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Ethik Med (2001) 13:161–175
Originalarbeit
Aktive und passive Sterbehilfe –
Zur Rehabilitation einer stark kritisierten
deskriptiven Unterscheidung
Bernward Gesang
Active and passive euthanasia – The rehabilitation of an often criticized
descriptive difference
Abstract. Definition of the problem: In order to discuss the normative aspects of
euthanasia one has to clarify what is meant by active and passive euthanasia.
Arguments and conclusion: Many theoreticians deny the possibility of distin-
guishing between the two by purely descriptive means, e.g. on the basis of theo-
ries of action or the differences between acting and omitting. On the contrary,
such a purely descriptive distinction will be defended in this paper by summari-
zing and refining the theory of Dieter Birnbacher, which he developed in his
book Tun und Unterlassen. I will suggest a new definition of active and passive
euthanasia.
Zusammenfassung. Um die normative Frage nach der Zulässigkeit von aktiver
und passiver Sterbehilfe diskutieren zu können, muss man zuerst klären, worin
genau aktive und passive Sterbehilfe bestehen. Dass man hier eine nicht mora-
lisch motivierte Unterscheidung auf der Basis eines handlungstheoretischen Un-
terschieds von Tun und Unterlassen treffen kann, wird vielfach bezweifelt. In
diesem Aufsatz soll eine solche rein deskriptive Unterscheidbarkeit verteidigt
werden. Dazu wird die von Dieter Birnbacher in seinem Buch „Tun und Unter-
lassen“ entwickelte Theorie vorgestellt und verfeinert, was in einer neuen Defi-
nition aktiver und passiver Sterbehilfe mündet.
Keywords: Active and passive euthanasia – Theory of action – Ethics – Action
and omission
Schlüsselwörter: Aktive und passive Sterbehilfe – Handlungstheorie – Ethik –
Tun und Unterlassen
PD Dr. phil. Bernward Gesang
Philosophisches Institut der Universität Düsseldorf, Universitätsstrasse 1, 40225 Düsseldorf,
Deutschland
© Springer-Verlag 2001
I. Aktiv/passiv: Nur ein rein verbaler Unterschied?
Folgender Fall spielt sich in deutschen Krankenhäusern mit Regelmäßigkeit ab.
Ein unheilbar kranker Patient wurde an eine Beatmungsmaschine angeschlossen.
Sein starkes Leiden ist nicht zu lindern. Der erklärte oder der mutmaßliche Wille
des Patienten lässt erkennen, dass der Patient in einer solchen Situation den Tod
vorzieht. D.h. die allgemeinen Bedingungen für Sterbehilfe sind erfüllt: a) unheil-
bares starkes Leiden und b) expliziter oder mutmaßlicher aufgeklärter Patienten-
wille, zu sterben. Nun stellt sich für den behandelnden Arzt konkret eventuell die
Frage, wie er Sterbehilfe leisten soll. Soll er das Beatmungsgerät abschalten oder
nicht? Hier meinen jedoch manche Ärzte, eine Grauzone zu betreten. Das Ab-
schalten des Geräts ist eine Handlung, und der Arzt fühlt sich dabei als ein „akti-
ver Faktor“. Daher befürchtet er eventuell, hier aktive Sterbehilfe zu begehen, die
er vielleicht für generell moralisch unzulässig hält. Um dieses Problem zu umge-
hen, wartet der Arzt daher manchmal einfach, bis der Patient mit der am Gerät
vorgenommenen Einstellung der Luftmenge nicht mehr auskommt. Das Gerät
müsste nach einer Zeit auf eine höhere Leistung eingestellt werden. Das unterlässt
der Arzt, und der Patient stirbt, allerdings nach einer Zeit verlängerten Leidens. So
glaubt der Arzt, die besagte Grauzone vermieden zu haben und ganz auf dem Bo-
den der für unbedenklich gehaltenen passiven Sterbehilfe verblieben zu sein.
Die folgenden Überlegungen sollen helfen, die Grauzone zwischen aktiver
und passiver Sterbehilfe auszuräumen und diesen Beispielfall sowie andere pro-
blematische Fälle eindeutig zu klassifizieren. Die angesprochene Grauzone ist
keine moralische, denn unser Arzt im Beispielfall ist sich sicher, dass aktive
Sterbehilfe verwerflich ist. Sie besteht vielmehr in der Frage, wie man aktive
und passive Sterbehilfe überhaupt deskriptiv unterscheiden kann. Die deskripti-
ve Unterscheidbarkeit zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe ist in Verruf ge-
kommen. Geradezu einhellig wird nicht nur die ethische Relevanz dieser Dicho-
tomie, sondern schon ihre deskriptive Angemessenheit bezweifelt. Gibt es einen
sachlich/deskriptiven Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe auf
der Ebene der Handlungen, oder hängt die Unterscheidung nur vom moralisch-
normativen Standpunkt oder der Sprache des Betrachters ab? Eine Beantwor-
tung dieser Fragen ermöglicht erst eine moralische Auseinandersetzung über ak-
tive und passive Sterbehilfe, denn ohne zu wissen, was sich hinter diesen Be-
griffen verbirgt, kann man keine Bewertung vornehmen.
Traditionell wurde die deskriptive Unterscheidbarkeit der beiden Hand-
lungstypen z.B. von James Rachels an der Differenz von Töten und Sterbenlas-
sen bzw. Tun und Unterlassen festgemacht ([11], S 258). Für Rachels gibt es ei-
nen sachlichen Unterschied sowohl zwischen Aktivität und Passivität wie auch
zwischen Töten und Sterbenlassen auf der Ebene der Handlungen selbst, der auf
die Differenz von Tun und Unterlassen zurückgeht ([12], S 322 f.). Das illu-
striert er an zwei Beispielen: Meier will seinen sechsjährigen Vetter beerben.
Um das zu bewerkstelligen, schleicht er sich, während das Kind badet, ins Bad
und ertränkt es. Müller hat dieselbe Absicht und schleicht sich ins Bad. Er sieht
aber, während er eintritt, dass das Kind ausgleitet, sich den Kopf verletzt und
bewusstlos ins Wasser sinkt. Müller unterlässt es einfach einzugreifen, bis das
Kind ertrunken ist. Nach Rachels hat Meier etwas getan, Müller hat nur etwas
unterlassen. Diese Differenz von Tun und Unterlassen soll auch der
Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe zugrunde liegen und nach
Rachels deskriptiv relevant sein.
162 B. Gesang
Dieser intuitiv erst einmal einleuchtenden deskriptiven Unterscheidung wur-
de traditionell in einem zweiten Zug auch eine kausale Komponente verliehen,
die Tom Beauchamp in einem Kommentar zu Rachels Beispiel herausstellt:
„(Es) ist festzuhalten, daß in Rachels Fallbeispielen der jeweilige moralisch
Handelnde – Meier und Müller – für den Tod des Kindes moralisch verantwort-
lich und moralisch schuldig ist, obgleich bei Müller vermutlich nicht von einer
kausalen Verantwortung auszugehen ist. Nur im ersten Beispiel wird der Tod
des Kindes durch den Handelnden selbst verursacht“ ([1], S 268). Tun und Un-
terlassen werden also nach der früher gängigen deskriptiven Analyse mit unter-
schiedlichen kausalen Rollen ausgestattet. Das aktive Tun verursacht, während
das Unterlassen dies nicht tut. Dieser Komplex von zwei deskriptiven Unter-
scheidungsmerkmalen wird nun in der neueren Literatur zum Thema oftmals
nicht mehr akzeptiert.
