, dass die Teilnehmerinnen und Teil-
nehmen an diesen Massnahmen schneller wieder einen Arbeitsplatz finden.78
Diese Methoden wurden und werden allein im deutschsprachigen Raum heute
an verschiedenen Universitäten und in mehreren Wirtschaftsforschungsinstitu-
ten auf unterschiedliche Perioden und Länder angewendet, wobei sie teilweise
auch an die dortigen Situationen angepasst werden müssen, woraus z. B. eine
ganze Reihe von Dissertationen entstanden ist bzw. noch entstehen wird.79 Dies
ist ohne Frage Normalwissenschaft; der methodologische Rahmen ist sowohl
von der theoretischen als auch von der statistischen Seite her vorgegeben und
wird nicht in Frage gestellt. Die Wissenschaftler lösen ,Puzzles‘im Sinne von
Kuhn (1962). Freilich ist diese Forschung alles andere als trivial, und sie ist
zudem gesellschaftlich ausserordentlich wichtig: Es geht bei der Arbeitsmarkt-
politik um viele Milliarden Euro (bzw. CHF), die, wie die Ergebnisse dieser
Forschung zeigen, häufig sinnlos ausgegeben werden, d. h. ohne dass sie die
erhofften positiven Auswirkungen auf die Beschäftigung auslösen.80
Methodisch betrachtet befinden sich in einer solchen Situation grosse Teile
(wenn nicht sogar der weitaus grösste Teil) der empirischen Wirtschaftswissen-
schaften wie auch anderer empirischer Sozialwissenschaften: Es geht um die
Überprüfung einzelner Hypothesen und damit um die Aufarbeitung von Fakten,
aber kaum um die Überprüfung bzw. Verwerfung ganzer Theorien. Dabei kön-
nen solche Untersuchungen nicht nur einen erheblichen Schwierigkeitsgrad auf-
weisen, sondern auch diese Ergebnisse sind immer nur ,vorläufig‘, da dahinter
Messtheorien stehen, die selbst fehlerhaft sein können, so dass sie zu falschen
Ergebnissen führen. Schliesslich hat bereits Popper (1935, 60 ff.) darauf hinge-
wiesen, dass es keine theoriefreie Beobachtung gibt, und Lakatos (1974) sowie
Feyerabend (1975) haben viele ihrer Argumente in der Diskussion Anfang der
siebziger Jahre darauf aufgebaut. Zudem hat diese Forschung trotz all ihrer ge-
sellschaftlichen Relevanz den Nachteil, dass sie oft schon nach wenigen Jahren
bestenfalls Wirtschaftshistoriker (und vielleicht noch jene, die sich mit Dog-
mengeschichte befassen,) interessiert: Die korrekte Spezifikation einer Geld-
nachfragefunktion für Deutschland in den achtziger und neunziger Jahren des
letzten Jahrhunderts interessiert heute bestenfalls noch im Vergleich mit der heu-
tigen Geldnachfragefunktion im Euro-Raum, so wichtig diese Funktion für
Deutschland damals für die Politik der Deutschen Bundesbank auch war.
Bei vielen Wirtschaftswissenschaftlern besteht die Hoffnung, dass im Be-
reich der theoretischen, heute in aller Regel stark mathematisch ausgerichteten
236 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
78 Siehe hierzu z. B. Lechner /Pfeiffer (2001).
79 Allein in Deutschland haben neben dem Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA) in
Bonn z. B. das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim so-
wie das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen einen
Schwerpunkt im Bereich der mikroökonometrischen Arbeitsmarktforschung.
