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Gredig, Daniel; Wilhelm, Elena
Forschung als Rückgrat von Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit. Eine
Diskussion zweier Sammelbände
Zeitschrift für Pädagogik 47 (2001) 5, S. 693-702
urn:nbn:de:0111-opus-43099
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Zeitschrift für Pädagogik
Jahrgang 47 - Heft 5 - September/Oktober 2001
Essay
621 ANDREAS GRUSCHKA
Bildung: Unvermeidbar und überholt, ohnmächtig und rettend
Thema: Zum Wissenschaftsdiskurs in der Sozialpädagogik
641 JÜRGEN REYER
Der Theorieverlust der Sozialpädagogik: Verfallsgeschichte oder
Diversifizierung? Eine historische Rekonstruktion
661 ROLAND MERTEN
Differenzierungsgewinne? Zum Verhältnis von Allgemeiner Pädagogik
und Sozialpädagogik
675 IRENE SOMM
Eine machtanalytische Revision von Oevermanns Professionalisierungs
theorie aus sozialpädagogischer Perspektive
693 DANIEL GREDIG/ELENA WILHELM
Forschung als Rückgrat von Disziplin und Profession der
Sozialen Arbeit. Eine Diskussion zweier Sammelbände
Weitere Beiträge
70 3 ULRICH TRAUTWEIN/OLAF KÖLLER/JÜRGEN BAUMERT
Lieber oft als zu viel: Hausaufgaben und die Entwicklung von Leistung
und Interesse im Mathematik-Unterricht der 7. Jahrgangsstufe
725 WOLF-DIETRICH GREINERT
Berufsausbildung und digitaler Kapitalismus: Eine Problemskizze
Diskussion
739 CHRISTOPH OEHLER
Bildungssoziologie als eine Grundlage der Professionalisierung von
Lehramtsstudierenden. Bericht über ein Forschungsprojekt
749 ROLAND BÄTZ
Horror vacui oder keine Angst vor der Lehre - Zum Fremden aus der
Sicht eines Seminars künftiger Lehrkräfte
767 FRANK MÜLLER/MARTINA MÜLLER
Pädagogik und „Biogenetisches Grundgesetz". Wissenschaftshistorische
Grundlagen des pädagogischen Naturalismus
Besprechungen
787 DIETRICH BENNER
Irene Frohne (Hrsg.): Sinn- und Wertorientierung in der Grundschule
Hartmut Giest/Gerheid Scheerer-Neumann (Hrsg.): Jahrbuch Grund-
schulforschung. Bd. 2
Wilhelm Wittenbruch/Markus Brenk/Annette Drees: „Fördern" und
„Auslesen". Texte und Dokumente aus acht Jahrzehnten zur Konflikt-
struktur der Grundschule
Ursula Drews/Gerhard SchneiderAVulf Wallrabenstein: Einführung in die
Grundschulpädagogik
Margarete Schäfer: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Alltag in der
Grundschule
Annette Dreier/Diemut Kucharz/Jörg Raniseger/Bernd Sörensen: Grund-
schulen planen, bauen, neu gestalten
794 EDWIN KEINER
Annette M. Stroß/Felicitas Thiel (Hrsg.): Erziehungswissenschaft, Nach-
bardisziplinen und Öffentlichkeit. Themenfelder und Themenrezeption
der allgemeinen Pädagogik in den achtziger und neunziger Jahren
Dokumentation
799 Pädagogische Neuerscheinungen
II
DANIEL GREDIG/ELENA WILHELM
Forschung als Rückgrat von Disziplin und
Profession der Sozialen Arbeit
Eine Diskussion zweier Sammelbände1
In den letzten Jahren konzentrierte sich ein beträchtlicher Teil der Diskussio-
nen in der wissenschaftlichen Sozialen Arbeit auf ihren Status als Disziplin.
Ausgangspunkt der Überlegungen waren die Verunsicherung über die diszipli-
nare Eigenständigkeit und die Ungewissheit der Abgrenzungen zu den Nach-
bardisziplinen. In der Sozialarbeit wurde unter Abgrenzung von der Sozialpäd-
agogik der Aufbau einer selbstständigen Sozialarbeitswissenschaft diskutiert
und postuliert. In der Sozialpädagogik stand das Verhältnis zur Erziehungswis-
senschaft, die disziplinare Eigenständigkeit und zu einem gewissen Grad auch
die Verankerung an den Universitäten zur Debatte. Es entspricht dem erreich-
ten Stand dieser Diskussionen, dass sich die Aufmerksamkeit nun auf For-
schung richtet, trat doch im Laufe der Debatte wieder in Erinnerung, dass ein
Fach seine disziplinare Gestalt in erster Linie über die Forschung erhält, die in
seinem Namen betrieben wird.
Im Folgenden gilt die Aufmerksamkeit zwei Veröffentlichungen, die die
Forschung in der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit zum Thema haben.
Trotz der gemeinsamen Thematik verfolgen die beiden Bände zwei recht unter-
schiedliche Anliegen: Die Autoren und Autorinnen um RAUSCHENBACH/THOLE
streben eine Reflexion der Forschung in Sozialer Arbeit in ganzer Breite an.
Die Herausgeber machen dabei deutlich, dass sie ,sozialpädagogische For-
schung' als einen Oberbegriff für ein facettenreiches Forschungsgeschehen mit
unterschiedlichsten Schattierungen verstehen - eine ganze „Forschungsland-
schaft" (S. 7) eben. Im Fall des zweiten Bandes liegt dies anders. Die Autoren-/
Autorinnengruppe um STEINERT versucht ein wesentlich enger gefasstes Ver-
ständnis von ,Sozialarbeitsforschung' zu portieren: Aus den vielfältigen Aktivi-
täten zur methodisch kontrollierten Erkenntnisgewinnung im Zusammenhang
mit Sozialer Arbeit möchte dieses Autoren-/Autorinnenkollektiv gewisserma-
ßen nur einen Ausschnitt als die ,Sozialarbeitsforschung' verstanden haben.
