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Michael Hofmann, Dieter Rink
Vom Arbeiterstaat zur de-klassierten Gesellschaft?
Ostdeutsche Arbeitermilieus zwischen Auflösung und Aufmüpfigkeit
1. Das Verschwinden der Arbeiter aus dem öffentlichen Diskurs
Unmittelbar nach der deutschen Vereinigung wurde die DDR von einigen westlichen Beobachtern als eine
vom „gesellschaftsweiten Kleinbürgertum“ geprägte Gesellschaft beschrieben (Giesen/Leggewie 1991).
Diese soziologische Provokation löste heftige Kontroversen aus, stellte sie doch die – weithin auch
verinnerlichte – Selbstbeschreibung des Landes als „Arbeiter- und Bauern-Staat“ grundsätzlich in Frage. Das
Gros der sozialwissenschaftlichen Literatur nahm dagegen auch in den 1990er Jahren den Kern der
ehemaligen Selbstbeschreibung auf und sprach von „Arbeiter-“ bzw. „Facharbeitergesellschaft“ oder auch
von „arbeiterlicher Gesellschaft“ (Engler 2000). Schon bei den ersten empirischen Untersuchungen der
ostdeutschen Gesellschaft wurde festgestellt, dass die Arbeitermilieus einen quantitativ bedeutenden, ja
dominierenden Teil der DDR-Gesellschaft und zugleich auch einen großen Teil der gesellschaftlichen Mitte
Ostdeutschlands ausgemacht hatten (Burda und Sinus 1993). Folgerichtig spielten sie in den
Transformationsanalysen Ostdeutschlands namentlich in den ersten Jahren nach der deutschen Vereinigung
eine zentrale Rolle. Freilich trat dabei schnell zutage, dass sich hinter der Fassade der Heroisierung der
Arbeiter in der DDR und der Propagierung ihrer Werte die weitere Zerstörung ihrer Autonomie und die
Auflösung ihrer Milieustrukturen abgespielt hatten (vgl. Hofmann/Rink 1993).
Aus den aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatten und den Situationsbeschreibungen Ostdeutschlands
sind die Arbeiter als Strukturkategorie inzwischen weitgehend verschwunden
1
. Sie tauchen noch als
historische Reminiszenz auf oder dienen als Bezugsfolie für die Erklärung von negativen
Begleiterscheinungen des Transformationsprozesses wie Rechtsradikalismus oder Ausländerfeindlichkeit
2
.
Das Verschwinden der Arbeiter als beschreibende Strukturkategorie speist sich im Wesentlichen aus einer
realen Entwicklung: der weitgehenden De- bzw. Entindustrialisierung in Ostdeutschland. Selbst in den
wenigen Erfolgsgeschichten des „Aufbau Ost“ kommen Arbeiter nicht vor, sie sind vielmehr neuen
Unternehmern, Software-Pionieren oder Ich-AG`s vorbehalten. „Arbeiter“ scheint es überhaupt nicht mehr
zu geben, geht man nach den
Medienberichten, dann sind sie entweder verrentet oder in
Sozialkarrieren
abgeglitten. Die wenigen verbliebenen Industriearbeiter sind keine eigenen Analysen mehr wert, für die
1
Ausnahmen bilden die Analyse moderner Arbeitsstrukturen im Chemiepark Bitterfeld von Regina Bittner (Bittner
1998) und die sozialhistorisch fundierten Texte von Berthold Vogel über die ostdeutschen Arbeiter (1999) sowie über
die Leiharbeit (2004).
2
Dadurch haben die ostdeutschen Arbeiter im öffentlichen Bewusstsein einen Großteil ihrer ehedem hohen Reputation
eingebüßt. Verunglimpfungen, z.B. als „ rasender Mob“ (Bittermann 1993), ziehen sich durch die Literatur. Wenn
überhaupt, dann wird die ostdeutsche Arbeiterschaft heute als dumpfe ressentimentgeladene Masse dargestellt – ein
Bild, das durch die Wahlerfolge der NPD in Sachsen und der DVU in Brandenburg im Herbst 2004 neuerlich Nahrung
erhalten hat.
neuen prekären Zeit- und Gelegenheitsarbeiter kommt man auch ohne den Rekurs auf eine strukturelle
Großkategorie aus. Hierfür sind auch die Sinus-Milieus ein instruktives Beispiel, in den aktuellen
Milieubildern sucht man etwa vergebens nach dem Begriff „Arbeiter“ (vgl.: http://www.sinus-
sociovision.de). Auch die Sozialwissenschaften folgten im Wesentlichen dieser Themenkonjunktur,
ostdeutsche Arbeiter finden hier seit einigen Jahren kaum noch nennenswerte Beachtung. Nach den z. T.
umfangreichen Analysen in den ersten Jahren nach der Wende brach dieses Forschungsfeld etwa 1996/97
fast vollständig ab
3
. In den aktuellen Debatten finden sich bestenfalls noch kurze Verweise – so etwa im
Schrumpfungsdiskurs der Stadtsoziologen (Kil 2004). Damit wiederholt sich freilich für Ostdeutschland nur
die Ausgrenzung der Arbeiter aus dem Focus der Sozialwissenschaften, die man spätestens seit Mitte der
1990er Jahre beobachten kann (vgl. auch Groh-Samberg in diesem Band)
4
.
Während dieser Umstand für die Sozialwissenschaften bislang folgenlos bleibt, fragt sich aber, welche
Folgen das Verschwinden der Arbeiter aus dem öffentlichen Diskurs für die Selbstbeschreibung der
ostdeutschen Gesellschaft hat. Denn eine Mittelschichtgesellschaft nach westdeutschem Vorbild ist in
Ostdeutschland jedenfalls bislang nicht entstanden. Wer ist aber an die Stelle der Arbeiter als zentraler
sozialer Figur getreten? Welche neue Selbstbeschreibung könnte für die ostdeutsche Gesellschaft
identitätsstiftend sein? Die (Selbst)Beschreibung als Klassengesellschaft ist obsolet, die als
Schichtgesellschaft wird als westliche Zuschreibung eher abgelehnt, obwohl sich die Selbstzuordnung im
Schichtgefüge langsam in westliche Richtung bewegt. Dieselbe Frage stellt sich auch für die
Sozialwissenschaften: in welchen Begriffen kann die soziale Ungleichheit der ostdeutschen Teilgesellschaft
überhaupt erfasst werden? Machte es für die DDR durchaus Sinn von einer Arbeiterklasse zu sprechen (vgl.
insbes. Solga 1995), so haben die Prozesse der Deindustrialisierung den Klassencharakter der Arbeiter als
sozialer Gruppe in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund erlangen die Ausdifferenzierungen der
Arbeitermilieus eine neue Bedeutung. Möglicherweise können wir aus der Analyse der Arbeitermilieus
etwas über die Restrukturierung sozialer Ungleichheit erfahren und die Richtung bestimmen, in die die Reise
geht.
2. Ostdeutsche Arbeitermilieus nach der Wende
Es war Michael Vester, der die Milieuanalyse als Teil einer historisch angelegten Sozialstrukturanalyse
etabliert hat und von dem die Autoren ihr konzeptionelles Handwerkszeug in der Milieuforschung gelernt
haben. Die Milieuanalyse steht bei Michael Vester und seiner Gruppe nicht für eine losgelöste
Lebensstilforschung, die nur auf kulturelle Unterschiede abhebt. Sie interessieren sich, durchaus in der
3
Seitdem lässt sich freilich ein Anschwellen der Literatur über die Geschichte der Arbeitermilieus in der SBZ bzw.
DDR beobachten bzw. wurde das Forschungsfeld an die (Zeit)Historiker übergeben (Alheit/Haack 2004,
Hübner/Tenfelde 1999, Kleßmann 2003, Roesler 1997a+b, Schüle 2001).
4
Die Autoren wollen freilich weiterhin von Arbeitern sprechen. Trotz der hohen strukturellen Arbeitslosigkeit in
Ostdeutschland sind Frauen und Männern mit einer Facharbeiterausbildung auf die Wirtschaftsrolle festgelegt, unter
körperlicher Anstrengung (Handarbeit) in funktionsteilig eng umrissenen Tätigkeiten, weisungsgebunden für Lohn zu
arbeiten und rangieren auf der gesellschaftlichen Prestigeskala auf einem niedrigen Rang. Diese Merkmale, die für die
Erfahrungen der Arbeiter wichtig sind, treffen nach wie vor zu.