Bruce Reichenbach bringt in seinem Aufsatz „Euthanasie und die aktiv/pas-
siv-Unterscheidung“ als einer der ersten gewichtige Argumente gegen eine rein
handlungstheoretische deskriptive Unterscheidbarkeit 1) von Töten und Ster-
benlassen durch Tun und Unterlassen und 2) von Tun und Unterlassen selbst
vor.
ad 1) Reichenbach bemerkt, dass es möglich ist, einen Patienten sowohl
durch Tun wie durch Unterlassen zu töten oder sterben zu lassen. Zum Beispiel
für den Fall des Sterbenlassens: „Ebenso kann der Arzt den Patienten sterben
lassen durch Handeln (den Patienten vom Beatmungsgerät wegnehmen) oder
Nichthandeln (keine Chemotherapie ausführen). (...) Der Unterschied zwischen
Töten und Sterbenlassen ist also nicht einfach im Ausführen oder Nichtsausfüh-
ren einer Handlung zu finden“ ([12], S 324).
ad 2) Ebenso weist Reichenbach darauf hin, dass die Unterscheidung von
Handeln und Nichthandeln oder Tun und Unterlassen nicht trennscharf sei. Sie
sei vielmehr häufig abhängig von sprachlichen Beschreibungen. Ein und dersel-
be Sachverhalt könne einmal als Tun und ein anderes mal als Unterlassen be-
schrieben werden. Dazu führt er das folgende Beispiel an: Ein Arzt weigert sich,
einen Patienten an ein lebenserhaltendes Gerät anzuschließen, weil er das für
hoffnungslos hält: „Ist das ein Fall des Nichthandelns? (...) Der Arzt zog keinen
Stecker heraus (...). Tatsächlich mag er überhaupt nichts gesagt, sondern sich
auf den Absätzen herumgedreht haben (...) Andererseits weigerte er sich, wenn
nicht verbal, so zumindest durch das Weggehen. Aber ist dieses Sich-Weigern
nicht selbst eine Handlung? (...) Die Unterscheidung kann manchmal rein verbal
sein“([12], S 324).
Diese Kritik hat viele Autoren von der Unhaltbarkeit der Definition von Tö-
ten und Sterbenlassen und aktiver und passiver Sterbehilfe durch die Begriffe
Tun und Unterlassen überzeugt. So schreibt z.B. Barbara Guckes in einer sehr
umfangreichen Studie: „Der Handlung selbst kann man nicht immer entnehmen,
ob ein Akt des Tötens oder Sterbenlassens vorliegt. Schaltet z.B. ein Arzt das
lebenserhaltende System bei einem Patienten ab, dessen rational begründeter
Wunsch es ist, daß der Sterbevorgang verkürzt wird, würden wir eine solche
Handlung, die zweifellos eine Vollzugshandlung ist, wohl als einen Akt des
Sterbenlassens klassifizieren“ ([7], S 142). Damit weist Guckes auf einen Punkt
hin, der ebenfalls in der aktuellen Debatte Zustimmung findet. Die aktiv-passiv-
Unterscheidung kann man demnach nicht allein deskriptiv fassen, sondern man
muss auf die moralische Qualität der beteiligten Absichten der Akteure eingehen
([7], S 147 ff.). Hätte der Arzt das Gerät im von Guckes angeführten Beispielfall
Aktive und passive Sterbehilfe 163
gegen den Wunsch des Patienten abgeschaltet, würde Guckes von einer Tötung,
nicht von Sterbenlassen sprechen.
Ludwig Siep und Michael Quante argumentieren, für eine gelingende de-
skriptive Unterscheidung der beiden Sachverhalte müsse es ein „fundamentum
in re“ geben. Dieses Fundament könne nur in einer vermeintlich fundamental
verschiedenartigen kausalen Rolle beider Faktoren bestehen, da sich ja die Un-
terscheidung von Tun und Unterlassen in der Debatte bereits als unscharf erwie-
sen habe ([13], S 45). Es liegt intuitiv nahe zu meinen, dass Tun – im Gegensatz
zum Unterlassen – immer mit einem Verursachen verbunden sei. Diese Intuition
hält nach Siep und Quante der Kritik nicht stand ([13], S 46). Dazu können sie
auf eine Studie von Dieter Birnbacher verweisen, in der folgendes gezeigt wird:
In den vorherrschenden Kausalitätstheorien gehören auch die Randbedingun-
gen1eines im Experiment bewirkten Ereignisses zu den im Experiment wirksa-
men Kausalfaktoren hinzu. Randbedingungen können aber auch „negative“ Fak-
toren, etwa das Ausbleiben von Störgrößen sein. Kausalfaktoren sind nach Birn-
bacher das, was aus der Menge der für das Ereignis A hinreichenden kausalen
Komponenten K nicht eliminierbar ist, ohne dass K die Eigenschaft verliert, für
A hinreichend zu sein ([2], S 77 f.). In diesem Sinne gehören negative Randbe-
dingungen, also in unserem Falle auch Unterlassungen, zu den Kausalfaktoren
von A hinzu. In einem zweiten Schritt kann sogar gezeigt werden, dass Unter-
lassungen nicht nur Kausalfaktoren, sondern auch in einem stärkeren Sinne
Ursachen von Ereignissen sein können. Ursachen sind für Birnbacher nur die
Kausalfaktoren, die dem Betrachter in einem bestimmten Kontext als besonders
relevant erscheinen. „Die Ursache“ eines Ereignisses A ist für uns häufig eben
der Kausalfaktor, der für uns den größten Informationswert hat, der mit der
größten Wahrscheinlichkeit an den Eintritt von A gekoppelt ist oder der von uns
nicht erwartet wurde. Ursache sein, ist eine beschreibungsrelative Eigenschaft,
anders als das Kausalfaktor sein. In der Realität sind alle Kausalfaktoren gleich-
rangig, nämlich gemeinsam hinreichend, um das Ereignis A zu verursachen:
„Ursachen und Randbedingungen unterscheiden sich nicht in irgendeiner onto-
logischen, objektiv vorgegebenen Qualität. (...) Mit der Abgrenzung von Ursa-
chen und Randbedingungen (...) kommen perspektivische und somit subjektive
Faktoren ins Spiel“ ([2], S 83).
Damit scheint die deskriptive Unterscheidbarkeit von aktiver und passiver
Sterbehilfe und damit verbunden von Töten und Sterbenlassen und von Tun und
Unterlassen endgültig gescheitert zu sein, denn auch die beschriebene radikale
kausale Differenz fällt als deskriptives Kriterium weg. In diesem Sinne wird je-
denfalls die aktuelle Debatte geführt. Reichenbachs Fazit zur deskriptiven Ab-
grenzbarkeit bestimmt den Diskurs: „Damit sind, im wörtlichen Sinne, die Ter-
mini ‘aktiv’ und ‘passiv’, wie sie auf die Euthanasie angewendet werden, voll-
kommen fehl am Platz“ ([12], S 325). Im folgenden Abschnitt soll die Theorie
des „Geschehenlassens durch Handeln“ (GDH-Theorie) dargestellt werden, die
ein trennscharfes deskriptives Unterscheidungskriterium liefern will. Daran an-
schließend sollen im dritten Abschnitt einige Probleme der GDH-Theorie erör-
tert werden, was zu einer Evaluation dieser Theorie überleiten wird. Das Ergeb-
nis wird lauten, dass die GDH-Theorie tatsächlich eine angemessene deskriptive
164 B. Gesang
1Das ist die Menge der Faktoren, die in jedem Einzelfall zu den allgemeinen Kausalgesetzen
hinzutreten, um eine Verursachung zu erklären, z.B. die Abwesenheit von Störfaktoren wie
Erdbeben oder Bombenangriffen
Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe erlaubt. Im vierten Ab-
schnitt soll dann die Bedeutung dieser deskriptiven Unterscheidung für normati-
ve Fragen beleuchtet werden.