Ihnen zufolge dürften sich wohl nur jene Forschungsaktivitäten der ,Sozialar-
beitsforschung' zurechnen, die praxisorientierte Forschung betreiben. Damit
geben sie der ,Sozialarbeitsforschung' einen Umriss, der in anderem Lichte le-
diglich ein Teil des Ganzen zu sein scheint. Die zwei Autoren-/Autorinnen-
gruppen sprechen also nicht vom selben.
Angesichts der vielen noch offenen Fragen und der in diesen zwei Publi-
kationen exemplarisch zu Tage tretenden Divergenzen wird sich die Diskus-
1 THOMAS RAUSCHENBACH/WERNER THOLE (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Gegenstand
und Funktionen, Bereiche und Methoden. Weinheim/München: Juventa 1998. 264 S., DM
38,-.
ERIKA STEINERT/BIRGITTA STICHER-GIL/PETER SOMMERFELD/KONRAD MAIER (Hrsg.): Sozialar-
beitsforschung: was sie ist und leistet. Freiburg i.Br.: Lambertus 1998. 207 S., DM 34,-.
Z.f.Päd., 47. Jg. 2001, Nr. 5
694 Thema: Zum Wissenschaftsdiskurs in der Sozialpädagogik
sion über Forschung in der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit zunächst
auf forschungstheoretische Aspekte zu konzentrieren haben. Dementspre-
chend wird sich auch der Fokus der folgenden Diskussion auf jene Beiträge
in diesen Bänden konzentrieren, die sich mit dem Forschungsverständnis,
dem Forschungsgegenstand sowie den Forschungsmethoden auseinanderset-
zen.
1. Sozialpädagogische Forschung
Vor dem Hintergrund der gewählten Perspektive müssen insbesondere zwei
Beiträge aus dem Sammelband von RAUSCHENBACH/THOLE diskutiert werden.
Diese Beiträge entstanden auf die Aufforderung der Herausgeber, die Auto-
ren/-rinnen sollten mit Blick auf ihre eigene Forschungstätigkeit prüfen, in-
wiefern diese Forschung einen „speziellen, ausweisbaren Bezugspunkt zur
Sozialen Arbeit" zeige und ob dieser hinreiche, diese Arbeiten als „eine eigen-
ständige sozialpädagogische Forschung zu charakterisieren" (S. 7). Den Hinter-
grund dieser Selbstbeobachtung bildet die von den Herausgebern in den „Ein-
leitenden Beobachtungen" hervorgehobene Einschätzung, dass auch heute
„allenfalls in Ansätzen" von einer „eigenen sozialpädagogischen Forschungs-
kultur" die Rede sein könne (S. 9). Die Forschung in der Sozialen Arbeit habe
sich daher „erst noch einmal seiner [sie!] selbst [zu] vergewissern" (S. 10). Em-
pirisch gestützte Aussagen zum Entwicklungsstand der sozialpädagogischen
Forschung und mithin der Disziplin dürfen aber nicht erwartet werden. Wer ge-
hofft hat, die Sozialpädagogik sei nun endlich so weit wie die Erziehungswis-
senschaften, die zu ihrer disziplinären Selbstvergewisserung inzwischen auf
Forschung über erziehungswissenschaftliche Forschung zurückgreifen kann
(BAUMERT/ROEDER 1994; MACKE 1994), sieht sich enttäuscht. Forschung über
sozialpädagogische Forschung - darauf wird mehrmals verwiesen - kann nicht
vorgelegt werden.
RAUSCHENBACH/THOLE legen einleitend eine Typisierung sozialpädagogi-
scher Forschung vor, die für eine erste Annäherung interessant ist: Unter ,so-
zialpädagogischer Importforschung' wären jene Untersuchungen zu verstehen,
deren Ergebnisse weder aus dem sozialpädagogischen Diskurs hervorgegangen
noch auf ihn zurückbezogen wurden, für die Praxis der Sozialen Arbeit aber
von Belang sind. Der Begriff der ,sozialpädagogischen Exportforschung' wird
für Forschungen vorgesehen, die aus einem sozialpädagogischen Blick heraus
entwickelt wurden, sich aber auf Objekte beziehen, die dem Gegenstandsbe-
reich anderer Disziplinen zuzurechnen sind. Die ,genuin sozialpädagogische
Forschung' umfasst schliesslich jene Forschungen, die ihre Fragestellung aus
dem fachinternen Diskurs entwickeln und an einen Beobachtungsgegenstand
aus einem Praxisfeld der Sozialen Arbeit richten. Dass dieselben Gegenstände
auch Objekt anderer Disziplinen werden können, tut hierbei nichts zur Sache.
Entscheidend ist, dass sich sozialpädagogische Forschung ihren Gegenständen
mit einem „sozialpädagogischen Blick" nähert und mit diesem sich stets in ei-
nem Feld „zwischen Subjekt- und Strukturperspektive", „zwischen Feld- und
Bildungsbezug", „zwischen institutionellen und persönlichen Aspekten" ansie-
delt (S. 20).