Tradition einer politischen Soziologie, für die Verknüpfung von Arbeitsteilung, Herrschaft, Institutionen und
Geschichte als den verschiedenen Dimensionen des sozialen Raumes (nach Bourdieu). So können die
Handlungsoptionen sozialer Akteure mit den Veränderungen in den sozialen Feldern abgeglichen werden.
Soziale Milieus konstituieren sich nach Vesters Konzept nicht einfach durch kulturelle Lebensstile, sondern
durch den sozialen Raum, in dem sie agieren und in dem sie sich durch ihre Sozialbeziehungen,
Abgrenzungen und Gruppenkämpfe als historische Nachfahren der sozialen Klassen, Stände und Schichten
erweisen. Im Buch „Soziale Milieus in Ostdeutschland“ ordnet Michael Vester die lebensweltlichen
Sozialmilieus Ostdeutschlands auf der Basis der Sinus Daten von 1991 erstmals ein (vgl. Vester 1995). Er
identifiziert drei ostdeutsche Arbeitermilieus und stellt ihren „engen sozialen Zusammenhalt“ (ebd., S. 16)
fest. Das „Traditionsverwurzelte Arbeiter- und Bauernmilieu“ (27%), das „Traditionslose Arbeitermilieu“
(8%) und auch das in den 1970er Jahren neu entstandene „Hedonistische Arbeitermilieu“ (5%) grenzt Vester
mit einem relativ einheitlichen ostdeutschen Arbeiterhabitus vom vorwiegend traditionell und
kleinbürgerlich geprägten Mittelklassenhabitus und dem (bürgerlich-humanistischen) Oberklassenhabitus der
Bildungsaufsteiger der DDR ab. Damals war es Michael Vester wichtig, trotz differenter
Habitusstammbäume der Arbeitermilieus ihre einheitliche soziale relationale Klassenzugehörigkeit
hervorzuheben. In einer, für 1997 berechneten, hypothetischen Landkarte der sozialen Milieus in
Ostdeutschland ordnen Vester et. al. (2001, S.51) dann hingegen das stark geschrumpfte „Traditionelle
Arbeitermilieu“ den unteren Mittelschichten zu und betonen die eigenverantwortlichen Orientierungen in
diesem Milieu. Das „Hedonistische Arbeitermilieu“ hingegen, das inzwischen im „Modernen
Arbeitnehmermilieu“ aufgegangen ist, wird in der oberen Mitte verortet Vester et. al., ebd. Allein das
„Traditionslose Arbeitermilieu“ (dessen Bezeichnung jetzt in „Traditionsloses Arbeitnehmermilieu“ (vgl.
ebd.) verändert wurde) wächst am unteren Ende des sozialen Raumes, unterhalb der Grenze der
Respektabilität. Das „Traditionslose Arbeitermilieu“ besitzt einen Habitus der Notwendigkeit und verfügt
über vielfältige, von autoritären bis zu modernen Orientierungen. Die lebensweltlichen Unterschiede oder
horizontalen Differenzen im „Traditionslosen Arbeitermilieu“ erschweren den Milieuzusammenhalt, so dass
sogar gefragt werden muss, ob das „Traditionslose Arbeitermilieu“ als geschlossenes Milieu angesehen
werden kann oder ob es nicht vielmehr in verschiedene Szenen oder Teilmilieus zerfällt
5
Es ist eine
wachsende, auf Gelegenheitsstrukturen angewiesene Lebenswelt, die von Vester et. al. auch in den anderen
europäischen Gesellschaften identifiziert werden (z. B. British Poor). Konzeptionell deutet Vester hier die
Auflösung des ehemals engen sozialen Zusammenhalts der Arbeitermilieus in Ostdeutschland an. Das
Traditionslose Arbeitermilieu, dessen „Lage in der Nachkriegsentwicklung teilweise deutlich stabilisiert
worden ist“, ist „teilweise in seinen alten Teufelskreis von geringer Qualifikation und geringen Aussichten,
seine Lage durch eigene Anstrengungen zu verbessern, zurückgekehrt“ (ebd., S. 42).
5
Michael Vester und seine Gruppe unterteilen zum Beispiel das Traditionslose Arbeitermilieu Westdeutschlands in
drei Teilmilieus: die Unangepassten, die Resignierten und die Statusorientierten (Vester et. al. 2001, 49)
Hier das Milieubild Ostdeutschland 1997 nach Sinus und Vester (Vester et. al. . 2001, 51)
Daran anknüpfend soll im Folgenden zunächst einigen Fragen nachgegangen werden, die sich auf die Größe,
Zusammensetzung und Form der existierenden ostdeutschen Arbeitermilieus beziehen: Hier interessiert
etwa, von welchen Konfliktlinien die aktuelle Milieukonfiguration geprägt ist? Ist die alte Abgrenzungslinie
zwischen den traditionsbewussten, stolzen (Fach)Arbeitern und den traditionslosen Arbeitern wieder
aufgebrochen oder ist sie als Folge der Deindustrialisierung obsolet geworden? Und welche Folgen hat die
Schrumpfung bzw. das Verschwinden der Arbeitermilieus für die ostdeutsche Milieustruktur? Sodann soll
gefragt werden, wie die Arbeiter darauf reagieren: Folgt der Abwertung in der Öffentlichkeit eine
Selbstentwertung? Konnten sich die Arbeiter auf die neuen unsicheren Verhältnisse durch einen Rückzug auf
den Habitus der Notwendigkeit bzw. die Flexibilisierung ihrer Lebensstile einstellen?
Bevor jedoch auf die Transformationsprozesse der 1990er Jahre eingegangen wird, soll zum besseren
Verständnis ein kurzer Blick auf die Geschichte der ostdeutschen Arbeitermilieus geworfen werden. Das
Verschwinden des Traditionellen Arbeitermilieus aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hat eine lange
Vorgeschichte, die hier nur skizzenhaft nachgezeichnet werden kann.
3. Persistenz, Eigensinn und Enttraditionalisierung: Zur Geschichte der
ostdeutschen Arbeitermilieus im Sozialismus
Im Arbeiterstaat DDR genoss „die herrschende Arbeiterklasse“ einen privilegierten ideologischen Status.
Die Industriepolitik führte in den ersten DDR-Jahrzehnten trotz Enteignung autonomer
Arbeiterorganisationen und dem breiten Zustrom entwurzelter Arbeiter und Landarbeiter zu einer Integration
und Stärkung der Arbeitermilieus. Dies galt in besonderem Maße für die eher traditionslosen
Arbeitermilieus, die in der DDR als „Randbelegschaften“ großer Industriekombinate gute Chancen auf
Integration besaßen. Durch den chronischen Arbeitskräftemangel und die sozialpolitischen Grundsätze
(„keinen zurücklassen“) gelang den unteren Arbeitermilieus eine Stabilisierung und Verbesserung ihrer
lebensweltlichen Verhältnisse. Damit konnte der alte Konflikt innerhalb der Arbeitermilieus zwischen
traditioneller Arbeiterschaft und Gelegenheitsorientierten- oder eben traditionslosen Arbeitern, so wie er sich
bis in die 1930er Jahre hinein teilweise als Konflikt zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen
Arbeitern manifestierte, zumindest oberflächlich befriedet werden
6
. Die traditionellen Arbeiter übernahmen
dabei teilweise Aufsichts- und Kontrollfunktionen gegenüber den Traditionslosen, die in das paternalistische
System der DDR eingebunden waren. Die verschiedenen Arbeitermilieus partizipierten – freilich in
unterschiedlichem Maße – an den Integrationsangeboten des Arbeiterstaates (vgl. zum Folgenden auch
Hofmann/Rink 1993). In den Betrieben und neuen sozialistischen Kombinaten der DDR richteten sich die
6
.Die Konfliktlinie zwischen den traditionellen und den traditionslosen Arbeitern wird vor allem durch die
Disziplinierungen und Sanktionen traditioneller Arbeiter gegenüber traditionslosen im kollektiven Arbeitsprozess
markiert. Zur Geschichte der ostdeutschen Arbeitermilieus und zur Unterscheidung zwischen traditionellem und
traditionslosem Arbeitermilieu siehe: Vester/Hofmann/Zierke 1995
Facharbeiter als „Hausbewohner“ ein. Die Organisation der Arbeiterschaft in Brigaden, die bis in die Freizeit
hinein reichte, schuf eine milieutypische kumpelhafte Kollegialität, von der bis heute nostalgisch berichtet
wird.
