Content uploaded by Peer Schilperoord
Author content
All content in this area was uploaded by Peer Schilperoord on Jan 30, 2015
Content may be subject to copyright.
46
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Metamorphosen der Pflanze
Peer Schilperoord
Zusammenfassung
Das Metamorphosekonzept, das Goethe ausgearbeitet hat, bezieht sich auf das Blatt.
In dieser Arbeit wird das Konzept wesentlich erweitert. Der Lebenszyklus der Pflanze
wird im Sinne eines Zyklus von Metamorphosen beschrieben. Zusätzlich zu der
Blattmetamorphose werden die Blattontogenese, die Embryogenese, die Trennung
der Geschlechter und die verschiedenen Meristemtypen als Metamor-phosen
beschrieben. Als Ergebnis der Forschungen wird anstelle der Grundor-gantheorie ein
viergliedriges Modell vorgeschlagen. Weiter wird die Gestalt von Staub- und Fruchtblatt
als das Ergebnis der Tätigkeit von je zwei Meristemen beschrieben. Auf die
Wesensverwandtschaft zwischen Wurzel – Blattgrund – Staubblatt einerseits und Spross
– Blattspreite – Fruchtblatt andererseits wird hingewiesen.
Summary
The concept of metamorphosis developed by Goethe is based on the leaf. In this
paper the concept is substantially extended. The life-cycle of the plant is described in
the sense of a cycle of metamorphoses. In addition to leaf metamorphosis, the following
are also described as metamorphoses: leaf ontogenesis; embryogenesis; the separation
of the sexes and the various types of meristem. As a result of these researches, instead
of the fundamental organ theory, a four-component model is suggested. Furthermore,
the form of the stamen and the carpel is described as the result of the activity of two
meristems in each case. An indication is given regarding the relatedness of character
between, on the one hand, root – leaf base – stamen and, on the other hand, shoot –
leaf blade – carpel.
Einleitung
Als ich mich mit Goethes Metamorphose der Pflanze zu befassen begann,
hoffte ich, die Pflanze mit Hilfe dieser Arbeit besser zu verstehen. Nach
einem dreiwöchigen Kurs und wiederholter Lektüre wusste ich zwar besser
Bescheid über die Verwandlungsmöglichkeiten des Blattes und wie es sich
zur Blüte hin metamorphosiert, rätselhaft aber blieben mir die Beziehun-
gen der Blütenorgane untereinander und die genauen Beziehungen zwischen
den Stängelblättern und den Blütenorganen.
In der Literatur, die über die Metamorphose der Pflanze erschienen ist,
wird meistens betont, wie wichtig die von Goethe praktizierte Methode des
Vergleichens für die Morphologie ist. Bekannt geworden ist Goethe durch
seine Darstellung der Blattmetamorphose. Es fehlt allerdings eine umfas-
47
sende Analyse seines Metamorphosekonzeptes. Goethes Ansatz war we-
sentlich breiter, als aus seiner Veröffentlichung über die Metamorphose der
Pflanzen hervorgeht. Was wurde ausgearbeitet, was nicht? Welche Ansätze
haben in die Wissenschaft Eingang gefunden und welche nicht? Was kann
man mit Hilfe des Metamorphosekonzeptes verstehen und was nicht?
Das Leben der Pflanze verläuft zyklisch. Dieser Zyklus streckt sich von
der Keimung über die vegetative Pflanze bis zur Blüte, Befruchtung und
Samenbildung aus. Metamorphosen finden nicht nur am Blatt statt, jede
Phase des Lebenszyklus hat seine eigenen Verwandlungen, seine eigenen Me-
tamorphosen. Und so hängt mit dem Lebenszyklus einer Pflanze ein Zyklus
von Metamorphosen zusammen. Für eine ganzheitliche Betrachtung der
Pflanze stellt sich die Frage: Welche Metamorphosen offenbart die Pflanze?
Mehrere Arten von Metamorphosen
Blattreihe, Blattentwicklung – Metamorphose einer Organreihe bzw. ei-
nes Einzelorgans
Was ist eine Metamorphose? Gibt es mehrere Metamorphosen? Wie
weiß man, wann man eine Metamorphose richtig erkannt hat? Wie sicher
ist man? Im Verlauf meiner Arbeit habe ich mir immer wieder diese Fra-
gen gestellt. In der Mathematik und in der Physik ist die Beweisführung
eindeutig, die Schlussfolgerungen müssen sich logisch ergeben und das
Experiment soll die These belegen oder entkräften. In der Biologie und
insbesondere in der Morphologie ist die Beweisführung schwieriger, sind
die Ergebnisse weniger eindeutig.
Die wohl bekannteste Metamorphose ist die Laubblattmetamorphose.
Diese zeigt den Gestaltbildungsprozess vom Keimblatt bis zum Hochblatt,
wobei die einzelnen Blätter die sichtbar gewordenen Stufen dieses Prozesses
sind. Bei Bockemühl (1964, 1966, 1967) habe ich diese Art des
Metamorphosierens kennen gelernt und geübt.
Allerdings beschränkten sich die behandelten Beispiele auf Blätter mit
einer einfachen Gliederung in Blattfuß, Blattstiel und Blattspreite. Es gibt
auch kompliziertere Blätter wie jene der Sumpfdotterblume, die einen
scheidigen Blattgrund bilden, oder gar die Kannenblätter von Nepenthes.
Letztere zeigen, wie kompliziert die Metamorphose sein kann, die nicht
nur eine flache Spreite hervorbringen, sondern im Falle von Nepenthes
gar eine Kanne samt Deckel.
Peer Schilperoord
48
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Abb. 1: Die Laubblattreihe als Forschungsobjekt: Kohl-Gänsedistel (Sonchus oleraceus); die
Blätter sind kreisförmig angeordnet, unten links das Keimblatt, unten rechts ein Hochblatt
(Bockemühl 1964)
Abb. 2: Kannenpflanze, Nepenthes fusca; St Sprossachse; A flächig entwickelter Teil des
Unterblattes; R Ranke; S Schlauch; D dessen Deckel (Troll 1939, nach Danser)
A
R
St
S
D
49
Peer Schilperoord
Anschließend habe ich mich zur Vertiefung des Ansatzes mit den Arbei-
ten von Troll (1926, 1937, 1939, 1943, 1984) befasst. Er ist einer der gro-
ßen Morphologen des letzten Jahrhunderts und hat mir die Vielfalt der
Blattformen vermittelt. Troll war eine Art Briefmarkensammler: Er sam-
melte unterschiedliche Blatt-, Stängel- und Wurzelformen, und zwar, wie es
sich gehört, so vollständig wie möglich und quer durch das ganze Pflanzen-
reich. Troll hatte den Überblick über die morphologische Literatur, was in
den vielen Literaturhinweisen zum Ausdruck kommt. Er befasste sich, wie
Bockemühl auch, mit Blattmetamorphosereihen. Troll beschränkte sich auf
eine repräsentative Auswahl der Blattformen, Bockemühl dagegen legt Wert
auf vollständige Blattreihen. Troll war bestrebt, den roten Faden, der sicher
durch die fantastische Vielfalt der Blattformen führt, zu finden. Zusätzlich
befasste er sich mit einer zweiten Art der Metamorphose, mit der Blatt-
ontogenese, die die Entwicklung von der Blattanlage bis zum ausgewachse-
nen Blatt beschreibt.
Troll entwickelte ein Modell, mit dem er die Metamorphose der Blatt-
reihen mit der Metamorphose der Blattentwicklung verknüpfte. Die Blatt-
reihe einer sich entfaltenden Knospe, zum Beispiel einer Kastanie, zeigt,
wie auf die Knospenschuppen Zwischenstadien folgen, die die Spreite nur
im Ansatz ausbilden, bis sich dann die voll entwickelten Blätter mit Blatt-
grund, Stiel und Spreite zeigen.