80 Siehe hierzu z. B. Lechner/Wunsch (2008).
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Forschung zumindest partiell alte Ergebnisse nicht überholt sind bzw. rasch
überholt sein werden. Aber auch dort kann es geschehen, dass das Problem,
welches analysiert wird, in der praktischen Wirtschaftspolitik zwar heute rele-
vant ist, aber in zehn oder zwanzig Jahren, aus welchen Gründen auch immer,
irrelevant sein wird. Dennoch besteht die Hoffnung, dass ein theoretisches Er-
gebnis, wenn es einmal erzielt ist, auf Dauer gültig sein wird. Davon kann man
auch deshalb ausgehen, weil eine mathematische Ableitung bzw. ein Beweis,
wenn diese bzw. dieser gelungen ist, allein durch den Zeitablauf nicht falsch
oder innerwissenschaftlich irrelevant wird; schlimmstenfalls wird ein Beweis
gefunden, der (noch) einfacher bzw. eleganter ist und den alten Beweis dadurch
überflüssig macht. Wie das Beispiel des Allgemeinen Unmöglichkeitsthorems
von Arrow (1951) zeigt, muss sogar weder ein kleiner Fehler in der Beweisfüh-
rung noch die Tatsache, dass später einfachere Beweise gefunden wurden, dazu
führen, dass die ursprüngliche Leistung in Vergessenheit gerät; sie kann sogar
mit einem Nobelpreis belohnt werden.
Arrow’s Arbeit ist jedoch ein (extremer) Ausnahmefall und in keiner Weise
repräsentativ für den Grossteil der heute produzierten Ergebnisse in der rein
mathematisch-theoretischen Forschung. Zum einen geht es gelegentlich nur
darum, mathematisch-elegante Formulierungen für eher triviale Ergebnisse zu
finden, wie z. B. für die Tatsache, dass Menschen umso eher ihrem eigenen
Leben ein Ende setzen, je weniger sie für sich von der Zukunft erwarten.81
Entscheidender ist, dass viele dieser Ergebnisse ausser den Autoren (und mög-
licherweise noch einer kleinen Gruppe von Forschern) kaum jemanden inte-
ressieren; sie werden kaum gelesen und dementsprechend auch nicht zitiert.
Sie sind schlicht irrelevant. Es gab vor einigen Jahren in Deutschland ein Ex-
periment, welches aus rechtlichen Gründen jedoch (leider) abgebrochen wer-
den musste, bevor die endgültigen Ergebnisse vorlagen. Bei verschiedenen
wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften wurden Aufsätze zum zweiten
Mal eingereicht, die dort bereits publiziert worden waren. Verändert wurden
(neben dem Datum) nur der Autor und der Titel der Arbeit. Als das Experi-
ment abgebrochen werden musste, waren einige Aufsätze bereits in der glei-
chen Zeitschrift zum zweiten Mal akzeptiert. Diese Arbeiten waren insofern
qualitativ gut, als sie zum zweiten Mal den Begutachtungsprozess überstanden
haben, aber ihre Ergebnisse waren so irrelevant, dass weder die Herausgeber
noch die Gutachter, die ja eigentlich Spezialisten auf dem jeweiligen Gebiet
sein sollten, wussten bzw. bemerkten, dass diese Arbeiten bereits in dieser
Zeitschrift publiziert waren.82
Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften 237
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
81 Zur ökonomischen Theorie des Selbstmords siehe Hamermesh /Soss (1974), zur
Kritik daran z. B. Prisching (1983).
82 In die gleiche Richtung gehen aufgedeckte Betrugsfälle, in denen Arbeiten anderer
Autoren unter Abänderung des Namens von einem anderen Autor bei einer anderen Zeit-
schrift eingereicht und dort auch akzeptiert wurden.