Geschehenlassen durch Handeln
Der Verlauf der Diskussion um die aktiv-passiv-Dichotomie kann nicht überzeu-
gen, da ein sehr gewichtiger Versuch, diese deskriptiv an die Tun- und Unterlas-
sendifferenz zu koppeln, häufig nicht thematisiert wird. Es handelt sich um den
von Dieter Birnbacher in seinem Buch „Tun und Unterlassen“ gemachten Vor-
schlag, durch den Verweis auf die Möglichkeit eines „Geschehenlassens durch
Handeln“ (GDH) die meisten der besagten Probleme zu lösen. Die GDH-Theo-
rie tritt mit dem Anspruch an, trennscharfe deskriptive Unterscheidungskriterien
für Tun und Unterlassen, Töten und Sterbenlassen und letztlich auch für aktive
und passive Sterbehilfe zu liefern.2Dazu werden in einem ersten Schritt äußeres
und inneres Handeln bzw. Unterlassen unterschieden. Äußeres Handeln besteht
in der Ausführung einer handlungskonstitutiven Körperbewegung, äußeres Un-
terlassen im Nicht-Ausführen einer solchen. Handlungskonstitutiv ist eine Kör-
perbewegung, wenn sie zum Gelingen der Handlung beiträgt, das auf einer hö-
herstufigen Beschreibungsebene definiert ist. So ist eine äußere Unterlassung
z.B. nicht deckungsgleich mit einem gleichzeitigen völligen Handlungsverzicht
des Akteurs. Meier kann, während er die Rettung von Müller unterlässt, allerlei
Dinge tun. Er unterlässt jedoch die für die Handlung der Rettung konstitutiven
Dinge, z.B. das Abbinden eines blutenden Arms, der das Verbluten von Müller
bewirkt. Ob er gleichzeitig versucht, z.B. die eingeklemmte Hand von Müller
unter einem Reifen hervorzuziehen, ist irrelevant. Die Rettung von Müller ist ei-
ne Handlung, die so definiert ist, dass sie sein Überleben sicherstellt, sonst kann
man die Handlung nicht als Rettung beschreiben. Dafür ist die Hand nicht aus-
schlaggebend, sondern der blutende Arm. Was handlungskonstitutiv ist, be-
stimmt sich von den jeweils definierten Bedingungen gelingenden Handelns her
und ist unabhängig davon, ob Meier allein tätig oder untätig ist. Inneres Han-
deln bzw. Unterlassen besteht hingegen in der Ausführung bzw. Nichtausfüh-
rung konstitutiver willentlich steuerbarer innerer Akte, z.B. Entscheidungen
oder Überlegungen ([2], S 34 f.). So kann ich es z.B. unterlassen, über die Fol-
gen eines Handelns nachzudenken, weil ich diese Folgen fürchte und verdrän-
gen will.
Nachdem so Hinsichten, in denen vom Nichtausführen einer Handlung gere-
det werden kann, unterschieden wurden, wird von der GDH-Theorie ein not-
wendiges und hinreichendes Kriterium für die Unterlassung einer Handlung h
angeboten. Diese liegt genau dann vor, wenn gilt: „1) Es ist nicht der Fall, daß
A die Handlung h ausführt als auch 2) A könnte die Handlung h ausführen“ ([2],
S 32). Die Möglichkeitsbedingung, dass A h ausführen könnte, besagt dabei
konkretisiert für den zuvor behandelten Beispielfall folgendes: a) A wäre phy-
sisch in der Lage zur Rettungshandlung h; b) A befindet sich in einem psychi-
schen Zustand, der es ihm erlaubt hätte, h zu tun (keine geistige Verwirrung
etc.); c) die Rettungsbedürftigkeit von B und ein Weg zur Rettung sind für A
Aktive und passive Sterbehilfe 165
2Gleichwohl gibt es auch hier einige Problemfälle, bei denen Birnbacher einen Ermessens-
spielraum zugesteht. Diese Fälle sollen aber sehr selten sein ([2], S 57 ff.)
erkennbar; d) tatsächliches Erkennen: A muss erkannt haben, dass h ausgeführt
werden könnte, also z.B. dass B in Gefahr ist und dass es einen Rettungsweg
gibt. Das bedeutet allerdings immer noch nicht, dass alles Unterlassen vorsätz-
lich ist: A kann wissen, dass h getan werden könnte, ohne selbstreflexiv zu wis-
sen, dass er selbst h gerade unterlässt. Nicht jede Kenntnis einer objektiven Si-
tuation impliziert, dass man die eigenen Handlungsmöglichkeiten reflexiv er-
fasst ([2], S 36–45). Gleichwohl werden die meisten äußeren Unterlassungen
vorsätzlich sein, die meisten inneren jedoch nicht.
Wird dann aber nicht manches Unterlassen zu bloßem, z.B. reflexartigem
Verhalten, weil ja keine Unterlassensvorsätze vorliegen müssen und die Ab-
sichtlichkeit das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung Handeln/Ver-
halten3ist? Ich denke, das ist nicht der Fall. Damit eine Unterlassung kein blo-
ßes Verhalten ist (für das man keine Verantwortung trägt), muss nicht die Ab-
sicht vorliegen, etwas zu unterlassen. Man kann mit Donald Davidson feststel-
len: Eine Unterlassung, die unter den Oberbegriff der Handlungen zählt, muss
unter mindestens einer Beschreibung absichtlich sein, und dem Unterlassenden
muss seine Unterlassung unter irgendeiner dieser Beschreibungen bewusst sein,
womit aber nicht gesagt ist, dass A seine Unterlassung als Unterlassung be-
schreiben muss ([4], S 83). Nehmen wir den prekären Fall des inneren Unterlas-
sens. Meier unterlässt es zur Zeit des Mittagessens, sich Sorgen um Müller zu
machen. Damit hier mit Davidson von einer Handlung und nicht von bloßem
Verhalten die Rede ist, muss Meier das zum Zeitpunkt des Essens stattfindende
mentale Ereignis wenigstens unter irgendeiner Beschreibung selbst beabsichti-
gen. Meier meint z.B., er habe zur Essenszeit ans Essen gedacht. Dann hat
Meier zu dieser Zeit innerlich gehandelt, sich nicht nur verhalten. Nach der Be-
schreibung von Meier selbst hat er ans Essen gedacht, aber er hat es, sofern die
subjektive Möglichkeitsbedingung der Abwesenheit geistiger Verwirrung gege-
ben ist, auch unterlassen, sich Sorgen um Müller zu machen. Das psychische Er-
eignis zur Essenszeit war jedenfalls kein bloßes Verhalten, denn es wurde durch
eine Absicht gesteuert. Vielleicht hat Meier zur Essenszeit auch noch unendlich
viel anderes unterlassen. Aber das ist nicht von Interesse, denn den Ethiker in-
teressieren nur die Unterlassungen, die man moralisch beanstanden kann. Beim
äußeren Handeln drohen zudem sowieso keine Mengen unendlicher Unterlas-
sungen, denn die Möglichkeitsbedingung (s.o.) ist hier viel restriktiver, so dass
vieles, was nicht getan wird, nicht als Unterlassung zählt.