Mit den Arbeiterprotesten 1953 endeten auch die öffentlichen und autonomen Protestformen der Arbeiter in
der DDR. Peter Alheit und Hanna Haack haben am Beispiel der Rostocker Werftarbeiter gezeigt, dass die
politische Schockwirkung der Arbeiteraufstände 1953 auf die SED auch zu einem Burgfrieden zwischen den
Herrschenden und der Arbeiterschaft in den Norm- und Lohnfragen führte. Zwar gab es in der DDR-
Arbeiterschaft noch bis in die 1970er Jahre hinein Revolten und kleinere Streiks, sie entbrannten aber vor
allem bei Versorgungsengpässen wie im „Kaffeestreik“ von 1976. Nach 1953 hütete sich die Parteiführung,
den Leistungs- und Rationalisierungsdruck auf die Industriearbeiter konsequent zu erhöhen. Horst Kern und
Rainer Land haben das Funktionieren der „Normerfüllungspakte“ wie folgt beschrieben: Die Arbeiter hatten
innerbetrieblich eine relativ starke informelle Verhandlungsposition, die eine Art Stillhalteabkommen
zwischen den Arbeitern und der politischen Führung ermöglichten. In den ersten beiden Jahrzehnten der
DDR, zumal nach dem 17. Juni 1953 waren die Arbeiter der „Angstgegner“ des Systems. Sie zu
disziplinieren und zu gewinnen, prägte die DDR-Politik (vgl. Kern/Land 1991). Das, was Wolfgang Engler
als „arbeiterlich“ beschreibt, zielt auf das „soziale Zepter“, das die traditionellen Arbeiter im Windschatten
dieser Politik errangen: „Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten
und nicht zuletzt die Alltagssitten richteten sich nach den Normen und Idealen der arbeitenden Klasse“
(Engler 2000, 200).
In letzen beiden DDR-Jahrzehnten begann allerdings die kulturelle Dominanz des Traditionellen
Arbeitermilieus bereits zu schwinden. Die traditionellen Arbeiter verloren durch fehlende
Industrieinvestitionen, den starken Verfall der Infrastrukturen in den Betrieben und den angestammten
Arbeiterwohnvierteln an öffentlicher Reputation. Die ehedem geringen Lohn- und
Leistungsdifferenzierungen zwischen der sozialistischen Intelligenz und den Arbeitern veränderten sich
zuungunsten der Arbeiter, wodurch soziale Ungleichheiten wieder spürbarer wurden. Der sozialistische
Paternalismus verlor in den Grundstoffindustrien an Boden, denn die Honeckersche Industriepolitik
konzentrierte sich zunehmend auf so genannte moderne Schlüsselindustrien. Davon erhoffte sich die DDR
Exporterlöse und Modernisierungen mit ideologischer Wirkung. Hier, auf diesen wenigen
Modernisierungsinseln der DDR-Industrie wurde auch eine neue Generation von Arbeitern herangebildet:
hoch qualifizierte Facharbeiter, die von ihren Eltern das traditionelle Arbeitsethos übernahmen, aber in den
Lebensstilen und Freizeitorientierungen am Wertewandel und den Konsumorientierungen der 1970er Jahre
teilhatten. Auf diese hedonistischen Arbeiter zielte vor allem die Honeckersche Sozialpolitik (Wohnungen
und soziale Vergünstigungen für junge Arbeiterfamilien). Aber diese modernen Arbeiter konnte die DDR
ideologisch nicht mehr an sich binden und lebensweltlich nicht mehr integrieren. Sie zählen zu jenem
Personenkreis mit den höchsten Quoten der Antragstellung auf Ausreise aus der DDR (Fritze 1992). Ihre
modernen industriellen Qualifikationen entsprachen durchaus dem Branchenstandard im Westen.
In den traditionellen Industrien der DDR hingegen verschlechterte sich die Qualität der Arbeitsbedingungen
in den 1980er Jahren geradezu dramatisch (Marz 1992). Die unzureichende Modernisierung und
Vernachlässigung der Schwer- und Grundstoffindustrien und des Maschinenbaus raubte den Arbeitern in
diesen Betrieben sukzessive ihre Respektabilität. Damit untergrub das System freilich langfristig seine
eigene Legitimität, die zwar von den Arbeitern nicht mehr (wie noch 1953) und noch nicht wieder (wie dann
1989) grundlegend in Zweifel gezogen, dafür aber stillschweigend aufgekündigt wurde. Bezogen auf die
eigenen Berufsperspektiven und die der Kinder äußerte sich dies in zunehmender Verunsicherung und
Skepsis. Der deutlichste Ausdruck dessen war vielleicht, dass die familiären Traditionslinien rissen. In
Einzelstudien konnte der Abbruch der Arbeiter(berufs)dynastien nachgewiesen werden, was als ein Indiz für
das Anwachsen des Traditionslosen Arbeitermilieus interpretiert werden kann (Hofmann 1995a+b). Es ist
sehr wahrscheinlich, dass das traditionslose Arbeitermilieu in den 1980er Jahren bereits zu den zahlenmäßig
wachsenden Milieus gehörte. Die DDR gebar in ihrer Spätphase folglich nicht nur neue Milieus, deren
öffentlicher Ausdruck etwa die Bürgerbewegungen oder die neuen subkulturellen Szenen waren. Durch die
wieder in größere Ferne rückenden Konsum- und Wohlstandsziele, vor allem aber durch die nachlassenden
Leistungen der Sozialpolitik der DDR machten besonders die traditionslosen Arbeiter in den 1980er Jahren
neuerlich Desintegrationserfahrungen. Dies schürte unerfüllte bzw. unerfüllbare Konsum- und
Wohlstandserwartungen, die sich dann 1989/90 offen Bahn brechen sollten.
Die steigende Unzufriedenheit in den traditionellen Arbeitermilieus äußerte sich aber nicht in oppositionellen
Gruppenbildungen wie etwa im alternativen Milieu. Insbesondere die jungen hedonistischen Arbeiter
wandten sich von der DDR ab und wählten dabei zunehmend die „Exit-Variante“, die Ausreise. Junge, gut
ausgebildete Facharbeiter bildeten Ende der 1980er Jahren einen stetig wachsenden Teil der Antragsteller auf
Ausreise, sie leiteten mit ihrer Forderung „Wir wollen raus“ die Proteste ein, die nach kurzer Zeit zum
Zusammenbruch der DDR führen sollten (Hofmann/Rink 1990). Auch die unmittelbar in der Wende 1989/90
einsetzende Übersiedlungswelle von über zwei Millionen Ostdeutschen nach Westdeutschland rekrutierte
sich zu einem großen Teil aus den konsumorientierten jungen Facharbeitern. Die traditionslosen Arbeiter
hatten hingegen viel geringere strukturelle Chancen, sich im Westen zu etablieren und kehrten, wenn sie es
denn überhaupt versucht hatten, oft enttäuscht in den Osten zurück.
In der DDR zeigte die arbeiterliche Gesellschaft in den Protestbewegungen (mit wöchentlich bis zu 300.000
Demonstranten allein in Leipzig) noch einmal ihre kraftvolle Seite. Natürlich verfolgten die traditionellen
und auch die traditionslosen Arbeiter ihre eigenen Interessen in der Wende. Sie wollten in einem vereinten
Deutschland größere Autonomie und einen Anteil am westlichen Wohlstand erringen. So stellten neben den
Vereinigungslosungen traditionelle Arbeiter- und Arbeitsthemen einen Kern der Demonstrationsforderungen
und der Demonstrationsprosa dar. „Stasi in die Volkswirtschaft“ und „Wer Sozialismus will, ist bloß zu faul
zum Arbeiten“ hieß es damals. Allerdings wurde diese arbeitszentrierte Programmatik auch schnell von den
Hoffnungen auf eine neue paternalistische Fürsorge ergänzt: „Helmut nimm uns an die Hand und führe uns
ins Wirtschaftswunderland“. Beide Arbeitermilieus setzten auf die „Allianz für Deutschland“ und sorgten für
eine große Enttäuschung in der deutschen Sozialdemokratie: Im Wahlverhalten knüpften die Arbeiter gerade
in den Industrieregionen Sachsens und Thüringens nicht an ihre großen sozialdemokratischen Traditionen an,
sondern wählten konservativ. Dies ist vielleicht das augenfälligste Indiz für die Enttraditionalisierung
ostdeutscher Arbeitermilieus (vgl. Walter 1991).
