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6 IN|FO|NEU ROLOGIE & PSYCHIATRIE 2008; Vo l. 6, Nr. 3
Schwerpunkt
Prof. Dr. med.
Anita Riecher-Rössler
ariecher@uhbs.ch
Fakt oder Artefakt?
Geschlechtsspezifische Unterschiede
in der Häufigkeit psychischer Störungen
ANITA RIECHER-RÖSSLER, BASEL
Zusammenfassung
Obwohl die Lebenszeitprävalenz psychischer Er-
krankungen bei beiden Geschlechtern gleich hoch
ist, kommen bestimmte psychische Erkrankungen
häufiger bei Frauen vor, andere wiederum häufiger
bei Männern. Die Ursachen dieser Unterschiede
sind vielfältig. Zum einen handelt es sich nur um ver-
meintliche Unterschiede; doch es gibt auch zahl-
reiche echte Geschlechtsunterschiede. Diese sind
meist multifaktoriell bedingt – durch das biologische
Geschlecht einschliesslich seiner Genetik, seiner
Anatomie, seiner Hormone etc. einerseits, durch das
psychosoziale Geschlecht mit den ihm zugeschrie-
benen und übernommenen Rollen in Partnerschaft,
Familie, Beruf, Politik, etc. andererseits. Eine
«geschlechtersensible» Psychiatrie berücksichtigt
alle diese Einflüsse in Diagnostik und Therapie.
Résumé
Bien que la prévalence des affections psychiques
durant la vie entière soit la même chez les deux
sexes, certaines affections psychiques apparaissent
plus fréquemment chez les femmes, d’autres par
contre plus fréquemment chez les hommes. Les
causes de ces différences sont multiples. D’un part,
il ne s’agit que de différences prétendues; mais il
existe aussi de nombreuses véritables différences
entre les sexes. Celles-ci ont souvent des causes
multifactorielles, liées d’une part au sexe biolo-
gique, incluant la génétique, l’anatomie, les hor-
mones, etc. et d’autre part au sexe psychosocial
avec ses rôles prescrits et endossés dans le partena-
riat, la famille, le travail, la politique, etc. Une psy-
chiatrie «sensible au sexe» prend en compte toutes
ces influences dans le diagnostic et le traitement.
■
Obwohl die Lebenszeitprävalenz psychischer Er-
krankungen – also die Häufigkeit über die Lebens-
zeit betrachtet – bei Frauen und Männern gleich
hoch ist, leiden Frauen doch zum Teil in anderer Art
und Weise und zu anderen «Risikozeiten». Auch
nehmen sie häufiger therapeutische Hilfe in An-
spruch (für einen Überblick siehe [1]).
Häufigkeit und klinisches Bild psychischer Er-
krankungen werden bei Frauen zum Teil durch «Re-
produktionsvorgänge» beeinflusst, also z.B. durch
Pubertät, Menstruation, Schwangerschaft und Peri-
natalzeit oder Menopause.
Aber auch unabhängig hiervon, treten viele psy-
chische Erkrankungen unterschiedlich häufig bei
Frauen und Männern auf. So leiden Frauen bekannt-
lich häufiger als Männer an Essstörungen – Anore-
xie und Bulimie. Auch Depressionen sind bei Frauen
etwa doppelt so häufig wie bei Männern, und zwar
von den leichteren depressiven Zuständen, den so
genannten neurotischen Depressionen und Dysthy-
mien, bis hin zu den schweren unipolaren affektiven
Erkrankungen. Die meisten Arten von Angststö-
rungen einschliesslich der Agoraphobie, der Panik-
erkrankung und der sozialen Phobie sind bei
Frauen eher anzutreffen. Frauen verüben auch öf-
ter Suizidversuche als Männer. Bei Männern dage-
gen sind vollendete Suizide häufiger, ebenso Sucht-
erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, ins-
besondere antisozialer Art (Tab. 1). Die Ursachen
dieser Geschlechtsunterschiede sind vielfältig.
Scheinbare Häufigkeitsunterschiede
In vielen Fällen handelt es sich lediglich um vorge-
täuschte Unterschiede, etwa durch geschlechtsspe-
zifische Verzerrungen bei der Erhebung und Inter-
pretation von Daten, bei der Diagnosenvergabe etc.
Auch zeigen verschiedene Studien, dass Frauen ihre
Beschwerden selbst besser wahrnehmen, bereitwil-
liger darüber berichten und vor allem schneller Hil-
fe in Anspruch nehmen als Männer [1].
So gibt es etwa bezüglich der häufigeren Depres-
sion von Frauen Befunde, dass Frauen schneller Hil-
fe suchen als Männer, dass sie sich auch besser an
depressive Symptome erinnern und diese eher be-
richten. Auch gibt es Hinweise auf einen «Geschlech-
terbias» bei der Diagnostik, etwa dahingehend, dass
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es für Mann und Frau einer anderen Symptom-
schwelle bedarf, um zu einem «Fall» zu werden.