Abb. 3: Aesculus parviflora; Laubblatt (I), Knospenschuppen (II–V) und Übergangsblatt (VI)
(Troll 1937)
Troll stellte bei den differenziertesten Blättern fest, dass die erste Gliederung
der Anlage die Grenze zwischen Spreite (Oberblatt) und Blattgrund (Unter-
blatt) markiert. Anschließend wächst der Blattstiel heran. Er nahm an, dass
die Reihenfolge der Entstehung der Blattorgane fixiert sei und mit der ersten
I
VI
V
II
III
IV
50
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Gliederung der heranwachsenden Blattanlage immer die Grenze zwischen
Blattgrund und Spreite markiert wird (Troll 1939, S. 1388ff). Trolls ABCD-
Modell der Blattentwicklung findet sich in etwas verwandelter Form auch
bei Bockemühl wieder. Anstelle der Verwendung von Buchstaben zur Be-
zeichnung der Entwicklungsstufen charakterisiert Bockemühl diese Stufen
mit den Begriffen Spitzen, Gliedern, Spreiten und Stielen.
1
Fragezeichen
blieben mir bei Trolls Ableitung der Fiederblätter, bei der Ableitung des Schild-
blattes und bei seiner Zuordnung des Blattstieles als Teil der Blattspreite.
Ich war dann froh, die Arbeit von Hagemann (1971) kennen zu lernen.
Was er mir vermittelte, war die Plastizität der Gestaltungsprozesse. Seine
Texte sind etwas kompliziert, man muss sie mehrmals lesen, um sie nachzu-
vollziehen. Er hat sich u. a. mit der Entwicklung einzelner Blattanlagen
befasst. Wichtig geworden sind mir die Begriffe Erweiterung, Fusion und
Gliederung des Bildungsgewebes. Was ist damit gemeint? Ich erläutere die-
se Begriffe am Beispiel der Blattentwicklung der Sumpfdotterblume. Hat
man die Entstehungsgeschichte dieses Blattes verstanden, so hat man be-
reits die Grundlage für das Verständnis einer ganzen Reihe von Blattformen.
Abbildung 4 zeigt eine blühende Pflanze, Abbildung 5 die verschiedenen
Entwicklungsstadien und Abbildung 6 einen Teil eines Blattes mit Blatt-
stiel, Blattgrund und Nebenblattröhre. Man beachte in Abbildung 5, dass
die einzelnen Elemente des Blattes bereits sehr früh erkennbar sind, und
zwar ist die Differenzierung bereits in d abgeschlossen, die Blattanlage ist
dann nicht größer als 0,2 bis 0,3 Millimeter.
1 Für Details und Kritik an der allgemeinen Gültigkeit des Modells siehe Schilperoord
(2002).
51
Peer Schilperoord
Abb. 4: Sumpfdotterblume (Caltha palustris); blühende Pflanze
Abb. 5: Entwicklungsstadien eines Blattes der Sumpfdotterblume: a) ungegliederte Blattanlage,
die den Achsenkörper noch nicht umfasst; b) der Umfassungsvorgang ist abgeschlossen;
auch die Nebenblattröhre wird bereits angelegt; c) die Nebenblattröhre ist angelegt, die
von der Seite sich ausdehnenden Meristeme haben sich median vor der Spreitenanlage
vereinigt; das nächste Blatt wird ausgegliedert; d–f) Nebenblattröhre und Spreitenanlage
wachsen heran (Hagemann 1970)
a
b
d
c
f
e
g
0,5 mm a–e
1 mm
52
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Abb. 6: Ansatzstelle der ersten Blätter, in der Bildmitte die Nebenblattröhre, links unterhalb
der Nebenblattröhre ansetzend der zum selben Blatt gehörende Blattstiel; die Spreite ist
nicht sichtbar
In a hat man eine schuppenförmige Anlage, die auf der vorderen Seite
anfängt, das halbkugelförmige Sprossmeristem zu umfassen. Bei b ist die
vordere Seite umfasst, jetzt findet der gleiche Prozess auf der gegenüber-
liegenden Seite des Meristems statt. In c ist die Umfassung abgeschlossen
und die Nebenblattröhre veranlagt. Jetzt fehlt nur noch die Gliederung in
Spreite und Grund, diese hat in d stattgefunden. Jetzt ist auch die Stelle
sichtbar, die später zum Blattstiel heranwachsen wird. Abbildung 6 zeigt
die Nebenblattröhre, die eine deutlich andere Beschaffenheit aufweist als
die Spreite. Das Blattgrün fehlt und das Gewebe fängt bereits an abzuster-
ben. Abbildung 7 zeigt halbschematisch eine Zusammenfassung.
Die Gestaltungsprozesse der Erweiterung, Verschmelzung und Gliede-
rung der Blattanlage sollen noch ergänzt werden mit dem Begriff des quel-
lenden Wachstums, den ich Steiner (1925) verdanke. Der Begriff quellen-
des Wachstum bezieht sich auf eine anhaltende Erneuerung ohne weitere
Gestaltungsimpulse bzw. Einschränkung oder Lenkung des Wachstums.
Die Sprossspitze ist ein Ort des quellenden Wachstums. Mit Hilfe dieser
Begriffe kann man sich wie ein Plastiker in die Gestaltungsprozesse einle-
ben und diese innerlich nachvollziehen. Es ist ein großer Unterschied, ob
man ausgewachsene Blattformen miteinander vergleicht oder ob man in-
nerlich die Gestaltbildung nachvollziehend zu den ausgewachsenen For-
53
Peer Schilperoord
men kommt. In beiden Fällen braucht es ein bewegliches Vorstellungsver-
mögen. Im ersten Fall wählt man gezielt eine bestimmte Blattform und
versucht, ausgehend von dieser Form alle anderen Formen abzuleiten. Bei
dieser Tätigkeit kürzt oder verlängert man Abschnitte, lässt weg oder fügt
zusammen, gliedert oder vereinfacht. Im zweiten Fall vollzieht man in-
nerlich die Gestaltbildung nach. Man kann feststellen, dass es dann einfa-
cher wird, die Gestalt bereits fertig ausgebildeter Blätter miteinander zu
vergleichen und aufeinander zu beziehen.
2
Es ist die Kunst, beide Blick-
richtungen miteinander zu vereinbaren. Das Einleben in die Gestaltungs-
Abb. 7: Halbschematische Darstellung der verschiedenen Gestaltungsprozesse des
Blattbildungsgewebes; I, II und III die Reihenfolge von drei unterschiedlich weit entwickelten
Blattanlagen; die Pfeile in der Bildmitte weisen auf die Erweitung der meristematischen
Zone hin, beim Pfeil links ist es zu einer Fusion zweier meristematischen Zonen gekommen;
bei p wird das Wachstum zurückgenommen, es findet eine Gliederung des meristematischen
Randes statt, an dieser Stelle bildet sich später der Blattstiel; b) Spreitenanlage; u)
Blattgrundanlage (Hagemann/Gleissberg 1996)
2 Ein lehrreiches Beispiel, das die Schwierigkeiten aufzeigt, mit denen man konfrontiert
ist, wenn man fertige Blattformen voneinander ableiten will, liefert Troll (1939) mit
seiner Ableitung der akroplasten von den basiplasten Fiederblättern. Das basiplaste
Fiederblatt legt die Fiederblattpaare zur Basis, das akroplaste Fiederblatt legt sie zur
Spitze hin an. Versetzt man sich in die Entstehungsgeschichte beider Blattformen,
dann wird man bemerken, dass die Formen nicht voneinander ableitbar sind. Mit
einer abenteuerlichen Argumentation schafft Troll es trotzdem, die basiplaste Form
als die ursprünglichere und die Ausgangsform des akroplasten Blattes darzustellen.
p
b
u
p
u
b
III
II
I
54
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
prozesse ist in der Morphologie zu kurz gekommen, die Arbeit von Hage-
mann noch zu wenig zur Kenntnis genommen. Ein wichtiges Ergebnis der
Arbeit von Hagemann (1970) ist der Nachweis, dass die von Troll (1939)
und Bockemühl (1966) postulierte Gesetzmäßigkeit in der Reihenfolge der
Entwicklungsschritte nicht existiert. In der Entwicklung des Blattes kann
die erste Gliederung die Grenze zwischen Ober- und Unterblatt markieren,
es kann aber auch die letzte Gliederung sein, die diese Grenze markiert
(siehe auch Schilperoord 2002). Mit anderen Worten, die Gestaltungsfreiheit
ist größer, als zunächst angenommen.
Zurück zu unserer Frage, was ist eine Metamorphose? Die Laubblatt-
reihe ist eindeutig eine, der Bildungsvorgang eines einzelnen Blattes ist es
ebenfalls.