Nun zu einem weiteren Aspekt der GDH-Theorie, zur Definition des soge-
nannten Geschehenlassens. Es wird festgestellt, dass sich im alltäglichen
Sprachgebrauch die Kategorisierung derselben Vorgänge als Geschehenlassen
(z.B. Sterbenlassen) oder Handeln (Töten) durchführen lässt. Deshalb wird die
Alltagssprache als Unterscheidungsinstanz verworfen. Vielmehr wird erneut das
deskriptive Kriterium der konstitutiven Körperbewegung angewendet.
An einem Geschehenlassen ist nach der GDH-Theorie immer ein dominie-
rendes Unterlassen beteiligt. Das Unterlassen des Akteurs A findet in einer
Situation statt, in der ein von A unabhängiger Prozess abläuft, der zum Ereignis
e führt, das A verhindern könnte, aber nicht verhindert ([2], S 103). Das heißt
166 B. Gesang
3Leider gibt es in der Handlungstheorie zwei Handlungsbegriffe. Manchmal wird Handeln
als Oberbegriff für Tun und Unterlassen verwendet, aber manchmal auch eingeschränkter als
synonymes Substitut von Tun. Hier ist nun Handeln als Oberbegriff angesprochen, der blo-
ßes, z.B. reflexhaftes oder tierisches Verhalten von absichtlichen Handlungen abgrenzt
eben: A lässt e geschehen. Ein Geschehenlassen verläuft wissentlich, d.h. A er-
wartet, dass es eintritt. Zudem wird e zumindest dann gewollt oder beabsichtigt,
wenn das Geschehenlassen einen Zweck verfolgt, der durch e befördert wird.
Letztlich darf das Geschehen, in das A nicht eingreift, nicht auf ein Handeln von
A selbst zurückgehen. Damit man z.B. von einem Sterbenlassen eines Patienten
durch einen Arzt sprechen kann, muss der Prozess selbst, in den der Arzt z.B.
nicht durch das Anschließen eines Beatmungsgerätes eingreift, unabhängig vom
Handeln des Arztes sein ([2], S 105 f.).
Nachdem somit die Grundform des Geschehenlassens beschrieben wurde,
kann auf den Kernpunkt der Theorie, das „Geschehenlassen durch Handeln“
eingegangen werden. „Beim ‘Geschehenlassen durch Handeln’ befindet sich B
unabhängig von A´s Handeln in einem Zustand oder Prozess, den A durch einen
aktiven Eingriff aufzuheben oder aufzuhalten versucht. Indem A daraufhin den
Eingriff aktiv beendet, überlässt er B dem Zustand oder Prozess, in dem sich B
auch ohne sein Eingreifen befunden hätte“ ([2], S 110 f.) Machen wir uns das an
Beispielen aus dem Bereich der Sterbehilfe deutlich. Nehmen wir den Fall des
Arztes, der ein Beatmungsgerät abschaltet. Dieser Fall weist das Problem auf,
dass zweifellos eine Handlung des Arztes, z.B. das Betätigen eines Knopfes, in-
volviert ist. Deshalb schwankt in der Literatur die Zuordnung dieses Falles be-
züglich der aktiv-passiv-Dichotomie. Guckes will auch die Intentionen des Arz-
tes und das Wohl des Patienten als Kriterien der Zuordnung anführen. Aller-
dings sind diese Intentionen schwer zu ermitteln, ja häufig dem Handelnden
selbst nicht völlig klar. Ein Einbezug dieser Faktoren macht die Dinge äußerst
kompliziert. Guckes will Typen der Sterbehilfe durch ein Zusammenwirken von
drei Faktoren unterscheiden: a) Förderung des Wohls des Betroffenen; b) das
Motiv der Handlung und c) die Art der Intervention. Nicht zufällig entsteht dar-
aus ein hochkomplexes Modell mit 16 verschiedenen Klassifizierungsvarianten
([7], S 147 ff.).
Wie sieht nun der Beispielfall im Rahmen der GDH-Theorie aus? Der vor-
gängige Prozess, in dem sich der Patient befindet, ist erst einmal unabhängig
vom Handeln des Arztes. Der Patient hat z.B. eine tödliche Krankheit und wird
in absehbarer Zukunft an dieser Krankheit sterben. Der Arzt hat durch den An-
schluss des Beatmungsgerätes versucht, diesen Prozess aufzuhalten. Indem er
diesen Versuch aktiv beendet und das Gerät abstellt, überlässt er den Patienten
wieder dem ursprünglichen (kausal) autonom ablaufenden Prozess. Deshalb
lässt es sich rechtfertigen zu sagen, dass hier ein Geschehenlassen des vorgängi-
gen Prozesses vorliegt, das mit einer Handlung des Arztes verbunden ist. Ein
Geschehenlassen ist eine Form des Unterlassens, und beides zusammen gehört
in den Bereich der passiven Sterbehilfe. Die Zuordnung fällt im Rahmen der
GDH-Theorie eindeutig aus und ist mit objektivierbaren Fakten (Körperbewe-
gungen bzw. deren Fehlen), nicht nur mit sprecherrelativen Sprachintuitionen
begründbar.
Ebenso verhält es sich im von Reichenbach vorgebrachten Fall des Arztes,
der sich nur auf dem Absatz herumdreht und eine Behandlung verweigert. Na-
türlich handelt dieser Arzt auf verschiedenen Ebenen aktiv. Er dreht sich herum,
sagt vielleicht auch „Nein“ und vollzieht für eine Verweigerung konstitutive
Körperbewegungen. All diese Handlungen können jedoch nicht darüber hinweg-
täuschen, dass der vorgängige physische Verfallsprozess des Patienten autonom
verläuft, so dass der Arzt diesen Prozeß nur weiterlaufen lässt, wenn er die Be-
handlung nicht aufnimmt. Es handelt sich um ein Geschehenlassen.
Aktive und passive Sterbehilfe 167
Eine kurze (vielleicht ausschließlich philosophisch interessante) Erläuterung
zum in der GDH-Theorie verwandten Begriff der Deskriptivität. Mit Recht
könnte man gegen die These einer rein deskriptiven Unterscheidbarkeit von Tun
und Unterlassen einwenden, die gerade ausgeführten Definitionsbedingungen
für Unterlassungen enthielten evaluative Elemente. Man muss das Verhalten von
A interpretieren, um eine Unterlassung anhand dieser Kriterien dingfest machen
zu können. Dabei muss man A z.B. Zweckrationalität unterstellen und von
sprachlichen Beschreibungen des Gelingens von Handlungen Gebrauch machen.