Gredig/Wilhelm: Forschung als Rückgrat von Disziplin und Profession 695
An dieser Stelle setzt WALTER HORNSTEIN präzisierend an. In einem ersten
Schritt bestimmt er ,Forschung' als eine auf Wissenszuwachs gerichtete Tätig-
keit, die in methodisch kontrollierter und von Dritten überprüfbarer Weise
neue Erkenntnisse produziert mit dem Ziel der Aufdeckung allgemeiner
Zusammenhänge, d.h. von Theorie. Unter erziehungswissenschaftlicher For-
schung, worunter er auch die sozialpädagogische Forschung subsumiert, ver-
steht er jene auf Erkenntnis zielenden Tätigkeiten, die pädagogische Prozesse
und deren „Voraussetzungen auf den verschiedenen Ebenen und verschiedens-
ter Art, also organisatorische, ökonomische, rechtliche, personelle" (S. 49), ins
Auge fassen. In einem zweiten Schritt wendet er sich der Entwicklung der
sozialpädagogischen Forschung während der letzten zehn Jahre und ihren Defi-
ziten zu. Als Hauptgrund für die von ihm ausgemachten Defizite nennt HORN-
STEIN die mangelnde Reflexion darüber, „was die Identität einer sozialpädago-
gisch-erziehungswissenschaftlichen Forschung" sei (S. 65). Er zeichnet eine
Sozialpädagogik, die sich nicht nur als „Wissenschaft der Praxis" und damit auf
die Generierung von Problembearbeitungswissen versteht, sondern als Wissen-
schaft, die nebst der Dimension der sozialpädagogischen Intervention immer
auch die Frage der Problemgenese mitumfasst. Die „herrschende" Meinung,
wonach die Sozialpädagogik vor allem oder ausschliesslich eine „Wissenschaft
für die Praxis" zu sein habe, hindere die Disziplin, eine eigene wissenschaftli-
che Dignität und ein entsprechendes Selbstbewusstsein zu entwickeln (S. 65).
Unter Absage an jene Konzepte, die in der theoretischen Traditionslinie zu
GERTRUD BÄUMER stehen und den Gegenstand der Sozialpädagogik über die
Abgrenzung eines bestimmten Bereichs der (sozial-)pädagogischen Praxis be-
stimmen, plädiert er für eine Sozialpädagogik, die ihre Spezifik in einer „Refle-
xionsform" (S. 61) findet, in de r das „Verhältnis von Individuum und Gesell-
schaft unter dem Gesichtspunkt seiner Bildung" (S. 68) bedacht wird und
einem Verständnis von Sozialpädagogik nahekommt, das in einer Tradititions-
linie zu PAUL NATORP und damit zum zweiten, konkurrierenden Paradigma in
der Disziplin steht. Das Interesse einer so verstandenen Sozialpädagogik lässt
sich als „Interesse an der Entfaltung und Steigerung der Handlungs- und Le-
bensmöglichkeiten der Individuen" (S. 69) umschreiben.
Aufgabe einer so verstandenen Sozialpädagogik ist es dann, zu fragen, wie
Menschen als Subjekte ihrer Biographie unter historisch gegebenen Umständen
verstanden werden können. Ferner wäre es Aufgabe einer solchen Sozialpäd-
agogik, zu erforschen, „wie die sozialen und bildungsmässigen Voraussetzun-
gen beschaffen sein müssen, die sie [die Menschen] potentiell dazu befähigen,
in Autonomie und Selbstbestimmung ihr Leben zu gestalten" (S. 69). Nach
HORNSTEIN kommt z.B . die sozialpädagogische Adressatenforschung ihrer Auf-
gabe nur dann nach, wenn sie nebst der Beschreibung der Subjekte und ihrer
Lebensprobleme auch den Zusammenhang dieser Probleme mit sozialen und
situativen Kontexten aufarbeitet, und zwar unter Berücksichtigung sozialöko-
logischer Validität und historischer Bedingungen, die ihrerseits wiederum stets
als Produkte politischen und professionellen Handelns begriffen werden müs-
sen (S. 75). Eine so konzipierte Sozialpädagogik hat zwei Themen: erstens die
„Auseinandersetzungs- und Bildungsprozesse des Individuums ,in seinen Ver-
hältnissen'" sowie die damit verbundene Frage nach der Beförderung des Zu-
sammenlebens von Menschen durch Bildungsprozesse; zweitens die Reflexion
696 Thema: Zum Wissenschaftsdiskurs in der Sozialpädagogik
einer bestimmten Praxis (S. 76). - HORNSTEIN legt einen überaus anregenden,
stringent argumentierenden Beitrag vor. Mit dem Verweis auf zwei Paradigma-
ta innerhalb der Sozialpädagogik, die er in einer kurzen Umschreibung griffig
charakterisiert, legt er Elemente offen, die für eine reflektierte Debatte um die
Gegenstandsbestimmung von Sozialpädagogik, aber auch für die Bestimmung
des Verhältnisses zur Sozialarbeit von Bedeutung sind und zu weiterer histori-
scher Vergewisserung Anstoß geben. Zwei andere Punkte, die in der weiteren
Debatte bedeutsam werden dürften, sind sein Beharren auf einer Sozialpäd-
agogik, die sowohl Problemerklärungswissen als auch Problemlösungswissen
hervorbringen soll, sowie die Stärkung des bildungstheoretischen Ansatzes.