Embryogenese – organische Entzweiung
Die Frage Metamorphose ja oder nein ist bei den Bildungsprozessen, die
zur Keimpflanze führen, schwieriger zu beurteilen. Hier lastet das von Troll
vertretene und allgemein akzeptierte Diktum, das besagt, dass die verschie-
denen Organe Wurzel, Sprossachse und Blatt morphologisch nicht aufein-
ander bezogen bzw. nicht voneinander abgeleitet werden können. Es sind
Grundorgane, weil aus ihnen alle anderen Organe abgeleitet werden kön-
nen. Sie üben unterschiedliche physiologische Prozesse aus. Eine Begrün-
dung findet man bei Troll nicht, außer jene unausgesprochene, dass er nur
eine Art der Formverwandlung anerkennt. Mit dieser Ansicht bin ich nicht
einverstanden. Wieso sollte man diese Organe nicht morphologisch mitein-
ander in Beziehung setzen können? Ein Hinweis Steiners (GA 323) war hier
hilfreich, um dieses Dilemma zu lösen. Er unterscheidet zwischen kontinu-
ierlich und diskontinuierlich sich vollziehenden Metamorphosen. Erläutert
hatte er das am Beispiel der cassinischen Kurvenreihe, an der man aufzei-
gen kann, wie eine geschlossene Kurve in eine Lemniskate übergeht und
diese Lemniskate wiederum in zwei räumlich getrennte Ellipsoide.
3
Man
kann natürlich auch von den Ellipsoiden ausgehen und kommt über die
3 Eine cassinische Kurve beschreibt den Ort aller Punkte, bei denen das Produkt der
Abstände zu zwei festen Punkten (2a) konstant ist b
2
. Die Gestalt der Kurve hängt
vom Verhältnis b/a ab. Wenn a < b, dann ist die Kurve eine einfache Schleife mit
ovalem oder knochenähnlichem Umriss. Wenn a = b, dann ergibt sich eine Lemniskate
und wenn a > b, hat die Kurve zwei Schleifen (siehe Abb.).
y = ±√{– (a
2
+ x
2
) + √(b
4
+ 4a
2
+ x
2
)} Weisstein (2007)
55
Peer Schilperoord
Lemniskate zur Kurve. Die Metamorphose, die diese Kurvenreihe zeigt,
lässt sich mit den Begriffen: Kontinuität, Diskontinuität, Einheit, Zweiheit,
Umstülpung und Polarität kennzeichnen. Die Umstülpung erlebt man, wenn
man die ganzen Kurven neben der Linie abschreitet: mal schaut man dann
nach innen, mal nach außen. Nun nahm ich diese Kurvenreihe zunächst
rein äußerlich und verglich sie mit der Keimpflanze. Ich legte den Spross in
die eine und die Wurzel in die andere Hälfte der Lemniskate. Schnittpunkt
der Lemniskate ist der Wurzelhals.
Abb. 8 und 9: Cassinische Kurvenreihe (Weisstein 2007) und Keimpflanze von Arabidopsis
thaliana, mit Keimblättern, Hypokotyl, Wurzelhals, Wurzelachse und Wurzelhaaren
(Bowman 1994)
An dieser Stelle findet sich der Übergang zwischen der zentralen Anord-
nung der Gefäßbündel in der Wurzel und der peripheren Anordnung in der
Sprossachse. In den Gefäßbündeln der Sprossachse bildet sich das Xylem
nach innen, das Phloem nach außen. Im Zentralen Zylinder der Wurzel
kehrt sich dieses Lageverhältnis zwischen Phloem und Xylem zwar nicht
um, es bildet sich aber das Xylem jetzt auch zwischen den Phloemsträngen.
56
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Im Zentrum der Wurzelachse findet sich kein parenchymatisches Gewebe.
Das meiste befindet sich außerhalb des zentralen Zylinders. Eine «Umstül-
pung» zeigt sich beim Vergleich des Blattes mit der Wurzel. Das Blatt ist
eine in sich geschlossene Struktur, dagegen ist es für die Wurzel typisch,
dass Gewebeschichten entstehen und vergehen. Das dem Blatt entsprechen-
de Wurzelorgan umfasst Gewebeschichten, die nacheinander mit der Erde
in Kontakt treten: die verschleimende Wurzelhaube, die Wurzelhaarschicht
(Rhizodermis) und die oft schwach verkorkte Hypodermis, die nach dem
Absterben der Wurzelhaarschicht die Wurzel von der Umgebung abgrenzt.
Neu bei dieser Betrachtungsart sind die Begriffe Diskontinuität, Um-
stülpung und Polarität. Bei der Grundorgantheorie ist der morphologische
Vergleich ausgeschlossen, mit Hilfe der cassinischen Kurvenreihe eröffnen
sich Möglichkeiten des Vergleichens. Der Schwachpunkt der Grundorgan-
theorie ist, dass sie den Pflanzenkörper nicht in verschiedene Organe glie-
dert, sondern ihn unterteilt. Die Grundorgantheorie hat einen atomisti-
schen Grundcharakter.
Allerdings war die neue Betrachtungsweise noch nicht ganz befriedigend.
Von einer mathematisch exakten Umstülpung kann nicht die Rede sein. In
den Achsen findet eine Verlagerung zwischen Peripherie und Zentrum statt,
bei den Organen kommen qualitative Aspekte hinzu, die allerdings in einem
polaren Verhältnis zueinander stehen. Zu meiner Überraschung fand ich bei
Goethe die Begriffe, mit denen der Prozess, der zur Bildung von Wurzel und
Spross führt, charakterisiert werden kann. Ich verwende hier bewusst den
Abb. 10 und 11: Querschnitt links durch eine Wurzel und rechts durch eine vierkantige Sprossachse;
links: die Leitbündel liegen in der Wurzelachse zentral: dunkel Xylem; Cam Cambium; hellgrau
Phloem, Pc Pericambium; En Endodermis; Ri Rindenparenchym; Hy Hypodermis; Rh
Rhizodermis; die Leitbündel in der Sprossachse liegen mehr peripher: x Xylem; ca Cambium;
ph Phloem; p Parenchym; s Sclerenchym; c Collenchym; e Epidermis (Sitte et al. 1991)
Rh
Hy
En
Ri
Pc
Cam
ph
p
c
x
ca
e
s
57
Peer Schilperoord
Begriff «Charakterisierung». Es macht einen Unterschied, ob man beschreibt,
wie die Embryobildung abläuft, oder ob man darüber hinaus diesen Prozess
noch charakterisiert. Goethe prägte den Begriff der «organischen Entzwei-
ung». Entzweiung bedeutet, dass aus einer Einheit eine Zweiheit hervor-
geht. Wichtig ist das Adjektiv «organisch», mit dem er diesen Prozess von
einer «anorganischen Entzweiung» abgrenzt.
4
Jetzt war es möglich, das Dik-
tum der Grundorgantheorie zu widerlegen und anstelle des Grundorgan-
modells ein viergliedriges Modell (Schema 1) vorzuschlagen, mit den beiden
Achsen der Wurzel und des Sprosses und den beiden Organen, die den Bezug
zur Umgebung aufnehmen: das Blatt und das, was ich Wurzelorgan genannt
habe (Schilperoord 1997).
Man kann zu dem gleichen Ergebnis auch – rein im funktionalen Denken
bleibend – gelangen, indem man sich fragt, wie die Pflanze sich mit Luft und
Licht und wie mit Erde und Wasser auseinandersetzt. Es braucht dann nur
noch den Schritt, die beteiligten Gewebeschichten als zweites Organ der Wurzel
zu betrachten. Diese Überlegung bestätigt von einer anderen Seite die Rich-
tigkeit der oben gemachten Überlegungen und Charakterisierungen.
Diese Überlegungen konnte ich an einem Symposium über Morphologie,
Anatomie und Systematik 1997 in Leuven (Belgien) erläutern. Die Mehrzahl
der Zuhörer wollte sich nicht auf die Überlegungen einlassen. Wieso nicht?
Gemäß Troll, der die Methodik der Morphologie maßgebend geprägt hat, ist
es «der Sinn morphologischer Untersuchungen überhaupt, die Vielgestaltig-
keit, sei es einer ganzen Organismengruppe oder einzelner Organe, so weit
zu klären, dass sie aus quantitativen Schwankungen um einen Typus als be-
herrschendem Bauprinzip sich ableiten lässt» (Troll 1984, S. 95). Meine Über-
legungen rüttelten an diesem Grundsatz. Die Methode der Morphologie ist
Schema 1: Grundorganmodell und Gliederungsmodell
Das Grundorganmodell unterteilt die Pflanze und verneint eine morphologische Beziehung
zwischen den Grundorganen; das Gliederungsmodell betont eine morphologische Beziehung
zwischen den Organen (siehe Text)
4 Ebenso kann man unterscheiden zwischen einer mathematischen und einer organischen
Umstülpung.
