Insbesondere im Handel werden die Potenziale des Internets und verwandter Technologien
seit dem Ende der Euphoriephase im Jahr 2000 mit gewisser Skepsis und
Zurückhaltung betrachtet. Wiewohl die Erwartungen an eine „neue Ökonomie“ überzogen
gewesen sein mögen, ist es durchaus möglich, dass auch die neue Rückbesinnung
nicht in angemessener Weise ökonomisch rational und begründbar ist. Zwar lehren die
Erfahrungen mit dem Handel im Internet, dass nicht jedes Produkt und jede Dienstleistung
für den elektronischen Vertrieb geeignet ist; viele sind es jedoch, wie vorhandene
Beispiele erfolgreicher Unternehmen zeigen. Weiterhin beschränken sich die
Potenziale des Internets nicht auf den elektronischen Vertrieb. Viele Führungskräfte
haben erkannt, dass Prozesse zwischen Unternehmen (B2B-E-Business) und auch innerhalb
von Organisationen sich auf der Basis der Internet-Technologie optimieren lassen.
Eine gesteigerte Reaktionsgeschwindigkeit, intensivierte Kommunikation und gesenkte
administrative Kosten sind nur einige Beispiele für Verbesserungspotenziale, die
bereits in beachtenswertem Umfang realisiert werden. Gerade kleine und mittelständische
Unternehmen können sich das Internet nutzbar machen, wie sich am Beispiel
der elektronischen Beschaffung verdeutlichen lässt: Das E-Commerce-Center Handel
fand in der Befragung „Internet im Handel und in ausgewählten Dienstleistungsbereichen
2002“ heraus, dass es vorrangig kleinere Unternehmen sind, die in den
letzten Jahren Maßnahmen zur elektronischen Beschaffung über das Internet ergriffen
haben. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Tendenz darin begründet ist, dass Großunternehmen
ihre Beschaffung mithilfe von Electronic Data Interchange (EDI) schon
früher optimiert haben, während die kleinen und mittelständischen Betriebe
Investitionen in diese Technologie nicht aufwenden konnten, wollten oder mussten. Die
geplante und proaktive Integration der vielschichtigen Anwendungsmöglichkeiten
des Internets in Geschäftsprozesse bietet den kleineren Betrieben Möglichkeiten zur
Optimierung, die vorher unmöglich gewesen wären.
Insofern ist festzuhalten, dass es bereits viele Unternehmen gibt, die die Internet-
Technologie nutzbringend einsetzen. Ein großer Teil tut dies bislang jedoch nicht. Insbesondere
die bisher eher inaktiven Organisationen stehen vor der Frage, ob ihre
Zurückhaltung im ökonomischen Sinn gerechtfertigt ist oder ob sich die Investition von Geld
und Zeit in die Einführung neuer Technologien und Systeme lohnen würde. Diese
grundlegende Entscheidung wird häufig „aus dem Bauch“ heraus getroffen, oder die
Frage wird von vornherein nicht explizit gestellt. In den Fällen, in denen die Entscheidung
zur Einführung neuer Systeme gefallen ist, schließt sich das Problem an, die
Unterstützung der Belegschaft zu sichern. Wenn schon Führungskräfte oftmals vor
Neuerungen zurückschrecken, trifft dies für Mitarbeiter noch häufiger zu, denn diese
sind meist mit der Umsetzung betraut und müssen mit und in den neuen Systemen
arbeiten.
