In den leichtathletischen Sprintdisziplinen müssen Sportler in der Lage sein, innerhalb sehr kurzer Zeitintervalle (weniger als 100 ms bei Sprints) hohe Kräfte zu entwickeln. Biomechanische Merkmale wie Bodenkontaktzeiten, Flugzeiten oder Schrittfrequenzen stellen dementsprechend relevante Einflussgrößen der Leistung dar (u.a. Slawinski et al. 2010). Daher müssen diese gezielt angesteuert und trainiert werden. Andererseits können angestrebte Adaptionsmechanismen nicht ausgelöst werden, sodass in Folge keine Leistungssteigerung erfolgt. Der subjektiven Wahrnehmung sind Differenzen weniger Millisekunden jedoch nicht zugänglich oder nur indirekt ableitbar. Daher besteht die Forderung, die Ausprägung der relevanten Merkmale nicht nur gezielt zu trainieren, sondern auch trainings- und wettkampfbegleitend zu diagnostizieren. Messsysteme und -methoden nehmen somit sowohl in der Leistungsdiagnostik als auch in der Trainingssteuerung einen herausragenden Stellenwert ein (Fleming et al. 2010; Sands 2008; Wagner, 2006).
Zur Erfassung biomechanischer Merkmale des leichtathletischen Sprints existieren eine Reihe von Messsystemen und -methoden wie beispielsweise dynamometrische Messsysteme (Kraftmessplatten), optometrische Systeme (OptojumpNext®) oder kamerabasierte Bewegungsanalysesysteme. Wesentlich beim Einsatz dieser Systeme sind zum einen die Auswahl und Erfassung der relevanten Merkmale mit der erforderlichen Genauigkeit und zum anderen die Qualität und Zeitstruktur der Ergebnisrückmeldung. Außerdem spielt der Grad der Beeinträchtigung beziehungsweise Beeinflussung des Athleten durch das Messsystem eine wichtige Rolle (Daugs, 2000). Diese und weitere Anforderungen (Einsetzbarkeit unter
trainings- und wettkampfähnlichen Bedingungen sowie hohe Flexibilität) werden von den meisten Systemen jedoch nur zum Teil erfüllt.
Technologische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben dazu beigetragen, dass weitreichende Fortschritte der Messsysteme und -methoden erreicht wurden (Liebermann et al., 2002). Vor allem durch Verbesserungen der Mikroelektronik, Prozessortechnologie oder Methoden der kabellosen Datenübertragung können vorhandene Restriktionen minimiert werden. Dabei haben sich aufgrund ihrer kompakten Bauweise, des niedrigen Gewichts, des geringen Energiebedarfs und der hohen mechanischen Belastbarkeit Systeme auf Basis von Inertialsensoren als besonders geeignet erwiesen und halten verstärkt Einzug in den Leistungs- und Hochleistungssport verschiedener Sportarten (u.a. Chambers et al. 2015). Für den Einsatz von Messsystemen auf der Basis von Inertialsensoren zur Ableitung biomechanischer Merkmale im leichtathletischen Sprint liegen hingegen nur wenige
Erkenntnisse vor (u.a. Bergamini et al., 2010; 2012).