Grundorganmodell Gliederungsmodell
I Blatt Ia Blatt
………………..
……………… I Spross Ib Sprossachse
II Sprossachse …………..
……………… II Wurzel IIb Wurzelachse
………………..
III Wurzel IIa Wurzelorgan
58
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
die vergleichende, ob nur quantitativ oder auch qualitativ, ist die Frage. Aus
Goethes Texten (Goethe 1790, Kuhn 1964) geht hervor, dass er nicht nur eine
quantitative Art des Vergleichens in Betracht zog, sondern auch eine qualita-
tive. Entscheidend für die Akzeptanz einer qualitativen Betrachtung ist das
Erlebnis, ein Phänomen besser verstanden, neue Zusammenhänge entdeckt
zu haben. Beschreibt man Wurzel und Spross als einander räumlich entgegen-
gesetzte Formen, die völlig unterschiedlichen Umweltbedingungen ausgesetzt
sind, sich physiologisch ergänzen und deswegen ganz anders aussehen müs-
sen, wird man nicht auf Ablehnung stoßen. Fügt man hinzu, dass beide aus
einer Einheit durch eine organische Entzweiung hervorgegangen sind und
sich gegenseitig bedingen, dann stößt man eher auf Ablehnung, weil jetzt eine
innere Qualität angesprochen wird. Die Pflanze wird als ein sich selbst gestal-
tendes Wesen angesprochen. Die Gestalt der Pflanze ist das Ergebnis der
Umweltbedingungen und der Eigenart der Pflanze, sich mit diesen auseinan-
derzusetzen. Der Begriff der «organischen Entzweiung» ist Ergebnis einer
meditativen Grundhaltung.
5
Das hier vorliegende Beispiel zeigt, dass eine
solche Grundhaltung durchaus zu wesentlichen Einsichten führt, die anschlie-
ßend mit Hilfe der Mathematik, mit der Hilfe des logischen Denkens, über-
prüft werden können und Bekanntes in neuem Licht erscheinen lassen kann.
Metamere
Welche Teile metamorphosieren?
In dem vorangegangenen Abschnitt haben wir drei Arten von Metamor-
phosen kennen gelernt. Sie betrafen die
Laubblattreihe (auf englisch: heteroblasty)
Blattontogenese (auf englisch: leaf formation)
Embryobildung (auf englisch: embryogenesis).
Im vorangegangenen Abschnitt haben wir als Alternative zur Grundorgan-
theorie ein viergliedriges Modell vorgeschlagen. Das Modell entspricht ei-
ner Keimpflanze, und man muss, damit man die Keimpflanze vollständig
hat, noch die Veranlagung der Seitenwurzeln und Seitensprossen hinzuneh-
5 Zunächst dachte ich, dass die englische Morphologin Arber Goethes Ergebnisse ebenfalls
als Resultat einer meditativen Haltung charakterisiert hatte. Sie charakterisierte Goethes
«Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären» als «reasoned outcome of the
meditations which began to take shape beside the palm tree at Padua» (Arber 1946).
Übersetzt heißt das aber, dass Arber Goethes Arbeit als durchdachtes Ergebnis von
Betrachtungen (nicht Meditationen) bezeichnet, die neben der Palme in Padua Gestalt
annahmen. (An der Blattfolge dieser im botanischen Garten von Padua immer noch
lebenden Palme erlebte Goethe, gemäß den Angaben von Arber, die ursprüngliche
Identität aller Teile der Pflanze.)
59
men. Beim Heranwachsen des Sämlings findet an der Sprossachse eine rhyth-
mische Wiederholung gleicher Elemente statt. Der Sprosskörper erweist sich
als segmentiert. Dieses Phänomen, dass sich Segmente wiederholen, nennt
man Metamerie. Das Wachstum durch Wiederholung von Segmenten oder
Metameren ist charakteristisch für die Pflanze. Gleiches wird wiederholt
und kann dabei abgewandelt werden. Die Pflanze hat im Gegensatz zum
Tier einen offenen «Bauplan», die Zahl der «Segmente» kann beliebig groß
sein. Typisch für die Pflanze ist, dass man nicht genau festlegen kann, wo die
Grenze zwischen den Segmenten zu ziehen ist. Die Bausteine sind organi-
sche Bausteine, und je nach Pflanzenart und Stellung der Blätter sind die
Grenzen unterschiedlich zu ziehen. Am sichersten ist es, die Keimpflanze als
Grundmuster für die Segmente zu nehmen. Dann wird man auch die Veran-
lagung von Seitenwurzeln als Bestandteil der Metamere berücksichtigen,
was in der Regel ausgeklammert wird. Rutishauser und Sattler (1985) geben
einen Überblick über die verschiedenen Metameriemodelle, allerdings noch
ohne Berücksichtigung der Seitenwurzelbildung.
Anstatt mit Blattreihen zu arbeiten, kann man auch eine Metamorphose-
reihe der Metameren aufstellen. So kann man zum Beispiel Änderungen in
der Länge des Blattstieles in Bezug setzen zu Änderungen in der Länge des
Achsenabschnittes und in der Fähigkeit, Seitenorgane zu bilden. Die Betrach-
tung einer Laubblattreihe wird durch die gleichzeitige Beachtung der Ände-
rungen weiterer Elemente eines Metamers wesentlich ergänzt. Der Stängel
kann «Aufgaben» des Blattstieles übernehmen, umgekehrt kann auch das Blatt,
wie bei den Gräsern, Aufgaben des Stängels übernehmen. Diese Betrach-
tungsweise führt zu den Wuchs- oder Lebensformen der grünen Pflanze.
Es braucht den Begriff der Metamerie für den Schritt zu der nächsten,
kompliziertesten Metamorphose.
Die Blüte, die vollkommenste Metamorphose
In der Blüte ist die Pflanze am individuellsten, am vollkommensten. An der
Blüte lassen sich Arten am einfachsten unterscheiden. Die Blüte hat, wie die
vegetative Pflanze, eine metamere Grundstruktur. Ihre Organe sind in einer
Spirale oder in Wirteln angeordnet. Das Besondere ist, dass die seitlichen
Organe teils sehr unterschiedliche Qualitäten aufweisen. Man unterscheidet
als Organkategorien Kelch-, Kron-, Staub- und Fruchtblatt.
6
Es ist metho-
disch konsequent, den Übergang zwischen der grünenden und der blühen-
den Pflanze nicht nur aus der Blickrichtung einer Blattmetamorphose, son-
dern auch aus der Blickrichtung einer Metamorphose von Metameren zu
Peer Schilperoord
6 Honigblätter kann man als zusätzliche Kategorie noch hinzunehmen.
60
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
betrachten. Versucht man so die Metamorphose zur Blüte hin zu verstehen,
dann wird man alsbald bemerken, dass nur ein Teil der Blüte sich so erklä-
ren lässt. Es wirkt noch ein zweiter Impuls in die Blütenbildung hinein.
Fangen wir bei der vegetativen Pflanze an.
Verwandlung der vegetativen Pflanze
Sprossachse Blütenboden
Eindrücklich dokumentiert sind die Abwandlungen, die die Sprossachse
erfahren kann. Sie wird zum mannigfaltig gestalteten Blütenboden. Die
Haupttendenz ist der Verzicht, die Achsenglieder (Internodien) zu strecken,
dadurch rücken die seitlich inserierten Organe zusammen.
7
Stängelblätter Blütenorgane
Die Blattnatur der Kelch-, Kronen-, Staub- und Fruchtblätter ist fast unbe-
stritten. Ein Fragezeichen setzt Hagemann (1984a) bei den Staubblättern
(siehe weiter unten). Die Lage in der Blüte und die Leichtigkeit, mit der die
Organe in Missbildungen ihre Plätze tauschen können, weist auf eine ge-
meinsame Grundlage hin. Welche Teile der Blätter sich jeweils an der Bil-
dung der verschiedenen Blütenorgane beteiligen, ist umstritten (Weberling
1981). Am besten lässt sich die Blattmetamorphose bei den einfacheren
bedecktsamigen Blütenpflanzen studieren. Abbildung 12 zeigt als Beispiel
den Übergang vom Hoch- bis zum Kronenblatt beim Alpenhahnenfuß und
Abbildung 13 das gleiche beim knolligen Läusekraut. Beim Hahnenfuß macht
sich das Blütenhafte in den Hochblättern bemerkbar, beim Läusekraut das
Vegetative in den Kelchblättern.