4. Deindustrialisierung, Wohlstandswachstum und Marginalisierung: Zur
Entwicklung der ostdeutschen Arbeitermilieus in der Transformation
Die maßgebliche Beteiligung an den Massenprotesten gegen die SED war die letzte bedeutende politische
Bühne, die die ostdeutschen Arbeiter gemeinsam betreten konnten. Für das traditionelle Arbeitermilieu
begann mit der Deindustrialisierung eine unglaublich rasante Verdrängung aus der gesellschaftlichen
Öffentlichkeit. Viele der älteren traditionsverwurzelten Arbeiter glitten in eine abgesicherte Unauffälligkeit
über. Zwar können sie heute in manchem sanierten (kleinen) Plattenbauviertel die Deutungshoheit
behaupten, insgesamt leben sie jedoch zurückgezogen, oft frustriert, in einer Art „Persistenzkonstellation“
(Alheit, Bast-Haider, Drauschke 2004). Zur Unauffälligkeit gerade der traditionellen Arbeiter trägt zudem
bei, dass diese Menschen als Harmoniekünstler ihrer privaten, bescheidenen Lebensverhältnisse gelten
können. Ein Indiz dafür ist z. B. auch das Fehlen großer und öffentlicher Konflikte oder
Generationsauseinandersetzungen.
Ein kleiner Teil der jüngeren ehemals traditionsverwurzelten Arbeiter konnten sich auf den wenigen
Modernisierungsinseln der ostdeutschen Industrie etablieren oder pendelt. Aber viele dieser modernisierten
Arbeiter sind eben aus dem Osten abgewandert. Die, die z. B. noch in Eisenach oder Dresden arbeiten (oder
dorthin pendeln), bilden überdies kein einheitliches Milieu. Insgesamt wissen wir wenig über diese
modernisierten Vertreter der selbstbewussten Arbeiterschaft
7
. Eine offene Frage ist auch, wie sich bei den
Kindern des traditionsverwurzelten Arbeitermilieus der Mentalitätstyp weiterentwickeln wird. Michael
Vester und insbesondere Andrea Lange-Vester haben untersucht, wie sich habituelle Muster und
Mentalitäten über lange historische Zeiträume umstellen und neu formieren und auf diese Weise
„Habitusstammbäume“ bilden. Sie argumentieren, dass sich die Umstellung und Neusortierung dieser
habituellen Muster nicht beliebig vollzieht, sondern in Beziehung zum herkömmlichen Muster steht (vgl.
Lange-Vester 2005). Es ist danach nicht zu erwarten, dass sich die Mentalitätsbestandteile des
Traditionsverwurzelten Arbeitermilieus einfach auflösen werden, selbst wenn das Milieu als Lebenswelt
stark zusammenschrumpft. Ob und in welcher Form das Traditionelle Arbeitermilieu Ostdeutschlands trotz
des Verlustes der industriellen Basis und der Gemeinschaftsstrukturen erhalten bleibt, ist aber bisher
empirisch noch nicht untersucht worden. Es lässt sich vermuten, dass es nach dem Bruch des
Stillhalteabkommens in den 1980er Jahren seit den 1990er Jahren eine zweite „Auflösungswelle“ erlebte. In
der ersten Auflösungswelle zerbrachen die Arbeiterdynastien und die Väter und Mütter rieten ihren Kindern
ab, die Berufstradition in den gleichen Kombinaten wie die Eltern fortzusetzen. In der zweiten
7
In der SINUS-Milieutypologie tauchte in den 1990er Jahren ein Modernes Arbeitnehmer-Milieu auf, was diese
Entwicklungen abbilden sollte. SINUS hat sich aber inzwischen wieder von dieser Milieubezeichnung verabschiedet,
weil es kaum Milieustrukturen (also identifizierbare und abgrenzbare Lebenswelten) für diese modernisierten Arbeiter
gibt.
Auflösungswelle nun geraten die Berufstraditionen selbst auf den Prüfstand. Da die
Facharbeiterqualifikationen entwertet sind, muss in die berufliche Qualifikation der Kinder mehr und anders
investiert werden. Wir vermuten, dass das Traditionelle Arbeitermilieu weiterhin, und wie im Westen bis auf
wenige Prozentpunkte zusammenschrumpfen wird. Die habituellen Muster und die Mentalität der
selbstbewussten Facharbeiterschaft aber werden sich in den Kindergenerationen neu formieren und anpassen.
Die Söhne und Töchter der traditionellen Arbeiter sind nicht mehr unmittelbar in der Produktion tätig,
sondern arbeiten in der Produktionsvorbereitung, in technischen Berufen sowie in Dienstleistungen. Diese
Tätigkeiten verlangen neben technischem Wissen und Können viel Flexibilität und Eigenverantwortung. Bei
der industriellen Restrukturierung nutzten westliche Unternehmen diese Chance für die Einführung neuer
Arbeitszeit und –kooperationsmodelle (vgl. Bittner 1998). Die Arbeit dieser neuen „Arbeitnehmer“ hat
wenig gemein mit den Arbeitsplätzen traditioneller Arbeiter, wie sie ja gerade in der DDR noch Ende der
1980er Jahre zu finden waren. Zumal auch bei den Belegschaften eher junge Berufsfremde genommen als
alte Arbeiter weiter beschäftigt wurden. Damit hielt man sich überkommene Gepflogenheiten und
Traditionen gleich ganz vom Leibe. Der Typus des traditionellen Arbeiters dürfte in diesen Unternehmen
bzw. Unternehmensteilen entweder gar nicht mehr zu finden sein oder die absolute Ausnahme darstellen.
Dennoch werden diese modernen Arbeitnehmer, nach allem was wir über „Habitusstammbäume“ wissen,
dem Lebensmuster der ehrlichen, qualifizierten (Hand)Arbeit, mit der man sein Brot verdient und seine
Familie ernährt, verpflichtet bleiben. Die Arbeitsmarktlage setzt diese Kinder des traditionsverwurzelten
Arbeitermilieus unter starken Druck. Sie können ohne Arbeit nicht in Würde leben und tun alles, einen
qualifizierten Arbeitsplatz zu bekommen und zu behalten. Die Kosten bei den so genannten Gewinnern sind
hoch. Sie pendeln, nehmen mobile Jobs und sogar Leiharbeit in Kauf, qualifizieren sich ständig weiter und
stellen ihre Lebensstrategien stark auf die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen ein. Die Vorstellungen von
einem harmonischen Familienleben, von kollegialer Geselligkeit, aber auch berufliche oder
gewerkschaftliche Emanzipations- und Autonomiewünsche werden zurückgestellt. Diese modernen
Arbeitnehmer haben zum Teil gute Jobs, aber sie leiden oft unter Verunsicherung und Vereinzelung. Auch
deshalb lässt sich nur schwer eine Prognose über die Bildung neuer Arbeitermilieus in Ostdeutschland
abgeben.
Dabei ist die, wenn auch unsichere, Integration in den Arbeitsmarkt keine mehrheitliche Perspektive für die
Kinder des traditionsverwurzelten Arbeitermilieus. Ein größerer Teil der jüngeren Arbeiter Ostdeutschlands
muss sich dauerhaft mit einem prekären beruflichen Status abfinden. Die Rückkehr in eine
Vollzeitbeschäftigung und der Wiedereinstieg in einen kalkulierbaren Berufsweg erweisen sich für viele
Arbeitsuchende als schwierig. Daran ändert auch der bis heute andauernde intensive Einsatz von
Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nichts. Im Gegenteil befürchten viele Arbeitslose, dass
diese Maßnahmen häufig nicht zur Stabilisierung der Erwerbslaufbahn führen, sondern zur Fortsetzung oder
sogar Verstärkung der Instabilität. Und ihre Befürchtungen bestehen zu Recht: Die Verdrängung aus dem
ersten Arbeitsmarkt bedeutet Verlust an Respektabilität. “Hast du noch richtige Arbeit oder bist du in so
einer Maßnahme?“ wird gefragt. Am ostdeutschen Arbeitsmarkt sind regelrechte Maßnahmekarrieren zu
beobachten, die langfristig eben nicht zur Wiedereingliederung, sondern zu einer allmählichen Verdrängung
aus dem Erwerbsleben führen. Ihre industrielle Arbeitskraft wird in Ostdeutschland einfach nicht benötigt.