Schliesslich sind auch Ärzte Rollenstereotypen un-
terworfen: Bei identischer Beschwerdenschilderung
wird bei Frauen offensichtlich schneller eine Depres-
sion diagnostiziert als bei Männern. Weiterhin wird
angeführt, dass bei Männern die Depression oft
durch Alkoholismus maskiert werde [1].
Insbesondere bei Studien, die sich auf Inanspruch-
nahmedaten stützen, ist zu berücksichtigen, dass zum
Teil auch das Versorgungssystem selbst zu einer ge-
schlechtsspezifischen Patientenselektion beiträgt. So
wissen wir, dass Frauen sowohl ambulante als auch
stationäre Dienste stärker in Anspruch nehmen als
Männer. Ambulant aber werden Frauen häufiger
durch Hausärzte betreut, während Männer eher an
Fachärzte überwiesen werden. Studien in stationären
oder ambulanten Einrichtungen oder beim Haus-
arzt, werden also eine grössere Häufigkeit von
Frauen finden, die nicht unbedingt der «echten» Häu-
figkeit in der Bevölkerung entspricht.
Echte Häufigkeitsunterschiede
Auch nach Ausschluss dieser Artefakte verbleiben
immer noch beträchtliche echte Geschlechtsunter-
schiede in Inzidenz und Prävalenz. So zeigen auch
die grossen epidemiologischen Studien mit zuver-
lässiger Methodik (standardisierte Fragebogen,
standardisierte Diagnosesysteme, geschulte Inter-
viewer, repräsentative Bevölkerungserhebungen)
Ergebnisse in die gleiche Richtung [2–7]: Depres-
sion und Dysthymie, Angststörungen und Essstö-
rungen sowie körperbezogene Störungen und Soma-
tisierungsstörungen sind bei Frauen durchwegs
häufiger, dagegen sind Alkohol- und Drogenprob-
leme sowie so genanntes dissoziales Verhalten bei
Männern häufiger. Ein ausgeglichenes Geschlech-
terverhältnis zeigen hingegen die Psychosen.
Wichtig ist dabei, dass die Gesamtlebenszeitprä-
valenz für psychische Erkrankungen bei Männern
und Frauen dennoch etwa gleich hoch ist. Vor allem
in den neueren epidemiologischen Studien liegt die
Gesamtprävalenz mit 40% bis fast 50% relativ hoch.
Das heisst, über 40 von 100 Menschen – Männer wie
Frauen – leiden mindestens einmal im Leben an
einer psychischen Erkrankung.
Zu den häufigsten psychischen Störungen gehö-
ren dabei die affektiven Störungen. Hier liegt die
Lebenszeitprävalenz bei Frauen etwa doppelt so
hoch wie bei Männern, und dieser Unterschied
scheint in den verschiedensten Kulturen zu beste-
hen. In der «Epidemiologic-Catchment-Area»-Stu-
die, der grössten repräsentativen Feldstudie in den
USA, fand sich eine Lebenszeitprävalenz von 10,2%
bei Frauen und 5,2% bei Männern [5]. Zu noch hö-
heren Prävalenzen kam die «National Comorbidi-
ty Survey» [3], in der noch mehr Wert auf das «Wie-
der-Erinnern» vergangener Episoden gelegt wurde:
23,9% aller Frauen und 14,7% aller Männer erhiel-
ten die Lebenszeitdiagnose einer affektiven Stö-
rung.
Auch bei den Angststörungen liegt das Verhält-
nis Frauen zu Männer in den oben genannten gros-
sen epidemiologischen Studien bei ca. 2:1, bei den
Essstörungen zwischen 3,5:1 und 6,5:1. Alkoholbe-
dingte Störungen dagegen sind mit einem Ge-
schlechtsverhältnis von 0,2–0,5:1 bei den Frauen un-
terrepräsentiert [1].
Ursachen der Unterschiede
Die echten Geschlechtsunterschiede sind sicherlich
zum Teil biologisch, zum Teil psychosozial und kul-
turell, häufig aber multifaktoriell bedingt.
Auf der biologischen Seite handelt es sich dabei
vor allem um genetische und hormonelle Einflüsse
– zum einen auf die Hirnentwicklung und Hirnmor-
phologie, zum anderen aber auch auf das aktuelle
seelische Befinden [1]. So wissen wir inzwischen
Tab. 1
Psychische Erkrankungen mit geschlechtsspezi scher Prävalenz
«Frauenspezifische» Erkrankungen
•
Prämenstruelles Syndrom
•
Postpartale Erkrankungen (Blues, postpartale Depression, Puerperalpsychose)
•
«Menopausen-Syndrom»
Der Anteil der Frauen überwiegt bei
•
Depression (unipolare, Dysthymie)
•
Angststörungen
•
Essstörungen (Anorexie, Bulimie)
•
Borderline-Persönlichkeitsstörung
•
Suizidversuch
Der Anteil der Männer überwiegt bei
•
Sucht (Alkohol, Drogen)
•
Vollendeter Suizid
•
Dissozialen Persönlichkeitsstörungen
Tab. 2 Ursachen der Geschlechterunterschiede
Geschlechtsunterschiede sind meist mehrfach determiniert
•
durch das biologische Geschlecht, das sogenannte «Sex», einschliesslich seiner
Genetik, seiner Anatomie, seiner Hormone etc.