CHRISTIAN LÜDERS eröffnet sein Votum mit einer kritischen Note, die offen-
sichtlich auf die Einleitung der Herausgeber und den Artikel von HORNSTEIN
Bezug nimmt: In forschungsmethodischer Hinsicht bringe die Rede von einer
genuin sozialpädagogischen Forschung eher ein Versprechen zum Ausdruck,
als dass damit auf methodischer Ebene ein auch nur in seinen Konturen er-
kennbares Forschungskonzept bezeichnet würde. Er geht davon aus, dass es
nur dann Sinn mache, von genuin sozialpädagogischer Forschung zu sprechen,
wenn damit „eine besondere, inhaltlich-disziplinäre, sozialpädagogisch begrün-
dete Forschungskonzeption" bezeichnet und „ein spezifisches, inhaltlich be-
gründetes Verhältnis von Fragestellung, Gegenstand und Verfahren" (S. 114)
angesprochen seien. LÜDERS rückt hierin von der pragmatischen Position ande-
rer Autoren/-innen ab, die sich mit Blick auf die Forschungsmethoden lediglich
auf den Grundsatz berufen, die Methoden hätten dem Gegenstand zu entspre-
chen. In seinen Augen ist der Begriff einer „genuinen sozialpädagogischen For-
schung" nur dann zulässig, wenn sich diese Forschung auf eine inhaltliche Bin-
dung mit bestimmten Methoden einlässt (hierauf wird zurückzukommen sein).
Zunächst expliziert LÜDERS sein Verständnis von Forschung. Indem er sie
gleich und fast unbemerkt auf sozialwissenschaftliche Forschung eingrenzt, de-
finiert er Forschung als das theoretisch und methodologisch begründete Beob-
achten, Beschreiben und Rekonstruieren „gesellschaftlicher Ausschnitte der
Wirklichkeit auf der Basis sozialwissenschaftlicher Erhebungs- und Analyse-
verfahren". Ziel dieser Tätigkeiten sei generalisierbares systematisches Wissen.
Er hebt hervor, dass nicht alle wissenschaftliche und akademische Tätigkeit
,Forschung' genannt werden könne, und distanziert sich von Konzepten der
Praxisforschung, in denen Forschung und Praxis diffundieren und die konstitu-
tive Differenz zwischen Wissenserzeugung und praktischem Handeln übergangen
werde (S. 116f.). LÜDERS skizziert drei in der sozialpädagogischen Diskussion
auffindbare Forschungspositionen. Eine erste Position verstehe sozialpädagogi-
sche Forschung als Forschung mit Blick auf ein Handlungsfeld, wobei jeweils
das „Spannungsfeld" zwischen den konstitutiven Momenten dieses Feldes,
nämlich zwischen den Adressaten/-innen, den Institutionen und den sozialpäd-
agogisch Tätigen das Thema sei. Eine solche Bestimmung hält LÜDERS nicht
für ausreichend. Eine zweite Position postuliere eine Strukturhomologie zwi-
schen sozialpädagogischem Handeln und sozialpädagogischer Forschung. So-
wohl die Tätigkeit der Professionellen als auch diejenige der Forscher/-innen
sind dieser Auffassung nach durch eine und dieselbe Haltung geprägt, die als
ethnographisch bezeichnet wird und auf der Ebene der Forschung in rekon-
struktiven Verfahren ihre Realisierung findet. Eine dritte Position, für die hier
Gredig/Wilhelm: Forschung als Rückgrat von Disziplin und Profession 697
HORNSTEIN steht, verfährt so, dass sie erst einen Begriff von Sozialpädagogik
entwickelt, um, von diesem ausgehend, zu diskutieren, welche Form eine ihr
angemessene Forschung haben müsste. Diesem Vorgehen hält LÜDERS entge-
gen, dass es die Kluft zwischen dem allgemeinen theoretischen Entwurf und
der realisierbaren Forschungsanlage nicht schließen könne. Dieses Konzept
von Sozialpädagogik nötige zu einer Komplexität, die von keinem Forschungs-
projekt eingeholt werden könne (S. 126).
Dies führt ihn zum Fazit, dass es „eine genuin sozialpädagogische Forschung
in dem eingangs skizzierten Sinne nicht gibt", sie formuliere einen Anspruch,
dem forschungsmethodisch nicht beizukommen sei. LÜDERS plädiert daher da-
für, anstelle einer „genuin sozialpädagogischen Forschung" eine „handwerklich
ordentliche sozialwissenschaftliche, für die Sozialpädagogik relevante For-
schung" zu betreiben. Diese Folgerung am Ende eines stringent argumentie-
renden Artikels beeindruckt. Der scharfsinnige Kritiker kommt zu einem Aus-
weg, zu dem die Denker der Zunft selbst nicht fanden: mehr Bescheidenheit,
d.h. (einstweiliger) Verzicht auf die Inanspruchnahme von „genuin" sozialpäd-
agogischer Forschung zugunsten eines pragmatischen Vorgehens, bei dem
„über sozialpädagogisch relevante Fragestellungen mittelfristig allgemein aner-
kannte einschlägige forschungsleitende Kategorien und dafür adäquate Ergeb-
nis- und Auswertungsstrategien" entwickelt werden müssen (S. 129). Ist der
Kritiker aber von dannen, bleibt dem Leser und der Leserin die Frage, ob die-
ser Schluss auch dann zwingend ist, wenn man LÜDERS' sehr weitgehende An-
forderung an eine „genuin" sozialpädagogische Forschung nicht gelten lässt
und insbesondere die von ihm erst ins Spiel gebrachte Forderung nach beson-
deren Verfahren relativiert. Es stellt sich dann die Frage, ob der Kritiker hier
nicht einen Popanz aufbaut, um ihn hernach glanzvoll niederzureißen. HORN-
STEIN entgegnet dann auch entsprechend, er könne LÜDERS' Einwände nicht
gelten lassen, falls damit angesprochen sei, dass „sozialpädagogische" For-
schungsmethoden gefunden werden müssten. Er bekräftigt seine Position, wo-
nach sozialpädagogische Forschung durch ihre Fragestellung bestimmt werde
und im übrigen diejenigen Verfahren kunstgerecht zur Anwendung bringen
müsse, die - ungeachtet der disziplinären Herkunft - dem jeweiligen Gegen-
stand angemessen seien (S. 71).