Das führt sukzessive dazu, dass sie sich aus der Tradition lösen, entwurzelt werden. Wie sich diese weitere,
möglicherweise endgültige Phase der Enttraditionalisierung vollzieht, und welche Folgen dies für die Milieus
und ihre Prinzipien der Lebensführung hat, ist bislang nicht untersucht.
Die SINUS-Milieus eignen sich auch nur bedingt dafür, näheren Aufschluss über diese Zusammenhänge zu
erlangen. Uns erscheint es eher unwahrscheinlich, dass sich die jüngeren Arbeiter grundsätzlich auf
Gelegenheiten oder hedonistische Orientierungen umstellen und ihr Lebensglück nicht mehr von einer
„ehrlichen Arbeit“ abhängig machen. Wenn sich das Moratorium Arbeitslosigkeit aber zur strukturellen
Komponente verfestigt und junge Facharbeiter in Ostdeutschland dauerhaft überflüssig bleiben, wird ihr
Zustrom das traditionslose Arbeitermilieu Ostdeutschlands eventuell stark verändern.
Der Typus des traditionellen Arbeiters konnte in der DDR deswegen seine Dominanz erlangen, weil er
zugleich strukturell in der sozialistischen Produktion, lebensweltlich in seinem Milieu und politisch seitens
der herrschenden Ideologie abgesichert war. Seine fast vollständige Prekarität rührt nun auch daher, dass alle
diese Sicherungen zugleich weggefallen sind. Für diese Prekären gibt es kaum Organisationsformen: sie sind
weder in den Berufsverbänden vertreten noch Mitglieder in den Gewerkschaften, die sich auch nicht für ihre
Belange stark machen. Lediglich Erwerbslosengruppen und Arbeitsloseninitiativen fungieren als
Ansprechpartner und haben ansatzweise in den 1990er Jahren eigene Öffentlichkeits- und Protestformen
entwickelt. Dieser Wandel konnte von den Arbeitern in seinen Ambivalenzen und der Gegensätzlichkeit der
Zumutungen nicht konsistent verarbeitet werden. Er bewirkte noch nicht, wie das Michael Vester
paradigmatisch für die Konstitution der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert gezeigt hat, einen Lernprozess
(vgl. Vester 1970). Vielleicht kann man eher von einer tief greifenden Irritation sprechen, denn eine zentrale
Erfahrung der Prekären besteht darin, dass der Verlust der Arbeit und eine gleichzeitige Steigerung des
persönlichen Wohlstands einander nicht ausschließen müssen. Verlust- und Gewinnerfahrungen sind auf
widersprüchliche Weise verknüpft: Das neue Auto und die Arbeitslosigkeit, die neu eingerichtete Wohnung
und die Gefahr des sozialen Ausschlusses. Die gegenwärtige Paradoxie der ostdeutschen
Arbeitslosigkeitserfahrung besteht darin, dass die entwurzelten Arbeiter dennoch – zumindest für eine
gewisse Phase – am wachsenden Wohlstand teilhaben bzw. teilhatten. Mit der Arbeitslosigkeit gehen
allerdings Handlungssicherheiten (etwa die Orientierung am alten Arbeitsethos) verloren, soziale Bindungen
werden brüchig und Zukunftserwartungen sukzessive fragwürdig.
Der Rückzug und die Entwurzelung der traditionellen Arbeiter in Ostdeutschland hatten aber auch
Auswirkungen auf die traditionslose Arbeiterschaft, die bisher zumindest in den DDR-Industriebetrieben
unter der Hegemonie der alteingesessenen Facharbeiter standen. Die beiden Arbeitermilieus, die durch die
DDR-Politik in eine funktionale Beziehung zueinander gebracht worden waren, gingen in den 1990er Jahren
zunehmend auf Distanz zueinander. Maßgeblichen Anteil daran hatten die zahlreichen
Auseinandersetzungen im Zuge der Deindustrialisierung. In den Konflikten um einen respektablen Abgang
aus der Arbeitswelt zerbrach das Stillhalteabkommen zwischen den beiden Arbeitermilieus. Bei den
Betriebstilllegungen mit ihren Entlassungswellen Anfang der 1990er Jahre wurden zunächst die
traditionslosen Arbeiter freigesetzt, die sich gegenüber den Kollegen aus dem Traditionellen Arbeitermilieu
benachteiligt und von den Betrieben für die geleistete, oft schwere und gesundheitsschädigende, Arbeit nicht
anerkannt fühlten. Die Traditionellen sicherten sich nicht zuletzt durch ihre Netzwerke und ihre betriebliche
Verhandlungsmacht den Löwenanteil bei den Weiterbeschäftigungen bzw. in den Beschäftigungs- und
ABM-Gesellschaften. Die Entlassung der traditionslosen Arbeiter geschah oft auf kaltem Wege, Sozialpläne
und Abfindungen gab es im Kohlenwerk Espenhain beispielsweise für sie nicht (vgl. die Fallstudie von
Hofmann 1995a). Null-Stunden-Kurzarbeit erwies sich bereits nach kurzer Zeit als direkter Weg in die
Arbeitslosigkeit bzw. als Ende des Arbeitslebens. Dies sorgte in den (Kohle)Arbeitersiedlungen für viel
böses Blut und reaktivierte die paternalistisch überformte Konfliktlinie zwischen den Arbeitermilieus.
Freilich wurden die traditionellen Arbeiter dann in den nächsten Entlassungswellen selbst freigesetzt,
konnten sich aber, unter anderem mit medienwirksamen Aktionen, die besseren ABM-Stellen,
Umschulungen oder Vorruhestandsbezüge erkämpfen. Die Einrichtung des Programms „Aufbau Ost“, die
riesigen ABM- und Qualifizierungsgesellschaften, kamen vor allem den abgewickelten traditionellen
Arbeitern zu gute, während die traditionslosen Arbeiter von diesen staatlichen Unterstützungen weit weniger
profitieren konnten.
In der Gegenwart hat sich diese Konfliktlinie zwischen den traditionellen und den traditionslosen Arbeitern
offensichtlich entschärft. Für die traditionslosen Arbeiter sind die ehemals respektablen Kollegen auch keine
Bezugsgröße mehr – jedenfalls nicht als ernsthafter Gegner. Aus ihrer Sicht hat sich viel eher die
Konfliktlinie mit dem politischen Establishment reaktiviert. Außerdem nehmen sie nun die zugewanderten
Arbeiter als Bedrohung wahr. Die Konfliktlinie zwischen deutschen und zugewanderten Arbeitern tritt an die
Stelle der historischen Auseinandersetzungen mit den traditionellen Arbeitern. In dieser Konfliktlinie
versuchen die Prekären nun selbst die Position der Respektabilität gegenüber den Zugewanderten aber auch
gegenüber den staatlichen Regulierungsbehörden einzunehmen und zu verteidigen.
Michael Vester hat aus historischer Perspektive zwei „Stammbäume“ der Arbeitermilieus unterschieden, die
Milieus der „Facharbeit und praktischen Intelligenz“ und das „traditionslose Arbeitermilieu“ (Vester 1998).
Diese Unterscheidung überschneidet sich zum einen stark mit der schichtspezifischen Differenzierung
zwischen un- und angelernten sowie gelernten FacharbeiterInnen, zum anderen weist sie Bezüge zur
Marxschen Differenzierung zwischen Lumpenproletariern und Arbeitern auf (vgl. Marx 1981, S. 673).