Hilary Putnam argumentiert aber z.B., dass schon unsere Begriffswahl von Wer-
tungen bestimmt ist, so dass schon auf dieser Ebene Evaluationen eine Rolle
spielen ([9], S 266). Beispielsweise liegt der begrifflichen Unterscheidung zwi-
schen Lebewesen und Sachen demnach ein Erfolgswerturteil zugrunde, denn es
bringt uns Vorteile in der Praxis, solche Dichotomien aufzubauen. Diese Proble-
me sind für die GDH-Theorie aber irrelevant. Wenn sie den Begriff „deskriptiv“
verwendet, dann nicht in Opposition zu „evaluativ“, sondern zu „moralisch nor-
mativ“ ([2], S 31). Es könnte sein, dass wir bei jeder menschlichen Erkenntnis
und Kommunikation auf irgendwelche Evaluationen angewiesen sind. Wir müs-
sen allerdings für unseren Zweck zwei Typen von Wertungen differenzieren:
1) diejenigen, die konkrete moralische Urteile präjudizieren und welche die Un-
terscheidung von Tun und Unterlassen unter der Perspektive ihrer moralischen
Funktion in der Sterbehilfeproblematik vornehmen; 2) diejenigen, die das nicht
tun. Nur wenn Handlungskategorisierungen von Überzeugungen über die mora-
lische Zulässigkeit von Tun und Unterlassen bestimmt werden, sind die Katego-
risierungen im für uns relevanten Sinn nicht mehr deskriptiv.
Das setzt voraus, dass man generelle Evaluationen, z.B. über den Erfolg der
Verwendung bestimmter Begriffe im Sprachsystem, von den konkreten morali-
schen Bewertungen bzgl. der Sterbehilfe trennen kann. Quante und Siep sugge-
rieren die Untrennbarkeit, wenn sie schreiben: „Denn wenn Handlungen nicht
durch die Angabe von Ursache-Wirkungs-Relationen, sondern nur in Bezug auf
soziale Konventionen erklärt werden (...) dann können Beschreibungen (...) und
Bewertungen (...) der Handlung auch nicht klar getrennt werden. (...) Vor allem
aber liegt die Vermutung nahe, daß hier die jeweilige Beschreibung eine Konse-
quenz der moralischen Überzeugung ist, so daß in ethischer Hinsicht eine petitio
principii (...) vorläge“ ([13], S 45 f.). Ich halte diese suggerierte Untrennbarkeit
für eine unbelegte These, die viel Verwirrung stiftet, z.B. im sogenannten „Posi-
tivismusstreit in der deutschen Soziologie“. Dass mich die Benutzung einer
Sprache zugleich auf bestimmte konkrete moralische Wertungen festlegt, ist ei-
ne kontraintuitive Unterstellung, deren Kritik ich anderen Orts durchgeführt ha-
be [6].
III. Probleme der GDH-Theorie
Man kann versuchen, den Sachverhalt des Geschehenlassens durch Handeln un-
ter engerer Zuhilfenahme des Konzepts der handlungskonstitutiven Körperbe-
wegung zu beschreiben. Das soll nun geschehen, wird uns aber später noch auf
Probleme der Theorie hinweisen. Das Abschalten eines Beatmungsgerätes ist
natürlich eine konstitutive Körperbewegung für die Tötung des Patienten B zum
Zeitpunkt t2. Allerdings ist es nicht konstitutiv für den vorgängigen Prozess, in
dem B sich befindet und der den Tod von B wohl schon zu t1 - vor Aufnahme
168 B. Gesang
der künstlichen Beatmung – verursacht hätte. Wenn jedwede Form des Gesche-
henlassens (auch GDH) über die Untätigkeit in bezug auf einen autonom ablau-
fenden Prozess definiert wird, dann kann es nie allein für den Tod des Patienten
logisch konstitutiv und kausal ursächlich sein.4GDH ist auf einer ersten Ebene
konstitutiv für den Tod von B zu t2, nicht aber auf einer zweiten, den autonom
ablaufenden Vorgang betreffenden Ebene. Die GDH-Theorie liefert ein griffiges
Unterscheidungskriterium, indem sie thematisiert, ob Körperbewegungen vor-
liegen und wofür diese konstitutiv sind oder nicht. So können wir unsere Intui-
tionen zusammenbringen, dass das Abstellen des Beatmungsgerätes ein Fall
passiver Sterbehilfe ist und dass die Differenz von aktiv und passiv mit dem Tun
und Unterlassen des Arztes zusammenhängt. Ohne die GDH-Theorie wäre bei-
des zusammen nicht zu haben.
Allerdings ergeben sich aus der gerade gelieferten Rekonstruktion der
GDH-Theorie auch Probleme. Beim Geschehenlassen durch Handeln und beim
„normalen aktiven Tun“ liegen Handlungen vor. Die Differenz dieser Handlun-
gen im Kontext Sterbehilfe liegt auf kausaler Ebene5: Beim Geschehenlassen
durch Handeln ist die beteiligte Handlung nicht hinreichend, um den Tod her-
beizuführen. Es bedarf zusätzlich eines vorgängigen physischen Prozesses beim
Patienten, der den Tod mitbewirkt. Bei der aktiven Sterbehilfe ist hingegen – ge-
geben einige Standardrandbedingungen6- im Regelfall die Handlung hinrei-
chend für den Tod (z.B. das Setzen einer Giftspritze). Wenn man nun diese kau-
sale Differenz allein als Unterscheidungskriterium für aktiv und passiv benutzt,
wird der Bereich der passiven Sterbehilfe sehr weit. Ein Beispiel: Einem schwer
kranken Patienten wird eine Giftspritze verabreicht. Die Dosis des Giftes würde
einen gesunden Menschen niemals töten. Der geschwächte Kranke stirbt jedoch.
Er stirbt nun offensichtlich nicht allein aufgrund des Giftes, folglich müsste man
nach der bisherigen Differenzierung anhand von hinreichenden Bedingungen
diesen Fall der passiven Sterbehilfe zuordnen. Dies ist stark kontraintuitiv, wo-
bei hier natürlich nicht moralische Intuitionen, sondern solche über den Charak-
ter von Aktivität und Passivität abgerufen werden sollen.
Birnbacher versucht, die passive Sterbehilfe daher einzuschränken, denn
nach seinem Vorschlag „kommt es nicht darauf an, ob das Verhalten des die
Sterbehilfe Leistenden aus einem Tätigwerden oder aus einem Unterlassen be-
steht, sondern darauf, ob der Handelnde dem Patienten etwas tut (aktive Sterbe-
hilfe) oder etwas mit ihm geschehen lässt (passive Sterbehilfe). (...) Während
bei der passiven Sterbehilfe der die Sterbehilfe Leistende mit dem Patienten le-
diglich ‘etwas geschehen läßt’, muß der aktive Sterbehilfe Leistende mit dem
Patienten in einen physischen Kontakt treten“ ([2], S 344). Hier wird also der
Ort, an dem Kausalität auftritt, relevant. Wird dem Patienten etwas direkt phy-
Aktive und passive Sterbehilfe 169
4Insofern ist es falsch, wenn Birnbacher sagt, passive Sterbehilfe setze eine notwendige und
hinreichende Bedingung des Todes. Hinreichend ist ein Geschehenlassen nämlich nicht
([2] S 339)
5Diese ist nicht mit der eingangs von Beauchamp u.a. vertretenen radikalen kausalen Diffe-
renz von Tun und Unterlassen zu verwechseln, die nicht haltbar ist
6Diese Bedingungen beschreiben die physische Normalverfassung eines Menschen. So darf
diesem vor dem Setzen einer Giftspritze z.B. kein Gegenmittel verabreicht worden sein. Mit
theoretischer Strenge könnte man von hier aus die Verwendung des Begriffs „hinreichende
Bedingung“ in unserem Kontext problematisieren. Allerdings bleibt die Unterschiedlichkeit
der beteiligten kausalen Sachverhalte davon unberührt, es könnte lediglich eine Benennung
eingefordert werden, die nicht mit dem Begriff der hinreichenden Bedingung operiert
sisch zugefügt, oder richtet sich die Intervention auf die Beendigung medizini-
scher Maßnahmen, also z.B. auf Geräte? Diese Abgrenzung reicht m.E. nicht
hin, um das Ausgangsproblem eines zu weiten Begriffs der passiven Sterbehilfe
zu lösen. Was heißt es, dass „unmittelbarer physischer Kontakt“ besteht? Ist das
Setzen einer Spritze ein unmittelbarer Kontakt, auch wenn nur die Nadel den
Patienten berührt? Wieso ist dieser Kontakt „unmittelbarer“ als der, den ein an-
deres technisches Hilfsmittel hat, z.B. ein Beatmungsgerät, dessen Abstellen
passiv sein soll? In direkten physischen Kontakt zum Patienten tritt der Arzt
auch dann, wenn er ihm z.B. einen Beatmungsschlauch aus dem Mund nimmt
und dabei sein Gesicht berührt. Gleichwohl würde man hier nicht gerne von ak-
tiver Sterbehilfe sprechen, sofern überhaupt ein Fall von Sterbehilfe vorliegt.