Die weiteren Beiträge in dem Sammelband sind für die Fragestellung weni-
ger ergiebig. Auf der Suche nach einer Bestimmung sozialpädagogischer For-
schung und dem für sie „Differentiellen" (S. 30) nimmt sich KLAUS MOLLEN-
HAUER gleich zu Beginn seines Artikels methodischer Fragen an, um zum
Schluss z u kommen, dass sich gerade auf forschungsmethodischer Ebene keine
Besonderheit der Sozialpädagogik ausmachen lasse: „Das ist kein überraschen-
der Befund, sondern der sozialwissenschaftliche Normalfall." (S. 33) Was sozial-
pädagogische von anderer erziehungswissenschaftlicher Forschung unterscheid-
bar macht, will MOLLENHAUER vielmehr in einer „thematischen Kohärenz" sehen,
„die in anderen Teildisziplinen der Pädagogik zurücktritt" (S. 33). Er bringt die
gemeinsame Thematik auf den Nenner von vier Begriffen: Generation, Norma-
litätsbalancen, Armut, Interkulturalität. Zusätzlich zur Forschung entlang die-
ser Problemkonstellationen scheint ihm „Treatment"-Forschung von Bedeu-
tung, mittels derer die Problemangemessenheit der professionellen Reaktionen
ermittelt werden könne. Die Tatsache, dass gewisse traditionelle pädagogische
698 Thema: Zum Wissenschaftsdiskurs in der Sozialpädagogik
Begriffe die Form des Handelns in vielen Bereichen der Sozialpädagogik nicht
mehr erreichten, veranlassen ihn zur abschließenden Mahnung, die Aufmerk-
samkeit für kategoriale Ordnungen wieder zu schärfen und auch aus dieser
Perspektive die Zugehörigkeit zum Fach zu prüfen (S. 44). HANS THIERSCH
stellt „lebensweltorientierte Forschung" als Forschung mit qualitativen Verfah-
ren vor, die sowohl die Form von distanzierter Analyse, Beschreibung und Re-
konstruktion als auch die Form von Entwicklungsforschung annehmen könne.
Insgesamt muten THIERSCHS Ausführungen vage an, und man kann sich des
Eindrucks kaum erwehren, dass ,Lebenswelt' und ,lebensweltorientiert' durch
ihren inflationären Gebrauch dahin unterwegs sind, eine inhaltsleere Floskel
zu werden.
Ganz im Zeichen seiner Arbeiten zu historischen Traditionslinien der So-
zialpädagogik inspirieren sich die Ausführungen von LOTHAR BÖHNISCH an der
empirischen Jugendkunde der 20er-Jahre. Er umschreibt den Gegenstand der
Sozialpädagogik als die pädagogische Begleitung der lebensweltlichen Bewälti-
gung der Spannung zwischen Integration und Desintegration, in der sich ein In-
dividuum zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft befinde. Dieses
Spannungsverhältnis bedürfe der laufenden Aufschlüsselung und damit der
empirischen Erforschung. Diese sozialpädagogische Forschung versteht er als
„sozialpädagogisch angewandte Sozialforschung" (S. 97), die unter Anwendung
qualitativer Methoden sowohl biographische Verläufe von Jugendlichen als
auch den „pädagogischen Aufforderungscharakter biographischer Bewälti-
gungskonstellationen Jugendlicher" (S. 108) erforsche und daher auf die zwei
zentralen Strukturelemente der Jugendhilfe („Milieubindung" und „Pädagogi-
scher Bezug"; S. 109) eingehen müsse. Diese letzten Ausführungen geraten
BÖHNISCH aber wenig verständlich, und insgesamt bleibt der Eindruck, dass die
Ausführungen zum Gegenstand sozialpädagogischer Forschung noch weiterer
gedanklicher Durchdringung bedürften. - HANS-UWE OTTO ist mit einem Bei-
trag von acht Seiten vertreten. Zum einen bekräftigt er, dass die Entwicklung
der Disziplin der Sozialpädagogik eng mit der Entwicklung ihrer Forschung
verknüpft sei. Zum anderen spricht er sich dafür aus, innerhalb der Sozialpäd-
agogik auch weiterhin unterschiedliche Typen von Forschung zu pflegen, wobei
auf eine Öffnung in Richtung der Forschungssettings nahe an der Praxis hinzu-
arbeiten sei (S. 151). Mehr als diese Information ist bei OTTO nicht zu finden.
Der zweite Teil des Bandes wendet sich der Präsentation einzelner For-
schungstypen, -bereiche und -befunde zu. In diesen Beiträgen (von CHRISTOPH
SACHSSE zur Entwicklung historischer Forschung in der Sozialen Arbeit, von
C. WOLFGANG MÜLLER zur Evaluationsforschung, von ULRIKE NAGEL zum
Übergang von Studierenden in die Berufstätigkeit, von GISELA JAKOB zur Aus-
bildung an Hochschulen sowie von GABY FLÖSSER, HANS-UWE OTTO, THOMAS
RAUSCHENBACH und WERNER THOLE ZU einer Bestandsaufnahme der Jugend-
hilfeforschung) finden die hier verfolgten Fragen kaum nähere Bearbeitung.