Abb. 12: Alpenhahnenfuß (Ranunculus
alpestris); der Blattgrund der Hoch-
blätter hat bereits Blütenblattcharak-ter,
die Spreite ist noch vorhanden, aber
weitgehend zurückgenommen; die
Kelchblätter haben ebenfalls
Blütencharakter
7 Ebenso ist das Zusammenspiel von Blütenboden und Fruchtblättern detailliert
erforscht worden. Der Blütenboden kann gleichzeitig mit den Fruchtblattanlagen
heranwachsen und so zum unterständigen Fruchtknoten führen. Er bildet dann eine
Einheit mit dem Fruchtknoten. Die Fruchtblattanlagen können sich aber auch
unabhängig vom Blütenboden entfalten, was zu oberständigen Fruchtknoten führt.
Auf die Verwachsung von Organen möchte ich hier aber nicht weiter eingehen.
61
Peer Schilperoord
Augen Samenanlagen
Goethe (1791) weist hin auf eine Verwandtschaft zwischen der Augenbildung
und der Bildung von Samen. Neuerdings ist man in der molekulargenetischen
Forschung auf Zusammenhänge zwischen der Blatt- und Knospenbildung
einerseits und der Fruchtblattbildung und der Bildung der Samenanlagen
andererseits gestoßen (McConnell/Barton 1998). Bei diesen Untersuchun-
gen stellte man bei missgebildeten Arabidopsis-Pflanzen fest, dass Pflanzen,
die keine Blattunterseite mehr bilden können, mehrere Augen ringsum am
Grunde der gerundeten Blattansätze ausbilden. In der Blüte wirkt sich diese
Mutation auch auf die Bildung des Fruchtknotens aus. Samenanlagen, die
sich sonst nur innerhalb des Fruchtknotens bilden, finden sich hier außen
ringsum an der Basis des Fruchtknotens.
Die Missbildungen zeigen, dass Augen und Samenanlagen nicht ineinan-
der übergeführt werden können, sondern dass sie einen ähnlichen Bezug
zur Blattspreite haben.
Goethe ging in seiner Metamorphose mit seinem Vergleich sogar noch
etwas weiter mit der Feststellung, dass die Fortpflanzung in der Blüte eine
Steigerung des Wachstums der vegetativen Pflanze ist.
8
Merkmale der Blatt-
Abb. 13: Knolliges Läusekraut (Pedicularis tuberosis); die rötlichen Zipfel der Kelchblätter
haben noch Blattspreitencharakter
8 Goethe 1790, §113.
62
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
knospenbildung treten auch bei der Bildung der Samenanlagen auf. Diese
Merkmale sind: exogene Veranlagung, Zusammenhang mit der Oberseite
des Blattes
9
, Umhüllung durch Vorblätter bzw. Integumente
10
und im Be-
reich der Missbildungen Samenanlagen, die durch einen Fruchtknoten oder
gar einen Spross ersetzt sind.
…?… Blütenstaub
Bei einer konsequenten Betrachtung der Blüte drängt sich unweigerlich die
Frage auf: Was ist mit dem Blütenstaub? Wie lässt sich der Blütenstaub in
9 Wolfgang Hagemann vertritt die Auffassung, dass die Samenanlagen nicht auf der
Blattoberseite entstehen, sondern am Rande (marginal) oder auf der nach innen
geschlagenen Unterseite (abaxiale Seite) des Blattes. Die laminare Plazentation von
Samenanlagen, bei der die Samenanlagen über die gesamte Innenfläche des Fruchtblattes
zu finden sind, führt er auf eine flächige Ausdehnung der Plazenta auf die Oberseite
(adaxiale Seite) des Fruchtblattes zurück. Persönliche Mitteilung von Prof. Hagemann
(12.1.2007). Ich gehe von einer adaxialen oder einer marginalen Veranlagung der
Samenanlagen aus.
10 In der Regel sind die Samenanlagen von zwei Gewebeschichten (Integumenten)
umhüllt. Ich behaupte hier nicht, dass die Integumente ursprünglich aus Vorblättern
hervor-gegangen sind und homologe Strukturen darstellen. Die Bildung der
Integumente findet nach der Veranlagung der Samenanlage statt, sie entstehen an
der fingerförmigen Anlage und bilden den Übergang zwischen Funiculus (Stielchen
der Anlage) und Nucellus (Kern der Anlage). Auf evolutionäre Interpretationen
verzichte ich.
Abb. 14: Rasterelektronische Aufnahme einer Keimpflanze von Arabidopsis thaliana, die nicht
mehr in der Lage ist, die Blattoberseite der auf die Keimblätter (c) folgenden Stängelblätter
(l) zu bilden; B Detail der Blattbasis des gerundeten Blattes; beim Pfeil: Anlagen von
Seitenknospen (McConnell/Barton 1998)
Abb. 15: Rasterelektronische Aufnahmen: a) einer Schote von Arabidopsis thaliana; b) in der
Mitte normal gebildete Samenanlagen (o) und c) eine Detailaufnahme der in a) an der Basis
der Schote gebildeten Samenanlagen; im Vergleich zu b) sind diese unvollständig ausgebildet
(McConnell/Barton 1998)
63
Peer Schilperoord
der Metamorphose der Pflanze einordnen, lässt er sich einordnen, hört hier
die Metamorphose auf?
Darf man diese Frage stellen? Geht man vielleicht mit der Analyse der
verwendeten morphologischen Begriffe zu weit? Ich habe mich der Frage
angenommen, um herauszufinden, ob sie zu brauchbaren Ergebnissen führt
oder nicht?
Goethe postulierte:
«Von Knoten zu Knoten ist der ganze Kreis der Pflanze im wesentlichen
geendigt; sie bedarf nur wie in dem Samenkorn einen Wurzelpunkt, oder
einen Wurzelknoten, einen Kotyledonknoten, eine Folge von Knoten, so
ist es wieder eine vollständige Pflanze, die nach ihrer Natur fortzuleben
imstande ist. Ich gehe weiter und sage: Alle andern Veränderungen der
Pflanze sind Scheinveränderungen und sind im Grunde alle aus dem
bisher Gesagten, aus der Lehre von der Fortsetzung der Knoten und der
Hervorbringung seinesgleichen ohne sichtbare Einwirkung zweier Ge-
schlechter zu erklären. Ja die beiden Geschlechter werden uns nur zu-
letzt aus dieser ersten und einfachsten Hervorbringungsart erklärlich
werden.» (Zitiert nach Kuhn 1964, S. 57)
11
Ein kühnes Wort!
Vegetative Fortpflanzung (Wurzel- und Sprossaugen) generative Fortpflan-
zung
Betrachten wir das Pflanzenwachstum aus der Perspektive der Meristeme,
der Wachstumspunkte und aus der Perspektive einer Metamorphose dieser
Meristeme. Das endständige (apikale) Sprossmeristem wandelt sich zur Blüte
hin in ein endständiges Blütenmeristem, das seitlich Organe ausgliedert und
schlussendlich sein Wachstum mit der Veranlagung der Fruchtblätter ab-
schließt. Ebenso eingestellt ist in der Blüte die Bildung von Seitenknospen.
Dass die Blüte sich verzweigen kann, ist uns bekannt von Blumenkohl und
Broccoli. Die Kopfbildung dieser Kohlarten beruht auf einer sich wiederho-
lenden Verzweigung innerhalb der Blütenanlagen. Die Pflanze bildet dann
eine riesige Zahl von Blüten aus, hat es aber schwer, den Blühprozess zu
Ende zu führen.