•
durch das psychosoziale Geschlecht, das sogenannte «Gender», mit all den
ihm zugeschriebenen und übernommenen Rollen in Partnerschaft, Familie,
Beruf, ökonomischen Strukturen und Kulturen
«Frauen sind nicht häufiger psychisch
krank, sie zeigen offensichtlich aber eine
andere Häufigkeitsverteilung von
psychischen Störungen.»
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beispielsweise, dass Östradiol, das wichtigste weibli-
che Sexualhormon, eine grosse Zahl von Neurotrans-
mittersystemen moduliert, die mit unserem seelischen
Befinden zu tun haben – u.a. das dopaminerge, das
serotonerge, das gabaerge System und auch die Mo-
noaminoxidase (MAO).
Auch werden vielfältige psychosoziale Einfluss-
faktoren diskutiert. Von Bedeutung sind hier
offensichtlich schon die frühen Geschlechts-
unterschiede in der psychischen Entwicklung, ein-
schliesslich der geschlechtsspezifischen Erziehung
und Sozialisation von Knaben und Mädchen, die wie-
derum das geschlechtsspezifische Rollenverhalten
prägen. Eine wichtige Rolle bei den Geschlechtsun-
terschieden in Häufigkeit und Verlauf psychischer
Störungen spielen zudem der unterschiedliche sozi-
ale Status von Männern und Frauen, die Unterschiede
im sozialen Stress sowie in der sozialen Unterstüt-
zung, die sie erfahren, und vieles mehr (Tab. 2) [1].
Geschlechtsunterschiede im
Ersterkrankungsalter
Angstsymptome scheinen schon bei Mädchen häu-
figer zu sein als bei Buben. Auch zeigte sich ein
Zusammenhang zwischen dem frühen Auftreten
von Angstsyndromen und der späteren Entwick-
lung eines depressiven Syndroms, was zur Hypo-
these Anlass gab, dass die erhöhte Inzidenz von
Angstsyndromen bei Mädchen der später erhöh-
ten Prävalenz von Depressionen bei Frauen den
Weg bahnt.
Die Depression dagegen scheint erst in und nach
der Pubertät ein typisch weibliches Phänomen zu
werden. Im Alter von 13–16 Jahren geben Mäd-
chen erstmals ein geringeres körperliches und see-
lisches Wohlbefinden an. Zwischen 15 und 18 Jah-
ren steigt die Prävalenz der Depression bei beiden
Geschlechtern, bei Frauen jedoch sehr viel deut-
licher als bei Männern. In der Perimenopause ver-
doppelt sich dann die Inzidenz der Depression.
Auch nach der Menopause, also ca. ab dem 50. Le-
bensjahr, scheint dieser Geschlechtsunterschied –
so die Ergebnisse neuerer Studien – bestehen zu
bleiben (für einen Überblick siehe [1]).
Daneben gibt es auch Erkrankungen, die zwar
keine Geschlechtsunterschiede in der Lebenszeit-
prävalenz, aber doch im Ersterkrankungsalter zei-
gen. So wurden etwa bei der Schizophrenie, einer
der schwersten Erkrankungen der Psychiatrie,
schon immer Geschlechtsunterschiede bezüglich
des Ersterkrankungsalters beschrieben, obwohl
die Lebenszeitprävalenz bei Männern und Frauen
gleich ist. Frauen erkranken im Mittel etwa vier
Jahre später als Männer. Während sie im jungen
Erwachsenenalter seltener erkranken als Männer,
ist ihr Neuerkrankungsrisiko nach dem 45. Lebens-
jahr etwa doppelt so hoch wie das der Männer.
Schlussfolgerungen
Frauen leiden nicht häufiger an psychischen Er-
krankungen als Männer, aber die Leiden zeigen
eine andere Symptomatik und zum Teil auch eine
andere Pathogenese. Dies sollte man in Diagnostik
und Therapie berücksichtigen – und zwar bei
Frauen wie auch bei Männern – zum Wohle un-
serer Patientinnen und Patienten.
Prof. Dr. med. Anita Riecher-Rössler
Chefärztin, Psychiatrische Poliklinik,
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4, 4031 Basel
ariecher@uhbs.ch
Literatur:
1. Riecher-Rössler A, Bitzer J: In: Riecher-Rössler A, Bitzer
J, (Herausgeber): Frauengesundheit. Ein Leitfaden für die
ärztliche und psychotherapeutische Praxis. München, Jena:
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7. Wittchen HU, et al.: Prevalence of mental disorders and
psychosocial impairments in adolescents and young
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Die Lebenszeitprävalenz für psychische Erkrankungen
ist bei Männern und Frauen gleich – dennoch gibt es
Unterschiede, vor allem bei Symptomen und Erkran-
kungsalter.
Foto: Pixelio/von Melis