Insgesamt wird deutlich, dass sich mit dem Attribut „genuin" Konnotatio-
nen verbinden, die dem Sachverhalt, den RAI;SC H K X BAC H/THOI .K damit zum
Ausdruck bringen wollten, nicht angemessen sind und die Diskussion in eine
falsche Richtung lenken. Insofern erweisen sich die Metaphern von „Import-
Forschung", „Export-Forschung" und „genuin sozialpädagogischer Forschung"
(S. 19) als nicht weiter tragfähig. Will man weiteren Ablenkungen der Diskus-
Gredig/Wilhelm: Forschung als Rückgrat von Disziplin und Profession 699
sion zuvorkommen, stellt sich die Frage, ob nicht Bezeichnungen eingesetzt
werden sollten, die Missverständnissen und unerwünschten Konnotationen
weniger Angriffsfläche bieten.
2. Sozialarbeitsforschung
Der Sammelband von STEINERT u.a. spiegelt den Diskussionsstand der Arbeits-
gruppe ,Sozialarbeitsforschung' der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit
und ist das schriftliche Produkt einer Tagung dieser Arbeitsgruppe im Frühjahr
1997. Der Anspruch des Bandes ist es, einerseits aufzuzeigen, was Sozialar-
beitsforschung ist, und anderseits eine Beurteilung ihrer Leistungen vorzuneh-
men. Der Fokus der folgenden Diskussion wird auf den eher konzeptuellen
Beiträgen der Herausgeber/-innen liegen.
Die im Sammelband deutlich anders gelagerte Auffassung von Forschung
über Soziale Arbeit wird bereits in der Einführung (S. 7-12) von BIRGITTA STI-
CHER-GIL fassbar. Sie präsentiert Sozialarbeitsforschung als einen Forschungs-
typus, der die „Praxis der Sozialen Arbeit" (S. 10) zum Gegenstand hat, eine
Integration von Wissenschaft und Praxis beabsichtigt und „kooperative Pro-
blemlösungsprozesse" (S. 7) anstrebt. Der Begriff ,Sozialarbeitsforschung'
steht damit ausschließlich für einen besonderen Typus der praxisnahen For-
schung. - PETER SOMMERFELD bringt zwar den Hinweis an, Sozialarbeitsfor-
schung könne nebst praxisorientierter, auf Handlungsprobleme bezogener For-
schung sehr wohl auch eigene Forschung z.B. in Bezug auf Lebenslagen und
Lebensweisen umfassen (S. 16). Die gleichsam verengte Fassung von Forschung
mit Bezug auf Soziale Arbeit wird dadurch aber nicht ernsthaft gesprengt, hält
er doch gleichzeitig fest: „Vor allem aber gewinnt die Wissenschaft der Sozia-
len Arbeit als Handlungswissenschaft ihre Identität und Legitimität (...) durch
ihre Theorie- und Modellbildung in Bezug auf Handlungsprobleme." (ibid.;
vgl. S. 27) In seinem zweiten Beitrag wird die Erforschung der Problementste-
hung gar nicht mehr als Bestandteil des Forschungsgegenstandes aufgegriffen.
Als „Eckpunkte" und „Gegenstandsbereiche" von Sozialarbeitsforschung fun-
gieren nunmehr das „sozialarbeiterische Handeln", die gesellschaftlichen und
institutionellen „Bedingungen des sozialarbeiterischen Handelns" sowie die
„Koproduzenten Sozialer Arbeit (Klienten, Adressatinnen, andere zur Pro-
blembearbeitung beitragende Systeme)" (S. 185).
Ähnlich verfährt ERIKA STEINERT. Sie fasst Sozialarbeitsforschung als „an-
wendungsorientierte Forschung" mit dem Ziel, Aussagen zu Arbeitsabläufen
und Organisationsformen von Sozialarbeit, den Interaktionsprozessen zwi-
schen Professionellen und Klienten/-innen, den Wirkungen dieser Interaktions-
prozesse und schliesslich auch zu der Alltagswelt und den Lebenslagen der Kli-
enten/-innen zu formulieren. Mit dem vierten Ziel wird auch hier in gewisser
Weise eine Möglichkeit zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Problementste-
hung offen gelassen. Dass diese Option allerdings auch ihr kein wirkliches An-
liegen ist, wird zu Beginn ihres Beitrags schon deutlich, wo sie betont, „dass
Sozialarbeitsforschung von Praxisproblemen Sozialer Arbeit ausgeht, also an-
wendungsorientierte, berufsbezogene Forschung ist" (S. 32). - Gemäß KONRAD
MAIER konkretisiert sich eine solche als Praxisforschung verstandene Sozialar-
700 Thema: Zum Wissenschaftsdiskurs in der Sozialpädagogik
beitsforschung in fünf Typen von Forschung, die sich in ihrer „relativen Distanz
bzw. Nähe der Forschenden zu den Praktikern und der Praxis und dem Grad
des Sich-Einlassens auf die Komplexität der sozialarbeiterischen Praxis" (S. 54)
unterscheiden: Sozialberichterstattung, Evaluationsuntersuchungen, wissen-
schaftliche Begleitung von Projekten, Sozialplanung und - „die konsequenteste
Art von Praxisforschung" (S. 55) - die Entwicklung von Konzepten und Ver-
fahren. Sozialarbeitsforschung lasse sich weiter dadurch charakterisieren, dass
sie dieselben Phänomene, die auch die Soziologie untersuche, unter dem spezi-
fischen Blickwinkel ihrer Veränderung betrachte, dabei die „je individuelle
Perspektive und das Wohlergehen des einzelnen Menschen" (S. 55) in den Vor-
dergrund rücke, zu diesem Zweck vermehrt qualitative Forschungsmethoden
anwende und die traditionellen disziplinären Grenzen überwinde. Unglückli-
cherweise lässt das Verfahren, die Gegenstandsbestimmung von Sozialarbeits-
forschung aus „über 100 Forschungsprojekten an Fachhochschulen für Soziale
Arbeit" (S. 54) abzuleiten, den Gedanken aufkommen, dass es sich bei der So-
zialarbeitsforschung um die Forschung an einer bestimmten Ausbildungsinsti-
tution handle. - Die Herausgeber/-innen dieses Bandes stellen gewissermaßen
HORNSTEINS Entwurf der Sozialen Arbeit als Wissenschaft sowohl der Problem-
bearbeitung als auch der Problemgenese eine eindimensionale Konzeption ge-
genüber.