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Damit stellt sich die Frage, was der Sinn solcher Arbeiten ist. Selbstverständ-
lich kann nie ausgeschlossen werden, dass darin gelegentlich ein bahnbrechen-
des Ergebnis erzielt wird, welches nicht nur der Karriere des Forschers zuträg-
lich ist, sondern auch die Wissenschaft voranbringt. Derartige Ausnahmefälle
können freilich kaum das ganze Unternehmen rechtfertigen; schliesslich wer-
den hier in erheblichem Masse gesellschaftliche Ressourcen eingesetzt, für die
es auch alternative Verwendungen gäbe. Auch wenn man der Wissenschaft mit
guten Gründen weitestgehend die Freiheit lassen will, über ihre Fragestellun-
gen und Methoden selbst zu entscheiden, ist das Ausmass, in welchem Umfang
gesellschaftliche Ressourcen dazu eingesetzt werden sollen, ein politischer Ent-
scheid, der auch politisch gerechtfertigt werden muss. Dabei ist der Hinweis
auf die gesellschaftlichen Vorteile der Wissenschaftsfreiheit und der Förderung
der Wissenschaft für sich allein betrachtet nicht ausreichend.83
Die wesentliche Funktion, welche diese kaum gelesenen Beiträge haben, ist,
dass die Autoren damit ihre Fähigkeit zeigen, Rätsel zu lösen, um was immer
sie sich letztlich auch drehen. Es geht somit weniger um wissenschaftlichen
Fortschritt, als vielmehr um den Ausweis bestimmter Qualifikationen.84 Was
früher die Funktion der Habilitation war, ist heute gleichsam an Peer Groups
delegiert, die über die Erlaubnis zur Veröffentlichung in wissenschaftlichen
Zeitschriften entscheiden. Dies ist nicht notwendigerweise schlecht, aber man
muss die Frage stellen, inwieweit der mit diesen Verfahren ursprünglich inten-
dierte Nebeneffekt, dass dadurch relevante Forschungsergebnisse erzielt wer-
den, im Bereich der Wirtschaftswissenschaften heute (noch) gegeben ist.85
Der Verdacht der systematischen Irrelevanz war vermutlich einer der rationa-
len Hintergründe, die hinter dem oben erwähnten, im Jahr 2009 von 83 (meist
älteren) Professoren der Volkswirtschaftslehre unterschriebenen Aufruf „Rettet
die Wirtschaftspolitik an den Universitäten“lag. Dass in diesem Zusammen-
hang gegen die mathematische Ausrichtung weiter Teile der heutigen Wirt-
schaftswissenschaften polemisiert wurde, mag mit dieser Funktion erheblicher
Teile dieser Wissenschaft (und damit dem Funktionsverlust bezüglich der Ge-
nerierung gesellschaftlich relevanter wissenschaftlich abgesicherter Aussagen)
zusammenhängen. Auch wenn man über die Rolle der Mathematik in den Wirt-
schaftswissenschaften sowie insbesondere im Rahmen der wirtschaftswissen-
schaftlichen Grundausbildung diskutieren und dabei unterschiedlicher Meinung
sein kann, greift man zu kurz, wenn man die Mathematisierung für die Ent-
238 Gebhard Kirchgässner
Schmollers Jahrbuch 135 (2015) 2
83 Siehe hierzu auch Kirchgässner (2007).
84 In diesem Zusammenhang dürfte es nicht rein zufällig sein, dass sich Thomson
(1999) in der im Journal of Economic Literature und damit an sehr prominenter Stelle
veröffentlichten Anweisung, wie junge Ökonomen Arbeiten im Bereich der ökonomi-
schen Theorie Papiere verfassen sollten, auf rein formale Hinweise beschränkt; die ge-
sellschaftliche und/oder wirtschaftspolitische Relevanz ist dabei kein Thema.
85 Zu dieser Selektionsfunktion siehe auch Frey (2010, 26).
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wicklung in der modernen, theoretisch ausgerichteten Volkswirtschaftslehre
verantwortlich machen will und deshalb deren Zurückdrängung verlangt, da
damit dieser grundlegende Funktionswandel dieser Art von Wissenschaft nicht
beeinflusst wird.
8. Zusammenfassung und abschliessende Bemerkungen
Ob wir dies schätzen oder nicht: Die meisten Forschungsaktivitäten in den
Wirtschaftswissenschaften fallen in Kuhn-scher Terminologie heute in den Be-
reich der Normalwissenschaft. Wissenschaftliche Revolutionen sind, wenn
man diesen Terminus ernst nimmt, ausgesprochen selten; sie haben in den ver-
gangenen Jahrhunderten in den Wirtschaftswissenschaften vielleicht zweimal
stattgefunden. Das grundlegende Paradigma der Wirtschaftswissenschaften
bzw. der harte Kern ihres Forschungsprogramms ist weitgehend unbestritten,
auch wenn über den Schutzgürtel heftig gestritten wird und hier gerade aus der
interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Psychologen Fortschritte erzielt
wurden.