Auch wenn ein Arzt ein Gift in eine Infusionslösung mischt, die der Patient be-
reits empfängt, wirkt er nicht direkt kausal auf den Patienten ein, obwohl wir
diesen Fall der aktiven Sterbehilfe zuordnen wollen werden.
Wie können wir diesen Intuitionen mit einer deskriptiven Unterscheidung
entgegenkommen, die auf die beschriebenen Kausaldifferenzen Rücksicht
nimmt, diese aber etwas enger fasst? Es bietet sich folgender Vorschlag an, den
ich verteidigen will: Passive Sterbehilfe liegt vor, wenn die sonstigen allgemei-
nen Bedingungen für Sterbehilfe erfüllt sind und ein Geschehenlassen zum Tod
führt. Falls es sich um ein Geschehenlassen durch Handeln handelt, dürfen nur
solche Handlungen beteiligt sein, die eine zuvor vom Arzt initiierte medizinische
Maßnahme beenden. Einem geschwächten Kranken eine geringe Giftdosis zu
spritzen, wäre demzufolge aktive Sterbehilfe. Die Entnahme eines Beatmungs-
schlauches aus dem Mund des Patienten wäre passive Sterbehilfe. Der Ort der
kausalen Einwirkung wäre irrelevant, jedoch wäre neben den beschriebenen
Kausalverhältnissen in Form divergierender hinreichender Bedingungen auch
die Behandlungsgeschichte des Patienten relevant. Es würde zählen, ob eine
vom Arzt zuvor zum Zwecke der Unterbrechung des autonomen vorgängigen
Prozesses initiierte Maßnahme aufgehoben wird oder nicht. Wird eine solche
Maßnahme aufgehoben, handelt es sich um passive Sterbehilfe. Zu dieser wür-
den dann nicht mehr alle in einem bestimmten Kontext nicht für den Tod eines
Patienten hinreichenden Handlungen gezählt, sondern nur die auf die Beendi-
gung einer bereits initiierten Behandlung zielenden.
Damit hat sich die GDH-Theorie nahe an andere deskriptive Abgrenzungs-
vorschläge herangearbeitet, die z.B. von Baruch Brody [3], Frances Kamm7,
Bruce Reichenbach8, Michael Quante [10] und Thomas Fuchs [5] exponiert
werden, ohne dass diese Autoren ihre Theorien jedoch auf die Differenz von
Tun und Unterlassen zurückführen. Fuchs definiert z.B. „eigentliches“, nicht
170 B. Gesang
7Kamm schlägt zwei Kriterien für die Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen vor.
1: “Still, only a killing introduces an original cause which induces death, rather than merely
removing the barrier to a cause of death that is or will be present.“ 2: “Passive euthanasia by
action can be a killing or it can be a letting die (...), depending on such factors as who owns
the life-support machine and who is running it” ([8], S 30). Wie diese beiden Kriterien zu-
sammenpassen, ist allerdings unverständlich. Das Abschalten einer Beatmungsmaschine, was
nach dem ersten Kriterium ein Sterbenlassen ist, kann nach dem zweiten Kriterium ein Töten
sein
8Den Unterschied der Todesursachen bringt auch B.R. Reichenbach in Anlehnung an Paul
Ramsey als das vergleichsweise beste Abgrenzungskriterium für aktive und passive Sterbehil-
fe vor. Allerdings gibt Reichenbach Beispiele, wo diese Unterscheidung kontraintutiv werden
soll. Diese Beispiele überzeugen mich nicht, und Intuitionen können nicht das alleinige Ent-
scheidungskriterium sein, wenngleich sie relevant sind ([12], S 338 f.)
schon auf die Intentionen des Tötenden bezogenes Töten im Kontext der Sterbe-
hilfe als einen physischen Eingriff mit tödlicher Wirkung, bei dem der Patient
nicht an seiner „inneren“ Grunderkrankung stirbt, die sich in einem natürlich ab-
laufenden organismischen Desintegrationsprozess äußert, sondern von einer äu-
ßeren Gewalt überwältigt wird ([5], S 82 ff.). Auch hier spielt also die Indivi-
duierung eines autonomen bzw. eines nicht-autonomen Prozesses eine Rolle. Al-
lerdings kann es einen weitergehenden Unterschied zur GDH-Theorie geben.
Dazu folgendes Beispiel:
Die künstliche Ernährung eines Patienten wird zum Zweck der Leidensmin-
derung eingestellt. Nach Brody kann dies sowohl aktive wie passive Sterbehilfe
darstellen. Das wird wie folgt begründet: Brody fordert, „..daß nur derjenige
passive Sterbehilfe leistet, der etwas nicht tut oder verhindert, was die Krankheit
des Patienten daran hindert, dessen Tod herbeizuführen. (...) Aktiv ist die Ster-
behilfe (...) dann, wenn der Tod nach Entzug der künstlichen Ernährung in kei-
nem kausalen Zusammenhang mit der Erkrankung steht, die die künstliche Er-
nährung notwendig macht. Das könnte etwa der Fall sein, wenn der Patient we-
gen einer Lähmung künstlich ernährt werden muß, diese aber für seinen Tod in
keiner Weise kausal verantwortlich ist, der Tod also in derselben Weise wie
beim ansonsten Gesunden eintreten würde“ ([2], S 343).
Brody fordert, dass für die passive Sterbehilfe nicht nur irgendein autono-
mer vorgängig ablaufender physischer Prozess beim Patienten angenommen
werden muss, den man geschehen lässt. Vielmehr muß es sich nach seinem
Konzept hierbei immer um einen autonomen vorgängigen Sterbeprozess han-
deln. Nur ein Tod, der durch die tödliche Krankheit des Patienten (z.B. Krebs)
herbeigeführt wurde, ist charakteristisch für passive Sterbehilfe. Wenn die To-
desursache zwar aus einem vorgänigen autonomen Zustand (z.B. einer langjäh-
rigen Lähmung des Patienten) entspringt, dieser Zustand jedoch nicht Teil der
eigentlichen tödlichen Krankheit des Patienten (hier Krebs) ist, handelt es sich
um aktive Sterbehilfe. Für die GDH-Theorie ist es hingegen nur wichtig, dass
ein vorgängiger körperlicher Gesamtzustand des Patienten gegeben ist, der in ei-
nen Prozess mündet, den man geschehen lässt. Ob bestimmte Aspekte dieses
Gesamtzustands an der eigentlichen tödlichen Krankheit hängen oder nicht,
wird nicht differenziert.