Die normal gebildete Blüte stellt die Verzweigung und das Wachstum des
apikalen Meristems ein. Dafür bildet sie aber zwei neue Zentren, von wo
aus sie sich weiter entwickelt. In den Staubblättern entstehen die Staubbeu-
tel und an den Fruchtblättern die Samenanlagen. Die Meristeme, aus denen
die Pollensäcke und die Samenanlagen hervorgehen, gehen nicht unmittel-
11 Nebenbei bemerkt zeigt diese Stelle, dass Goethe die Wurzelbildung als Element der
Wiederholung, als Teil der sich wiederholenden Segmente betrachtete.
64
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
bar aus dem Blütenmeristem hervor. Sie entstehen neu in und an den Staub-
und Fruchtblattanlagen.
12
Darin gleichen sie den Anlagen der Seitenknospen
bzw. Seitenwurzeln, die ebenfalls keine Ausgliederungen des Sprossmeristems
sind; auch sie entstehen neu. Die Kontinuität beim Übergang des
Sprossspitzenmeristems in das Meristem des Blütenstandes und von diesem
in das Blütenmeristem ist bei der Veranlagung der neuen Meristeme nicht
gegeben. Die Gestalt des Staub- und des Fruchtblattes ist das Ergebnis von
jeweils zwei Bildungszentren.
13
Von einer Homologie von Staub- und Frucht-
blatt mit dem Stängelblatt kann nur zum Teil die Rede sein. Die einzelnen
Blätter einer Blattreihe vom Keim- bis zum Hochblatt sind homologe Orga-
ne. Staub- und Fruchtblatt sind mit den genannten Organen teilhomolog.
Ein zweites Bildungszentrum beteiligt sich an ihrer Gestaltung.
Verwandlung der generativen Pflanze
Die Geschichte der Trennung der Geschlechter, gipfelnd in der Bildung der
Pollenkörner und der Embryosäcke, ist lang und lässt sich nicht so schnell
erzählen. Sie hängt mit dem von Hofmeister (1851) entdeckten Generationen-
wechsel der Pflanzen zusammen. Die Pflanze wechselt zwischen einer di-
ploiden und einer haploiden Phase. Während der diploiden Phase bildet die
Pflanze durch eine Reifeteilung haploide Sporen aus. Diese entfalten sich,
und es bilden sich die haploiden Geschlechtszellen. Die Geschlechtszellen
verschmelzen miteinander und initiieren die nächste diploide Phase. Um
das zu erläutern, müsste ich hier die Lebenszyklen der Lebermoose, der
Moose und der Farne in Zusammenhang setzen mit dem Zyklus der be-
decktsamigen Pflanze, was den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
12 Es scheint vielleicht gewagt, von zusätzlichen Meristemen zu sprechen. Scott et al.
2004 bestätigen diese Auffassung für die Pollensäcke. Sie schreiben, dass das
Ungewöhnliche des Mikrosporangien bildenden Meristems ist, dass es auf den
Querschnitten der sich entwickelnden Anthere aus nur einer Zelle, der Archespore,
hervorgeht. In der Längsrichtung gibt es natürlich eine Reihe dieser Archesporen, was
insgesamt ein ganz schmales Meristem ergibt. Aus den Archesporen gehen die
Sporenmutterzellen, das Tapetum und das Endothecium hervor. Die Bezeichnung der
Archesporen als Meristem ist dadurch begründet, dass die Anzahl dieser Zellen auf
genetisch ähnliche Weise beschränkt wird wie die Zahl der polypotenten Zellen im
apikalen Sprossmeristem.
13 Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, dass die tatsächliche Situation noch
komplizierter ist. Zunächst wird das sporenbildende Gewebe veranlagt, wonach
einzelne haploide Sporen sich sofort weiter entwickeln zu den Pollenkörnern bzw. zu
den Embryosäcken in den Samenanlagen. Die Staubbeutel sind Sporenbehälter, die
keine Sporen, sondern aus den Sporen hervorgegangene Gametophyten freisetzen.
Der «Sporenbehälter» beim Fruchtblatt ist der Nucellus, in dem in der Regel nur vier
Sporen gebildet werden, wovon eine zum Gametophyten (Embryosack) heranwächst.
Diese Details sind für die hier durchgeführte Betrachtung nicht notwendig.
65
Kürzen wir die Geschichte ab und schauen, wo die Pollenkörner gebil-
det und die Embryosäcke veranlagt werden, dann haben wir es mit den
Theken und mit den Samenanlagen zu tun. Diese Organe zeichnen sich
durch die Einfachheit ihrer Strukturen aus. Ein Staubblatt bildet in der
Regel zwei Theken mit je zwei Pollensäcken aus. Die Samenanlage kann
man mit einer kurz gestielten Kapsel (Abb. 15b) vergleichen.
Kunze beschrieb 1978 die für die Bildung der Pollensäcke typischen
Entwicklungsschritte.
Peer Schilperoord
Sobald die Anlage des Staubblattes sichtbar ist, findet eine gleichmäßige
Kräftigung des Bereiches der zukünftigen Pollensäcke statt. Danach wird
das seitliche Wachstum stärker gefördert. Dadurch bleibt der zentrale Be-
reich, wo die zukünftigen Theken miteinander verwachsen sind, flacher. Es
entsteht eine mediane Furchung. Anschließend gliedert sich der Rand in
eine ventrale und eine dorsale Zone, weil in der Mitte über die gesamte
Länge des Randwulstes das Wachstum zurückbleibt. Es entsteht eine trans-
versale Furchung. Mit der medianen Furchung werden die beiden Theken
veranlagt, mit der transversalen Furchung die beiden Pollensäcke (zwei pro
Theke). Die Pollenkörner beider Theken werden bei den meisten Staubblät-
tern gleichzeitig freigesetzt durch das Aufspringen der Theken entlang der
transversalen Furche.
Die Bildung der Samenanlage ist einfacher, es wird nur ein Embryosack
pro Samenanlage veranlagt. Zunächst entsteht ein fingerförmiger Vorsatz,
an dem anschließend die Integumente veranlagt werden.
Abb. 16: Bildung der Pollensäcke; I–VII Normaltyp: Staubblattentwicklung von Geißklee
(Cytisus racemosus) (Zimmerpflanze); I und II Bildung des Randwulstes; III Anlegung der
Theken; IV Aufsicht und V Ventralansicht einer etwas älteren Anlage mit beginnender
Transversalfurche, dadurch Herausbilden der Pollensäcke; VI Antherenspitze mit noch
gemeinsamer apikaler Randzone; VII adultes Staubblatt (Kunze 1978)
I
II III
IV
V
VI
VII
66
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Trennung der Geschlechter und organische Entzweiung
Vergleichen wir die Pollensäcke mit den Samenanlagen und vergegenwärti-
gen uns ihre Entstehungsgeschichte, dann ist klar, dass wir es nicht mit zwei
Strukturen zu tun haben, die voneinander abgeleitet werden können. Wir
haben es mit einem ähnlichen Phänomen zu tun wie am Anfang, als wir den
Wurzel- und den Sprosspol miteinander in Beziehung gesetzt haben. Hier
haben wir es unmittelbar mit dem Ergebnis einer organischen Entzweiung
zu tun, die Trennung als solche bleibt im Verborgenen. Pollenkorn (Mikro-
gametophyt) und Embryosack (Makrogametophyt) verhalten sich zueinan-
der wie halbe Pflanzen, wobei das Pollenkorn dem Wurzelpol entspricht
und der Embryosack dem Sprosspol. Dieses Verhältnis zueinander spiegelt
sich in der Gestalt des Staub- bzw. des Fruchtblattes.
Das Pollenkorn keimt auf der Narbe, anschließend wächst der Pollen-
schlauch hinunter zur Samenanlage. Auf dem Weg dorthin wird der männ-
liche Gametophyt durch das Gewebe, das den Griffel auskleidet, ernährt.
Interessant ist, dass sowohl die Wurzelhaarbildung als auch die Bildung des
Pollenschlauches angewiesen sind auf das richtige Funktionieren eines «TIP»
genannten Gens (Schiefelbein / Benfey 1994).
14
Die Polarität von Frucht- und Staubblatt äußert sich in der Umhüllung
der Samenanlagen durch das Fruchtblatt, in der Ernährung des Embryos
und damit zusammenhängend in der Bildung von Blattgrün. Beim Staub-
blatt fällt die Hinfälligkeit auf, das fehlende Blattgrün und die endogene
Veranlagung der Pollenkörner. Von dieser Charakterisierung zu der frühe-
ren Charakterisierung des Spross- und des Wurzelpoles ist es ein kleiner
Schritt. Und die Schlussfolgerung, dass der Staubblattkreis dem Wurzel-
und die Fruchtblätter dem Sprosspol entsprechen, liegt nahe. Wir haben es
mit einer Spiegelung des Wurzelpoles im Staubblattpol und des Sprosspoles
im Fruchtblattpol zu tun, wobei die Grundlage des Staub- und des Frucht-
blattes das Blatt ist. Auch wenn der Wurzelpol sich im Staubblattpol spie-
gelt, so sind die Staubblätter in erster Linie Blattorgan.