Mit dem Ende der großen Industrien in Ostdeutschland existiert nur noch eine dünne Traditionslinie der
„Facharbeit und praktischen Intelligenz“. Das traditionslose Arbeitermilieu wird jetzt in seinem Kampf um
Respektabilität sichtbarer. Denn die 1990er Jahre brachten zugleich die Befreiung der Traditionslosen aus
der lebensweltlichen Disziplinierung durch die traditionellen Facharbeiter und aus der ideologischen
Bevormundung durch den „vormundschaftlichen Staat“ (Rolf Henrich). Die paternalistisch organisierten und
von den traditionellen Arbeitern dominierten Brigaden, FDJ-Gruppen oder Hausgemeinschaften lösten sich
auf, die Sport- und Interessengemeinschaften, Kleingarten- und Siedlergemeinschaften differenzierten sich
aus. Jetzt können die traditionellen Arbeiter nicht mehr so selbstverständlich die Reinigungspläne,
Versammlungsordnungen oder Rederechte in den Alltagsinstitutionen festlegen. Die neuen Verhältnisse
verschaffen den aus der ideologischen wie lebensweltlichen Vormundschaft entlassenen und nun von
Ausgrenzung bedrohten traditionslosen Arbeitern einen (erzwungenen) Emanzipationsschub. Sie können die
von den Traditionellen geschaffenen Betriebs- und Alltagsstrukturen und Netzwerke nicht mehr nutzen und
sind gezwungen, eigene Arrangements zu finden. Auch vergrößert und differenziert sich das Milieu der
traditionslosen Arbeiter durch die zahlreichen prekären Existenzen ehemals Traditionsverwurzelter. Das sind
die Gründe dafür, dass dieses Milieu zunehmend aus dem Schatten des traditionsverwurzelten
Arbeitermilieus herausgetreten ist und auch in lebensweltlicher Hinsicht eine größere Sichtbarkeit erlangt
hat.
Während in Westdeutschland das traditionslose Arbeitermilieu typischerweise in den Neubauten und
Hochhäusern der Satellitensiedlungen wohnt, konnten es sich in Ostdeutschland in den Altbaugebieten
oftmals halten bzw. dorthin auch nach den Sanierungsschüben zurückkehren. Dadurch gelang es den
traditionslosen Arbeitern aber auch, ihre Verwurzelung in den ostdeutschen Großstädten auszubauen.
Ähnliches gilt auch für ihre Arbeitserfahrungen. Traditionslose Arbeiter waren auch zu DDR-Zeiten schon in
Dienstleistungsjobs beschäftigt und konnten diese Arbeitsfelder etwa in der Gastronomie, dem
Transportwesen oder den kommunalen Diensten z.T. behaupten. Dadurch können die traditionslosen
Arbeiter in der Transformation beruflich und lebensweltlich teilweise auf größere Kontinuitäten
zurückblicken. Die fortgesetzte Gelegenheitsorientierung erleichtert ihnen gewissermaßen die
Neuorientierung. Während flexible Strategien zum festen Repertoire ihres Habitus gehören, zeigen sich die
traditionsbewussten Facharbeiter mit ihrer Respektabilitätsorientierung eher unflexibel. Auch vermuten wir
bei den Traditionslosen konstantere Netzwerke, weil diese im Gegensatz zu denen der traditionsverwurzelten
Arbeiter eben nicht betriebszentriert waren. Der frühere Nachteil hat sich unter den
Transformationsbedingungen in einen Vorteil verwandelt. In ähnlichem Maße wie die nicht etablierten
traditionellen Arbeiter sind sie in prekärer Lage. Gleichwohl sind sie selbstbewusster geworden. Unter dem
Eindruck einer neuen, scheinbar noch nicht gefestigten und teilweise diffus wirkenden Milieustruktur und
„befreit" von der Bevormundung eines strengen staatlich-sozialistischen Paternalismus verschaffen sich die
Traditionslosen in der Bundesrepublik mehr Gehör und ansatzweise eine politische, bisweilen durchaus
respektierte Öffentlichkeit. Wahltaktisch eignen sich vor allem die rechtsradikalen Parteien als Drohkulisse
8
.
Zumal die Kader und Politiker der DVU bzw. der NPD oft merkwürdige, wechselhafte Karrieren und
Existenzen besitzen, die eine lebensweltliche Nähe zu den traditionslosen Arbeitern aufweisen. Die PDS
hingegen wird von den traditionslosen Arbeitern zum einen als Intellektuellenpartei wahrgenommen, zum
anderen als Partei der ehemaligen Kader und Funktionäre. Sie steht für Verteidigung alter Werte bzw.
Privilegien und nicht für aktuelle Probleme und Bedürfnisse prekärer Arbeiter und ihre pragmatischen
Forderungen.
8
Das frühere traditionslose Arbeitermilieu sowie das konsum-materialistische und das hedonistische Milieu gehörten
bzw. gehören zu den Hochburgen rechter Parteien (mündliche Auskunft von Carsten Wippermann, Sinus Sociovision).
Insbesondere das Auftauchen der Langzeitarbeitslosen und traditionslosen Arbeiter auf den
Massendemonstrationen gegen Hartz IV im Jahr 2004 in den ostdeutschen Großstädten spricht für ein neues
Selbstbewusstsein. In einigen Städten traten sie sogar die treibende Kraft wie etwa in Magdeburg oder Gera.
Mit Andreas Ehrholdt
9
bringt diese Protestwelle auch eine Leitfigur hervor, die den Nerv des Milieus trifft
und seine Sprache spricht. Die Sprache und Sichtweise der Traditionslosen wird auch in Art und Weise der
Brandreden und Losungen sichtbar: „Hände weg von unserem Geld“, „Verbrecherstaat“,
„Sklavenhalterstaat“ usw. Im Gegensatz zur ausschließlich linken Ausrichtung ähnlicher früherer Proteste
10
sind auf diesen Demos auch rechte Kräfte präsent. In Leipzig geben knapp 9% der Befragten auf die
„Sonntagsfrage“ an, eine rechte Partei wählen zu wollen, in Gera ist der Protestzug deutlich von
nationalistischen und rechten Losungen geprägt. Traditionelle Arbeiter sind dagegen kaum auf den Demos
präsent, die SPD als vermeintlich typische Partei der Traditionellen Arbeiter ist selbst Zielscheibe der
Proteste, die Gewerkschaften tauchen kaum auf und rufen nicht selbständig zur Beteiligung ihrer Mitglieder
auf.. Die Anti-Hartz-Demos markieren eine Umkehrung der Verhältnisse: Während die selbstbewusste,
traditionelle Arbeiterschaft aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit Ostdeutschlands weitgehend
verschwunden ist, haben die traditionslosen Arbeiter ihren Platz eingenommen. Eine eigenständige politische
Kraft sind sie deshalb noch lange nicht, zumal es ihnen fast vollständig an Organisation mangelt
11
.
Allerdings muss in Zukunft mit dieser Gruppe stärker gerechnet werden. Das stellt einen beachtlichen
Wandel dar, wurde doch den traditionslosen Arbeitern gewöhnlich bestenfalls politisches Desinteresse,
schlimmstenfalls Dumpfheit und Apathie bescheinigt.
Graphik über das Wachstum der Unterschichtmilieus ungefähr hier
Die Graphik veranschaulicht die enormen Umschichtungen im sozialen Raum in Bezug auf die ostdeutschen
Arbeitermilieus. Aufgrund der dargestellten erheblichen Forschungslücken in der sozialwissenschaftlichen
Forschung über die neueren Entwicklungen der ostdeutschen Milieustruktur greifen wir auf die SINUS
Daten zurück.
12
Allerdings ist es auch hier einmal mehr schwierig geworden, über den
Transformationsprozess der ostdeutschen Arbeitermilieus genaue Aussagen zu machen. Sinus weist seit
einigen Jahren keine nach Ost und West getrennten Milieubilder mehr aus. Das ehedem große, ja dominante
„Traditionelle Arbeiter- und Bauernmilieu“ (1991 27%), ist zunächst auf einen Bruchteil seiner ehemaligen
Größe geschrumpft. Über seinen heutigen Anteil lassen sich keine genauen Aussagen mehr machen, da es
9
Dieser langzeitarbeitslose Arbeiter aus Magdeburg hat dort die Anti-Hartz-IV-Demonstrationen selbst initiiert und
organisiert. In seinen Reden verarbeitete er seine eigenen Erfahrungen und wurde dadurch zu einem authentischen
Vorbild für viele Demonstranten.