SOMMERFELD erörtert die erkenntnistheoretischen Grundlagen einer praxis-
orientierten, auf kooperativer Forschung aufbauenden Sozialarbeitsforschung,
die ihre Identität in der Theorie- und Modellbildung in Bezug auf Handlungs-
probleme findet und somit die Praxis der Sozialarbeit zum Gegenstand hat
(S. 16). Im Gegensatz zu vielen anderen betont SOMMERFELD die Differenzen
zwischen Praxis und Wissenschaft und erörtert erst einmal die mit dieser Diffe-
renz verbundene Problematik wie auch die Notwendigkeit ihrer Aufrechterhal-
tung. SOMMERFELD legt dar, dass sich weder der Vermittlungsmodus über die
(Aus-)Bildung und Aufklärung noch derjenige über den stellvertretenden
Deuter' als tragfähig erwiesen hätten und sich die Frage nach der Integration
wissenschaftlicher Wissensproduktion und handlungspraktischer Wissenspro-
duktion bzw. -Verwendung abermals stelle. Er moniert gleichzeitig an der
Scientific Community, dass diese sich zwar berechtigterweise gegen Technokra-
tie wehre, sich der Frage der Integration jedoch aus unterschiedlichen Gründen
konstant entziehe und damit „eine konstruktive, unmittelbar praxisorientierte,
theoretisch-technologisch ausgerichtete Weiterentwicklung der Wissenschaft
der Sozialen Arbeit" blockiere (S. 19).
SOMMERFELD führt nun einen neuen Vermittlungsmodus ein: die Koopera-
tion. In diesem Modus soll einerseits die Differenz der Systeme nicht nur auf-
recht erhalten, sondern „stark" (S. 21) gemacht werden, damit die Systemgren-
zen erkennbar würden. Andererseits müssten die Systemreferenzen durch
Austausch- und Kooperationsprozesse höherer Ordnung neu gestaltet werden.
SOMMERFELD entwickelt, mit
Rückgriff
auf Entwürfe HELGA NOWOTNYS, die von
zwei Modi der Wissensproduktion ausgehen, ein Modell der kooperativen Ver-
schränkung von Wissenschaft und Praxis: Auf Problemlösung gerichtetes Wis-
sen wird in zeitlich begrenzten, aus Praktikern/-innen und Wissenschaftlern/-in-
nen zusammengesetzten Gruppen in einem spezifischen lokalen Kontext
entwickelt (Modus 2). Dieses Wissen wird durch die Repräsentanten/-innen
Gredig/Wilhelm: Forschung als Rückgrat von Disziplin und Profession 701
der unterschiedlichen Gruppen sowohl in die Institutionen der Praxis als auch
in die Institutionen der Wissenschaft getragen. In der Praxis wird das neu gene-
rierte Wissen handlungsrelevant. In der Wissenschaft wird das neue Wissen
hinsichtlich der „wissenschaftlichen Dimensionen" (S. 25) geprüft und in Theo-
rien und Technologien eingearbeitet (Modus 1 der Wissensproduktion). SOM-
MERFELD gelingt damit der Entwurf einer Verschränkung, ohne dabei die epi-
stemische Qualität der Wissenschaft aufzugeben und ein technokratisches
Herrschaftsmodell zu installieren.
Es bleibt allerdings zu diskutieren, ob der Eingrenzung von Sozialarbeitsfor-
schung auf ein Konzept von Praxisforschung gefolgt werden soll. Näher bese-
hen, will uns Praxisforschung lediglich einen Teil dessen darstellen, was Sozial-
arbeitsforschung zu leisten hat und bei entsprechender Anlage auch leisten
kann. Selbst die Festlegung, die wissenschaftliche Sozialarbeit habe eine Hand-
lungswissenschaft zu sein, scheint uns nicht notwendigerweise die Ausblendung
der Problemgenese mit sich zu bringen. STICHER-GIL führt zwar das Argument
an, bei der vorgestellten Konzeption von Sozialarbeitsforschung als Praxisfor-
schung stelle sich „die Frage nach der Tauglichkeit wissenschaftlichen Wissens
nicht mehr" (S. 8). Damit ist aber noch kein Argument dafür gefunden, die
Untersuchung der Problemgenese restlos an andere Disziplinen zu delegieren.
Die Bemerkung lässt eher durchscheinen, dass der vorgelegten Forschungskon-
zeption eine undifferenzierte Diskreditierung von Grundlagenforschung zu-
grunde liegen könnte.