In diesem Gesamtzusammenhang leistet die vorliegende Forschungsarbeit einen Beitrag zur
Weiterentwicklung biomechanischer Messsysteme und -methoden zum Einsatz in trainings- oder wettkampfähnlichen Anwendungsfeldern des leichtathletischen Sprints. Dazu werden Inertialsensoren in ein neuartiges Messsystem integriert. Neben dem technischen Aufbau bildet die Überprüfung der Messgenauigkeiten bei der Ableitung biomechanischer Merkmale einen Schwerpunkt der Arbeit. Zunächst wird der Forschungsstand bezüglich biomechanischer Einflussgrößen im leichtathletischen Sprint dargestellt, um zu zeigen welche Merkmale zur Ausprägung der disziplinspezifischen Leistungen beitragen und somit für eine Erhebung relevant sind (Kapitel 2). Im Anschluss wird aufgezeigt, dass im Rahmen einer trainingswissenschaftlichen Leistungsdiagnostik der Bedarf existiert, neue, tragbare Messsysteme in Training und Wettkampf zu integrieren (Kapitel 3). Mikroelektromechanische Sensoren und Systeme stellen diesbezüglich eine vielversprechende Alternative zu bisherigen Systemen und Methoden dar. Deren Aufbau, Funktionsweisen, Einsatzmöglichkeiten und bisherige Anwendungsgebiete zur biomechanischen Analyse sportlicher Bewegungen werden in Kapitel 4 dargestellt. Es wird dargestellt, welche Anforderungen bezüglich Hard- und Software ein Messsystem auf der Basis von Inertialsensoren (IMS) zur biomechanischen Analyse des leichtathletischen Sprints erfüllen muss, da diese Aspekte für die Systementwicklung maßgeblich sind. Die entsprechenden Defizite bisheriger Forschungsaktivitäten und die daraus abgeleiteten Forschungsziele der vorliegenden
Arbeit werden in den Kapiteln 5 und 6 formuliert. Den Hauptteil der Arbeit bildet die Entwicklung (Kapitel 7 und 8), Validierung (Kapitel 9) und Anwendung (Kapitel 10) des Messsystems auf Basis von Inertialsensoren. Der technische Aufbau des Systems
umfasst eine eingebettete Sensorik, Auswertealgorithmen und Funkmodule, wodurch eine
Datenerfassung einer Gruppe von Sportlern zur Leistungsdiagnostik in labor- und feldbasierten (trainings- und wettkampfähnlichen) Anwendungen ermöglicht wird (Kapitel 7). Nach dem technischen Aufbaus des IMS werden für die jeweiligen Anwendungsszenarien (Sprünge und Sprints) Algorithmen zur automatisierten Eventdetektion entwickelt (Kapitel 8), mit deren Hilfe die Ableitung und Berechnung biomechanischer Merkmale erfolgt. Die Messgenauigkeit des Systems bei der Bestimmung der relevanten Einflussgrößen wird anschließend in zwei Validierungsstudien überprüft. Dazu werden die biomechanischen Merkmale durch das entwickelte System sowie geeignete Referenzsysteme
(Kraftmessplatte, Kontaktmatte, Optojump) bei Dropjumps (Kapitel 9.1) und Sprints (Kapitel 9.2) erfasst und deren Übereinstimmung ermittelt. Dabei wird gezeigt, dass das IMS eine zuverlässige und auch für den Hochleistungssport hinreichend genaue Detektion biomechanischer Merkmale bei Sprüngen und Sprints ermöglicht und die Messgenauigkeiten vergleichbar mit vorherigen Studien oder besser sind (Bergamini et al., 2012; Patterson & Caulfield, 2010; Picerno et al., 2011; Purcell et al., 2006). Im Rahmen von zwei Anwendungsstudien zum Lang- und Hürdensprint wird das entwickelte System eingesetzt, um über den gesamten Verlauf der Wettkampfstrecke biomechanische Merkmale kontinuierlich zu erfassen (Kapitel 10). Es wird gezeigt, dass das neu entwickelte System die Gewinnung umfassender Daten und die Ableitung biomechanischer Merkmale ermöglicht, wie es durch
den Einsatz existierender Systeme vor allem bei Trainings- und Wettkampfuntersuchungen bisher nicht möglich ist. Im Rahmen der Langsprintstudie wird gezeigt, dass sich in Folge von Ermüdung Änderungen hinsichtlich der kinematischen Schrittmerkmale ergeben, die sowohl für unterschiedliche Leistungsniveaus als auch unterschiedliche Stadien der Ermüdung (im Verlauf der Wettkampfstrecke oder nach Vorbelastung) divergieren. Auch im Hürdensprint werden mit Hilfe des Systems wichtige Erkenntnisse bezüglich der Merkmalsausprägung in Abhängigkeit des Leistungsniveaus erlangt. Es zeigt sich unter anderem, dass Sportler auf höherem Leistungsniveau nicht nur höhere Merkmalsausprägungen einer einzelnen Bewegung, sondern auch eine höhere Stabilität gegen Ende des Sprints aufweisen.
Das entwickelte IMS ergänzt die bisher vorhandenen Systeme und leistet den angestrebten Beitrag zur Weiterentwicklung biomechanischer Messsysteme und -methoden zum Einsatz in trainings- oder wettkampfähnlichen Anwendungsfeldern des leichtathletischen Sprints. Die Anwendung des IMS im Rahmen einer trainings- und wettkampfbegleitenden Diagnostik oder zukünftiger Forschungsaktivitäten lässt die Ableitung wichtiger Erkenntnisse zur Leistungsstruktur im Leistungs- und Hochleistungsbereich der Sprintdisziplinen erwarten.