Von einer plumpen Verwandlung des einen in das andere Organ, von der
Wurzel in das Staubblatt, kann nicht die Rede sein. Ich betone das hier, weil
Goethe gelegentlich unterstellt wurde, der Auffassung zu sein, dass bei der
Blattmetamorphose buchstäblich das eine in das nächste Blatt verwandelt
wird.
15
Mit dieser Betrachtung konkretisiere ich die innere Verwandtschaft,
14 Bereits früher habe ich auf diese Tatsache hingewiesen (Schilperoord 2000). Dort findet
sich noch ein weiteres Beispiel von Ridge (1995) für die Wachstumsrichtung von
Pollenschlauch und Wurzelhaaren.
15 Die englische Morphologin Arber (1948, S. 74) vertrat die Meinung, Goethe habe sich
nicht deutlich ausgedrückt, weswegen die Kritik von Jaeger aus dem Jahre 1814
gerechtfertigt gewesen sei.
67
die Goethe andeutete: «… die beiden Geschlechter werden uns nur zuletzt
aus dieser ersten und einfachsten Hervorbringungsart erklärlich werden.»
Der wesentliche Punkt an dieser Stelle der Betrachtung ist die Unter-
scheidung zwischen den blattbildenden und den geschlechtszellenbildenden
Anlagen, die gemeinsam an der Staub- und Fruchtblattbildung beteiligt
sind. Staub- und Fruchtblatt sind das Ergebnis von zwei sich gegenseitig
durchdringenden Organbildungsprozessen.
Offen bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Staub- und Fruchtblatt
zum Stängelblatt. Spiegelt sich die organische Entzweiung, die im Staub-
und Fruchtblatt zum Ausdruck kommt, in einem unterschiedlichen Verhält-
nis zum Stängelblatt?
Die Vermutung liegt nahe, dass die Blattspreite Grundlage für das Frucht-
blatt und der Blattgrund Grundlage für das Staubblatt ist. Mit dieser Hypo-
these habe ich mich sehr lange befasst. Sie setzt voraus, dass die Spreite
praktisch ohne oder mit stark reduziertem Blattgrund gebildet werden kann.
Diese Ansicht fand ich bei Hagemann (1984b) bestätigt. Er schrieb: «Because
the carpel has lost its vegetative functions, it no longer needs to be exposed,
and hence, the leaf base and leaf petiole may be extremely reduced. As a
result, the leaf blade comes into close contact with the shoot apical Meri-
stem.» Die Sumpfdotterblume zeigt diese Tendenz im oberen Blattbereich,
wo die Spreite noch voll ausgebildet ist und der Stängel die Aufgabe des
Blattstieles übernommen hat. Weder im «Strasburger Lehrbuch der Bota-
nik» (1991) noch in Weberlings «Morphologie der Blüten und der Blüten-
stände» (Weberling 1981) findet allerdings eine eindeutige Zuordnung von
Spreite und Blattgrund zu Frucht- und Staubblatt statt, obwohl bei Weberling
ausreichend Beispiele gezeigt werden, die die Zuordnung plausibel machen.
Der Grund dafür ist die von Weberling ausführlich behandelte These, dass
sowohl das Staub- als auch das Fruchtblatt eine gemeinsame Grundlage
aufweisen. Beide Organe seien verwandelte Schildblätter. In Nachfolge von
Weberling hat Sitte diese These aufgegriffen und im «Strasburger Lehrbuch
der Botanik» in etwas veränderter Form wiedergegeben. Sie geht zurück auf
die Arbeiten von Baum (1949, 1951) und Leinfellner (Leinfellner et al. 1959),
die um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstanden. Es standen also
zwei sich widersprechende Thesen im Raum, denn wenn das Staubblatt aus
der Anlage eines Schildblattes hervorgeht, ist es nicht der Blattgrund, son-
dern die Spreite, die die Grundlage bildet.
Peer Schilperoord
68
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Kunze (1978) hat sich mit den Arbeiten von Baum und Leinfellner kritisch
befasst und nachgewiesen, dass das postulierte und schematisch dargestell-
te schildförmige (peltate) Stadium in der Entwicklung des Staubblattes nicht
auftritt. Allerdings fanden seine Erkenntnisse nicht den Weg in die Lehrbü-
cher.
16
Zum Schluss bleibt noch auf die innige Verwandtschaft hinzuweisen,
die zwischen Kron- und Staubblatt existiert. Es gibt viele Beispiele von
Zwischenformen von Kron- und Staubblatt, die zeigen, wie eine Verringe-
rung der Thekengröße oder gar das Verschwinden einer Theke zu einer
entsprechenden Vergrößerung des Kronblattanteils führt. Kron- und Staub-
blatt sind, wie ich es einmal formuliert habe, die zwei Gesichter eines Or-
gans, quasi ein Januskopf in der Blüte.
Verifizierung
Wesentliche Schlussfolgerungen konnte ich bereits 1997 dank Unterstützung
von Prof. Froebe in der Zeitschrift «Acta Biotheoretica» veröffentlichen. Seit-
dem hatte ich immer wieder die Gelegenheit, meine Schlussfolgerungen zu
überprüfen und möglichen Einwänden auf den Grund zu gehen. So wollte
ich auch meine Ansichten an den Ergebnissen der molekulargenetischen For-
schung über die Blütenentwicklung testen und befasste mich in dieser Zeit
zum ersten Mal mit dem ABC-Modell der Blütenbildung. Die Molekular-
biologen haben sich auf die Hervorrufung von Missbildungen bei Pflanzen
spezialisiert und die bekannte Palette wesentlich ausgeweitet. Goethe hat
betont, wie wichtig für ihn die unregelmäßige Metamorphose ist, wie seine
Beispiele der durchgewachsenen Rose, der durchgewachsenen Nelke und
der gefüllten Blüten zeigen. Die erste noch oberflächliche Begegnung mit
den Ergebnissen der molekulargenetischen Forschung war insofern beruhi-
Abb. 17: Ableitung von Frucht- und Staubblatt aus
der schildförmigen Stängelblattanlage, wie sie von
Weberling (1981) und Sitte (1991) besprochen
wurde; Schema der Entwicklung typischer
Staubblätter (A–C) und Fruchtblätter (D–F) bei
den Angiospermen; Vorderansichten und
Längsschnitte (grau) (Sitte 1991, teilweise auch
nach Payer, Baum und Leinfellner); Kunze (1978)
wies nach, dass das Stadium A während der
Staubblattontogenese nicht auffindbar ist
16 Geht man davon aus, dass die Thekenbildung nicht auf das Konto des Blütenmeristems
geht, sondern aus einem neuen, eigenständigen Meristem hervorgeht, dann macht
man nicht den Fehler, die Theken als Teil der Blattbildung zu interpretieren.
A
BC
DE F
69
gend, als meine These, dass das Fruchtblatt die Spreite und das Staubblatt
den Blattgrund als Unterlage für ihre Bildungen verwenden, nicht widerlegt
wurde. Bestätigt wurde die These allerdings auch nicht.
Seit zwei Jahrzehnten wird an den genetischen Grundlagen intensiv ge-
forscht und das ABC-Modell ist inzwischen zum ABCDE-Modell der Blüten-
bildung erweitert worden. Erstaunlich ist, dass über die Blattbildung relativ
wenig bekannt geworden ist. Die genetischen Grundlagen der Gliederung
des Blattes in Spreite, Stiel, Blattgrund und Stipeln sind nicht bekannt. We-
sentliche Erkenntnisse gab es zur Bildung der adaxial/abaxialen Polarität des
Blattes (Oberseite = adaxial, Unterseite = abaxial). Seit der wegweisenden
Arbeit von McConnell und Barton (1998) über die Phabulosa-Mutanten, bei
denen die Pflanzen nicht mehr in der Lage sind, die Blattunterseite zu bilden,
hat es weitere interessante Ergebnisse gegeben. Bei den Vorbereitungen für
ein Referat über «Goethes Metamorphose der Pflanzen und die moderne
Pflanzengenetik» hatte ich die Möglichkeit, mich vertieft mit den Ergebnis-
sen der Molekularbiologie auseinanderzusetzen (Schilperoord 2005).