Die Vorgehensweise der GDH-Theorie bietet an zwei Punkten entscheiden-
de Vorteile gegenüber der von Brody:
1. Die Individuierbarkeit von Sterbeprozessen.Brodys Ansatz erzwingt es, den
im Verbund mit der tödlichen Krankheit des Patienten ablaufenden Sterbepro-
zess in jedem Fall klar zu individuieren. Man muss immer genau wissen kön-
nen, ob der Patient an seiner potentiell tödlichen Krankheit, an anderen körperli-
chen Gebrechen oder an Einwirkungen von außen stirbt. Nehmen wir aber den
schon erwähnten Fall eines geschwächten Kranken an, der eine schwache Dosis
Gift injiziert bekommt, an der ein Gesunder nicht sterben würde. Ist der Tod auf
die tödliche Krankheit des Patienten zurückzuführen oder neu induziert? Hier
wird eine Separierung der Sterbeprozesse äußerst komplex, weil autonome und
nicht-autonome Elemente beteiligt sind und man offenbar dezisionistisch einen
dominanten Aspekt festlegen muss.
2. Die Übereinstimmung mit weitverbreiteten Intuitionen.In der Regel werden
Fälle, in denen man einen Patienten an seinem allgemeinen schlechten Gesund-
heitszustand zum Zwecke der Leidensminderung sterben lässt, als passive Ster-
Aktive und passive Sterbehilfe 171
behilfe eingestuft. Ob dabei die eigentliche tödliche Krankheit, oder andere, iso-
liert nicht tödliche Faktoren des Gesundheitszustandes den Ausschlag geben,
wird nicht unterschieden. Brodys Modell würde hier eine Neuklassifizierung
vieler Fälle erzwingen. Aufgrund dieser Punkte meine ich, dass sich die GDH-
Theorie gegenüber ihren Konkurrenten bewährt.
Damit haben wir die GDH-Theorie dargestellt und kritisch diskutiert.
Kann sie überzeugen? In fast allen Fällen bietet die GDH-Theorie für die Pra-
xis ein ganz eindeutiges und einfaches Kriterium, um Tun und Unterlassen,
Töten und Sterbenlassen und aktive und passive Sterbehilfe zu unterscheiden.
Man analysiert die Körperbewegungen des Arztes und prüft, ob sie für den
Tod hinreichend sind und ob sie eine zuvor initiierte Behandlungsmaßnahme
aufheben oder nicht. Diese Theorie deckt sich mit vielen unserer Intuitionen,
die schon von etwas weniger ausgefeilten Ansätzen wie dem von Rachels
dingfest gemacht wurden. Wenn man sich den hochkomplexen Ansatz von
Guckes anschaut, wird man diese Tugenden zu schätzen wissen. Zudem bringt
die GDH-Theorie einige normativ wichtige Punkte zum Vorschein, die andere
Ansätze nicht in dieser Weise einholen können. Das soll der nächste Abschnitt
belegen.
Welchen Fortschritt bringt uns die GDH-Theorie? Schließen wir den
Kreis, und gehen wir zum eingangs referierten Beispielfall des Arztes zurück,
der eine Beatmungsmaschine nicht abstellen will, um keine aktive Sterbehilfe
zu leisten. Die GDH-Theorie erlaubt eine eindeutige Zuordnung des Abstel-
lens der Maschine zum Typus der passiven Sterbehilfe. So wird dem von der
Zulässigkeit passiver Sterbehilfe überzeugten Arzt die Unsicherheit genom-
men, und der Patient muss nicht unnötig länger leiden, bis eine Aufstockung
der Sauerstoffdosis notwendig wird. Die deskriptive Differenz zwischen akti-
ver und passiver Sterbehilfe ist durch die GDH-Theorie entgegen vielen Bei-
trägen in der Debatte rehabilitiert worden, die diese Differenz ganz fallen las-
sen wollen. Dabei muss vor dem Eindruck gewarnt werden, hier handele es
sich um ein bloßes Zurechtlegen von Definitionen, mit dem Ziel der Immuni-
sierung einer bestimmten ethischen Position. Die getroffenen Definitionen
wurden ganz unabhängig von ethischen Zielen in einem handlungstheoreti-
schen Kontext aufgestellt. Sie sind durch handlungstheoretische Sachzwänge
und kausale Analysen begründet.
Was nützt uns die so gewonnene Klarheit der Klassifizierung für normative
Belange? Nun, die normative Debatte um die moralische Erlaubtheit von Stan-
dardfällen aktiver Sterbehilfe wird hiervon nicht berührt. Allerdings verschiebt
die deskriptive GDH-Theorie die Grenze zwischen den beiden Typen der Ster-
behilfe. Der Bereich der passiven Sterbehilfe wird mit rein handlungstheoreti-
schen und nicht moralisch aufgeladenen Gründen gegenüber manchen Intuitio-
nen erweitert, denn: Geschehenlassen durch Handeln kann zur passiven Sterbe-
hilfe zählen. Diese Fälle, die sonst in einer Grauzone liegen, können eindeutig
in den Bereich der passiven Sterbehilfe eingeordnet werden, was die Anzahl der
hochproblematischen Fälle aktiver Sterbehilfe deutlich verringert.9Für diejeni-
gen, die mit der aktiven Sterbehilfe kein Problem haben, ist dies vielleicht nicht
wichtig. Allerdings haben eben viele Menschen und auch unserer Rechtssystem
bedeutende Probleme mit aktiver Sterbehilfe.
172 B. Gesang
9Übrigens wird natürlich nicht impliziert, dass passive Sterbehilfe unbedenklich ist. Das ist
nur eine häufige Intuition, die unser Beispielfall aufgreift
IV. Einige normative Unterschiede von aktiver und passiver Sterbehilfe
Bislang hat uns die deskriptive Seite der aktiv-passiv-Unterscheidung beschäf-
tigt. Im folgenden sollen auch normative Aspekte beachtet werden. Dabei soll
nicht aufgezeigt werden, an welchen Punkten besagte Unterscheidung keine we-
sentlichen normativen Differenzen begründet. Dies ist in der aktuellen Literatur
hinlänglich geschehen. Die normative Relevanz des Unterschiedes ist zeitweilig
stark überschätzt worden. In diesem Sinne äußern sich fast alle Teilnehmer der
gegenwärtigen Debatte. Allerdings gibt es auch einige immerhin beachtenswerte
Unterschiede, die normative Relevanz haben. Diese Aspekte kann man jedoch
nicht berücksichtigen, wenn man auf der deskriptiven Seite eine eindeutige ak-
tiv-passiv-Dichotomie leugnet. Hier soll also die Relevanz der deskriptiven De-
finitionsvorschläge der GDH-Theorie durch die Verfügbarkeit zusätzlicher ein-
leuchtender normativer Differenzierungsmöglichkeiten betont werden.