Kaum bestreitbare Fortschritte gab es auch im Bereich der empirischen Ver-
fahren sowie ihrer Anwendung auf wirtschaftliche Fragstellungen. Aber auch
hier befinden wir uns im Bereich der Normalwissenschaft, auch wenn die dort
erzielten Ergebnisse teilweise nicht nur wissenschaftlich interessant, sondern
auch für die praktische Wirtschaftspolitik von hoher Relevanz sind. Behauptun-
gen, der derzeitige Weg einer empirisch-quantitativen Forschung sei ein Irrweg,
man müsse sich von dieser von den Angelsachsen dominierten Entwicklung
(weitgehend) abkoppeln und zurück zur (deutschen) Ordnungstheorie finden,
wie sie in Deutschland in der Debatte des Jahres 2009 zu hören waren, sind
eigentlich nur vor dem Hintergrund bestimmter (enttäuschter) politischer Vor-
stellungen verständlich. Abgesehen davon wurden die Intentionen der Ord-
nungsökonomik, nicht nur die wirtschaftlichen Prozesse selbst zu analysieren,
sondern auch deren institutionelle Rahmenbedingen in die Analyse einzubezie-
hen, gerade auch durch die moderne Institutionenökonomik aufgegriffen, wo-
bei kein Anlass bestand und besteht, dabei auf das moderne Instrumentarium
der Ökonomik zu verzichten.
Dass sich andererseits im Bereich der Wirtschaftswissenschaften eine Kultur
der Rätsellösung entwickelt hat, wobei die Rätsel häufig wenig Bezug zu wirt-
schaftspolitischen Fragestellungen haben, lässt sich kaum bestreiten. Dies be-
deutet jedoch weder, dass es in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung
keinen Fortschritt gäbe, noch dass diese Forschung insgesamt keine wirt-
schaftspolitische Relevanz mehr besässe. Im Hinblick auf Relevanz sind ver-
mutlich der Forschungsprozess und relevante Erkenntnisfortschritte lediglich
ineffizient organisiert, nicht jedoch ineffektiv. Was den Fortschritt anbetrifft,
sind wir freilich in keiner prinzipiell anderen Situation als andere Wissenschaf-
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ten: Auch dort ist nicht a priori klar, dass neue theoretische Ansätze wirklich
erklärungskräftiger sind als die bereits bekannten. Dies kann jedoch kein Grund
dafür sein, nicht nach neuen Ansätzen zu suchen. Die (zumindest teilweise) in
die gegenteilige Richtung zielende Aufforderung, sich eher auf die Vermittlung
(vermeintlich) grosser Botschaften als auf sorgfältige theoretische Arbeit zu
konzentrieren, wie sie von Siebert (1998) ergangen ist, kann man zumindest
aus kritisch-rationaler Perspektive nicht unterstützen.86
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240 Gebhard Kirchgässner
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86 „Das Fach muss stärker daran denken, dass es Verantwortung in der Gesellschaft
hat und dass auch diejenigen von der großen Konzeption der Ökonomie zu überzeugen
sind, die außerhalb des Fachs stehen, die in den Medien vermitteln müssen und die in
der Politik zu entscheiden haben …Vielleicht sollten wir doch nicht jeden einzelnen
Stein in der Wüste von Kakutania umdrehen, um danach zu suchen, wo der Wettbewerb
nicht funktioniert, …Und vielleicht, sollten wir alle einen Tick stärker berücksichtigen,
was die Volkswirtschaftslehre insgesamt an verlässlichen Erkenntnissen zu bieten hat:
Lassen Sie mich deshalb doch lieber …mit einem Klassiker beschliessen, mit John Stu-
art Mill: ,If competition has its evils, it prevents greater evils …‘ “ Siebert (1998, 62 ff.).
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