Inzwischen lässt sich die Blattnatur der Staubblätter auf Grund der
adaxial/abaxialen Polarisierung des Konnektivs und des Filamentes nach-
weisen (Mc Connell/Barton 1998). Für die Polarisierung ist die Pflanze auf
eine Vielzahl von Genen angewiesen, die ebenfalls an der Instandhaltung
der Polarität bei den Stängelblättern beteiligt sind.
Widerspruch
Hagemann hat eine andere Sicht auf die Natur des Staubblattes als die hier
vorgebrachte. Er fasst die Staubblattröhre der Malvengewächse und die Adel-
phien der Johanniskräuter als Blattorgane auf, die auf ihrer ventralen Seite
Sporangien (Stamina) bilden. Bei den alleinstehenden Stamina nimmt er an,
dass diese auf der Rückseite eines Blatthockers stehen. Diese Auffassung
teile ich nicht, weil in der Ontogenese der einzelstehenden Staubblätter die
für das Blatt so typische Dorsiventralität auftritt; auch bei den filamentösen
Staubblättern im Bereich des Konnektivs, das die beiden Theken und das
Filament miteinander verbindet. Staubblattröhre und der basale Teil der
Adelphien entsprechen meiner Ansicht nach einer lokalen Vergrößerung des
Blütenbodens. Das ist ein Beispiel für ein Thema, das noch nicht zu Ende
diskutiert ist.
Literatur
Arber, Agnes (1946): Goethe’s Botany. Chronica Botanica, Bd. 10, Nr. 2.
Baum, Hermine (1949): Beiträge zur Kenntnis der Schildform bei den Staubblättern.
Österr. Botan. Zeitschrift 96, H. 3–4, S. 453–466.
Baum, Hermine (1951): Die Bedeutung der diplophyllen Übergangsblätter für den
Bau der Staubblätter. Österr. Botan. Zeitschrift 99, S. 228–243.
Peer Schilperoord
70
ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT 86 2007
Bockemühl, Jochen (1964): Der Pflanzentypus als Bewegungsgestalt. Elemente d. N. 1,
S. 3–11.
Bockemühl, Jochen (1966): Bildebewegungen im Laubblattbereich höherer Pflanzen.
Elemente d. N. 4, S. 7–23.
Bockemühl, Jochen (1967): Äußerungen des Zeitleibes in den Bildebewegungen der
Pflanze. Elemente d. N. 7, S. 25–30.
Bockemühl, Jochen (1970): Staubblatt und Fruchtblatt. Elemente d. N. 13, S. 12–24.
Bowman, John (Hg.) (1994): Arabidopsis. An Atlas of Morphology and Development.
New York.
Goethe, Johann Wolfgang von (1790): Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu
erklären. Gotha.
Hagemann, Wolfgang (1970): Studien zur Entwicklungsgeschichte der Angio-
spermenblätter. Bot. Jb. 90/3, S. 297–413.
Hagemann, Wolfgang (1984a): Die Baupläne der Pflanzen. Heidelberg.
Hagemann, Wolfgang (1984b): Morphological aspects of leaf development in ferns
and angiosperms. In: White, Richard A., Dickison William C.: Contemporary
problems in plant anatomy. Orlando, Fla.
Hagemann, Wolfgang, Gleissberg, Stefan (1996): Organogenetic capacity of leaves:
the significance of marginal blastozones in angiosperms. Pl. Syst. Evol. 199,
S. 121–152.
Hofmeister, Wilhelm (1851): Vergleichende Untersuchungen der Keimung, Entfaltung
und Fruchtbildung höherer Kryptogamen (Moose, Farne, Equisetaceen,
Rhizocarpeen und Lycopodiaceen) und der Samenbildung der Coniferen. Leipzig.
Kuhn, Dorothea (1964): Goethe, die Schriften zur Naturwissenschaft. Erste Abteilung:
Texte, Bd. 10: Aufsätze, Fragmente, Studien zur Morphologie. Weimar.
Kunze, Henning (1978): Typologie und Morphogenese des Angiospermen-Staubblattes.
Beitr. z. Biologie der Pflanzen 54, S. 239–304.
Leinfellner, Walter (1959): Petaloid verbildete Staubblätter von Narcissus als ein weiteres
Beispiel für die Umbildung diplophyller in sekundär schlauch- oder schildförmige
Spreiten. Österr. Botan. Zeitschrift 107, S. 39–44.
McConnell, Jane R., Barton, Kathryn M. (1998): Leaf polarity and meristem formation.
Development 125, S. 2935–2942.
Ridge, Robert W. (1995): Recent development in the cell and molecular biology of
root hairs. Journal of Plant Research 108, S. 399–455.
Rutishauser, Rolf, Sattler, Rolf (1985): Complementarity and heuristic value of
contrasting Models in structural botany. Bot. Jahrb., Syst. Bd. 107, S. 415–455.
Schiefelbein, John W., Benfey, Philip N. (1994): Root development in Arabidopsis. In:
Meyerowitz, Elliot M., Sommerville, Christopher E. (Hg.) (1994): Arabidopsis.
Cold Spring Harbor.
Schilperoord-Jarke, Peer (1997): The concept of morphological polarity and its
implication on the concept of the essential organs and on the concept of the
organisation of the dicotyledonous plant. Acta Biotheoretica, S. 51–63.
Schilperoord-Jarke, Peer (2000): Goethes Metamorphose der Pflanzen und die moderne
Pflanzengenetik. In: Heusser, Peter (Hg.): Goethes Beitrag zur Erneuerung der
Naturwissenschaften. Bern et al.
Schilperoord, Peer (2002): Zum Typus des Blattes. Laubblattmetamorphose,
Gegenläufigkeit und Verjüngungstendenz, eine kritische Analyse. Elemente
d. N. 76, S. 61–72.
71
Schilperoord, Peer (2005): Modelling the plant, Goethe and molecular genetics. In:
Harlan, Volker (Hg.): Wert und Grenzen des Typus in der botanischen
Morphologie. Nümbrecht.
Scott, Rod J., Spielman Melissa, Dickinson Hugh G. (2004): Stamen structure and
function. The Plant Cell, Bd. 16, S46–S60, Ergänzungsband. http://
www.plantcell.org/cgi/content/full/16/suppl_1/S46.
Sitte, Peter (1991): Morphologie und Anatomie der Sprosspflanzen. In: Sitte, P. et al.:
Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. Stuttgart.
Sitte, Peter et al. (1991): Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. Stuttgart.
Steiner, Rudolf (1926): Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen
Gebiete zur Astronomie. 9. Vortrag vom 9.1.1921, 2. Aufl. 1983, Dornach, GA
323.
Steiner, Rudolf, Wegman, Ita (1925): Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst
nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Dornach, GA 27.
Troll, Wilhelm (1926): Goethes morphologische Schriften. Jena.
Troll, Wilhelm (1928): Organisation und Gestalt im Bereich der Blüte. Berlin.
Troll, Wilhelm (1937): Vergleichende Morphologie der höheren Pflanzen. Bd. 1:
Vegetationsorgane, Teil 1. Koenigstein/Taunus.
Troll, Wilhelm (1939): Vergleichende Morphologie der höheren Pflanzen. Bd. 1:
Vegetationsorgane, Teil 2. Koenigstein/Taunus.
Troll, Wilhelm (1943): Vergleichende Morphologie der höheren Pflanzen. Bd. 1:
Vegetationsorgane, Teil 3. Koenigstein/Taunus.
Troll, Wilhelm (1984): Gestalt und Urbild. Gesammelte Aufsätze und Grundfragen
der organischen Morphologie. Köln, Wien.
Weberling, Focko (1981): Morphologie der Blüten und der Blütenstände. Stuttgart.
Weisstein, Eric W. (2007): «Cassini Ovals». From MathWorld. A Wolfram Web Resource.
http://mathworld.wolfram.com/CassiniOvals.html.
Peer Schilperoord
Hauptstraße 16
CH 7492 Alvaneu Dorf
schilperoord@bluewin.ch
Peer Schilperoord