10
Hier sind etwa die Demonstrationen gegen Betriebsschließungen und Massenentlassungen 1991, gegen das Auslaufen
des ABM-Programms 1993, die von der PDS und einigen Gewerkschaften organisiert wurden oder die Mobilisierung
der Arbeitsloseninitiativen gegen Sozialkürzungen 1998 zu nennen,
11
Allerdings sind im Zuge bzw. im Gefolge der Proteste in einer Reihe von Städten Sozialforen und Initiativen
entstanden, die sich zu einem eigenständigen Netzwerk zusammengeschlossen haben.
12
Die Graphik und die Ausführungen beziehen sich auf die Entwicklungen der Sinus-Milieus in den 1990er Jahren, bei
den neuesten Entwicklungen greifen wir auf mündliche Aussagen von Sinus Sociovision zurück. Wir bedanken uns an
dieser Stelle bei Carsten Wippermann von Sinus Sociovision für die Informationen und Einschätzungen.
gemeinsam mit dem Kleinbürgerlich-materialistischen Milieu im Milieu der Traditionsverwurzelten
aufgegangen ist. Dessen Anteil beträgt im Jahr 2004 in Gesamtdeutschland 14%, in Ostdeutschland 11% und
in Westdeutschland 16%. Das bedeutet, dass diese beiden Milieus in Ostdeutschland in den 1990er Jahren
von ehemals ca. 50% auf ein Fünftel ihres ursprünglichen Anteils geschrumpft sind - viel schneller als die
entsprechenden Westmilieus, bei denen sich dieser Schrumpfungsprozess auf 20 Jahre erstreckte. Die
Traditionsverwurzelten sind gegenwärtig sehr stark überaltert, über 80 % dieses Milieus sind Rentner. Es ist
ein sehr stark ländlich und weiblich geprägtes Milieu, dessen Schrumpfung auf eine Auflösung hinausläuft.
Vor dem Hintergrund dieses Schrumpfungsprozesses hebt sich das Wachstum des ehemaligen
„Traditionslosen Arbeitermilieus“ umso schärfer ab. Der quantitative Anteil des Traditionslosen
Arbeitermilieus an der erwachsenen Bevölkerung war in Ostdeutschland von 9% (1991) auf 12% (1997)
angewachsen. Wir schätzen die Größe dieser Lebenswelt im Jahre 2005 mit 15-16% ein, sie ist weiter
erstarkt und wahrscheinlich eine der großen ostdeutschen Lebenswelten im unteren sozialen Raum. Mit dem
gewachsenen traditionslosen Arbeitermilieu rückt im gesamten sozialen Raum Ostdeutschlands auch die
Grenze der Respektabilität, mit der sich die soziale Mitte oder die besser integrierten Milieus von den
unteren Milieus abgrenzen, stärker zur Mitte vor. Beim Update der Sinus-Milieus war dieses Milieu 1998 in
zwei Milieus zerlegt worden: die Hedonisten und die Konsum-Materialisten. In dieser Splittung verbirgt sich
auch eine Altersdifferenzierung: die Konsum-Materialisten sind der ältere Teil bzw. streuen über alle
Altersgruppen, die Hedonisten sind der junge Teil des ehemaligen Traditionslosen Arbeitermilieus. Das
Milieu der Konsum-Materialisten ist seit seiner Messung im Osten im Wachsen begriffen: 2003 betrug sein
Anteil 9%, im Jahr 2004 war es schon auf 11% gewachsen. Allerdings geht Sinus nicht von einem linearen
weiteren Wachstum aus. Vielmehr wird die weitere Entwicklung des Milieus stark von den Reformen des
deutschen Sozialstaats abhängen. Bei einem in etwa gleich bleibenden Wohlfahrtsstaat dürfte das Milieu
relativ stabil bleiben, bei stärkerem Sozialabbau und Neoliberalismus könnte sich das Milieu spalten in einen
eher gesicherten Teil und einen, der stärker von Armut und Anomie bedroht ist. Im Konsum-
materialistischen Milieu (wie auch bei den Hedonisten) gibt es ausgeprägte Affinitäten zu rechten Parteien,
die hier Aufwind haben, die Regierungsparteien haben in diesem Milieu tendenziell geringere Chancen. Die
Milieustruktur, die im Bereich der alten bzw. ehemaligen Arbeitermilieus entstanden ist, hat einen sehr
fluiden Charakter. Die Milieus im sozialen Raum in Ostdeutschland sind immer noch in starker Bewegung
begriffen und das gesamte Milieugefüge ist wesentlich instabiler als zu DDR-Zeiten bzw. im Vergleich zur
westdeutschen Milieustruktur.
5. De-Klassierung und Prekarisierung: Merkmale der nach-arbeiterlichen
Gesellschaft in Ostdeutschland
Zunächst muss man feststellen, dass für die traditionsbewusste Arbeiterschaft in Ostdeutschland das
eingetreten ist, was Karl Marx einst prognostiziert hatte: Die Arbeiter sind massenhaft aus dem
unmittelbaren Produktionsprozess freigesetzt worden. In den wenigen Fällen, wo sie in der Produktion
verblieben, sind sie in andere Rollen geschlüpft, etwa die der Überwacher, Techniker und Regulierer. Nur für
diesen kleinen Teil gingen die Visionen von Freiheitsgewinn, Statuserhalt oder auch sozialem Aufstieg in
Erfüllung. Für den großen Rest, der sich dem Deindustrialisierungsprozess noch teilweise widersetzt hatte,
bedeutete das Marginalisierung.
Die Arbeiter sind im ostdeutschen Alltag praktisch aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Viele
mentalitätsprägende Öffentlichkeitsformen der ostdeutschen Gesellschaft wie das Kumpelhaft-Kollegiale des
Alltags und proletarische Öffentlichkeitsformen sind mit Betriebsschließungen verloren gegangen (Parmalee
1996). Im Gefolge der Deindustrialisierung befinden sich Institutionen wie die Gewerkschaften in der Krise,
was man daran ablesen kann, dass etwa die Veranstaltungen zum 1. Mai nur wenig Zulauf haben. Die
Arbeiterquartiere sind entweder unsaniert und von Leerstand gezeichnet oder aufgewertet und chic gemacht,
um neue kaufkräftigere Mieter anzulocken. Die viel beschworene Arbeiterklasse hat sowohl ihre Reputation
als wertschaffende Klasse als auch den über betriebliche Verhandlungsmacht, Streiks und große
Tarifauseinandersetzungen, erlangten gesellschaftlichen Respekt und Einfluss verloren. Sie ist schlicht kein
autonomer und ernst zu nehmender Akteur mehr. Die traditionellen Arbeiter können keine
„Normerfüllungspakte“ oder wenigstens „Stillhalteabkommen“ mehr heraushandeln. Ostdeutschland ist
heute eine nach-arbeiterliche Gesellschaft, in der die Arbeiter weitgehend unsichtbar geworden sind.
Die ostdeutsche Gesellschaft hat sich allerdings auch nicht in eine moderne Mittelschichtgesellschaft
verwandelt oder zumindest noch nicht. Dass der ostdeutsche Sozialraum heute ein anderes Gesicht hat, liegt
zu einem großen Teil an den Wandlungsprozessen der traditionellen Arbeitermilieus. Die Milieustruktur ist
insbesondere in den mittleren und unteren Lagen (noch) nicht so klar konturiert wie bis in die 1980er Jahre.