Diese Grundüberlegungen sollen verdeutlichen, dass von rein ökonomischen Überlegungen
abweichende Erkenntnisse in die Entscheidungsfindung bezüglich der Einführung
neuer Systeme einbezogen werden müssen. Die Berücksichtigung von Aspekten
des menschlichen Verhaltens, der Einstellungsbildung und der Wahrnehmung ist
vonnöten, um eine tatsächlich ökonomisch sinnvolle Entscheidung für oder gegen neue
Systeme treffen zu können. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, Entscheidungsträgern
diejenigen möglichen Ursachen für nicht rationale Handlungsweisen in Bezug
auf Veränderungen aufzuzeigen, die auf dem „Faktor Mensch“ beruhen. Dabei wird
nicht explizit auf bestimmte Systeme oder Technologien eingegangen, sondern insgesamt
die Veränderung in und von Organisationen untersucht. Die Tendenz, solche
Veränderungen zu vermeiden und zu verhindern, lässt sich treffend, wenn auch etwas
unhandlich, mit dem Begriff „organisatorischer Konservatismus“ umschreiben. Dieser
in der Literatur zu Organisationsveränderungen verwendete Term bringt zum Ausdruck,
dass Neuerungen und Variationen häufig nicht deshalb nicht durchgeführt werden, weil
sie nicht sinnvoll wären, sondern weil es eine menschliche und organisatorische Tendenz
gibt, am Vorhandenen und Althergebrachten festzuhalten. Der Begriff des
organisatorischen Konservatismus wird in der vorliegenden Arbeit verwendet, um die
breite Anwendbarkeit der dargestellten Konzepte zum Ausdruck zu bringen. So lassen
sich die Erkenntnisse erstens auf verschiedene Arten von Veränderungen beziehen,
zweitens auf verschiedene Formen von Organisationen: Sowohl kleine, mittelständische
und große Unternehmen als auch öffentliche Verwaltungen oder gar
Vereine können vom organisatorischen Konservatismus betroffen sein.
Wer sich mit Gründen für mangelnde Veränderungsbereitschaft beschäftigt, wird
schnell eine sehr große Anzahl von möglichen Erklärungen finden, die noch dazu aus
unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven stammen. Um der Fülle möglicher
Faktoren Herr zu werden, wird im Folgenden das Konzept der „eingeschränkten VIIRationalität“
zur Auswahl und Systematisierung verwendet. Explizit nicht betrachtet
werden insofern diejenigen Veränderungshemmnisse, die als rational und ökonomisch
begründbar eingestuft werden können. Der Anwender der hier vorgestellten Konzepte
sollte im Einzelfall entscheiden, ob dieser Bezugsrahmen für die konkrete Veränderungssituation
ausreichend ist.
Am Institut für Handelsforschung, dem die Geschäftsführung des ECC Handel obliegt,
erfolgte schon früher eine Untersuchung von Innovationshemmnissen in Bezug auf
das Internet. Beispielsweise stellte Hudetz in seiner Dissertation „Prozessinnovationen
im Großhandel“ aus dem Jahr 2000 empirisch gestützt die wesentlichen Gründe für das
Ausbleiben von Neuerungen dar. Die Vorgehensweise in der vorliegenden Arbeit ist
insofern anders, als dass eine breite empirische Untersuchung nicht zugrunde gelegt
wird; stattdessen werden die vorhandenen Konzepte und Thesen zur Veränderungsbereitschaft
in Organisationen theoriegeleitet dargestellt. Dennoch mangelt es der
Arbeit nicht an praxisrelevanter Fundierung, denn sie entstand aufgrund von Überlegungen
zur Einführung eines Intranet-basierten Wissensmanagementsystems bei
einem Unternehmen der freien Wirtschaft. Ein solches System, sei es nun in seinem
technischen oder in seinem organisatorischen Sinn begriffen, stellt eine besondere
Herausforderung an das Veränderungsmanagement dar. Dem Übergang von einem oft
in Organisationen anzutreffenden „Geheimnisprinzip“ hin zu einer Kultur der Wissensteilung
stehen oft scheinbar unlösbare Hemmnisse entgegen. Der Begriff „System“, der
im Titel dieser Untersuchung als Betrachtungsgegenstand enthalten ist, wird im
Folgenden allerdings sehr weit ausgelegt und ist insofern nicht auf Wissensmanagement
beschränkt. Stattdessen sollten die vorgestellten Ansätze sich auf all jene Systeme
übertragen lassen, die das Ergebnis des Organisierens sind.
Befragungen und Beobachtungen der Mitglieder einer Organisation waren erste Ansatzpunkte
zur Auswahl und Darstellung der Gründe für Veränderungshemmnisse in dieser
Arbeit. Der vorliegende Bezugsrahmen geht jedoch in seiner Anwendbarkeit über die
Konstellationen in einer einzigen Organisation bei Weitem hinaus.