3. Fazit
Die neuere Debatte um die disziplinare Gestalt und Eigenständigkeit von So-
zialpädagogik und Sozialarbeit zeugt vom Bewusstsein davon, dass der Weg
zur Disziplin über die Forschung führt. Nun wird aber in der Gegenüberstel-
lung der zwei Bände in geradezu beunruhigender Intensität deutlich, dass sich
zwei unterschiedliche Konzepte von Forschung herausgebildet haben: Zum ei-
nen ist ein recht umfassendes Konzept auszumachen, das vorwiegend von den
Vertretern/-innen der universitären Sozialpädagogik entwickelt und unter dem
Titel der sozialpädagogischen Forschung abgehandelt wird. Zum anderen prä-
sentiert sich ein zweites Konzept, das die Forschung in der Disziplin auf Praxis-
forschung eingrenzt, unter der Bezeichnung „Sozialarbeitsforschung" auftritt
und von Vertretern/-innen der Fachhochschulen vorgetragen wird. In einigen
Formulierungen scheint auch durch, dass diese Sozialarbeitsforschung eine
„Fachhochschulforschung" sei.
Wenn Forschung das Rückgrat einer Disziplin darstellt, dann tangiert dieses
Auseinanderklaffen auch die Substanz der Disziplin. Es besteht die Gefahr,
dass hier im Bereich der Forschung und damit an entscheidender Stelle und
jenseits von Wortspielen eine Trennung vorgenommen wird, die grundsätz-
licher ist als die zwei von HORNSTEIN in Erinnerun g gerufenen Ausrichtungen
innerhalb der Sozialpädagogik. Zwei unterschiedliche Konzepte von Forschung
dürften über kurz oder lang zu unterschiedlichen Forschungstraditionen mit
unterschiedlichen Paradigmata, Normen, Modellen und symbolischen Verallge-
meinerungen (vgl. KUHN 1997, S. 193ff.), zur Formierung unterschiedlicher
702 Thema: Zum Wissenschaftsdiskurs in der Sozialpädagogik
Gruppen von Fachleuten und so zu unterschiedlichen Disziplinen führen. Aus
einer „Disziplin an zwei Orten" (THOLE 1994) würden dann schlicht zwei Diszi-
plinen. Angesichts dieser Situation und in Anbetracht der in der Debatte sich
abzeichnenden Entwicklung der Disziplin hilft es auch nicht weiter, die Situa-
tion einfach „konstruktiv" (MERTEN 1998, S. 15) umzuinterpretieren. Das Pro-
blem ist nicht dadurch zu beheben, dass man die Soziale Arbeit einfach, wie
MERTEN das tut (op. cit.), als Wissenschaft in paradigmatischem Zustand aus-
gibt und mit dem wissenschaftstheoretischen Etikett einer „normalen Wissen-
schaft" im Zustand „der Reife" (KUHN 1998, S. 26) versieht.
Eine getrennte Entwicklung von Sozialarbeitsforschung und sozialpädagogi-
scher Forschung hätte vermutlich auch zur Konsequenz, dass den Studierenden
der unterschiedlichen Ausbildungsstätten (Universität und Fachhochschule)
vor allem die Erkenntnisse aus denjenigen Forschungstraditionen vermittelt
werden, die ihrem Ausbildungsort zugeordnet sind. Damit steht zu befürchten,
dass Erkenntnisse aus der jeweils anderen Tradition weniger Beachtung finden.
Angesichts von zwei Disziplinen an zwei Orten ist die Gefahr nicht von der
Hand zu weisen, dass sich di e Professionellen der Sozialpädagogik und der So-
zialarbeit je in ihrer Welt abschotten und ihr professionelles Wissen aus den
unterschiedlichen Quellen der gleichnamigen Forschung und Theoriebildung
speisen werden. Auf jeden Fall wäre eine Trennung von sozialpädagogischer
Forschung und Sozialarbeitsforschung entlang der hervorgetretenen Linien für
die Entwicklung der Disziplin wenig vorteilhaft und mit Blick auf die dazuge-
hörige Profession verheerend.
Literatur
BAUMERT, J./ROEDER, P.M.: ,Stille Revolution'. Zur empirischen Lage der Erziehungswissenschaft.
In: KRÜGER/RAUSCHENBACH 1994, S. 29^-8.
HAMBURGER, F.: Überlegungen zur Lage der universitären Sozialpädagogik. In: Erziehungswissen-
schaft, Heft 12/1995, S. 92-128.
KRÜGER, H.-H./RAUSCHENBACH, TH. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Die Disziplin am Beginn
einer neuen Epoche. Weinheim/München 1994.
KUHN, TH.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 14. Aufl. Frankfurt a.M. 1997.
MACKE, G.: Disziplinarer Wandel. Erziehungswissenschaft auf dem Wege zur Verselbständigung
ihrer Teildisziplinen? In: KRÜGER/RAUSCHENBACH 1994, S. 29-68.
MERTEN, R. (Hrsg.): Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit. Begriffsbestimmungen in ei-
nem unübersichtlichen Feld. Freiburg i.Br. 1998.
PRANGE, K.: Alte Schwierigkeiten - neue Konfusionen. Bemerkungen zu dem Hamburger-Memo-
randum der universitären Sozialpädagogik. In: Erziehungswissenschaft, Heft 14/1996, S.
63-75.
THOLE, W.: Sozialpädagogik an zwei Orten. Professionelle und disziplinare Ambivalenzen eines
noch unentschiedenen Projektes. In: KRÜGER/RAUSCHENBACH 1994, S. 253-274.
Anschriften der Autoren:
Prof. Dr. Daniel Gredig, Fachhochschule Aargau, Direktionsbereich Soziale Arbeit,
Stahlrain 2, CH-5201 Brugg.
Lic. phil. Elena Wilhelm, Sozialpädagogische Forschungsstelle der Universität Zürich,
Scheuchzerstr. 21, CH-8006 Zürich.