Auch hat das frühere, vor allem von den Traditionellen Arbeitermilieus verkörperte kulturelle Leitbild, das
offenbar weit über diese Milieus hinaus den Selbstbeschreibungen der alten DDR auch entsprach bzw. dies
prägte, zumindest bisher keinen gleichermaßen dominanten Nachfolger gefunden. So bleibt die ostdeutsche
Gesellschaft von ihren Wertorientierungen und Lebensstilen in gewisser Weise merkwürdig konturlos, ein
neuer sozialer Ort für die Selbstwahrnehmung ist noch nicht gefunden. Die Sinus-Befunde gehen seit 2002
(mit der Ausnahme des auf mittleren sozialen Positionen verorteten DDR-nostalgischen Milieus) von einer
weitgehend parallelen Milieuentwicklung in Ost- und Westdeutschland aus. Rainer Geißler spricht von einer
„Tendenz zur Umschichtung nach unten innerhalb der genuin ostdeutschen Bevölkerung“. Im Jahr 2000
lassen sich 40% der ostdeutschen Erwerbstätigen vom Berufsstatus her als Arbeiter und Arbeiterinnen
einstufen, aber die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, nämlich 51%, fühlt sich der Unter- und
Arbeiterschicht zugehörig (in Westdeutschland sind es zeitgleich 28%; Geißler 2002, S. 243 und 331; vgl.
auch Geißler/Weber in diesem Band). Diese Selbsteinschätzungen zeigen die außerordentlich starken
Verunsicherungen und Ambivalenzen und lassen die Hoffnungen der Modernisierer auf eine ostdeutsche
Mittelschichtgesellschaft eher in die Ferne rücken. In mancher Hinsicht scheint es, als hätten weniger die
neuen Milieus und Mentalitäten der sozialen Mitte die Nachfolge der arbeiterlichen Gesellschaft angetreten,
sondern eher das Milieu der traditionslosen Arbeiter. Dieser Teil der Bevölkerung zählt zwar nicht zur
selbstbewussten Arbeiterschaft, hat aber im Zuge deren Wandlungs- und Umstellungsprozessen an
Sichtbarkeit und manchmal auch an Anerkennung gewonnen. Das Traditionslose Arbeitermilieu wuchs in
den 1990er Jahren an, vor allem in Ostdeutschland. Gerade hier kann sich diese Lebenswelt nicht mehr als
Arbeitermilieu mit beruflichen und betrieblichen Integrationsschwerpunkten entwickeln. Auf fehlende
Integrationsangebote in Beruf und Status reagieren diese Lebenswelten im Konsum und Mediennutzung
zunehmend selbstbewusster. Die Konsum-Materialisten, wie Sinus dieses Milieu jetzt nennt, scheinen von
der Konsum- und Medienforschung geradezu als der prägnante Typus ostdeutscher Konsumenten
wahrgenommen zu werden.
Aber auch politisch formiert sich ein eigenes, allerdings auch fragwürdiges Selbstbewusstsein, das sich am
besten mit dem Adjektiv „aufmüpfig“ beschreiben läßt. Die Orientierungen der Konsum-Materialisten sind
zwar „traditionell“ eher unselbständig und politisch nicht festgelegt („wes Brot ich ess, des Lied ich sing“),
momentan gibt es aber keine politische Kraft, die sich ihrer Belange in paternalistischer Weise annimmt.
Eben deshalb müssen sie ihre Geschicke stärker selbst in die Hand nehmen und aktiv werden, wie dies jüngst
bei den Protesten gegen Hartz IV zu erleben war. Da sie nicht über eigene Organisationen verfügen,
verschaffen sie sich eher über spontanes Aufbegehren und Protestwählen wenigstens gesellschaftlichen
Respekt. Zwar ist zu bezweifeln, dass diese ostdeutschen Arbeiter damit eine Avantgarde bilden (Engler
2003), aber für Unruhe und Irritationen dürften sie allemal noch sorgen. Möglicherweise ist dies auch ein
Indiz dafür, dass die Transformation der ostdeutschen Gesellschaft nicht abgeschlossen und sich inzwischen
auf andere Pole zu bewegt. Im Osten haben nach 1990 die Arbeitermilieus weiteren Wandel durchgemacht,
die für Arbeiter ehedem typischen prekären Erwerbsverhältnisse dehnen sich auf größere Teile der
ostdeutschen Bevölkerung aus. Konnte dies bislang noch in starkem Maße sozialstaatlich abgefedert werden,
so tritt es jetzt immer stärker zutage. Es bleibt abzuwarten, ob sich daraus eine fragmentierte Milieustruktur
ergibt oder ob die Reste der Arbeitermilieus zu neuen Vergemeinschaftungskernen zusammenfinden werden.
Deindustrialisierung und Prekarisierung haben auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in der
„nach-arbeiterlichen Gesellschaft“ verändert. Einerseits haben die männlichen Arbeiter in der
Deindustrialisierung ihren beruflichen Rollenstatus verloren, obwohl sie durch alle möglichen
sozialstaatlichen Maßnahmen abgesichert wurden. Die Geschlechterarrangements in den traditionellen
Milieus können so nicht mehr auf die selbstverständliche, unreflektierte familiäre Arbeitsteilung bauen. Die
Jobs, aus denen viele Arbeiter ihre Respektabilität bezogen hatten, sind ein für alle mal weg, Ersatz dafür
gibt es nicht. Das stellt insbesondere die nachwachsenden männlichen Jugendlichen vor schwerwiegende
Probleme, ihre Lebensorientierungen sind schlicht nicht mehr einlösbar. Dies hat enorm zur Verunsicherung
von Männlichkeit in Ostdeutschland beigetragen. Andererseits sind es oft die Frauen, die in prekären
Lebenssituationen stärker die Versorgungsrollen übernehmen (vgl. den Beitrag von Susanne Völker in
diesem Band). Anfang der 1990er Jahre war die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland vor allem weiblich
geprägt. In den 1990er Jahren waren fast durchgängig etwa zwei Drittel aller ostdeutschen Arbeitslosen
weiblich. Seit 2001 hat sich dieser Trend jedoch umgekehrt und nun sind mehr als die Hälfte der
ostdeutschen Arbeitslosen männlich – mit steigender Tendenz. Dennoch, trotz der verstärkten weiblichen
Versorgungsaktivitäten oder vielleicht gerade deswegen kündigen die um Respektabilität ringenden Arbeiter
in den prekären Lebenslagen die (ehedem) fortschrittlicheren Geschlechterarrangements zunehmend auf. Es
lässt sich ein neuer Trend zum Autoritarismus vor allem im traditionslosen Arbeitermilieu vermuten. Gerade
weil die Arbeiter ihren respektablen beruflichen Status verloren haben, verteidigen sie ihre Männlichkeit
umso aggressiver in den privaten Lebensverhältnissen. Der Modernisierungsvorsprung der ostdeutschen
Frauen gerät so offensichtlich auch in den eigenen Milieus zunehmend unter Druck. Auch deshalb wandern
junge Frauen, die sich um- und weiterqualifiziert haben, ab. Das freilich erhöht noch mal den Druck auf die
Männer und verschärft ihre Krise weiter. Allein die Abwanderung der jungen Frauen aus Ostdeutschland
könnte in wenigen Jahren aus der ehedem „weiblichsten Gesellschaft Europas“ (Lutz Niethammer 1994) eine
der männlichsten machen.
Mit der Deindustrialisierung sind die Facharbeiter als kulturelles Leitbild zwar verschwunden und ist die
arbeiterliche Gesellschaft Geschichte geworden, zugleich aber wurde ein Attribut der traditionslosen
Arbeiter verallgemeinert: die prekäre Existenz. In der Gegenwart wird dies erst vollends sichtbar: mit den
Novellierungen der Sozialgesetze, insbesondere aber Hartz IV wird die Grenze der Respektabilität
verschoben. Berufstätige praktisch aus allen Positionen können sich nun in kürzester Zeit in einer
(Berufs)Position wieder finden, die der der traditionslosen Arbeiter ähnelt. Ostdeutschland bleibt also eine
arbeiterliche Gesellschaft – sie wird nur nicht mehr so beschrieben und von ihren Angehörigen auch nicht
mehr so empfunden. Ein neues Leitbild für die ostdeutsche Arbeitsgesellschaft zeichnet sich noch nicht ab.
Gesucht werden kann es zum Beispiel in den Wandlungs- und Anpassungsprozessen der Kinder des
traditionsverwurzelten Arbeitermilieus als dem Kern des nacharbeiterlichen Ostdeutschlands. Arbeiterliche
Berufs- und Respektabilitätsorientierung wandeln sich hier zu modernen Arbeitnehmerqualifikationen,
allerdings mit der Bedrohung und Prekärisierung von Netzwerken, familiären Ressourcen und korporativen
Emanzipationsmöglichkeiten. Das nacharbeiterliche Ostdeutschland eignet sich in diesem Sinne tatsächlich
als ein Experimentierfeld für neue, intensivere Arbeits- und Ausbeutungsformen. Andererseits wächst in der
ehemaligen arbeiterlichen Gesellschaft das traditionslose Arbeitermilieu. Vielleicht könnte man in diesem
Zusammenhang auch von Ostdeutschland als einer „Gelegenheitsarbeitergesellschaft“ bzw. „gelegentlich
arbeitender Gesellschaft“ sprechen.
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