1) Wahrscheinlichkeit des Todeseintritts: Bei der aktiven Sterbehilfe ist die
Wahrscheinlichkeit höher, dass der Tod des Patienten infolge eines Eingriffs ein-
tritt, als bei der passiven. Ein vom Beatmungsgerät abgekoppelter Patient könn-
te überraschend überleben. Ein Patient, der eine Giftspritze erhalten hat, stirbt
hingegen gewiss. Dieses Argument kann man für oder gegen die Anwendung
der aktiven Sterbehilfe verwenden. Es kann gerade ein Vorteil sein, dass der Tod
schnell und gewiss eintritt, solange klar ist, dass der Patient unheilbar krank ist.
Dass der vom Beatmungsgerät abgekoppelte Patient noch zwei Tage weiter lebt
und leidet ist keine positive Folge. Es kann aber auch ein Nachteil sein, wenn
der Patient sofort stirbt, denn Fehldiagnosen werden so zwangsläufig tödlich en-
den. Der Patient hat – im Gegensatz zur passiven Sterbehilfe – keine Chance,
Fehldiagnosen zu überleben. Wie man das Argument auch wendet, es gibt einen
Anhaltspunkt dafür, dass aktive Sterbehilfe entweder moralisch besser oder
schlechter ist als passive. Es begründet eine moralische Differenz, die man
schnell nachvollziehen kann. Diese Differenz ist aber abhängig von einer de-
skriptiven Abgrenzbarkeit der Typen der Sterbehilfe, die sich in etwa mit der
oben exponierten Abgrenzung deckt.
2) Fehlprognosen: In Zusammenhang mit einem zweiten Aspekt wird das erste
Argument häufig zu einem Argument gegen die Liberalisierung aktiver Sterbe-
hilfe. Bei jeder Diagnose besteht das Risiko eines Fehlers. Tom Beauchamp
macht das Problem deutlich, indem er zwei Typen von fehldiagnostizierten Pati-
enten unterscheidet: „1. Patienten, deren Lage fälschlicherweise als hoffnungs-
los beurteilt wird, die aber überleben, auch wenn eine Behandlung abgebrochen
wird. (...). 2. Patienten, deren Lage fälschlicherweise als hoffnungslos beurteilt
wird, die aber nur dann überleben, wenn die Behandlung nicht abgebrochen
wird“ ([1], S 278 f.). Wäre nur passive Sterbehilfe erlaubt, so könnten nur Pati-
enten der Kategorie zwei verloren werden. Wäre aktive Sterbehilfe erlaubt, so
würde man zumindest einige Patienten der Kategorie 1 unnötig verlieren. Das
ist kein Argument für eine grundsätzliche Ablehnung der aktiven Sterbehilfe,
denn diese bietet ja auch Vorteile (Leidensminderung), die gegen diesen Nach-
teil abgewogen werden müssen, der aufgrund der Unwahrscheinlichkeit radika-
ler Fehldiagnosen eher selten eintreten wird. Zusätzlich gibt es auch Punkte, an
denen die passive Sterbehilfe als fehlurteils- und missbrauchsgefährdeter ange-
sehen werden muss als die aktive. So ist die Hemmschwelle für Angehörige, die
einem Patienten einen Todeswunsch einreden wollen, geringer, wenn es sich um
Aktive und passive Sterbehilfe 173
den Wunsch nach passiver Sterbehilfe handelt ([2], S 358). Diese normativen
Unterschiede von aktiver und passiver Sterbehilfe erheben nicht den Anspruch
auf Vollständigkeit. Sie exemplifizieren lediglich, dass es normative Unterschie-
de gibt und dass man eindeutige deskriptive Definitionen benötigt, um diesen
Aspekten ihr Recht zu geben. Das ist nicht möglich, wenn man Reichenbachs
Fazit akzeptiert, dass aktiv und passiv im wörtlichen Sinne in der Anwendung
auf die Problematik der Sterbehilfe völlig fehl am Platze sind.
Man betrachte zum Vergleich den Ansatz von Quante und Siep. Die Autoren
kommen zu dem Ergebnis, dass die Differenz von aktiv/passiv wenn überhaupt,
dann nur unter Bezug auf die Selbstzuschreibungen der Akteure sinnvoll ist. Da-
bei ist letztlich auch das Selbstbild der Akteure entscheidend: Ob der Handelnde
selbst sich als aktiven oder passiven Faktor betrachtet, soll die „einzig brauch-
bare Interpretation der Differenzierung“ sein, der Quante und Siep jedoch so-
wieso keine ethische Tragfähigkeit zusprechen ([13], S 49). Nun wird die ak-
tiv/passiv-Unterscheidung jedoch an sehr vielen Orten verwendet, und ein Ver-
zicht auf sie zeichnet sich nicht ab. Wenn man die Differenz angemessen ge-
brauchen will, statt sie „auszumustern“, muss man sie wie oben geschehen de-
skriptiv trennscharf gestalten. Sonst bleibt tatsächlich nur der von Siep und
Quante beschriebene Weg, auf Selbstzuschreibungen zu rekurrieren: Wenn sich
also ein Arzt, der ein Beatmungsgerät abstellt, als aktiver Faktor und damit als
Tötender vorkommt, dann ist er es auch. Damit kann jede Art von Sterbehilfe
als aktiv oder passiv klassifiziert werden, d.h. die Differenzierung wird beliebig.
Ethische Konsequenzen der in diesem Abschnitt dargelegten Art können dann
nicht mehr mit Aktivität und Passivität verknüpft werden, was weder dem Com-
mon Sense noch philosophischem Differenzierungsbemühen entspricht.
Zur Zusammenfassung nochmals die wichtigsten Aspekte der modifizierten
GDH-Theorie auf einen Blick: Die GDH-Theorie unterscheidet ein bloßes Ge-
schehenlassen vom Geschehenlassen durch Handeln. GDH-Fälle bereiten die ei-
gentlichen Probleme bei der Zuordnung von Grenzfällen zwischen aktiver und
passiver Sterbehilfe. GDH kann aber in diesem Kontext als ein Handeln verstan-
den werden, das keine hinreichende Bedingung für den Tod eines Patienten ist.
Es ist daher eine Form des Geschehenlassens und damit des Unterlassens. Ein
vorgängiger autonomer Krankheitsprozess des Patienten kann sich ungehindert
entwickeln, da man verzögernde Maßnahmen unterlässt. Die alleinige Orientie-
rung an hinreichenden Bedingungen erzeugt allerdings einen zu weiten Begriff
passiver Sterbehilfe. Daher plädiere ich für folgende Definition:
Passive Sterbehilfe liegt vor, wenn die sonstigen allgemeinen Bedingungen
für Sterbehilfe erfüllt sind und ein Geschehenlassen zum Tod führt. Falls es sich
um ein Geschehenlassen durch Handeln handelt, dürfen nur solche Handlungen
beteiligt sein, die eine zuvor vom Arzt initiierte medizinische Maßnahme been-
den. Jede andere Form der Sterbehilfe ist aktiv.
Literatur
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174 B. Gesang
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(Hrsg) Um Leben und Tod. Suhrkamp, Frankfurt, S 318–348
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nischen Handelns philosophisch zu rechtfertigen? In: Holderegger A (Hrsg) Das medizi-
nisch assistierte Sterben. Universitäts-Verlag, Freiburg, Schweiz; Herder, Freiburg i. Br.,
Wien, S 37–55
Aktive und passive Sterbehilfe 175